Zeitenwenden in der Zeitgeschichte - Martin Sabrow - E-Book

Zeitenwenden in der Zeitgeschichte E-Book

Martin Sabrow

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Beschreibung

Eine hochaktuelle Analyse über das Ende historischer Gewissheiten und das Bemühen der Zeitgeschichte um Gegenwartsdistanz. Mit seiner an der Humboldt-Universität Berlin gehaltenen Abschiedsvorlesung knüpft Martin Sabrow an seine Antrittsvorlesung zwölf Jahre zuvor an und sucht den Ort der Zeitgeschichte und Erinnerungskultur in der Gegenwart zu bestimmen. Er widmet sich dem Verlust tradierter Gewissheiten, der mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs im Februar 2022 einhergeht und in der vielzitierten Rede von der "Zeitenwende" zum Ausdruck kommt. Sabrow lotet die Facetten dieses Umbruchs auf dem Feld der Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus und beschreibt sie als schleichende Auflösung eines geschichtkulturellen Grundkonsenses, der sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die in dieser Zeit auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft etablierte Bereitschaft zur kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Last des vergangenen Katastrophenjahrhunderts deutet Sabrow als Ära der Aufarbeitung. Deren scheinbar festgefügte Gewissheiten werden heute immer stärker in Frage gestellt und lassen auf einen geschichtskulturellen Epochenumbruch vom Universalismus zum Partikularismus schließen.

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Seitenzahl: 109

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Martin Sabrow

Zeitenwendenin derZeitgeschichte

Wallstein Verlag

Inhalt

Titel

Zeitenwenden in der Zeitgeschichte

Anmerkungen

Impressum

Die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit der jeweils jüngsten Epoche der Vergangenheit kommt von dem besonderen Charakter der Zeitlichkeit nicht los, die sie verhandelt. Ihre Gegenwartsnähe hat ihr mit Hans Rothfels in den fünfziger Jahren die etwas prätentiöse und im Kern unsinnige Bezeichnung »Zeitgeschichte« eingetragen, als ob nicht jede historische Betrachtung eine Thematisierung der verfließenden Zeit sei und als ob nicht der Wandel in der Zeit Voraussetzung und Thema jeder Geschichtsschreibung sei. Dennoch hat der nachgerade pleonastische Ausdruck »Zeitgeschichte« seinen legitimen Sinn; er bringt die besondere Zeitabhängigkeit und Zeitempfindlichkeit zum Vorschein, die die Geschichtsschreibung des Zwischenreichs von Gegenwart und Vergangenheit kennzeichnet, unter der wir mit Hans Rothfels die »Epoche der Mitlebenden« – oder besser der Mitlebenden und Miterinnernden – »und ihre wissenschaftliche Behandlung« verstehen.[1] Anknüpfend an meine Antrittsvorlesung 2011, die von der »Zeit der Zeitgeschichte« handelte[2], möchte ich daher auch meine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin den Zeitvorstellungen der Zeitgeschichte widmen.

Ihren Bezugspunkt bildet die Rede von der »Zeitenwende«, die der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausrief[3] und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit etwas anderen Worten, aber im selben Geiste so zuspitzte: »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.«[4]

Man kann diesen Satz mit guten Gründen bestreiten. Die Bundesregierung hat ihn in der Folge mit ihrem von vielen Seiten als lavierend empfundenen Handeln gegenüber den militärischen Unterstützungsforderungen Kiews lange Zeit selbst in Frage gestellt. Erst recht die »in Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft« geäußerten Warnungen vor einer weltweiten Rüstungsspirale[5], die deutsche Intellektuelle und Politikerinnen seit April 2022 mit nicht geringem Zuspruch in der Bevölkerung immer wieder vorgetragen haben, geben sich bis in den Wortlaut hinein dem Anspruch verpflichtet, die bisherige Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mutwillig zu sprengen, also eine Zeitenwende gerade nicht zuzulassen.

Und doch belegt schon die andauernde Beliebtheit der Zeitenwende-Metapher, die auch in der Geschichtswissenschaft schon lange als brauchbare Beschreibungskategorie für historische Veränderungen genutzt wurde[6], bevor Scholz’ Diktum die zeitgenössische Titelproduktion stimulierte[7], dass es mit einer abwertenden Eskamotierung der Rede von der Zeitenwende oder gar der anklagenden Empörung über das »hohle Versprechen von der deutschen Zeitenwende«, wie der »Spiegel« im Juni 2022 titelte[8], nicht getan ist. Als gegenwartsprägender Terminus hat sich die zum Wort des Jahres 2022 gekürte »Zeitenwende«[9] als Lehnwort über Deutschland hinaus in den englischen[10] und französischen Raum verbreitet[11] und ist auch in den Sprachhaushalt der sich dezidiert neutral verstehenden Schweiz vorgedrungen.[12] Und selbst wer mit Titelzeilen wie »Die Zeitenwende mit Leben füllen« auf die Inhaltsleere dieses ad nauseam gebrauchten Ausdrucks aufmerksam macht oder gar seine hoffnungslose Abgenutztheit bis hin zur völligen Beliebigkeit beklagt, belegt noch in der entschiedenen Abwehr, dass der Begriff ein unsere Denkwelt beherrschendes Zeitgefühl transportiert, das bis in die politikfernsten Lebensfelder ausstrahlt.

Es ist nicht weniger wirkmächtig als das ubiquitäre Gefühl der Neurasthenie oder Nervenschwäche, welches das Empfinden der Zeitgenossen um 1900 traf, und deutet auf eine kulturelle Diskursverschiebung, die vor der russischen Invasion in die Ukraine nachgerade undenkbar gewesen wäre: »Hilft ein Tschaikowsky-Verbot der Ukraine?«, bugsierte beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Sommer 2022 die Konfliktlage bis in die Sphäre des musikalischen Schaffens,[13] während umgekehrt auf militärischer Ebene osteuropäische Stimmen wie die der früheren estnischen Präsidentin Kersti Kaljulaid Deutschlands zögerliche Waffenlieferungen an die Ukraine kritisierten und verlangten, dass das Land sich endlich von seiner wehrlos machenden Vergangenheitsfixierung lösen müsse: »Kommt endlich über den Zweiten Weltkrieg hinweg. […] Je schneller das passiert, umso besser ist es. Es mag Zeit kosten, die eigene Geschichte zu reflektieren. Aber diese Zeit haben wir nicht. In der Ukraine sterben täglich rund 100 ukrainische Soldaten an der Front, rund 300 werden verwundet. Jeder Tag, der mit Nachdenken zugebracht wird, lässt den Sieg weiter in die Ferne rücken.«[14]

Was kann die historische Untersuchung unserer eigenen Zeit leisten, um diesen abrupten Wandel fachlich einzuholen? Noch lange nach Hans Rothfels’ heute klassischer Definition von 1953 konkurrierte die »sogenannte Zeitgeschichte« mit dem semantisch sehr viel klareren Begriff der »Gegenwartsgeschichte«. Das mit ihm gemeinte Aufgabenfeld hatte eine lange Tradition, war aber seit dem frühen 19. Jahrhundert fast vollständig aus der Fachdisziplin ausgegrenzt worden. Wilhelm von Humboldt beschränkte 1821 die Gegenwartschronistik darauf, die »notwendige Grundlage der Geschichte«, nicht hingegen »die Geschichte selbst« erarbeiten zu können[15], und gab damit den Ton des Historismus vor, der die Zeitgeschichte zunehmend aus dem Blickfeld wissenschaftlicher Betrachtung rückte, weil mit den Worten Leopold von Rankes der für sie typische »Mangel an zuverlässiger Kunde«[16] und der »Widerstreit der Zeitgenossen« ein objektives Urteil verhinderten.[17]

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erstand die Zeitgeschichte in Deutschland neu und wurde zugleich in beiden Teilen des Landes eng mit staatlichen Legitimationsansprüchen verknüpft. Im Westen verstand sie sich im »Grenzsaum«[18] zwischen Politischer Wissenschaft und Historie als volkspädagogisches Instrument der Demokratiebildung durch Erforschung ihrer Fehlentwicklung seit 1917 und im Osten unter Beschränkung auf die Geschichte und Vorgeschichte der DDR als vergangenheitsbezogenes Vehikel der Herrschaftslegitimation. Dass sie hier wie dort als Magd der Politik eher verachtet denn geschätzt wurde, bedarf für den DDR-Fall keiner weiteren Begründung und illustriert für die Bundesrepublik am deutlichsten das Schicksal der sogenannten »DDR-Forschung« vor 1989, die irgendwo zwischen Geschichte, Soziologie, Politikberatung und Futurologie angesiedelt war und schon in der Bundesrepublik mit mangelnder Anerkennung zu kämpfen hatte, um nach 1989 für weitgehend überholt erklärt zu werden.[19]

Eigentlich erst in den 1980er Jahren und besonders nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes entwickelte die historische Subdisziplin der Zeitgeschichte ihre heute fast unwiderstehlich scheinende Attraktivität. Sie präsentiert sich mittlerweile als institutionell und öffentlich dominantes Schwergewicht im Fach Geschichte, das auf Historikertagen andere Subdisziplinen mit der schieren Zahl seiner Sektionsanmeldungen erdrückt, universitäre Lehrstühle in beeindruckender Zahl besetzt und in der außeruniversitären Forschung einen Boom von Verbünden und Instituten erzeugt hat, die über die zeithistorische Grundlagenforschung hinaus mit bemerkenswerter Wucht und Geschwindigkeit auf Anfragen und Trends im geschichtspolitischen Raum zu reagieren imstande sind. Die Attraktivität der Zeitgeschichte schlägt sich jenseits der akademischen Beschäftigung in der Popularität von historischen Dokumentationen und Spielfilmen, von Geschichtsausstellungen und Reenactments ebenso nieder wie in der Wirtschaftskraft des Geschichtstourismus. Von der Macht der Zeitgeschichte kündet der Dauerstreit um das Bild der Vergangenheit im öffentlichen Diskurs ebenso wie die Konjunktur von Gedenkzeichen und Gedenkstätten oder die öffentliche Anteilnahme an zeithistorischen Debatten, aber auch das heutige deutsche Selbstverständnis als Wertedemokratie und noch die absurde historische Kostümierung ihrer Gegner in Gestalt von »Reichsbürgern« und »Bismarcks Erben«.

Zugleich aber zeichnet sich die Zeitgeschichte durch konstitutive Besonderheiten aus. Sie unterscheidet sich dadurch von anderen Teildisziplinen der Geschichtsschreibung, dass sie nicht nur in thematischer Konkurrenz zu gegenwartsorientierten Wissenschaften wie der Soziologie und der Politikwissenschaft steht, sondern auch einer ständigen Interaktion mit der sozialen Deutungskraft erfahrungs- und erinnerungsgestützter Gegennarrative ausgesetzt ist. Sie bewegt sich in besonderer Weise im Spannungsfeld von science culture und memory culture und wird in der öffentlichen Wahrnehmung gern mit Vergangenheitsaufarbeitung und Erinnerungskultur in eins gesetzt. Die Zeitgeschichtsschreibung sieht sich unablässig mit der Aura der Authentizität konfrontiert, die Zeitzeugenaussagen über empirische Beweiskraft triumphieren lässt, und sie hat sich mit der narrativen Autorität einstiger Machthaber auseinanderzusetzen, die rückblickend das Bild des historischen Geschehens zu formen suchen. Und sie wird beeinflusst durch die Zugkräfte der Publikumserwartung wie der medialen Transferagenturen, die den zeithistorischen Blick nach ihren eigenen Gesetzen zu lenken bestrebt sind.

Zum anderen charakterisiert die Zeitgeschichte eine besondere Verwundbarkeit, da sie es mit Ereignissen und Prozessen zu tun hat, deren Ende sie häufig nicht kennt. Zwar ist jede Vergangenheitsvergegenwärtigung auf »Sehepunkte« angewiesen, wie der Theologe Johann Martin Chladni – bzw. latinisiert Chladenius – schon im 18. Jahrhundert lehrte. Aber die Zeitgeschichte als die gegenwartsnächste Subdisziplin der Geschichtswissenschaft ist in gesteigertem Maße zäsurenempfindlich, denn sie braucht den Fluchtpunkt des eigenen Vergangenheitsentwurfs so sehr wie jede Historiographie älterer Zeiten. Nur kann die Geschichtsschreibung ihre Sehepunkte umso weniger sicher ausmachen, je näher sie an die Gegenwart heranrückt, und muss sich dann mit unerwarteten Epochenbrüchen arrangieren, die bisherige Verlaufsmuster und Meistererzählungen über den Haufen werfen. Gerade darin liegt allerdings auch die Chance, der eigenen Schwäche geschichtstheoretisch zu begegnen und der Frage nachzugehen, welche Geltungskraft markante Zäsuren einerseits in der Zeitgeschichte zu entfalten vermögen und wie andererseits das Fach der immanenten Herausforderung reflexiv gerecht werden kann, dass sich seine narrativen Bezugspunkte stets erst mit wachsendem Abstand herauskristallisieren.

Zäsur und Zeitenwende

Für die weitere Verständigung bedarf es einer zusätzlichen begrifflichen Klärung: Was ist eigentlich gemeint, wenn von Zäsuren und Epochen und am Ende auch von Zeitenwenden gesprochen wird? Zu dieser Frage hat sich eine lange fachliche Tradition herausgebildet, die bis zum griechischen Ahnherrn der Zeitgeschichtsschreibung zurückgeht. In seiner »Geschichte des Peloponnesischen Krieges«, dessen Zeitgenosse er war, berichtet Thukydides (454-399/396 v. u. Z.) von einer Kriegswende im Jahr 416 v. u.Z., als die Athener mit einem überraschenden Manöver den zwischenzeitlichen Frieden mit Sparta brachen. Mit einer gewaltigen Flotte von 38 Trieren, also Dreiruderern mit gestaffelten Ruderbänken und jeweils 300 Mann Bootsbesatzung, stießen sie auf die ägäische Kykladeninsel Melos vor, um mit dem Recht des Stärkeren die Unterwerfung der kleinen Polis zu fordern. Die überfallenen Melier spürten, dass sie vor einer historischen Zäsur standen. Aber sie trachteten sie zu verhindern und beschieden die Athener, sie würden nicht »von einem Tag auf den anderen eine schon siebenhundert Jahre bestehende Stadt ihrer Freiheit berauben, sondern sie sowohl dem nach dem Willen der Götter waltenden Glück, das sie bis zu diesem Tag beschützt, anvertrauen als auch der von den Menschen kommenden Hilfe und so versuchen, unser Bestehen zu sichern«. Die Melier setzten also auf politische Kontinuität in der Krise und boten ihren Aggressoren einen Vertrag an, der den status quo ante wiederherstellte und wie bisher gleiche Distanz zu Athen wie zu Sparta wahrte: »Wir verbinden den Vorschlag, Freunde für euch und Feinde für keinen von beiden zu sein, mit der Aufforderung, dass ihr aus unserem Lande abzieht nach Abschluss eines Friedensabkommens, das beiden Parteien angemessen erscheint.«[20] Retten konnten sich die Melier mit dieser mutigen Abwehr einer Zeitenwende allerdings nicht. Sie mussten sich vielmehr von den Athenern vorhalten lassen, dass ihr Festhalten am Herkommen sich bitter rächen würde und die Unfähigkeit, dem Wechsel der Zeiten Rechnung zu tragen, den Epochenbruch nur schrecklicher werden ließe: »So seid ihr denn […] die einzigen, die Zukünftiges für gewisser halten als was sie vor Augen haben und Unerkennbares aus Wunschdenken als bereits sich vollziehende Realität betrachten: Und da ihr im Vertrauten auf […] Glück und Hoffnungen den höchsten Einsatz wagt, wird der tiefste Fall für euch die Folge sein.«[21] Die ausgehungerte Polis von Melos musste sich den Athenern tatsächlich noch im selben Winter ergeben, und diese Niederlage stellte für sie eine denkbar einschneidende Zäsur dar; sie wurde entsprechend einem Antrag des charismatischen Demagogen Alkibiades, eines Neffen des Perikles, auf Beschluss der athenischen Volksversammlung ausgelöscht, ihre männlichen Bewohner wurden hingerichtet, die Frauen und Kinder versklavt.

Für das siegreiche Athen hingegen stellte der Untergang von Melos nach eigenem Verständnis keine Zäsur dar, sondern nur die nächste Stufe auf der Leiter, die zur Weltherrschaft führte. Im Überschwang des Triumphes und wieder auf Verlangen des kriegslüsternen Strategen Alkibiades rüstete Athen eine Expedition nach Sizilien aus, die allerdings im Folgejahr in eine Katastrophe mündete und den Niedergang des mächtigen Stadtstaates einleitete. 404 v. u.Z. endete der Peloponnesische Krieg mit einer welthistorischen Niederlage Athens. Es musste sich dem stärkeren Sparta geschlagen geben, das wie zum Hohn die Rückführung der letzten überlebenden Melier auf ihre verwüstete Insel veranlasste, wohingegen der nach mehrfachem Seitenwechsel aus Athen vertriebene Alkibiades im persischen Exil einem Attentat zum Opfer fiel. Erst im Nachhinein erwies sich so, dass der Untergang von Melos auch für Athen eine Zäsur darstellte; die durch den Sieg genährte Hybris hatte Athen dazu verführt, seine Kräfte zu überspannen, und rückblickend so seinen politischen Abstieg nach sich gezogen. Am Ende erwies sich die historische Zäsur für Athen in gewisser Weise sogar als einschneidender denn für Melos selbst, das mit Spartas Hilfe an seine alte Stellung wieder anknüpfen konnte, während Athen seine politische Weltgeltung für immer verspielt hatte.

Was lehrt der Kampf um Melos vor bald zweieinhalbtausend Jahren zum besseren Verständnis des Begriffs »Zäsur«? Epocheneinschnitte sind schwer zu fassen. Sie sind selten umfassend, sondern gelten meist nur sektoral für bestimmte Regionen, Milieus, Gemeinschaften, Gruppen. Ereignisgeschichtliche Zäsuren sind scharfe Einschnitte im historischen Kontinuum, die wie 1789, 1917, 1933 oder 1945 und schließlich 1989 jedem historisch Bewanderten sofort vor Augen stehen. Gesellschaftsgeschichtliche Zäsuren hingegen folgen den Amplituden eines Strukturwandels, der die Zwischenkriegszeit nach 1918 ebenso umfassen kann wie die ersten Trente Glorieuses des Wirtschaftsbooms nach 1945 in Frankreich und Deutschland oder die neuerlichen Trente Glorieuses der weltpolitischen Warmzeit zwischen 1990 und 2022, aber auch humangeschichtliche Epochen wie das fossile Zeitalter oder gar das Anthropozän.

In jedem Fall ist von der geschichtstheoretischen Grunderkenntnis auszugehen, dass Epochenbegriffe subjektive Vorstellungen repräsentieren und nicht objektive Tatsachen bezeichnen; sie sind mit Johann Gustav Droysen immer nur »Betrachtungsformen […], die der denkende Geist dem empirische Vorhandenen gibt«[22]