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Max Landorff

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Beschreibung

Er ist der REGLER. Für die Reichen und Mächtigen regelt er alles – Liebe, Karriere, Geld, Sex. Bis er erkennen muss: Du kannst alles regeln. Nur nicht deine Vergangenheit. Gabriel Tretjak ist der Regler. Im Auftrag seiner Klienten greift er in ihre Biographie ein, legt sich an ihrer Stelle mit dem Schicksal an – ohne moralische Grenzen. Seine Preise sind hoch, seine Methoden bedienen sich wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Psychologie bis zur Gehirnforschung. Seine Geschäftsgrundlage ist die Sehnsucht der Menschen, dass am Ende alles gut ausgeht, egal, wie verfahren eine Situation ist. Aber was heißt schon gut – gut für wen? Dann wird in einem Pferdetransporter die Leiche eines renommierten Hirnforschers gefunden, dem die Augen ausgeschält wurden. Das erste Opfer eines Mörders, dessen Spuren alle in eine Richtung weisen: zum Regler. Während Tretjak noch versucht, durch seine Methoden Herr der Lage zu bleiben, breitet sich in ihm ein Gefühl aus, das er sich sonst nur bei anderen zunutze macht: Angst. Denn schnell wird klar, dass die Morde ihr Motiv in Gabriel Tretjaks Vergangenheit haben. Und die kann nicht einmal der Regler regeln. »Raffiniert und echt spannend: Spitzenthriller made in Germany.« TV Movie »Ein unterhaltsames, spannendes Buch, das ich quasi in einem Rutsch durchgelesen habe.« Nele Neuhaus

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Seitenzahl: 354

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Max Landorff

Der Regler

Thriller

Fischer e-books

Es ist nicht wahr, dass es nur Lösungen gibt, keine Probleme.

Es ist nicht wahr, dass die Zeit alle Wunden heilt.

Es ist nicht wahr, dass die Liebe Brücken baut.

 

Aber wer kann uns helfen?

Prolog

Er blickte über die glatte, bleigraue Oberfläche des Sees und sah das Schiff auf sich zukommen, genau mit der Spitze voraus. Die unsichtbare Linie, auf der es sich nun schon minutenlang näherte, stand exakt senkrecht zu der Bank, auf der er saß. Es war ein Mittwoch im Oktober, der erste im Oktober, um genau zu sein, und es war Viertel nach sechs Uhr abends. Außer ihm und der Angestellten der Fährlinie erwartete niemand das Schiff, das Alpino hieß und nach genauem Plan jahrein, jahraus auf dem Lago Maggiore kreuzte. Im Sommer waren manchmal so viele Leute an Bord, dass die Alpino aus der Ferne wie ein Flüchtlingsboot aussah, schwer stampfend, tief im Wasser liegend. Um diese Jahreszeit wirkte sie dagegen schnell und elegant, man konnte sehen, dass sie weiß war, weiß mit dunkelblauen Streifen an den Seiten und um Türen und Fenster.

An der Anlegestelle befanden sich zwei runde Schilder, wie große weiße Uhren, mit roten Zeigern auf dem Zifferblatt, die von der Fährangestellten bewegt wurden. Das eine Schild zeigte die Ankunftszeit der nächsten Fähre aus Richtung Cannobio an, das andere die Ankunftszeit des Schiffes aus Richtung Luino: fünf nach sechs. Die Sonne war schon hinter den Bergen verschwunden, der See lag im Schatten. Die Spitze der Alpino war aus dem Dunst aufgetaucht, der sich über die Wasserfläche gelegt hatte. Die Fähre hatte Verspätung.

In den letzten Tagen war das Wetter umgeschlagen. Der warme Herbst hatte sich in einen Vorboten des Winters verwandelt. Oben in den Bergen fiel schon Schnee, unten floss eiskaltes Wasser in den See. Gabriel Tretjak trug einen schwarzen Kaschmirmantel und einen dunkelgrauen Schal. Er stand auf, ging die paar Schritte auf den Landungssteg zu und blieb neben den beiden runden Schildern stehen, die Hände in den Manteltaschen. Er hatte keine Handschuhe an, das Metall des Revolvers in der rechten Tasche fühlte sich inzwischen warm an.

Es ließ sich in seinem Geschäft oft nicht vermeiden, jemandem zu drohen, und er geriet durchaus in gefährliche Situationen. Aber er arbeitete prinzipiell nicht mit Waffen, niemals. Er besaß nicht einmal eine. Doch das hier war etwas anderes. Vor nichts in seinem Leben hatte er jemals so große Angst empfunden wie vor dem, was in wenigen Augenblicken hier an diesem Anlegesteg seinen Anfang nehmen würde.

Die Alpino fuhr einen Bogen und legte seitlich am Steg an. Eine Brücke aus Aluminium wurde ausgelegt, um die Passagiere von Bord zu lassen. Es waren nur drei. Zuerst kam ein großer Mann, der mit der einen Hand einen kleinen Jungen führte und mit der anderen ein gelbes Kinderfahrrad schob. Dann kam sie. Sie war kleiner, als er sie in seiner Vorstellung gespeichert hatte, irgendwie zarter. Der braune Wollmantel, in den sie sich gehüllt hatte, wirkte eine Idee zu groß, und die Mütze machte ihr Gesicht schmal.

Als sie ihn erreicht hatte, stellte sie ihre Reisetasche auf die Holzbohlen, sah ihn an und sagte fast etwas verlegen: »Hast du lange gewartet?«

Er nickte. »Zwanzig Jahre.«

Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Er nahm ihre Tasche vom Boden und schlug den Weg in den Ort ein. Sie ging neben ihm her.

»Es gibt nur das eine Hotel hier in deinem Ort«, sagte sie und deutete auf ein cremefarbenes Gebäude vor ihnen. »Wie ist es?«

»Nicht dein Standard«, antwortete er, »aber in Ordnung.«

Als die Alpino wieder ablegte, um den See zurück in Richtung Cannobio zu überqueren, hatten sie den Eingang des Hotels erreicht. Torre Imperial stand in goldenen Buchstaben an der Glastür. Darunter waren drei Sterne gemalt.

Teil 1Die Täuschung

Erster Tag11. Mai

Galle, Sri Lanka, 19.30 Uhr

Gabriel Tretjak saß in einem englischen Clubsessel und beobachtete den Kellner, der ihm einen Gin Tonic brachte. Der Kellner war mit schwarzer Hose, schwarzem Jackett und korrekt geknöpftem weißen Hemd bekleidet. Er war alt, und irgendetwas an diesem Mann, wahrscheinlich die leicht gestauchte, nach oben verschobene Nase und die ausgeprägten Falten um den Mund, erinnerte Tretjak an ein Panzernashorn, das er ein paarmal im Tierpark Hellabrunn gesehen hatte. Der Direktor des Zoos war von einem Pfleger erpresst worden und hatte Tretjak beauftragt, die unangenehme Geschichte zu beenden. Es ging um illegale Medikamente für exotische Tiere. Am Haus des Panzernashorns, wo der Pfleger gerade Dienst tat, hatte Tretjak das erste Mal auf ihn gewartet. Er liebte Rituale, deshalb trafen sie sich auch danach immer wieder an diesem Ort. Bis die Angelegenheit geregelt war. So hatte Tretjak einiges über Panzernashörner gelernt. Sie reagierten empfindlich auf kleinste Veränderungen in ihrer Umgebung, wurden sofort misstrauisch und unberechenbar. Das hatten sie gemeinsam mit fast allen Tieren: Veränderungen bedeuteten Gefahr. Gabriel Tretjak wusste, dass es bei Menschen nicht anders war. Auch bei ihnen weckten Veränderungen die Wachsamkeit, er hatte sich das oft zunutze gemacht. Aber im Unterschied zu Panzernashörnern mussten es für Menschen größere Veränderungen sein. Wenn es sich nur um Kleinigkeiten handelte, um geringe Abweichungen vom Gewohnten, die den Fluss der Dinge nicht wirklich durcheinanderbrachten, blieben die Menschen schläfrig, gutmütig, fast einfältig. Sie interpretierten diese Kleinigkeiten falsch und begriffen ihre tatsächliche Bedeutung erst später. Manchmal lagen zwischen der falschen Wahrnehmung und dem Begreifen nur ein paar Minuten, manchmal Jahrzehnte.

Der Kellner fragte ihn, ob er auch etwas zu essen wünsche. Tretjak verneinte. Er hatte bereits eine Reservierung für 21 Uhr im Restaurant, das ums Eck des Foyers lag und dessen Tische schon weiß eingedeckt waren.

Tretjak war sich ziemlich sicher, dass der Mann, auf den er in der Hotelhalle wartete, eine kleine Veränderung am heutigen Tag falsch einschätzte. Die Tatsache nämlich, dass ihn seine Ehefrau noch nicht angerufen hatte. Nach allem, was Tretjak inzwischen über ihn wusste, war dem Mann vielleicht nicht einmal aufgefallen, dass das übliche Telefonat nicht stattgefunden hatte – obwohl es eine feste Gewohnheit war, wenn er auf Geschäftsreisen war. Nun ja, es würde nicht mehr lang dauern, dann würde er die Bedeutung dieser Änderung erkennen.

Tretjak sah auf die Uhr, es war Viertel vor acht. Plötzlich befiel ihn wieder das Gefühl, das ihn in letzter Zeit öfters heimgesucht hatte. Eine Art von Müdigkeit, ein Gefühl des Überdrusses. Früher hatte er genau diese Momente genossen, diese Momente vor der Zuspitzung, diese Annäherung an einen dramatischen Wendepunkt im Leben eines anderen Menschen, der davon noch nichts ahnte. Aber seit ein paar Wochen ertappte er sich bei dem Wunsch, diesen Moment vorübergehen zu lassen – ohne einzugreifen.

Tretjak saß mit seinem Gin Tonic im Foyer des Hotels New Oriental in Galle, der Hafenstadt im Südwesten von Sri Lanka. Er hatte einen elfstündigen Flug hinter sich – Lufthansa LH2016, München–Colombo – und eine vierstündige Autofahrt. Der kleine, schweigsame Fahrer hatte seinen Peugeot geschmeidig wie ein Motorboot über riesige Schlaglöcher und zwischen Eselsfuhrwerken, Tuk-tuk-Schwärmen und nicht verkehrssicheren Lkws hindurchgesteuert. In ein paar Stunden würde ihn der Fahrer denselben Weg wieder zurückfahren, zurück zum Flughafen Colombo, zu Flug LH2017, der im Morgengrauen nach München abhob. Tretjak war nur für diesen einen Abend gekommen – um einen Menschen aus seiner Schläfrigkeit zu reißen.

Es war heiß in der Hotelhalle. Die alten hölzernen Ventilatoren an der Decke kreisten müde vor sich hin. Einer quietschte, er hing direkt über dem schwarzen Piano im linken Bereich der Halle, wo sich auch die Bar befand. Eine Gruppe von drei Engländern hielt sich dort auf, jeder hatte einen Cocktail vor sich, gelegentlich stieß einer von ihnen eine merkwürdige Salve von kurzen Zischlauten aus, wenn ihn etwas belustigte.

Jetzt trat ein bulliger Mann in Khakihosen und einem grünen Ralph-Lauren-Poloshirt durch die breite, offenstehende Eingangstür. Er schwitzte, sein Gesicht war gerötet, er trug eine Pilotensonnenbrille. Zielstrebig schritt er auf die Rezeption zu und sagte mit einer tiefen lauten Stimme und leichtem deutschen Akzent: »Room number seven, please.«

Tretjak hatte sich erhoben und trat seitlich hinter den Mann, in zwei Metern Abstand. »Glückwunsch, Herr Schwarz«, sagte er. »Die Sieben ist das beste Zimmer hier.«

Der Mann drehte sich um, schob seine Sonnenbrille in die Stirn, musterte Tretjak aus fragenden blauen Augen.

»Genießen Sie Ihren kleinen Urlaub, Herr Schwarz?«, fragte Tretjak.

Dem Mann war jetzt deutlich anzusehen, wie er sein Gedächtnis durchforstete. Kannte er diesen Fremden von irgendwoher? »Ja, das tue ich«, antwortete er schließlich, »darf ich fragen –«

»Wir müssen reden, Herr Schwarz«, unterbrach Tretjak. »Ich habe im Restaurant einen Tisch bestellt. 21 Uhr.«

»Ich wüsste nicht …« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kenne Sie nicht, und ich wüsste nicht, worüber wir uns unterhalten sollten.«

»Oh, Verzeihung, mein Name ist Tretjak. Wir werden uns über Ihr Leben unterhalten, Herr Schwarz. Ich bin gekommen, um es zu ändern. Mit Ihrer Hilfe natürlich.«

Der Mann, der Schwarz hieß und über den Gabriel Tretjak mehr wusste als jeder andere in dessen Leben, wurde ungehalten. »Hören Sie, Sie müssen mich verwechseln. Ich denke nicht daran, mein Leben zu ändern. Und wenn, würde ich mich kaum mit Ihnen darüber unterhalten.« Ein amüsiertes Glitzern zeigte sich in seinen Augen, ein Zeichen, dass er wieder Sicherheit gewann. Ein Verrückter eben, den er da vor sich hatte, nichts weiter. »Wissen Sie, dieses Land bietet viele Attraktionen. Ich bin keine davon. Guten Abend.«

Nach diesen Worten wandte er sich um zur Rezeption, nahm den Messingschlüssel mit der Nummer 7 von der Theke und war schon auf halbem Weg zur Treppe linker Hand, als Tretjak sagte: »Wenn Sie die Sache mit Union Carry nicht hinkriegen, werden Sie Ihren Vorstandsjob verlieren. Das sagt jedenfalls Ihr Aufsichtsrat.«

Schwarz blieb stehen, drehte sich um, blickte Tretjak an.

»Um 21 Uhr, Herr Schwarz«, sagte Tretjak. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden alles regeln.« Er wandte sich zum Rezeptionisten hinter der Theke: »Room number five, please.« Tretjak nahm den Schlüssel entgegen, lächelte Schwarz zu, der immer noch verblüfft dastand, und ging an ihm vorbei zur Treppe.

Das war gut gelaufen, dachte er. Schwarz war irritiert genug. In seinem Zimmer würde ihm jetzt auffallen, dass seine Frau sich nicht gemeldet hatte, und er würde sie anrufen. Besser gesagt: Er würde versuchen, sie anzurufen. Dieser Versuch würde seine Irritation noch steigern. Denn unter der Handynummer seiner Frau würde er die Ansage hören: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben.« Und auf der Festnetznummer würde niemand abheben.

 

Tretjak ging auf sein Zimmer, stellte seine Aktentasche ab, rückte einen Stuhl ans Fenster, setzte sich und schloss die Augen. Die Fenster in diesem Hotel hatten keine Scheiben, sondern nur Läden mit Holzlamellen. Man hörte die Geräusche von draußen, das Zirpen der Insekten, das Rufen der Kinder. Das New Oriental in Galle war ein gewisser Geheimtipp, ein altes Hotel im englischen Kolonialstil. Das große dunkelbraune Holzbett war bestimmt zweihundert Jahre alt. Es stand unter einem hohen Himmel aus gespannten Netzgardinen, die bis zum Boden reichten und die Moskitos abhielten. Tretjak würde dieses Bett nicht benötigen. Er stand auf, ging ins Badezimmer und nahm eine lange, kühle Dusche.

Beim Blick in den Spiegel beschloss er, wieder mehr Sport zu machen. Jetzt, da der Sommer kam, konnte er in München von seiner Wohnung aus morgens wieder direkt zur Isar laufen, am Fluss entlang, dann über die Montgelasbrücke in den Englischen Garten und am Haus der Kunst vorbei zurück. Tretjak legte Wert darauf, seine Figur zu halten. Er war jetzt 44 Jahre alt und trug seit über 25 Jahren unverändert Anzuggröße 50. Seine schwarzen Haare zeigten noch keine Anzeichen von Grau, und das würde vermutlich auch so bleiben. Die Haare hatte er von seiner Mutter geerbt, und in ihrer ganzen Familie gab es buchstäblich keine einzige graue Strähne. Tretjaks Haare waren dick, und er trug sie relativ lang. Jetzt waren sie nass, und er kämmte sie nach hinten aus der Stirn.

Er nahm aus seiner Aktentasche ein Paar neue Unterhosen und zog sich wieder an. Eine dunkelblaue Hose aus Synthetic-Material, ein langärmliges beiges T-Shirt. Barfuß schlüpfte er in seine dunkelbraunen Slipper. Im Zimmer hatte sich inzwischen der Duft der aufgeschnittenen Papayafrüchte ausgebreitet. Sie waren auf einer flachen Schale drapiert, die auf dem Tisch stand. Tretjak setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster und überlegte, wie er das Treffen unten im Speisesaal eröffnen sollte. Er durfte das Tempo nicht verlieren, das er an der Rezeption vorgelegt hatte, er musste die Spannung hochhalten. Tretjak beschloss, etwas zu spät nach unten zu gehen und als Entschuldigung anzuführen: »Ich habe bis eben noch mit Ihrer Frau telefoniert, Herr Schwarz, und, nun ja, Sie kennen sie ja …«

Vom ersten Gespräch hing viel vom Gelingen der Mission ab, das wusste Tretjak aus Erfahrung. Aber in diesem Fall schien ihm die Angelegenheit nicht besonders schwierig zu sein. Es handelte sich eher um einen Routineauftrag. Tretjak hatte ihn schon ablehnen wollen, er hatte keine Lust, sich zu langweilen. Aber dann hatte seine Auftraggeberin, Melanie Schwarz, einen Satz gesagt, der ihn zum Schmunzeln gebracht hatte. Diesem Satz verdankte er nun die Tatsache, dass er in wenigen Minuten in den Genuss des »großen Currys« kommen würde, der Spezialität des Restaurants im New Oriental. Er hatte vorbestellt, damit keine Zeit durch das Studium der Karte und die Auswahl der Speisen verlorenging. Das Gericht, so hatte man ihm erklärt, bestand aus zahlreichen Schälchen feinster Gemüse-, Fleisch- und Fischspeisen und unterschiedlichster Soßen, alle sehr scharf und geeignet, Schweißperlen auf die Stirn zu treiben.

Melanie Schwarz fühlte sich in einem Leben gefangen, aus dem sie entkommen wollte, aber nicht konnte. Ein Geflecht aus Schuldgefühlen, Verantwortung und Mutlosigkeit hielt sie zurück, dazu die Angst, in einem neuen, eigenen Leben zu versagen. Als junge Frau war sie ein Schlagersternchen gewesen, hatte es mit zwei Liedern in die Hitparaden geschafft: Du bist jetzt allein und Die Wahrheit tut weh. Aber ihre Karriere war kurz gewesen, es war bald still geworden um sie. Einmal war sie noch in den Schlagzeilen aufgetaucht mit einem angeblichen Selbstmordversuch, schließlich war sie völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Dann lernte sie Peter Schwarz kennen, der eine sichere Burg um sie herum errichtete aus einer Familie und einem hohen Lebensstandard. Inzwischen hatten die beiden eine erwachsene Tochter, die in London eine Tanzausbildung machte. Sie bewohnten eine herrliche Dachgeschosswohnung in Berlin am Gendarmenmarkt und ein kleines restauriertes Gut außerhalb Potsdams mit einem Pferdestall. Melanie war schon als Kind gern geritten. Peter Schwarz hatte ihr einen Traum verwirklicht. Aber inzwischen hatte sie einen neuen Traum. Am Ende ihres Gespräches hatte sie auf das Stück Papier gestarrt, auf dem Tretjak den Plan skizziert hatte, und dabei gesagt: »Ich habe kein eigenes Geld. Ich kann Sie nicht bezahlen.« Tretjak, der schon drauf und dran gewesen war, den Auftrag abzulehnen, war hellhörig geworden. Er hatte sie angesehen und dabei beobachtet, wie sie all ihren Mut zusammennahm, um diesen einen Satz zu sagen: »Am Ende müssen Sie meinen Mann auch noch dazu kriegen, Ihre Arbeit zu bezahlen.«

 

Am schärfsten waren die Linsen gewesen. Selbst Tretjak, der von klein auf gewohnt war, scharf zu essen, hatte bei diesem Gericht Tränen in die Augen bekommen. Schwarz hatte es nach einem Test mit einer winzigen Menge auf der Gabelspitze nicht mehr angerührt.

Der Kellner mit dem Nashorngesicht war jetzt dabei, die vielen Schälchen abzuräumen. Zurück auf dem Tisch blieb eine gläserne Karaffe Mineralwasser, eine fast volle Flasche Haut-Médoc und ein paar Gläser.

»Wünschen die Herren noch ein Dessert?«

Tretjak blickte Schwarz fragend an.

Schwarz schüttelte den Kopf. »Kaffee. Espresso. Doppelt.«

Tretjak nickte dem Kellner zu und bedeutete ihm, dass er sich diesem Wunsch anschloss. Dann griff er nach der Aktentasche, die neben seinem Stuhl auf dem Fußboden abgestellt war, nahm sie auf den Schoß, öffnete sie und entnahm ihr ein einziges weißes Blatt Papier und einen dunkelblauen Kugelschreiber der Marke Parker, legte beides vor sich auf den Tisch und stellte die Tasche wieder auf den Boden.

»Sie möchte also ein neues Leben anfangen«, sagte Schwarz, mehr zu sich selbst als zu Tretjak. »Das kann sie mir aber nicht selbst sagen … Dafür braucht sie einen wie Sie. Wie ist sie auf Sie gekommen?« Er blickte Tretjak in die Augen. »Schlafen Sie mit ihr?«

Tretjak machte sich nicht die Mühe zu antworten und schwieg. Er ließ Schwarz Zeit. Manche Menschen verstummten, wenn sie eine schlechte Nachricht erhielten. Andere mussten die Dinge aussprechen und immer wieder wiederholen, um sie zu begreifen. Zu diesen gehörte Schwarz. Er war getroffen, das war ihm anzusehen. Seine Hände zitterten, als er sich Wasser einschenkte. Der Bulle wankte.

»Die Flügel noch mal ausbreiten, so, so … War das Melanies Formulierung, oder haben Sie sich die ausgedacht? Eine friedliche Scheidung … eine kleine Wohnung … nur eine kleine Summe Geld für den Start … Was für einen Start? Und darüber soll ich jetzt mit Ihnen reden? Was wollen Sie denn eigentlich in diesem Spiel?«

Der Kaffee kam, und die beiden Männer ließen ihn schweigend kalt werden in den Tassen, die sich gegenüberstanden. Bis auf einen Tisch im entfernt liegenden hinteren Eck war das Restaurant inzwischen leer. Die ältere Dame, die dort saß, war in ein Buch vertieft. Aus der Küche drang das leise Geklapper, das am Ende eines langen Tages in allen Restaurantküchen der Welt entstand.

Tretjak war zufrieden. Er musste diesem Mann in diesem Restaurant in Sri Lanka, der in Kürze wieder aus seinem Leben verschwinden würde, jetzt nur noch ganz deutlich die Regeln erklären. Er musste ihm nur noch klarmachen, dass es vorerst kein Gespräch mit seiner Frau geben würde. Dass seine Frau verreist war und nur er, Tretjak, wusste, wo sie war. Dass sie erst zurückkehren würde, wenn alles genauso arrangiert wäre, wie sie es sich wünschte. Eine Stunde noch, schätzte Tretjak, dann würde er draußen auf die Terrasse treten und dem Fahrer winken.

In diesem Moment trat der Mann von der Hotelrezeption an ihren Tisch. Es war der Moment, den Tretjak später immer wieder rekapitulieren sollte. Er hatte den Mann schon aus den Augenwinkeln gesehen, wie er zügig das Foyer durchquerte, im Restaurant kurz stehen blieb und sich umsah, dann entschlossen auf sie zusteuerte. Rückblickend war sich Tretjak sogar sicher, dass er sogar schon gesehen hatte, wie der Mann hinter der Rezeption den Telefonhörer aufgelegt hatte, bevor er sich auf den Weg machte. Rückblickend wusste Tretjak genau, dass er ungehalten gewesen war wegen der – sicher unnötigen – Störung, die auf ihn zukam.

»Herr Tretjak, da war ein Anruf für Sie«, sagte der Rezeptionist.

Das menschliche Gehirn ist eine Entscheidungsmaschine. Ununterbrochen verarbeitet es riesige Mengen von Daten, um ständig, in buchstäblich jeder Sekunde, Entscheidungen zu fällen, blitzschnell, mit einem einzigen Zweck: das Überleben zu sichern.

»Ein Anruf? Für mich? Sind Sie sicher?«

»Kein Zweifel. Der Anrufer sagte, er habe eine wichtige Nachricht für Gabriel Tretjak. Seinen Namen hat er nicht genannt.« Er blickte auf einen Zettel. »Sieger im vierten Rennen, Pferd Nummer 6, Nu Pagadi. Das ist die Nachricht.«

Schon beim Überqueren einer Straße vollführt das menschliche Gehirn eine wahre Meisterleistung. Es schätzt die Länge des Weges von einer Straßenseite zur anderen ab und die Zeit, die benötigt wird, ihn zurückzulegen, inklusive rauf und runter am Bordstein. Es schätzt die Entfernung und die Geschwindigkeit des Autos ab, das sich nähert, berechnet die Zeit, die es braucht, bis es die eigene Position erreicht hat, bezieht die Bodenbeschaffenheit in die Berechnungen mit ein, auch die zwei Radfahrer von rechts – und entscheidet dann: Gehen oder stehen bleiben? Wenn nur eine dieser Berechnungen falsch ist, ist das Leben des Menschen beendet, und sein Hirn breitet sich als klebrige Masse auf dem Asphalt aus.

Im New Oriental in Sri Lanka entschied Gabriel Tretjaks Gehirn in diesem Moment, dass von diesem Anruf keine Gefahr ausging, dass es sich um einen Irrtum handeln musste. Niemand wusste, wo Tretjak sich zu diesem Zeitpunkt befand. Und er war noch nie in seinem Leben bei einem Pferderennen gewesen.

»Danke«, sagte Tretjak also nur, wartete, bis der Rezeptionist sich zurückgezogen hatte, griff nach seinem Kugelschreiber und beugte sich nach vorn, um die Stille zwischen Schwarz und sich zu beenden.

»Hören Sie mir jetzt genau zu, Herr Schwarz«, begann er. »Ich weiß, dass Sie vorhaben, übermorgen nach Mumbai weiterzufliegen. Sie wollen dort eine Kooperation Ihres Unternehmens mit dem indischen Chiphersteller Union Carry abschließen.« Tretjak machte eine kleine Pause. »Ich weiß auch, dass hinter der Sache eine Intrige aus Ihrem eigenen Vorstand heraus steckt. Die Kooperation wird nicht zustande kommen, und im Aufsichtsrat sind die Weichen bereits gestellt, dass Ihr Scheitern Sie den Job als Vorstandsvorsitzenden kosten wird.«

Schwarz sah Tretjak über den Tisch hinweg ratlos an. Vor drei Stunden war sein Leben noch klar gewesen, überschaubar, ausgeleuchtet bis in den kleinsten Winkel, ein gutes Leben ohne größere Probleme am Horizont. Er hatte an diesem 11. Mai eine kleine Bootsfahrt unternommen, mit einem Führer natürlich, der ihn in einem Einbaum einen Fluss hoch ins Landesinnere gerudert hatte. Er war auf einer kleinen Insel voller Mangobäume spazieren gegangen, er hatte Alligatoren am Flussufer gesehen. Er hatte von dem Einbaum aus eine SMS an seine Tochter in London geschrieben, die ihm den Aufenthalt im New Oriental zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte auf einer Sri-Lanka-Reise dort Station gemacht, und als sie hörte, dass ihr Vater geschäftlich in Indien zu tun haben würde, befand sie, dies sei eine gute Gelegenheit für ihn zu einer kleinen viertägigen Auszeit. Mal was anderes, Dad, als deine vollklimatisierten anonymen Hotels, mal was Neues, mal was nur für dich … Am Abend war er bester Laune ins Hotel zurückgekehrt.

Nun saß er einem Fremden gegenüber, der ihm eröffnet hatte, dass seine Frau ihn verlassen wollte, besser gesagt, dass sie ihn schon verlassen hatte – und dass er dabei war, seinen Job zu verlieren. Die Firma, deren Vorstandsvorsitzender er war, stellte Kühlaggregate her. Der Deal mit Union Carry betraf einen elektronischen Steuerungschip, mit dessen Hilfe die Kühlaggregate weltweit kompatibler und konkurrenzfähiger würden. Das jedenfalls hatten ihm seine Experten versichert und in einer beeindruckenden Präsentation aufbereitet. Früher hatte es im Vorstand einen eigenen Posten für internationale Kooperationen gegeben. Aber im Zuge der Verschlankung im Personalbereich hatte man auch in der Unternehmensführung Zeichen setzen wollen und den Bereich dem Vorsitzenden zugeordnet, der sich auf seine Experten verlassen musste. Was verstand dieser Tretjak von Kühlaggregaten?

»Ich habe in meiner Tasche ein paar Unterlagen, die Ihnen beweisen werden, was ich sage«, erklärte Tretjak. »E-Mails, Akten- und Telefonnotizen, Belege für geheime Treffen. Ich werde sie Ihnen hierlassen, Sie können sie in aller Ruhe lesen. Keine erfreuliche Lektüre. Ich schlage Ihnen jetzt eine klare Abmachung vor, Herr Schwarz.«

Tretjak schob die Tischdecke etwas zur Seite, legte das Blatt Papier auf das Holz, um eine harte Unterlage zu haben, und zog mit dem Stift eine Linie auf der weißen Fläche, genau in der Mitte, von oben nach unten. »Auf der linken Seite dieses Papiers halten wir fest, was Sie tun werden«, sagte er. »Auf der rechten Seite halten wir fest, was ich tun werde. Lassen Sie uns bei Ihren Aufgaben anfangen.«

Tretjak sprach jetzt sehr eindringlich, machte kleine Pausen zwischen den Sätzen, ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. Wenn er einen Punkt abgeschlossen hatte, notierte er ein paar Stichworte auf dem Papier.

»Ihre Frau stammt aus Heidelberg, dorthin will sie zurück. Sie werden Ihrer Frau in Heidelberg einen kleinen Buchladen eröffnen, Schwerpunkt esoterische Fachliteratur. Dieser Laden wird voraussichtlich nie wirtschaftlich tragfähig werden, aber Sie werden Ihre Frau unterstützen und immer für ein kleines Auskommen sorgen. Das und eine kleine Wohnung in der Innenstadt, zwei Zimmer, Balkon, mehr wünscht sie sich nicht. Sie werden außerdem mit Ihrer Tochter sprechen, werden ihr erklären, dass ihre Eltern sich trennen, dass es im Guten geschieht, dass es kein böses Blut gibt. Ihre Anwälte werden die Scheidungspapiere vorbereiten. Und Sie werden Ihrer Frau einen Brief schreiben. Darin werden Sie ihr sagen, dass Sie ihr nicht böse sind, auch nicht deshalb, weil sie diesen Weg gewählt hat, um ihre Entscheidung durchzusetzen. Sie werden ihr schreiben, dass sie in Ihnen lebenslang einen Freund haben wird. Sie werden die beiden Pferde in Potsdam verkaufen, aber so, dass sie es gut haben, dass Ihre Frau die Tiere besuchen kann; Sie wissen, wie sehr sie an ihnen hängt. Sie werden mit Melanies Eltern reden, und Sie werden mit Ihren eigenen Eltern reden. Sie werden jetzt schon eine Familienfeier für Weihnachten vorbereiten. Vielleicht in dem wunderschönen Gut am Schaalsee, das Ihre Frau so liebt. Alle werden anreisen und Heiligabend feiern, alle werden sich vertragen. Falls Sie bei irgendeinem dieser Vorhaben auf Probleme stoßen, was ich nicht glaube, werden Sie mich anrufen.«

Die linke Hälfte des Papiers war jetzt voll. Fein säuberlich untereinander standen die Stichworte, davor jeweils ein waagrechter Strich. Tretjak beugte sich wieder zu seiner Tasche hinunter, entnahm ihr einen dunkelbraunen Aktendeckel, der mit einem Lederband verschnürt war, und legte ihn auf den Tisch. »Dies sind die Unterlagen, von denen ich gesprochen habe«, sagte er und griff erneut zum Kugelschreiber.

»Mein Teil der Abmachung: Ich werde Ihren Job retten. Ich werde dafür sorgen, dass Ihre beiden Widersacher im Vorstand das Unternehmen verlassen. Dass der Aufsichtsrat wieder hinter Ihnen steht. Das wird natürlich nur funktionieren, wenn Sie genau tun, was ich sage.«

Er schrieb auf die rechte Seite des Papiers: Feinde eliminieren. Und darunter, neuer Strich: Aufsichtsrat umdrehen. Dann setzte er noch einen dritten Strich darunter. Jahresbonus verdoppeln. »Sie sollten am Ende etwas mehr Geld auf dem Konto haben. Auch deshalb, weil Sie mich bezahlen müssen.«

 

Tretjak saß wieder auf der Rückbank des Peugeots, auf dem Weg nach Colombo. Im Dunkeln war die Fahrt noch abenteuerlicher, aber der kleine schweigsame Fahrer machte den Eindruck, als wisse er genau, was er tat. Es war jetzt kurz vor Mitternacht, er errechnete kurz die Zeitverschiebung zu Europa. Dort war es erst Nachmittag. Er griff zu seinem Telefon und wählte die Nummer eines Hotels an der Portugiesischen Atlantikküste bei Sintra. Es hieß Palacio de Seteais, war ein kleines umgebautes Schloss, zauberhaft gelegen auf einem Hügel zwischen uralten Bäumen mit Blick aufs Meer. Melanie Schwarz war nicht auf ihrem Zimmer, also hinterließ er nur eine Nachricht. »Bin auf dem Weg zu Ihrem Buchladen ein ganzes Stück weitergekommen. T.«

Später im Flugzeug des Lufthansafluges 2017, erste Klasse, erste Reihe, lehnte er sich zurück und dachte noch einmal an diesen Peter Schwarz, der jetzt die Unterlagen gelesen haben müsste. Irgendwie war er ihm sympathisch gewesen, obwohl es zu seinen Geschäftsprinzipien gehörte, nicht in solchen Kategorien zu denken. »Sie waren doch mal ein ausgezeichneter Squash-Spieler, Herr Schwarz«, hatte er ihm gegen Ende ihres Gesprächs gesagt. »Sie wissen also, dass man die Mitte des Feldes besetzen muss, sie auf keinen Fall aufgeben darf.«

Wenn man einen Menschen für die Zukunft manipulieren wollte, gab es nur einen wirklich sinnvollen Weg: zurück. Man musste in seine Vergangenheit gehen. Tretjak hatte das von einem CIA-Psychologen gelernt. »Wenn Sie nach Mumbai fliegen, bewegen Sie sich ganz weit weg von der Mitte in die äußerste Ecke des Feldes«, hatte er zu Schwarz gesagt. »Das dürfen Sie nicht, so wie der Spielverlauf sich darstellt. Sie müssen morgen in Ihr Hauptquartier zurück …«

Tretjak lehnte den Imbiss ab, trank nur ein Glas Wasser, stellte die Lehne seines Sitzes in die waagrechte Position und schlief mit dem beruhigenden Gefühl ein, dass sich die Dinge ganz so entwickeln würden, wie er es geplant hatte.

Als er am frühen Morgen Ortszeit seine Wohnung in München aufschloss, bemerkte er eine kleine Veränderung. Der Stapel mit gelesenen Zeitungen auf dem Fußboden im Flur war immer noch da. Das bedeutete, dass seine Putzfrau, die treue Frau Lanner, nicht erschienen war. Aber dafür konnte es schließlich tausend Gründe geben. Tretjak maß dieser kleinen Veränderung in seinem Alltag keine Bedeutung bei.

Autobahn A9, Berlin–München, 18 Uhr

Seit fast acht Stunden war Max Krug jetzt unterwegs. Genau 611 Kilometer hatte er bislang zurückgelegt in seinem schwarzen Pferdetransporter. Krug hatte sich den modernsten aller Transporter gekauft, Doppelkabine mit elektronisch gesicherten Türen und mit Innenwänden, die sich per Fernbedienung spielend leicht verschieben ließen. Links neben dem Steuerrad war ein kleiner Bildschirm eingelassen, auf dem er sehen konnte, was sich im Transportraum abspielte. Die hochempfindliche Webcam hatte er selbst angebracht. Es war eine Art Hochsicherheitstransporter, und genau das wollte Krug, schließlich fuhr er einen Goldschatz spazieren. Das vielleicht beste Rennpferd Europas, gerade einmal vier Jahre alt. Welch eine Zukunft dieses Pferd vor sich hatte! Nu Pagadi hieß es, ein russisches Sprichwort, das so viel bedeutete wie »Na, warte«. Krug war selbst auf diesen Namen gekommen. Er hatte vor vielen Jahren als Soldat der Nationalen Volksarmee in Leningrad an einer Militärakademie studiert. Schon damals hatte er es gern gehört, von den Russen oft leicht spöttisch gesagt: »Nu Pagadi.«

Eine halbe Million Euro hatte das Pferd bereits für Krug gewonnen. Er war zu abergläubisch, um darüber nachzudenken, wie viel Geld noch folgen könnte. Einem Pferd konnte schließlich schnell etwas passieren. Deshalb hatte er es teuer versichern lassen, für alle Fälle, und über 100 000 Euro für diesen Transporter investiert.

Nu Pagadi reiste immer allein, die linke Box blieb auf den Fahrten leer. Die Kamera war nur auf die rechte Box gerichtet. Daher sah Krug die dicke graue Decke nicht, die seit dem letzten Stopp an einer Raststätte am Boden der linken Box lag und unter der sich etwas verbarg. Etwas Großes, das sich nicht bewegte.

 

Ungefähr zwanzig Kilometer später fiel Krug zum ersten Mal auf, dass Nu Pagadi nervös wurde, unruhig. Er schnaubte, scharrte mit den Hufen, trippelte hin und her. Krug wurde auch nervös, denn Nu Pagadi war normalerweise die Ruhe selbst, auch auf den Fahrten. War die Fahrt diesmal einfach zu lang? Oder was war los?

Krug kannte natürlich die Geschichten von den Marotten großer Rennpferde auf Reisen. Der französische Superhengst Ourasi war nur bereit, in einen Transporter zu steigen, wenn vor ihm eine kleine weiße Ziege in den Wagen ging. Andere gaben nur Frieden, wenn ein bestimmtes anderes Pferd mitreiste, der beste Freund sozusagen. Fing Nu Pagadi nun auch mit solchen Zicken an? Krug sah auf dem Bildschirm, dass sein Pferd von Minute zu Minute unruhiger wurde. Es war klar, dass er anhalten musste. In fünf Kilometern war der nächste Parkplatz angekündigt. Vielleicht hatte Nu Pagadi einfach Hunger. Für diesen Fall war er gerüstet. Krug hatte alle seine Leibspeisen dabei, Karotten, Bananen, seinen süßen Milchbrei.

22,6 Kilometer nördlich vom Stadtzentrum Münchens war die genaue Lage des kleinen Parkplatzes, auf den Max Krug abbog. Was dort geschah, sollte er in seinem Leben nie mehr vergessen. Er würde dreieinhalb Monate später einen Psychologen aufsuchen, einen Trauma-Spezialisten, der ihm die Bilder dieser paar Momente auf dem Parkplatz aus dem Gehirn vertreiben sollte, die ihm seither den Schlaf raubten.

Krug gab den Sicherheitscode ein, die Hintertür des Transporters öffnete sich, und er sah sofort die Decke, die dort nicht hingehörte, die er da nicht hingelegt hatte. Außer ihm konnte niemand an den Transporter. Krug hob die Decke und sah den Mann, brauner Anzug, weißes Hemd, kein Mantel. Der Mann lag auf dem Bauch, er bewegte sich nicht. Ein schlanker Mann mit Glatze. Krug dachte sofort, den Mann kenne ich nicht, das ist ein Fremder. Vielleicht denkt man das immer, wenn man einen Toten sieht. Tote sehen immer wie Fremde aus. Tote sollen so aussehen.

Krug versuchte, den Puls zu fühlen. Aber es gab keinen Puls mehr. Dann machte Krug den Fehler, den Mann umzudrehen. Es war nur ein ganz klein wenig Blut zu sehen, unbedeutend wenig. Doch mit dem Gesicht war etwas passiert. Etwas Furchtbares. Immer wieder sprach Krug diese Szene später mit dem Therapeuten durch. Immer und immer wieder sollte er diesen Moment durchleben. Nur so, sagte der Therapeut, würden ihn die Bilder eines Tages wieder verlassen.

An alles andere, was in den Stunden danach auf diesem Parkplatz geschah, konnte sich Krug später kaum erinnern. Die Polizei war irgendwann da, klar. Irgendwann auch ein zweiter Pferdetransporter, in den er Nu Pagadi am Zügel führte. Er musste wohl einen ziemlich erbärmlichen Eindruck hinterlassen haben, dachte Krug später, wie er allen um sich herum erklärt hatte, wie großartig und wertvoll dieses Pferd sei. Und das im Angesicht eines toten Menschen … Ach ja, an den Namen des Kommissars, der ihn verhörte, konnte er sich auch noch erinnern. Kaum an dessen Aussehen – außer, dass er eine auffallende Narbe auf der Wange hatte –, aber der Name war bei Krug hängengeblieben. Der Kommissar hieß Maler, August Maler, und Maler war der Name eines berühmten Rennpferds gewesen, das vor vielen Jahren das Deutsche Derby gewonnen hatte. Krug sagte seinem Therapeuten später, er hoffe sehr, dass er dem Kommissar das nicht auch noch mitgeteilt habe.

Bei Nu Pagadi waren keinerlei Nachwirkungen zu verzeichnen. Krug ließ ihn untersuchen, man wusste ja nie. Aber alles war in Ordnung, physisch wie psychisch. Nur zwei Tage nach dem schrecklichen Zwischenfall gewann Nu Pagadi in München-Daglfing sein nächstes Rennen, überlegen, wie üblich. Es war das vierte Rennen des Abends. Krugs Therapeut sollte später sagen, irgendwo müsse der Ausdruck ja herkommen, ein reichlich unsensibler Mensch habe das Gemüt eines Pferdes.

Zweiter Tag12. Mai

Sankt-Anna-Platz, München, 14 Uhr

August Maler trug eine graue Cordhose, ein beiges Hemd und seine leichte beige Stoffjacke. Beige und grau, das waren seine Farben, egal, was er zum Anziehen kaufte, am Ende war es immer etwas Graues oder etwas Beiges. Seine Frau hatte ihm einmal ein rotes Hemd gekauft. Oft trug er es nicht.

Sankt-Anna-Platz, Hausnummer 9, so lautete die Adresse von Gabriel Tretjak. Kommissar Maler leistete sich den Luxus, sich an diesem warmen Nachmittag ein paar Minuten auf die grüne Parkbank zu setzen, direkt vor der einen Kirche, der großen, und gegenüber der anderen Kirche, der kleinen. Maler hatte keinen besonderen Bezug zu Kirchen, aber der Sankt-Anna-Platz, das war einer seiner Lieblingsorte in München. Die beiden Kirchen, die mächtigen Kastanienbäume, vorne rechts das Knopfgeschäft, daneben die Bäckerei mit der dicken Türkin und deren noch dickerem Sohn. Die Schule, das Café, die Galerie und die Metzgerei. Maler fuhr oft schnell bei der Metzgerei vorbei und holte sich zwei Leberkässemmeln. Heute ließ er es jedoch sein. Der morgendliche Blick auf die Waage hatte eine gewisse Erschütterung hinterlassen.

Gleich vorn an der Ecke am Sankt-Anna-Platz gab es ein Lokal, das früher mal ein Wienerwald gewesen war, dann ein Italiener, dann ein Café. Zurzeit war es wieder ein Italiener. Aber die eigentliche Bedeutung lag für Maler darin, dass in diesem Lokal mal Teile einer Fernsehserie gedreht worden waren, Münchner Geschichten hatte sie geheißen, lange her. Maler hatte die Serie geliebt, und er liebte sie heute noch, er hatte alle Folgen auf DVD. Eine Gruppe junger Leute, Spezialisten in der Leichtigkeit des Seins, große Träume, keine Regeln – irgendwie ging es hauptsächlich darum. Maler musste schmunzeln, als ihm ein Dialog aus der Fernsehserie einfiel. Der Charly, die Hauptfigur, steigt in ein Taxi. Der Fahrer fragt: »Wohin wollen wir fahren?« Charly antwortet: »Irgendwohin.« Und der Fahrer sagt: »Irgendwohin, das ist schwer.«

Maler dachte jetzt auf seiner Bank, was er hier eigentlich immer dachte: Sankt-Anna-Platz, da müsste man wohnen, das wäre ein Traum. Aber der Stadtteil Lehel war im ohnehin teuren München einer der teuersten Flecken. Wie sollte sich ein Polizist das jemals leisten können? Aber er dachte noch etwas anderes, und dieser Gedanke überraschte ihn selbst: Wenn der Typ mit dem Pferd vierzig Kilometer früher auf einen Parkplatz gefahren wäre, dann müssten sich jetzt die Kollegen aus Ingolstadt mit dem grausigen Mord beschäftigen. Mit einem Toten in einem Pferdetransporter. Und mit einem Handy. Und er könnte auf der Bank sitzen bleiben, auf die jetzt die Sonne schien, die gerade hinter der kleinen Kirchenkuppel hervorgekommen war. Kommissar August Maler, 51 Jahre alt. War da jemand schon ein bisschen müde geworden?

 

Ein paar Minuten später läutete Maler bei Tretjak. Die Stimme aus der Sprechanlage kam schnell: »Ja, bitte?«

»Mein Name ist Maler. Ich komme von der Polizei. Ich müsste mich mit Ihnen unterhalten.«

Maler hatte sich angewöhnt, sich als Polizist vorzustellen. Mordkommission klang ihm für die ersten Worte zu dramatisch.

Tretjak stand schon an der Tür, als Maler die Treppe zum zweiten Stock hinaufkam. Ein gutaussehender Mann, dunkler, fast südländischer Typ. Er trug Jeans und darüber ein weißes Hemd. Er grinste leicht. »Das ist ein Tag. Das Finanzamt ist schon da, und jetzt kommt auch noch die Polizei …«

Der Kommissar wurde in einen großen Raum geführt, eine Art Wohnküche. Er sah einen Herd, einen großen Kühlschrank, eine Theke und davor einen schwarzen Tisch, auf dem ein paar Ordner lagen, einer davon aufgeschlagen. An dem Tisch saß eine junge Frau, die Tretjak als Beamtin vom Finanzamt München II vorstellte: »Frau Neustadt führt eine Steuerprüfung bei mir durch. Wir sind sozusagen mittendrin.«

»Maler«, sagte Maler und gab Frau Neustadt die Hand. Dann wandte er sich zu Tretjak: »Sie müssen müde sein. Sie hatten einen anstrengenden Flug, bis heute morgen. Wie lange fliegt man genau von Colombo?«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Tretjak.

»Deshalb bin ich hier«, antwortete Maler, »aber ich müsste mit Ihnen allein sprechen.«

»Habe schon verstanden«, Frau Neustadt stand auf und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken. »Dann machen wir hier einen Punkt, Herr Tretjak, und machen übermorgen weiter, wie wir besprochen haben. Ich gebe Ihnen noch mal meine Karte« Sie lachte und gab auch Kommissar Maler eine Visitenkarte. »Wer weiß, vielleicht können Sie ja auch mal das Finanzamt brauchen.«

 

Nachdem sie gegangen war, stellte Tretjak eine Flasche Mineralwasser und ein Glas auf den Tisch. »Also …?«

Kommissar Maler öffnete ein Kuvert und legte Tretjak zwei Fotos hin. Auf beiden war derselbe Mann zu sehen. »Kennen Sie diesen Mann?«

»Nein.«

»Das ist Professor Harry Kerkhoff aus Rotterdam, ein sehr bekannter Hirnforscher. Man muss leider hinzufügen, das war Professor Kerkhoff. Er wurde gestern ermordet.«

»Mein Gott«, sagte Tretjak, »aber ich verstehe noch nicht ganz: Was habe ich damit zu tun?«

»Wir haben bei der Leiche ein Handy gefunden. Ein merkwürdiges Handy, wenn Sie so wollen. Keine einzige Nummer gespeichert, auch sonst nichts. Und es wurde nur ein einziges Mal damit angerufen, und zwar gestern. Der Anruf ging nach Galle, in Ihr Hotel. Mit diesem Handy wurde Ihnen eine Nachricht übermittelt, wir haben das inzwischen rekonstruiert.«

»Das stimmt, ich saß gerade beim Essen, da kam der Rezeptionist und sagte, ein Mann habe mir eine dringende Nachricht hinterlassen.«

»Und was war das für eine Nachricht?«

»Ein völliger Nonsens. Ich habe nichts verstanden. Es war ein Hinweis auf ein Rennpferd, das irgendein Rennen gewinnen sollte. Ich war im Leben noch nie auf einer Rennbahn. Ich habe das Ganze für einen Irrtum gehalten, eine Verwechslung.«

Maler trank einen Schluck Wasser. »Können Sie sich noch an den Namen dieses Pferdes erinnern?«

»Ja, Nu Pagadi. Ich wusste mal, was das heißt, irgendwas Russisches. Ein merkwürdiger Name für ein Pferd, fand ich. Deshalb habe ich ihn mir gemerkt.«

»Nu Pagadi. Das bedeutet: ›Na, warte.‹« Maler machte eine Pause. »Herr Tretjak, wir haben die Leiche des Professors in einem Pferdetransporter auf einem Autobahnparkplatz gefunden. In der linken Box war der Tote, in der rechten stand das Pferd. Nu Pagadi. Ist übrigens was Besonderes, das Pferd. Soll richtig viel Geld wert sein.«

Das Gespräch zwischen den beiden dauerte nicht mehr lange. Maler fragte, wer alles gewusst habe, dass Tretjak in dem Hotel in Galle gewesen war, und nach dem Grund für Tretjaks Reise. Und irgendwann sagte er noch: »Sie müssen nachdenken, was diese Nachricht bedeuten könnte.«

 

Die große Kirchenuhr am Sankt-Anna-Platz schlug halb vier, als Kommissar Maler das Haus verließ. Zwei Glockenschläge, wie immer zur halben Stunde. Maler hatte bei der Polizei einen Lehrmeister gehabt, seinen langjährigen Chef, der ihm viel beigebracht hatte. Eines davon war: Vermeide es, soweit möglich, ein inneres Urteil zu fällen über Leute, über die du ermittelst. Werte nicht, halte es in der Schwebe, beantworte dir nicht, ob du Leute sympathisch oder unsympathisch findest, glaubwürdig oder nicht. Denn jedes Urteil verengt den Blick, beschränkt die Wahrnehmung. Ein guter Polizist hat keine Schubladen fürs Denken, hatte sein Chef oft gesagt.

Maler stieg in seinen Wagen, einen beigen BMW, und hielt sich auch diesmal dran: Kein schnelles Urteil über Gabriel Tretjak. Nur eine Beobachtung speicherte er ab: Normalerweise stellten Leute, denen man eine solch dramatische Nachricht bringt, Fragen. Wie ist der Mann gestorben? Wie wurde er gefunden? Welche Überlegungen stellte die Polizei bislang an? Diese Dinge wollten die Menschen meistens wissen. Bei Tretjak war es anders. Er hatte zugehört und geantwortet. Sonst nichts.

Als Maler auf den Mittleren Ring einfuhr, konnte er sich eines kleinen Urteils dann aber doch nicht erwehren. Es galt der schmalen blonden Steuerprüferin, der er in Tretjaks Wohnung kurz die Hand gegeben hatte. Ihm fiel sein Zimmergenosse in der Herzklinik ein, mit dem er wochenlang ein Zweibettzimmer geteilt hatte. Sie hatten sich mit der Zeit ein kleines Spiel ausgedacht. Bei jeder Frau, die ins Zimmer kam oder der sie irgendwo in der Klinik begegneten, setzten sie Beruf und Nationalität in Beziehung zum Aussehen. Interessant waren die Erwartungsklischees wie »Krankenschwestern sind hübscher als Putzfrauen«, der Witz bestand in Aussagen wie »Für eine Engländerin wäre sie hübsch, für eine Krankengymnastin nicht«. Maler war sich ganz sicher, dass sich sein Zimmerkumpel und er im Fall der Frau vom Finanzamt einig gewesen wären: Für eine Steuerprüferin sah sie ziemlich gut aus.

München, Sankt-Anna-Platz, 17 Uhr

Es gibt nur eins, was das menschliche Gehirn nicht kann: nicht lernen. Das hatte er immer gesagt. Das war eine der Standarderöffnungen in Kerkhoffs berühmten Vorträgen gewesen. Tretjak betrachtete das Foto auf dem Bildschirm. Harry Kerkhoff lachte sein überhebliches, blitzendes Lachen. Es war ein altes Foto, bestimmt zehn Jahre alt, aufgenommen auf irgendeiner Feierlichkeit, zu später Stunde. Kerkhoff im Smoking, Tretjak auch. Er stand auf dem Bild neben ihm. Kerkhoff hatte damals noch seinen Lockenkopf gehabt; später, als ihm die ersten Haare ausfielen, hatte er sich sofort eine Glatze rasiert. Er rasiere jetzt morgens eben eine größere Fläche, hatte er gesagt, als Tretjak ihn beinah nicht erkannt hatte, Abschiede solle man nicht zu lange hinauszögern. Tretjak nahm die Maus und klickte durch ein paar weitere alte Bilder von Harry Kerkhoff, die Google gefunden hatte – bis ein neueres auftauchte. Tretjak griff zum Telefon und wählte die Nummer von Kerkhoffs Sohn in Rotterdam. Aber niemand nahm ab.