Die schweigenden Frauen - Max Landorff - E-Book

Die schweigenden Frauen E-Book

Max Landorff

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Beschreibung

Die abgeschnittenen Beine einer Prostituierten. Ein Schmetterlingstattoo. Ein Pfarrer. Eine Mordserie. Und Frauen, die beharrlich schweigen. Gabriel Tretjak ist der REGLER. Für die, die es sich leisten können, regelt er Karriere, Liebe, Geld. Da wird in sein Berliner Apartment ein Paket geliefert. Zwei eingeschweißte Frauenbeine, abgetrennt an der Hüfte. Mit einem Tattoo, das nur einer so gut kennt wie der REGLER selbst: sein Bruder. Zur gleichen Zeit findet in Niederbayern ein Pfarrer einen abgeschnittenen Frauenkopf vor dem Altar. Und in Südfrankreich wartet eine Frau in einem Cape unter einem Kirchturm. Jede Nacht. Seit Jahren … Coole Action, rasantes Tempo und die ungewöhnlichste Figur im deutschen Thriller: der REGLER.

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Seitenzahl: 344

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Max Landorff

Die schweigenden Frauen

Ein Regler-Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]PrologTeil 1 Der SchmetterlingErster TagZweiter TagDas Buch MutzenkreuzDritter TagDas Buch MutzenkreuzTeil 2 BrüderVierter TagFünfter TagDas Buch MutzenkreuzFünfter TagSechster TagDas Buch MutzenkreuzSiebter TagAchter TagTeil 3 Die schweigenden Frauen12345678Zwanzigster TagLetzter TagEpilog

»Warum sagen die Frauen nicht,

was sie wissen?«

Alexander Yakushev

Prolog

Die Straße nach Peillon war schmal und steil, die Kurven waren eng. Wenn ein Auto kam, musste die Frau vorsichtig sein. Niemand rechnete mit einem Fußgänger, der mitten in der Nacht hier herumspazierte. Sie hatte sich erkundigt: Ein Taxi von Nizza aus wäre viel zu teuer gewesen, und nachts fuhr kein Bus. Aber 19 Kilometer waren schließlich nicht viel, ein paar Stunden nur. Sie hatte Zeit.

Eine Frühlingsnacht war das, angenehm warm, sternklar, aber ohne Mond. Man konnte die Sträucher schon riechen, und sogar der Asphalt der Straße, fand sie, duftete bereits nach den Sonnenstrahlen vom Tag. Die Scheinwerfer der Autos waren früh zu sehen, wie sie zwischen den Bäumen hervorblitzten und wieder verschwanden, in den Kurven die Richtung änderten. Dann presste sie sich am Rand der Straße an einen Baum, bis das Auto vorüber war. Sie trug ihren alten dunkelblauen Anorak mit der weißen Aufschrift am Ärmel: »Wäscherei Greiner.« Ein verblasstes Zeichen einer der vielen Stationen ihres Lebens, an denen sie gearbeitet hatte. Auf dem Rücken hatte sie einen altmodischen Rucksack aus grauem Stoff. Er enthielt ein paar Kleidungsstücke, etwas Proviant und eine Landkarte. So war sie in Bozen in den Zug gestiegen, so war sie in Nizza angekommen. Den Proviant hatte sie bis jetzt nicht angerührt. Ihr Magen war seit Tagen nur noch ein Stein.

Zweimal hatte ein Auto angehalten, ein Fenster war herabgeglitten, die Stimme des Fahrers war zu hören gewesen. Wahrscheinlich hatte man beide Male angeboten, sie mitzunehmen. Sie sprach kein Wort Französisch, war nie vorher in diesem Land gewesen. Wo sie herkam, war die Schule einen zweistündigen Fußmarsch entfernt gewesen. Und jedes Kind war froh, wenn es diese Strapaze bald beenden konnte – lange bevor Fremdsprachen im Stundenplan aufgetaucht wären.

Es war schon weit nach Mitternacht, sie sah die Umrisse des Dorfes gegen den Nachthimmel. Wie Zinnen einer Burg wirkten die Häuser, die dort oben eng aneinander auf dem Felsen standen. Sie hatte sich den Ort irgendwie freundlicher vorgestellt. In Nizza hatte sie heute Palmen gesehen, blühende Forsythien, offene Gesichter. Dieser Ort an der alten Salzstraße wirkte abweisend, fand sie, nicht nur, weil es dunkel war. Es war jetzt nicht mehr weit. Sie war zu früh dran, das war gut. Sie musste die Kirche schließlich erst finden, von der die Rede gewesen war.

 

Sie versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren. Einen Schritt nach dem anderen machen, an nichts denken. Schon gar nicht an früher. Nicht die Bilder kommen lassen von den vielen Polizisten in ihrer Küche, als sie noch eine Küche hatte. Und vom Hans, wie er da in der Scheune gehangen hatte mit der riesigen violetten Zunge.

Einen Schritt nach dem anderen machen. Hochsteigen. Das Tier im Zaum halten. Zähl die Schritte. Zähl die Jahre. Nicht die alten Gefühle aus dem Stein lassen, die Schuld, die Ungewissheit, die Hoffnung. Vielleicht war ja alles nur ein Irrtum. Immer nachts um drei, hatte der Mann gesagt. Pünktlich auf die Minute. Immer vor der Kirche. Eine Frau unter einem Cape. Jede Nacht, seit Jahren. Vielleicht war es trotzdem nur ein Irrtum.

Das Sternbild Löwe stand fett am Himmel. Mit dem Himmel kannte sie sich aus. Die Gebete, die sie hinaufgeschickt hatte, das eisige Schweigen, das zurückgekommen war. Zähl die Jahre. Bis sie begriffen hatte, dass man das Leben nur ohne Himmel ertragen konnte.

Punkt drei Uhr, jede Nacht, seit Jahren. Sie hatte das Gespräch zufällig mitgehört, während sie zwei Tische saubergemacht hatte. Wie in Trance hatte sie zugehört, dann hatte sie den Mann gebeten, ihr den Namen des Ortes aufzuschreiben, von dem er geredet hatte.

 

Peillon hatte drei Kirchen. Aber zwei kamen nicht in Frage, das stellte sie sofort fest. Sie standen mitten im Gewirr der Gassen, die jetzt dunkel und kühl waren und wie Kellertreppen rochen. Ihre Schritte auf dem Pflaster waren das einzige Geräusch. Hier lebten nicht mehr viele Menschen, das war klar. Ferienwohnungen das meiste, dachte sie. Die dritte Kirche, die kleinste, stand etwas abseits der alten Mauer, die den Ort einschloss, auf einem eigenen kleinen Hügel. Der Weg führte durch eine Pforte in der Mauer, erst ein Stück bergab und dann wieder bergauf. Es war eine schlichte Kirche, grauer Stein, das Schiff mit drei schmalen Fenstern auf jeder Seite, wie Schießscharten sahen sie aus. Der Turm kaum höher, ohne Uhr. Als sie sich auf die kleine Holzbank setzte, die etwas entfernt unter einem Olivenbaum stand, war es kurz nach zwei. Sie saß mit Blick ins Tal. Hier roch es stark nach Frühling, nach Geburt, nicht nach Tod. Also nach Mühsal, dachte sie, nicht nach Erlösung. Immer wieder anfangen müssen, das war schrecklich. Sie sah Lichter in der Ferne. Nizza? Vielleicht. Spielte keine Rolle. Sie holte eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack und trank ein paar kleine Schlucke. Dann sah sie nur noch auf ihre Armbanduhr, verfolgte den Lauf der Zeiger, versuchte, ihre Angst damit kleinzuhalten. Lauf im Kreis. Wie die Zeiger.

Um zehn vor drei stand sie auf, trat hinter den Mauervorsprung, den der Turm bildete, und blickte in Richtung des Weges, der aus dem Ort kam. Sie hörte keine Schritte, aber plötzlich das Geräusch eines rollenden Kieselsteines. Es kam nicht aus der Richtung des Weges. Sie drehte ihren Kopf und sah die Gestalt sofort. Sie stand mit dem Rücken zu ihr, reglos, direkt neben einem der schmalen Fenster auf der Seite der Kirche, die dem Dorf zugewandt war. Sie musste einen anderen Weg genommen haben. Ein Schatten nur, der Schatten eines Mantels mit Kapuze, höchstens zwanzig Meter entfernt.

Intuitiv trat sie weiter hinter den Turm zurück. Sie spürte ihr Herz schlagen. Dann sagte sie in Richtung der Gestalt: »Michaela?«

Sie war selbst überrascht vom klaren Ton ihrer Stimme in der Stille. Die Gestalt in dem Mantel zeigte keine Reaktion.

»Michaela?«, sagte sie noch einmal und trat jetzt ganz hinter der Turmmauer hervor. Sie sah, wie die Gestalt sich umdrehte. Und sie hörte, wie sich ein Wort von dieser Gestalt löste. Wie ein Vogel flog es durch die schwarze Luft auf sie zu.

»Mama?«

Vielleicht, dachte sie, war das der Tod. Aber die Erlösung war es nicht.

Teil 1Der Schmetterling

Erster Tag

Mittwoch, 17 Uhr Berlin

Das Zeichen war ein Punkt hinterm Auge. Anders hätte Gabriel Tretjak es nicht beschreiben können. Ein winziger, glühender Punkt. Er konnte ihn direkt durch die Pupille der Frau sehen, die ihm gegenübersaß.

»So ist es also«, sagte sie. »Mein Leben geht gerade kaputt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich habe Angst, alles, was mir wichtig ist, zu verlieren.«

Sie war am Ende ihrer Ausführungen angelangt, vorläufig jedenfalls, und sah ihn nun stumm an.

Sie war keine auffällige Erscheinung. Die Menschen an den Tischen um sie herum nahmen keine Notiz von ihr. Eine kleine, zierliche Gestalt in weißer Bluse und schwarzer Hose, die Haare zu einem strengen Pagenkopf geschnitten, schwarz gefärbt. Alles an ihr wirkte gepflegt und diszipliniert, ihre schmale Hand hielt das Wasserglas umfasst, als müsste sie es verteidigen. An einem Finger befand sich ein dünner Ring aus Weißgold mit einem kleinen, grün schimmernden Stein. Der Kellner schenkte aus der großen Wasserflasche nach und entfernte sich wieder. In einer Sofaecke schräg hinter ihnen nahm eine Gruppe junger Männer Platz, allesamt in Jeans und jeder mit einem Laptop bewaffnet. Am Tisch daneben saß ein alter Mann mit Schnauzbart und Baseballmütze auf dem Kopf.

Gabriel Tretjak kannte den Blick, mit dem ihn die Frau ansah. Die Fragen in diesem Blick: Sind Sie meine Hoffnung? Können Sie meine Probleme lösen? Dieser Blick allein hatte erst einmal nichts zu bedeuten. Als er damit angefangen hatte, sich in fremde Leben einzumischen, sie zu verändern oder ganz neu aufzustellen, hatte er schnell lernen müssen, in Gesichtern zu lesen. Vor allem, bevor er einen Auftrag überhaupt annahm. Eine solche Aussicht gefiel schließlich allen Menschen: dass einer kommt, sich ihrer Probleme annimmt und alles regelt. Aber waren sie sich auch der Konsequenzen bewusst? Waren sie entschlossen genug zu springen? Zu springen von den hohen Klippen ihrer aufgehäuften Realitäten – in ein neues, unbekanntes Leben? Wenn sich im Laufe eines Auftrages herausstellte, dass diese Entschlossenheit fehlte, konnte das für alle Beteiligten sehr unerfreulich werden, manchmal auch gefährlich.

Gabriel Tretjak hatte gelernt, nach dem glühenden Punkt im Auge zu suchen. Wenn er da war, konnte man weitersprechen.

»Was hat man Ihnen gesagt?«, fragte er die kleine, strenge Frau. Anna Weiß war ihr Name.

Sie saßen im siebten Stock des »Soho House«-Clubs in Berlin. Es war später Nachmittag, ein schöner Frühlingstag ging allmählich zu Ende. Fast alle Türen zu dem rundumlaufenden Balkon waren offen. Draußen standen Leute und rauchten. Junge, gutaussehende Leute, Schauspieler, Werber, Journalisten, die lässige Kleidung sorgfältig ausgesucht. Gabriel Tretjak bewohnte hier seit drei Monaten ein Apartment. Und er würde noch genau zwanzig Tage darin wohnen bleiben. Dann würde sein bisheriges Leben zu Ende sein.

Er konnte sich gut vorstellen, was Anna Weiß gesagt worden war. Der Mann, der ihr geraten hatte, Tretjak zu treffen, war ein lauter, polternder Mensch, der immer übertrieb und nicht zuhörte. Ein Topmanager aus der Stahlbranche, dem Tretjak einmal seinen Job gerettet hatte. Eine Planierraupe mit Charme, wenn es so etwas gab. Es sprach für diese Frau, dass sie die Übertreibungen nicht wiedergab, sondern zurückhaltend formulierte.

»Falls Sie in meiner Sache tätig würden, wurde mir gesagt, falls …« Sie machte eine kleine Pause. »… dann würde für mich bestimmt alles gut ausgehen.«

Gabriel Tretjak blickte an ihr vorbei zu den Fenstern. Er sah die Dächer der Stadt und das Spiegelbild der Szenerie im Club. Auch sich selbst sah er dasitzen, in der dunkelblauen Hose und dem leichten schwarzen Kaschmirpullover. Er trug die Haare jetzt etwas kürzer als früher, die schwarzen Haare, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Man würde es für eine der üblichen beruflichen Besprechungen halten, die um diese Uhrzeit hier stattfanden. Die Businessfrau um die vierzig – und der etwas ältere Mann, der bislang hauptsächlich zugehört hatte. Tretjaks Gedanken verirrten sich kurz zu den langen Wochen in der Rehaklinik, wo er erschrocken war, wenn er seinem Spiegelbild begegnete. Vergangenheit. Geschenkt.

Er dachte an das Hotelzimmer in Hongkong, das er erst vor 48 Stunden verlassen hatte, an die Frau, die dort auf ihn wartete. Zum ersten Mal würde er den Weg in die Zukunft nicht allein antreten.

 

Gabriel Tretjak schob das Wasserglas vor sich zur Seite, entnahm seiner Aktentasche einen Stapel weißer Blätter Papier und seinen Parker-Füller. Er legte beides vor sich auf den Tisch. Das alte, vertraute Werkzeug, mit dem immer alles angefangen hatte. Informationen notieren, Personen skizzieren, Beziehungsgeflechte aufmalen – am Ende waren die Blätter immer überzogen mit einem dunkelblauen Muster aus Worten, Zahlen, Linien und Symbolen. Landkarten eines fremden Lebens. Tretjak schrieb auf den Kopf des ersten Blattes das Datum und darunter den Namen »Anna Weiß«. Der Regler bei der Arbeit. Er spürte, dass sie jede seiner Bewegungen genau beobachtete.

»Möchten Sie etwas essen?«, fragte er und lächelte. »Die haben hier eine ordentliche Pizza.«

Sie schüttelte ganz sachte den Kopf.

»Nein, danke«, sagte sie und lächelte auch.

Tretjak hatte die Erfahrung gemacht, dass Männer dazu neigten, von genau einem Problem zu sprechen, wenn sie seine Dienste in Anspruch nehmen wollten. Sie versuchten, das Problem einzugrenzen, vom Rest ihres Lebens abzukoppeln. Es war dann Tretjaks erste Aufgabe, ihnen klarzumachen, dass sie mehr von sich erzählen mussten, dass ein Problem nie isoliert zu betrachten – und schon gar nicht zu lösen war. Bei Frauen war es eher umgekehrt. Wenn sie sich durchgerungen hatten, Hilfe zu beanspruchen, kippten sie einen ganzen Sack vor ihm aus – mit allem, was derzeit schieflief, sich nicht gut anfühlte, Ratlosigkeit erzeugte oder den Kontostand belastete. Dann war es an ihm, Ordnung in diesen Haufen zu bringen, zu sortieren, was wichtig war.

Das Muster, das jetzt in der tiefstehenden Frühlingssonne auf seinen weißen Blättern entstand, formierte sich um drei zentrale Probleme. Eines hatte mit der Ehe der tapfer lächelnden Frau zu tun, eines mit ihrem Job und das letzte mit ihrem Vater.

Anna Weiß war glücklich in ihrer Ehe, sie liebte ihren Mann, einen offenbar sanften, ruhigen Sprachenlehrer, der zehn Jahre älter war als sie und ihr den Rücken für ihre Karriere freihielt. Gemeinsam hatten sie einen fünfjährigen Sohn. In dem kleinen Wort »gemeinsam« lag die Bombe. Weil es nicht ganz zutraf. »Er hatte sich so sehr ein Kind gewünscht, und ich hatte mir so sehr gewünscht, ihm eins zu schenken«, formulierte sie es. Als das einfach nicht klappen wollte, vertraute sie sich einem alten Schulfreund an. »Wir kannten uns schon immer, haben uns immer alles erzählt. Mit 15 waren wir einmal kurz verliebt ineinander, so einer, wissen Sie. Wir mussten nur zweimal miteinander schlafen, schon war ich schwanger.«

Erpresser hatten meistens keine vielschichtigen Motive, das wusste Tretjak von einem Pariser Kriminologen, dessen Spezialgebiet die Motivforschung war. Sie wurden erst zu Erpressern, wenn sie in eine Situation kamen, die sie selbst als Notlage empfanden. Dann schoben sie alle Skrupel beiseite. Erpresser redeten sich ein, dass ihnen zustand, was sie forderten. Der Schulfreund von Anna Weiß war freier Anlageberater und in der Finanzkrise unter Wasser geraten. Jetzt betrachtete er ihr gemeinsames Geheimnis als sein letztes Kapital. Der übliche Verlauf bei Erpressung: erst kleinere Beträge, dann größere, quälende Anrufe, versteckte Drohungen, eine Spirale der Gemeinheit. Tretjak interessierte sich vor allem für genaue Informationen über diesen Mann, er notierte auch scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten.

»Was würde passieren, wenn Sie sich befreien, indem Sie es Ihrem Mann sagen?« Kurz dachte er an die Frau in dem Hotelzimmer in Hongkong. Erst wenn alle Geständnisse abgelegt sind, fängt das Geheimnis an, hatte sie zu ihm gesagt.

»Die Leute sind immer ganz entzückt, wie sehr unser Sohn meinem Mann ähnelt«, antwortete Anna Weiß auf seine Frage. Ihr Gesichtsausdruck dabei zeigte die vielen schlaflosen Nächte, in denen sie die Möglichkeit verworfen hatte, ihrem Mann die Wahrheit zu unterbreiten.

Ihr berufliches Problem war vergleichsweise einfach. Sie war eine von zwei Geschäftsführern einer großen Parfümeriekette, zuständig für den Aufbau eines modernen Internet-Versandhandels. Sie hatte für ihre Pläne gekämpft, sehr hohe Investitionen genehmigt bekommen – aber die Sache kam nicht in Schwung. Technische Probleme, viel zu geringe Umsätze. Sie war dabei, auf ganzer Linie zu scheitern, und rechnete damit, ihren Job zu verlieren. Einem Headhunter, der ihr vor kurzem eine andere Stelle angeboten hatte, hatte sie dennoch abgesagt. »Ich finde, ich bin es meinen Leuten und dem Unternehmen schuldig, jetzt nicht von Bord zu gehen.«

Ihren Vater hatte Frau Weiß in ihren Ausführungen eher nebenbei erwähnt, aber Tretjak maß ihm große Bedeutung bei. Ein starrsinniger Patriarch, der seit dem Tod seiner Frau in einem viel zu großen Haus auf dem Land lebte, inzwischen mit der Diagnose Alzheimer, die sich zunehmend bemerkbar machte. Er weigerte sich, irgendeine andere Wohnlösung auch nur in Betracht zu ziehen, und erwartete, dass seine Tochter, das einzige Kind, sich um ihn kümmerte.

Die Clubräume des »Soho House« begannen sich zu füllen. Die eher stille Atmosphäre des Nachmittags begann sich zu verändern. Hinter dem großen Bartresen ertönten die ersten Geräusche der Cocktailshaker, Gelächter wehte durch den Raum, aus den tiefen Samtsofas ragten immer mehr schaukelnde Frauenbeine in High Heels. Tretjak mochte die Stimmung, die herumfliegenden Satzfetzen in verschiedenen Sprachen, das Gefühl, dass man unbehelligt seinen Angelegenheiten nachgehen konnte. Er hatte seine Notizen inzwischen auf dem Tisch ausgebreitet. Über das blauweiße Muster blickte er in das blasse, ungeschminkt wirkende Gesicht, zu dem dieses Muster gehörte. Fragen schwebten über dem Tisch: Wann hört die Liebe auf? Wo fängt die Pflicht an? Wem ist man was schuldig? Wie lange? Welche Versprechen muss man einlösen? Darf man sich verändern? Was verliert man, wenn man es tut?

»Nichts Besonderes, was da ausgebreitet ist, oder?«, sagte Anna Weiß. »Eigentlich nur ganz normale Geschichten, die das Leben so auf Lager hat. Das werden Sie mir jetzt sagen, nicht wahr?« Sie sah ihn aus ihren schmalen, beinahe asiatisch wirkenden Augen an. Der Punkt glühte.

»Was das Leben so auf Lager hat, wissen wir alle«, antwortete er. »Darauf kommt es nicht an. Die Frage ist: Was halten wir dagegen?«

Vielleicht lag es an der Frühlingssonne, die den langen Winter heute endgültig vergessen ließ. Vielleicht hatte er einfach Lust darauf, diese Frau zu überraschen, die damit rechnete, dass er sie wegschickte. Oder es waren nur ein paar chaotische Moleküle in der Entscheidungsmaschine seines Gehirns. Jedenfalls beschloss Gabriel Tretjak, dass er diesen Fall regeln würde, sofern man hier überhaupt das Wort »Fall« benutzen wollte. Die Sache war einfach, eher eine Fingerübung als eine Herausforderung, und die zwanzig Tage, die er noch zur Verfügung hatte, waren mehr als genug dafür.

»Sie werden für zwei Wochen aus Ihrem Leben verschwinden«, sagte er ohne Überleitung. »Lassen Sie sich eine Ausrede einfallen für Ihre Firma und Ihre Familie. Sie müssten mal Ruhe finden, so was in der Art. Ich bringe Sie in einem Schweigekloster unter, in Franken. Niemand kann Sie erreichen – nur ich. Und Sie werden auch mit niemandem sprechen – nur mit mir.«

Ungläubig sah sie ihn an, sogar ein wenig belustigt. Unbeirrt fuhr er fort, sprach langsam und klar: »Ich werde in der Zwischenzeit die Sache in die Hand nehmen. Wenn Sie zurückkommen, ist alles geregelt.« Die Blätter mit den Notizen verschwanden in seiner Aktentasche, die Aktentasche verschwand unter dem Tisch. Tretjak lehnte sich zurück. Er hatte schon aus den Augenwinkeln bemerkt, dass die Bediensteten mit großen Tabletts herumliefen und kleine Gläser Champagner verteilten. Jetzt stellte eine junge Frau auch auf ihrem Tisch zwei davon ab.

»Eine Laune des Hauses«, sagte sie, »genießt es.«

Anna Weiß würdigte weder die Kellnerin noch die beiden Gläser eines Blickes.

»Alles geregelt?«, wiederholte sie. »Wie muss ich mir das vorstellen?«

»Ihr Schulfreund wird Sie für immer in Ruhe lassen, Sie werden nie wieder von ihm hören«, sagte Tretjak. »Ihre Firma wird Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Fehler zu korrigieren. Und Ihr Vater wird ein neues Zuhause gefunden haben. Wenn Sie ihn dort besuchen, wird er sich bei Ihnen bedanken. So müssen Sie sich das vorstellen.«

Es entstand eine Pause. Tretjak glaubte, beobachten zu können, wie seine Worte ihren Weg fanden ins Bewusstsein seines Gegenübers.

»Wann wird … Ich meine, wann geht das los?«, fragte Anna Weiß schließlich leise.

Er überlegte nur kurz. »Sagen wir: in 24 Stunden.«

»Dann muss ich schon weg sein?«

Er nickte.

»Und wenn etwas schiefgeht?«

»Es wird nichts schiefgehen«, sagte Gabriel Tretjak. Und fügte den Satz hinzu, den er schon bald darauf bereuen sollte: »Ich verspreche es Ihnen.«

 

Wenig später beobachtete er die zierliche Frau, wie sie zum Lift ging. Sie hatte ihren Mantel über den einen Arm geworfen, über dem anderen hing die Handtasche. Vor dem Aufzug musste sie warten, aber sie blickte sich nicht ein Mal um. Der Champagner in dem Glas an ihrem Platz sprudelte unberührt vor sich hin. Gabriel Tretjak wartete auf den Kellner mit der Rechnung.

Es gehörte zur Besonderheit des Clubs, dass man sich hier duzte und mit Vornamen anredete. Tretjak konnte sich daran irgendwie nicht gewöhnen, immer erschrak er ein wenig, wenn ihn plötzlich jemand so ansprach.

»Vielen Dank, Gabriel«, sagte der Kellner angesichts des Trinkgeldes. »Vorhin ist übrigens deine neue Golfausrüstung angeliefert worden«, fügte er hinzu. »Wir haben sie gleich in dein Apartment gebracht.«

»Ich spiele kein Golf«, sagte Tretjak. Wahrscheinlich eine Verwechslung. Kaum jemand wusste, dass er hier wohnte. Seine Kommunikation lief fast ausschließlich über Telefon und E-Mail.

Doch als er sein Apartment aufsperrte, stand tatsächlich ein großer Karton mitten im Zimmer, rechteckig, etwa einen Meter hoch, mit Stahlbändern umwickelt.

 

Tretjaks Apartment war ein L-förmiger Raum mit einer breiten Fensterfront. Blickfang war ein mit einer roten Samtdecke überzogenes Kingsize-Bett. Es gab ein Sofa mit einem kleinen Tisch und eine lange Anrichte. Ums Eck befanden sich eine freistehende Badewanne und die Türen zu Dusche und Toilette. Die Wände waren weiß gekalkt, der Fußboden war mit Eichendielen belegt, von der Decke hing ein Kronleuchter. Von hier aus hatte Gabriel Tretjak in den vergangenen Monaten sein altes Leben Stück für Stück abgerissen – und sein neues geplant. Er würde dieses neue Leben mit sehr leichtem Gepäck antreten. Die weißen Einbauschränke enthielten nur noch so viel Kleidung, wie in eine einzige Reisetasche passte. Geldtransfers, die Aufenthaltsgenehmigung für Hongkong – alles war erledigt, die Papiere lagen im Safe hinter der Anrichte. Dort lagerten auch zehn Computersticks und ein Buch mit schwarzem Ledereinband. Die Sticks enthielten alles, was den Regler ausmachte – sein in zwanzig Jahren feingesponnenes Netz aus Kontakten und Informationen. Wertvolle Geheimnisse waren auf diesen Sticks, überraschende Verbindungen zwischen Menschen, Institutionen und Begebenheiten. Zwischen der ehrenwerten Welt der Mächtigen und der dunklen Welt des Verbrechens. Die Fäden des Netzes spannten sich zwischen Regierungssitzen und Spielcasinos, Konzernzentralen und Drogenlagern, Zeitungsredaktionen und Kliniken. Die Methoden eines israelischen Super-Hackers waren ebenso verzeichnet wie die Lebensgeschichte einer Schweizer Kernphysikerin. Als er hier eingezogen war, war dieses Wissen um Abhängigkeiten und Verstrickungen noch ganz anders aufbewahrt. In Ordnern mit Aufzeichnungen, in Schachteln mit Tonkassetten, Videokassetten und altmodischen Computerdisketten, in Klarsichthüllen mit Fotos, in Adressbüchern mit Telefonnummern. Tretjaks Material beinhaltete Stadtpläne mit Vermerken, vertrauliche Arztberichte, Überwachungsprotokolle von Detekteien, Kopien von vertraulichen Briefwechseln. Alles war eingeschlossen in Alukoffern. Wochenlang hatte er gearbeitet, hauptsächlich nachts, mit Scanner und iPhone und einem Aktenschredder. Und jeden Morgen waren mehr Unterlagen in schlanke Bytes umgewandelt, und er hatte wieder Müll wegbringen können in einer alten Tasche, vorbei an der Rezeption des »Soho House«, wo ihm die hübschen jungen Empfangsdamen einen schönen Tag wünschten.

Ein Satz Kopien der Sticks lagerte jetzt in einem Bankschließfach. Systematisch war diese Arbeit gewesen, befriedigend, die Gedanken ordnend. Tretjak hatte sie gern gemacht. Die andere Arbeit, deren Resultat das schwarze Buch im Safe war, hatte sich jeder Struktur verweigert. Tretjak hatte sich nur sporadisch daranmachen können, in besonderen Stimmungen. Fast immer hatte er als Begleiter eine Flasche Wodka neben sich gebraucht.

Er dachte an Carola, hatte das Bedürfnis, sie anzurufen. Aber in Hongkong war es jetzt spät in der Nacht. Das schwarze Buch war Teil ihrer Bedingungen gewesen für die Entscheidung, bei ihm zu bleiben. Er würde es ihr gleich nach seiner Landung noch im Flughafengebäude in die Hand drücken.

 

Tretjak setzte sich an den Sofatisch, holte seine Aufzeichnungen über Anna Weiß hervor und machte sich noch ein paar Notizen, wen er morgen früh in dieser Angelegenheit kontaktieren würde. Danach rief er im Restaurant »Trois Minutes« an und bestellte einen Tisch für 20 Uhr 30. Er hatte Lust auf Austern und ein Entrecote.

Erst dann widmete er sich dem Karton, der zwischen Tisch und Eingangstür stand. Es war auffällig, dass keinerlei Aufkleber, Stempel oder Lieferscheinhüllen zu sehen waren. Nur sein Name und die Adresse waren daraufgeschrieben, mit schwarzem Filzstift, in großen Lettern. Der Service hatte freundlicherweise eine Schere für die Stahlbänder dazugelegt.

Im Inneren des Kartons befand sich ein schwarzer Sack aus grobem, wasserdichtem Kunststoff, wie ihn Motorradfahrer für ihr Gepäck nutzten. Als Tretjak ihn oben am Verschluss öffnete und aufrollte, kam eine weitere Plastikhülle zum Vorschein, genauso fest, aber diesmal durchsichtig. In solche Folien wurden große Schinken eingeschweißt. Langsam zog Tretjak das Paket aus dem schwarzen Sack.

 

»Gabriel, was kann ich für dich tun?«, sagte eine Minute später die freundliche Stimme der Rezeptionistin am Telefon.

»Du kannst die Polizei rufen, sofort. Am besten die Kriminalpolizei«, sagte er. »Sie sollen direkt in mein Apartment kommen.«

Tretjak sah auf die Uhr. Er hatte noch ein paar Minuten Zeit. Das würde für den Anruf reichen. Er setzte sich auf das Sofa und tippte die SMS in sein Handy, die den Anruf ankündigte. Dann erst wählte er eine Nummer in Amsterdam. Die Prozedur musste sein, sonst bekam man den Teilnehmer nicht an den Apparat. Sein Bruder Luca telefonierte nicht, nie. Sein Bruder Luca hatte eine Sprachstörung und war fast immer stumm. Er konnte am Telefon nur zuhören.

Das Telefonat dauerte nicht lange. Am einen Ende der Verbindung war nur Atem zu vernehmen. Am anderen Ende gab Tretjak die wesentlichen Informationen durch. Dass er ein Paket erhalten habe, auf dessen Inhalt ein kleines Tattoo zu sehen war, ein Signet, das sie beide sehr gut kannten. Tretjak musste seinem Bruder nicht sagen, dass er das der Polizei nicht mitteilen würde. Aber was der Inhalt des Paketes war, das sagte er Luca: zwei Frauenbeine, abgetrennt direkt unterhalb der Hüfte.

Mittwoch, 23 Uhr Mallersdorf, Niederbayern

Warum fuhr er in letzter Zeit so schnell? Es war nur eine Landstraße, sie war nicht einmal breit, und es war stockdunkel. Aus dem Wald konnte jederzeit ein Reh kreuzen. Aber die Tachonadel zeigte 170 Stundenkilometer. Pfarrer Joseph Lichtinger kannte jeden Meter dieser Straße. Er wusste genau, wann die nächste Kurve kam – lange bevor sie im Fernlicht auftauchte. Er konnte das Bremsmanöver auf die Sekunde hinauszögern. Aber warum tat er das? Die Bäume standen so dicht an der Straße, dass es aussah, als würden die Scheinwerfer beim Fahren eine Schneise in den Wald schlagen. Vielleicht war es so, dachte Joseph Lichtinger. Vielleicht befand er sich gar nicht auf asphaltiertem Boden in Niederbayern, sondern raste durch ein Paralleluniversum, durch eine virtuelle Welt aus Teilchen, Lichtblitzen und Bildprojektionen seines Gehirns. Eine gottlose Welt. Endlich eine freie, gottlose Welt.

 

Es war kurz vor Mitternacht, und Joseph Lichtinger war auf dem Weg ins Krankenhaus in Mallersdorf. Eine Frau seiner Gemeinde, die alte Zenta, würde die Sonne nicht mehr aufgehen sehen. Die Nachtschwester hatte ihn angerufen. Auf seinem Beifahrersitz lag die schwarze Tasche mit der Kerze, dem geweihten Öl und einem weißen Tuch, das gerade groß genug war für das Beistelltischchen im Krankenhaus. Ein goldenes Kreuz war daraufgestickt. Lichtinger kannte Zenta, seit er ein kleiner Bub gewesen war. Sie war eine furchtbare Frau. Ihre große Familie und Heerscharen wechselnder Angestellter des Hofes waren an ihr zerschellt. Kalt wie ein Stein im Winter, das hatte mal jemand über sie gesagt. Daran hatte Lichtinger die letzten Wochen oft denken müssen, wenn er sie besuchte.

Manche Menschen erledigten das Sterben so, wie sie unangenehme Dinge zeitlebens erledigt hatten: Sie taten es eben, fertig. Andere verwandelten sich in der letzten Kurve, wurden plötzlich andere Menschen, zornige oder milde, ungnädige, redselige … alles war möglich. Aus der harten Zenta war ein jammerndes Häuflein Elend geworden, zerfließend in Selbstmitleid, die Augen ständig voll Wasser. »Sie kann nicht gehen«, hatte der Arzt zum Pfarrer gesagt. Und hatte noch hinzugefügt: »Vielleicht, weil sie auf der anderen Seite niemand haben will.«

Und er, Lichtinger? Konnte er loslassen? Wollte er vielleicht sogar loslassen? Das weiße Scheinwerferlicht, die schwarzen Bäume, die blau schimmernden Armaturen des Wagens … Die andere Seite … Lieber Gott, wie viele andere Seiten gab es?

Die Nachtschwester hatte Lichtinger nicht zu Hause erreicht. Sein Handy hatte geklingelt, als er sich auf einem warmen Körper befand, auf weicher Haut. Nur ein Schweißfilm war zwischen dieser Haut und seiner eigenen gewesen – und fremder Atem an seinem Ohr. Das Geräusch der anderen Seite, einer anderen Seite. Er würde in der Nacht auf diesen Körper zurückkehren, die Beine würden sich wieder spreizen und um seine Hüften schlingen. Der Geruch von Schweiß und Parfüm hing noch an ihm unter dem schwarzen Anzug.

 

Joseph Lichtinger drosselte die Geschwindigkeit, schaltete zwei Gänge zurück. Er würde in Zukunft wieder vernünftig fahren. Der Herr in jedem von uns, jeder ein Geschöpf des Herrn. Alles nach seinem Willen, alles richtig, wie es war. Morgen würde er Gabriel Tretjak noch einmal kontaktieren. Jetzt, wo er herausgefunden hatte, wo er sich versteckt hatte. Gabriel würde ihm zuhören, wie früher würde er ihm zuhören. Er würde ihm zuhören müssen. Er konnte sich nicht einfach aus dem Staub machen.

Auf dem weiten Parkplatz vor der Klinik standen nur drei verlorene Fahrzeuge im Licht der Laternen. Lichtinger fuhr bis vor den Eingang der Notaufnahme, stieg aus. Er nickte dem Mann am Empfang nur zu. Anzug und Kollar eines Pfarrers öffneten jede Tür. Er kannte den Weg in die Wachstation. Und er wusste, was passieren würde: Er würde eine runzelige Hand in die seine nehmen, eine papierne Stirn salben. Er würde den Herrn um die Vergebung der Sünden bitten, um Gnade für eine Seele, deren Hülle schon nach Verwesung roch.

Zweiter Tag

Donnerstag, 10 Uhr Amsterdam

Marko hatte die blonde Perücke aufgesetzt, die schwarze Lederjacke angezogen und das kurze Netzhemd, das durchsichtige. Als er auf seinen hohen Schuhen durch Amsterdams Rotlichtviertel lief, fragte er sich, ob die ersten Huren in den Häuserfenstern ihn vielleicht für eine Konkurrenz hielten. Die Vorstellung, als Frau gesehen zu werden, gefiel ihm. Er mochte es, wenn Männer dann an Sex mit einer Frau dachten und nicht merkten, dass er eben keine Frau war. Und dass auch die Frauen irgendwelche Sachen dachten, wenn sie ihn sahen.

Das Studio lag in einer schmalen Seitengasse, und man sah ihm seine Exklusivität nicht an. Eine schwarze Eingangstür, keine Fenster. Das war eines der Prinzipien der Chefin. Sie wollte keinerlei Tageslicht. Hier herrschte die Dunkelheit und – wo es darauf ankam – künstliches Licht, weiß, klar, scharf. Aus der ganzen Welt kamen die Leute hierher, oft warteten sie monatelang auf einen Termin bei ihr, der Tattoo-Meisterin. Oft hatten die Kunden eine genaue Vorstellung, welches Tattoo sie wollten, aber wenn sie den Laden wieder verließen, hatten sie ein anderes auf ihrem Körper. Die Chefin war berühmt dafür, dass sie einen Menschen nur anschauen musste, um zu wissen, welche Tätowierung er brauchte. Und dann gab es keine Widerrede. Gelegentlich setzte sie eines ihrer Lieblings-Tattoos, ein besonders großes, auf den gesamten Arm einer Kundin, wenn sie spürte, dass die Frau in Not war. Es zeigte ein Schiff im Meeressturm und an Deck eine schöne, starke Frau. Das Tattoo hatte eine einfache Bedeutung: Diese Frau mochte im Sturm des Lebens stecken – untergehen würde sie nie.

Mary hieß sie, für alle nur Mary. Die alte Mary. Keiner konnte ihr Alter schätzen, außer: sehr alt, biblisch alt. Sie stammte aus Südafrika und war vor langer Zeit nach Amsterdam gekommen. Die Legende sagte, sie habe einmal eine Affäre mit dem jungen Nelson Mandela gehabt. Ihr Körper war übersät mit Tattoos, es gab angeblich schon lange keine freie Stelle mehr. Die Frau auf dem Schiff hatte am linken Arm ihren Platz gefunden.

»Ich muss Mary sprechen«, sagte Marko.

Die junge Frau am engen Eingangstresen teilte ihm mit, Mary habe heute keine Sprechstunde. Und ohne Termin könne man mit Mary nicht sprechen.

»Schmetterling«, sagte Marko. »126. Sagen Sie ihr das.« Schmetterling. 126. Das waren die Zauberworte, die ihm Luca mitgegeben hatte. Luca liebte Zauberworte, die einem Eingang verschafften – zu welcher Welt auch immer. Marko hatte noch nicht erlebt, dass ein solches Zauberwort von Luca nicht funktionierte. Vor einiger Zeit hatte er Luca einmal gefragt, welches Zauberwort bei ihm, Marko, funktioniere. Da hatte Luca sofort geantwortet, mit seiner unglaublichen Stimme: »Bei dir ist der Zaubercode einfach. Er heißt: ›Ich liebe dich.‹«

Luca, der die meiste Zeit stumm war, hatte geantwortet. Luca, bei dem die Ärzte nicht wussten, woher diese Sprachstörung kam und warum sie gelegentlich für kurze Augenblicke verschwand, dieser Luca, der sich sonst nur schriftlich äußerte, hatte gesprochen. Es war ein wunderbarer Augenblick gewesen. »Ich liebe dich.« Er hatte es einfach so gesagt. Und doch war es nicht einfach eine Liebeserklärung, sondern auch Teil eines Spiels. Bei Luca war nie etwas »nur so«. Marko wusste schon lange, dass dieser Mann für ihn die Liebe seines Lebens war. Schwere Liebe. Wunderbare Liebe. Komplizierter ging es nicht. Also genau so, wie es Marko sich immer erträumt hatte.

Die Frau am Tresen verschwand, und ein paar Minuten später war Mary da.

»Was kann ich für Sie tun?«

Sie trug ein schwarzes Kleid, jede ihrer Bewegungen wirkte in dem düsteren Raum wie ein Schattenspiel. Marko zog den Ausdruck eines Fotos aus seiner Handtasche. Darauf war sehr gut sichtbar ein Tattoo abgebildet, ein blauer Schmetterling.

»Ich soll fragen«, sagte Marko, »ob das ein Schmetterling 126 ist.«

Luca hatte das Foto irgendwann in der Nacht per Mail erhalten. Es kam von seinem Bruder, von Gabriel. Luca Tretjak. Gabriel Tretjak. Zwei Brüder, die sich nie sahen, die nie miteinander kommunizierten. Marko war diese Beziehung schon immer unheimlich gewesen. Luca wollte nie etwas von seinem Bruder berichten. Marko hatte irgendwann aufgehört zu fragen. Er wunderte sich, wie ruhig Luca auf die Mail des Bruders reagiert hatte. Als wäre die plötzliche Nachricht von Gabriel gar nichts Besonderes gewesen. Er hatte Marko die Mail nicht lesen lassen. Auf den Weg zu Mary hatte er ihm nur das Foto mitgegeben – und ein paar Informationen, die er noch in den Laptop getippt hatte. Es sei ein ganz besonderer Schmetterling, der Schmetterling 126. Er habe ein doppeltes Flügelpaar, und die zweiten Flügel bestünden aus reinem Gold. Was bedeutete, dass flüssiges Gold direkt in die Haut injiziert wurde. Der Schmetterling 126 sei äußerst selten. Nur sehr wenige Tätowierer seien überhaupt in der Lage, dieses Tattoo anzufertigen.

Mary schaltete eine winzige Taschenlampe an, die ein grelles weißes Licht warf, und richtete sie auf das Foto. Mit einer Lupe setzte sie die Prüfung fort.

»Ja«, sagte sie, »das ist ein Schmetterling 126, ohne Zweifel. Aber da stimmt was nicht.«

»Was meinen Sie?«, fragte Marko.

»Wo befindet sich dieses Tattoo? In welches Material ist es injiziert? Leder?«

»Soweit ich weiß«, sagte Marko, »gehört es einer Frau, die gestorben ist.«

»Nein.« Mary schüttelte den Kopf. »Das ist keine Haut, auf keinen Fall.«

Marko ging kurz auf die Straße und schickte Luca eine SMS: Du musst kommen. Du musst das selbst klären.

 

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Luca da war; er hatte wie verabredet in einem Café um die Ecke gewartet. Marko gab ihm einen Kuss auf den mit schwarzem Lippenstift umrandeten Mund. Als Luca das Studio betrat, wirkte seine weiße Haut noch weißer als sonst. Und als Mary die Taschenlampe kurz einschaltete, wirkte es, als würden Lucas kurze rote Haare phosphoreszieren.

Luca holte sein iPad hervor. Mary redete, und er tippte. Sie brauchten nicht lange, dann hatten sie die Lösung gefunden.

»Kann es sein«, schrieb Luca, »dass das Tattoo erst nach dem Tod der Frau aufgetragen wurde? Dass das tote Haut ist, auf der der Schmetterling sitzt?«

»Ja«, sagte Mary, »tote Haut. Haut ohne Blut. Verweste Haut, gelbe Haut. Schreckliche Haut. Das ist es. Aber was soll das? Ein so schönes, so teures Tattoo auf eine Leiche? Das verstehe ich nicht.«

 

Aber Luca hatte es verstanden. Das spürte Marko ganz genau, als sie das Studio verließen. Luca zog ihn neben sich auf die erste Bank an der Straße und tippte eine Mail an seinen Bruder Gabriel. Er machte keine Anstalten zu verbergen, was er schrieb: »Die Spur führt nach Mutzenkreuz. Wir brauchen einen Plan. Schnell.«

Donnerstag, 11 Uhr Fecharn am See

Wenn er hätte sagen müssen, was seinen Alltag bestimmt hatte, hier in dem kleinen Zimmer in dem großen Landsitz am schönen See, dann waren es vor allem zwei Dinge: die Tabletten und sein Handy. Die kleinen weißen Tabletten, die große gelbe, die vier roten und die Handvoll blauen. Jeden Tag musste er sie nehmen, verteilt auf morgens, mittags und abends. Wenn er die große gelbe schluckte, musste er jedes Mal würgen. Die roten hatten einen leichten Nachgeschmack, es schmeckte ein klein wenig verfault, nach Moder, fand er, obwohl er nicht sagen konnte, dass er jemals Moder geschmeckt hätte. Die anderen Tabletten waren in Ordnung, die schluckte er einfach runter. Bei den kleinen weißen hatte er mal den Beipackzettel gelesen. Es stand eine Warnung drin: Wenn ein Gesunder aus Versehen eine dieser Tabletten nahm, musste er augenblicklich die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen.

Die Schwester gab ihm die Tabletten immer mit den identischen Worten: »So, jetzt bringe ich noch etwas Süßes, Herr Kommissar.« Es war immer dieser Satz, sie variierte nie ein einziges Wort.

Herr Kommissar. Alle sprachen ihn hier so an, die Ärzte, der Psychologe, die Physiotherapeutin. Als seien sie alle froh, ihm etwas zurufen zu können aus seinem alten Leben, in der Hoffnung, es könnte ihm Selbstbewusstsein bringen. Allzu viele Berufsbezeichnungen eigneten sich gar nicht für diese Ansprache, Herr Doktor, Herr Professor, das ging, Herr Ingenieur auch, aber Herr Metzger, Herr Schaffner, Herr Architekt? Der »Kommissar« hörte sich seltsam für ihn an, jedes Mal wieder, aber auch nicht seltsamer als alles andere.

 

Der Herr Kommissar. Jetzt an diesem Vormittag stellte August Maler seine zwei gepackten Taschen auf sein Bett. Heute war sein letzter Tag. Inge würde ihn am Nachmittag abholen, dann ging es wieder nach Hause. Acht Wochen war er hier auf diesem Landsitz gewesen, der kein Landsitz war, sondern eine Rehaklinik für Herzkranke. Welcher Tag, welche Woche, nichts spielte eine Rolle. Zuerst war das Wetter schlecht gewesen, inzwischen war der Frühling da. Am Anfang hatte er ihn nur aus den Fenstern gesehen, doch irgendwann war er auch draußen im Park spazieren gegangen. Das Knirschen der Kieswege hatte anders geklungen unter den schwachen Füßen als später unter dem stärker werdenden Tritt.

Heute war Donnerstag, das wusste er, weil der Doktor irgendwann zu ihm gesagt hatte, am Donnerstag könne er nach Hause gehen: »Das Leben wartet.« Maler hatte daraufhin geantwortet: »Sie meinen, endgültig verrückt kann ich auch zu Hause werden.« Der Doktor hatte gelacht. Sülze hieß er, Doktor Sülze. Ein guter Name, fand Maler. Vor allem leicht zu merken.

Maler setzte sich auf den Sessel am Fenster und zog sein Handy aus der Tasche. Es war immer eingeschaltet; das Risiko, den PIN-Code zu vergessen, war ihm zu groß. Normalerweise waren Handys in der Klinik untersagt, die Patienten sollten hier schließlich zur Ruhe kommen, sich abschotten von der lauten, hektischen Welt. Aber bei ihm lag der Fall anders, er musste sein Telefon ständig bei sich tragen. Für ihn war das Handy eine Art Rettungsanker, der ihn nicht völlig in Angst und Verlassenheit untergehen lassen sollte.

Angefangen hatte es schon wenige Tage nach der Transplantation. Die Ärzte sprachen zunächst von normalen Erscheinungen nach einem derart schweren Eingriff. Maler konnte den Zustand immer noch nicht richtig beschreiben, der anfallartig eintrat. Von einer Minute auf die andere vergaß er alles, wirklich alles. Er wusste nicht mehr, wer er war, wie er hieß, wo er war, er erkannte niemanden, alles und jeder war ihm fremd. Begleitet wurde die Attacke von heftiger Angst. Bis zu einer halben Stunde dauerte es, dann kehrte der Verstand zurück. Vielleicht war es das, was ein Säugling empfand kurz nach der Geburt, hatte Maler einmal gedacht. Das Dasein ohne jeden Gedanken. Und in seinem Fall als Erwachsener ohne Mutter. Den Schreikrampf um Hilfe hatte er noch nicht versucht.

Doktor Sülze hatte gesagt: »Das geht in wenigen Tagen vorbei, ganz sicher.« Nach vier Wochen, nach beinahe täglichen Attacken, wunderte auch er sich. Dann sagte er irgendwann, vielleicht müsse man sich mit dem Gedanken anfreunden, diese Angriffe des Vergessens zu akzeptieren. Und hatte dann schließlich die Idee, das Handy als Helfer einzusetzen. Wenn ihn diese grenzenlose Verlorenheit packte, sollte er im Handy die gespeicherten Namen durchgehen. Die bekannten Namen sollten ihn allmählich wieder zurück in die Wirklichkeit holen.

 

Maler saß in seinem Sessel und scrollte die Nummern durch. Einigen Namen hatte er noch ein Wort hinzugefügt, als Erkennungshinweis. Bei Inge hatte er länger überlegt. War »Liebe« das richtige Wort oder »Ehefrau«? »Liebe« wäre es gewesen, er hatte sich aber doch für »Ehefrau« entschieden, es war ihm klarer erschienen, besser geeignet gegen seine Panik. Bei Fritz und Paul, seinen alten Kartenfreunden, hatte er »Schafskopfen« eingetippt. Auch seinen früheren Kollegen Rainer Gritz hatte er noch gespeichert; er brachte es nicht fertig, die Nummer zu löschen. Gritz war jahrelang seine rechte Hand bei der Münchner Mordkommission gewesen, sie waren das perfekte Team. Maler hatte Gespür und Menschenkenntnis, Gritz Verstand und Genauigkeit. Bis Rainer Gritz eines Morgens vor seiner Stammbäckerei erschossen worden war. Noch nicht einmal ein Jahr war seitdem vergangen. Maler hatte überlegt, sollte er »Tot« oder »Ermordet« schreiben? Er schrieb »Ermordet«.

Den meisten Namen hatte er noch kein Erkennungswort zugewiesen. Gerade dachte er nach, welches zu seiner Schwiegermutter passen könnte, gar nicht so einfach, da klingelte sein Handy. »Tietz« blinkte auf. Bruno Tietz, dachte Maler und spürte sofort einen Anflug von guter Laune. Tietz war ein Mann, der immer Sehnsucht hatte nach einfachen Entscheidungen. »Es gibt Menschen«, pflegte er gern zu sagen, »die essen eine Currywurst, und es gibt Menschen, die essen lieber drei Currywürste. Ich gehöre zu denen mit den drei Würsten. Das ist eine der Fragen, die ich für mein Leben beantwortet habe. Ich kann das nur empfehlen – mit Fragen, die man beantwortet hat, lässt es sich besser leben.« Für solche Sätze mochte Maler ihn.

Bruno Tietz war ein dicker, ein sehr dicker Mann. Und er war der Leiter der Berliner Mordkommission. Jeder bei der Polizei wusste, dass Tietz es gar nicht leiden konnte, wenn ihn jemand auf sein Gewicht ansprach, auf welche Weise auch immer. Wer sich daran hielt, konnte gut mit ihm auskommen.

»Bruno«, sagte Maler, »freut mich, von dir zu hören. Was kann ich für dich tun?«

»August«, sagte Tietz, »ist es in Ordnung, wenn ich dich ein anderes Mal frage, wie es dir geht?«

»Sehr in Ordnung«, antwortete Maler.