Der Riss in der Wand - Ina Maschner - E-Book

Der Riss in der Wand E-Book

Ina Maschner

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Beschreibung

Nur wer zu sich selbst steht, kann frei sein

Ich höre ein Klack. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Ich lege langsam meine Hand um die Türklinke, doch sie lässt sich nicht öffnen. Immer schneller drücke ich die Klinke hinauf- und hinunter und zerre daran. Doch die Tür rührt sich kein Stück. Die Wolle meines Pullovers kratzt die Haut an meinem Hals. Mit meiner anderen Hand packe ich den Kragen und ziehe ihn herunter. Aber er ist es nicht, der mir den Hals zuschnürt. Ich schlage gegen die Tür und fange zu wimmern an: »Lasst mich raus! Bitte, lasst mich doch raus!«

Hedwig lebt noch bei ihren Eltern, obwohl sie lieber hinaus in die Welt möchte. Die Sicherheit des Elternhauses hält sie zwar, aber sie will mehr, weiß aber nicht so recht was und wie. Um ihren Gefühlen und Wünschen Raum zu geben, liebt sie es zu zeichnen. Eines Tages fasst sie sich schließlich ein Herz und bewirbt sich für ein Kunststudium, von dem sie schon seit langem träumt. Doch immer wieder zögert sie, mal aus Schuldgefühlen ihren Eltern gegenüber, mal aus Angst vor dem Unbekannten. Sie ist schon kurz davor, ihren Traum aufzugeben, als plötzlich seltsame Dinge im Haus geschehen. Sie sieht, was nicht da ist, Gegenstände verschwinden und tauchen woanders wieder auf, sie fühlt eine Präsenz, die zunehmend stärker wird.

Während sie dem Spuk auf den Grund geht, wird ihr nach und nach klar, dass diese Erscheinungen von ihren eigenen innersten Wünsche hervorgerufen werden. Sie wird mutiger, entwickelt Selbstvertrauen und ist bereit für ein neues Leben. Doch wird sie ihre Ängste wirklich besiegen?

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Seitenzahl: 198

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Inhalt

Ich höre ein Klack. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Ich lege langsam meine Hand um die Türklinke, doch sie lässt sich nicht öffnen. Immer schneller drücke ich die Klinke hinauf und hinunter und zerre daran. Doch die Tür rührt sich kein Stück. Die Wolle meines Pullovers kratzt die Haut an meinem Hals. Mit meiner anderen Hand packe ich den Kragen und ziehe ihn herunter. Aber er ist es nicht, der mir den Hals zuschnürt. Ich schlage gegen die Tür und fange zu wimmern an: »Lasst mich raus! Bitte, lasst mich doch raus!«

Hedwig lebt noch bei ihren Eltern, obwohl sie davon träumt, Kunst in Wien zu studieren. Als sie für das Studium zugelassen wird, zögert sie, das Elternhaus zu verlassen. Mal aus Schuldgefühlen ihren Eltern gegenüber, mal aus Angst vor dem Unbekannten. Plötzlich geschehen seltsame Dinge im Haus. Hedwig sieht, was nicht da ist, Gegenstände verschwinden und tauchen woanders wieder auf. Sie fühlt eine Präsenz, die zunehmend stärker wird.

Während sie dem Spuk auf den Grund geht, wird ihr nach und nach klar, dass diese Erscheinungen von ihren eigenen innersten Wünsche hervorgerufen werden. Sie wird mutiger, entwickelt Selbstbewusstsein und lernt sich selbst kennen. Doch ist sie bereit für ein neues Leben? Wird sie ihre Ängste wirklich besiegen?

Autorin

Ina Maschner wurde 1992 in Prien am Chiemsee geboren. An der LMU München studierte sie Germanistik mit Schwerpunkt auf Schauerliteratur. Sie ist Mitglied der Münchener Autorengruppe Prosathek. Die Autor*innen der Münchner Autorengruppe Prosathek sagen von ihr: »Was unauffällig in die Ecke gestellt, hastig unters Bett geschoben, in den Keller gesperrt und totgeschwiegen wurde – darüber schreibt Ina.«

Diederichs

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2023 Diederichs Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Vera Baschlakow

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-30872-8

www.diederichs-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Zu Hause ist es am schönsten

Ein Spuk kündigt sich an

Der Blick in den Spiegel

Ein paar Briefe und eine Taschenuhr

Das rote Zimmer

Der spukende Zinnsoldat

Der gefallene König

Die verschwundene Tür

Das kaputte Haus

Der Riss in der Wand

Das letzte Bild

Epilog

Danksagung

Prolog

Ob ich an Geister glaube? Aber natürlich. Ich habe mein Leben lang mit ihnen gelebt. Und manchmal war ich selbst ein Geist, nur ein blasser Schatten meiner selbst, und habe es noch nicht einmal gemerkt. Mein Körper lag in einem gläsernen Sarg. Ich sah alles, ich hörte alles, war aber gelähmt. Ich war nicht mehr dabei, nicht mehr unter den Lebenden.

Aber das konnte ich Moritz nicht sagen, als er meinen Zeichenblock durchsah und danach fragte. Denn die meisten Skizzen darin zeigten Geister. Es waren überwiegend Bleistiftzeichnungen mit dunklem Hintergrund und Lichtspielereien, um die Gespenster in Szene zu setzen. Manchmal waren es nur schemenhafte Gesichter, manchmal nur große Augen, die aus einer Finsternis aus Grafit blickten. Je weiter er blätterte, umso mehr Formen nahmen die Gestalten und der Hintergrund an.

Lange verharrte er bei einer Zeichnung eines kleinen Vogels, der auf einem Ast saß.

Es gab einige Bilder von einem unscheinbaren Haus, aus dessen Fenster ein heller Geist hinausblickte. Es gab ein Bild von einem leeren Raum, in dem nur ein Spiegel hing, in dem eine dunkle Gestalt mit weißen, runden Augen zu sehen war. Zum Schluss hin wurden die Geister körperlicher und farbig. Sie zeichneten sich deutlicher vor dem Hintergrund ab, wurden bunt und auch die Welt um sie herum erstrahlte in vielen Farben. Die gezeichneten Figuren waren nicht mehr in Häusern eingesperrt, sondern eins mit der Natur. Die Motive erinnerten an moderne Szenarien aus Märchen und Mythologien mit sehr präsenter Anwesenheit der vier Elemente. Feuer, Wasser, Erde, Luft – in allen Bildern waren sie das zentrale Motiv des Lebensquells, Erschaffung und Aufrechterhaltung. Es waren noch keine echten Kunstwerke, ich hatte noch viel zu lernen. Aber das Spiel von Licht und Schatten beherrschte ich in diesen Zeichnungen schon außergewöhnlich gut.

Jetzt, als Moritz sich an seinem ungepflegten Bart kratzte, erinnerte ich mich an früher. Damals war ich noch ein Kind, und mein Bruder Franz wohnte noch bei unseren Eltern. Moritz war sein bester Freund gewesen, und sie spielten stundenlang zusammen Karten. Ich habe oft zugesehen, und manchmal ließen sie mich mitspielen. Moritz hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Noch immer war sein Hemd falsch zugeknöpft und teils unordentlich in die Hose gestopft. Sein dunkles Haar war zerzaust.

Ich beobachtete Moritz, während er meinen Zeichenblock durchblätterte. Seine Mimik blieb regungslos. Moritz’ größte Stärke war schon immer sein Pokerface gewesen. Er liebte das Kartenspiel, egal ob es sich dabei um Watten, Schafkopf, Bridge, Poker oder Black Jack handelte. Er kannte sie alle und hatte oft gewonnen. Obgleich er auch mal ein schlechtes Blatt hatte, konnte er bluffen wie ein Hehler.

Beinahe vierzehn Jahre hatte ich Moritz nicht mehr gesehen. Jetzt saßen wir auf den Stufen vor der Wiener Kunstakademie. Es war ein warmer Tag mit bewölktem Himmel. Unter meinen nackten Füßen spürte ich die Wärme des Steins.

Moritz gab mir den Zeichenblock zurück. »Dein Stil hat sich sehr verändert, Hedwig«, stellte er fest.

Ich habe mich sehr verändert, dachte ich, sagte aber mit einem stolzen Lächeln: »Kommt mit der Übung.«

Zu Hause ist es am schönsten

Ich fegte mit meiner Hand den Abrieb des Radiergummis von meiner Zeichnung und pustete die restlichen Gummikrümel, die noch am Papier klebten, fort. Ich betrachtete mein Bleistiftwerk. Ich hatte einen Garten gezeichnet mit einem Torbogen im Mittelpunkt, unter Berücksichtigung des Goldenen Schnittes. Der Torbogen war überwuchert mit Efeu. Im Hintergrund befand sich, ganz klein, eine schemenhafte Kapuzengestalt. Das Zeichnen der einzelnen Efeublätter um den Bogen war das schwierigste, aber ich hatte es geschafft. Ich war sehr stolz und zufrieden mit meinem Werk.

Plötzlich fing der Raum an, sich um mich zu drehen. Ich sah das Zimmer nur noch verschwommen. Dann ließ der Schwindel nach. Das war doch nicht schon wieder …?

Ich griff nach meinem Smartphone und sah auf das Display. 16:32 Uhr. Ich massierte meine Schläfen. Es war schon wieder passiert. Ich war so sehr in meine Zeichnung vertieft gewesen, dass ich Essen und Trinken vollkommen vergessen hatte. Das rächte sich nun.

Vorsichtig stand ich auf. Nur nicht zu schnell. Nicht dass der Schwindel wiederkam. Dann ging ich hinunter in die Küche. Noch bevor ich die letzte Stufe der Treppe erreicht hatte, hörte ich die Stimme meines Vaters: »Hedwig, hol mal die Post von draußen rein!«

»Ja, mach ich«, rief ich zurück und trat durch die Haustür ins Freie. Die Sonne schien, und es war angenehm warm. Ich liebte Sommertage und Sonnenschein. Die Welt war in ein wundervolles Licht getaucht, und die Natur zeigte sich von ihrer besten Seite. Kurz genoss ich die Strahlen in meinem Gesicht und die Aussicht um mich herum. Ich nahm mir vor, öfter draußen zu sitzen und zu zeichnen.

Unser Haus war nichts Besonderes. Es war ein Reihenhaus aus den 1960ern am Rande von Innsbruck. Im Hintergrund ragten imposant die mit Schnee bedeckten blauen Berge der Alpen empor.

Das obere Viertel des Hauses war mit Holz verkleidet, die Balkone sowie die Fensterläden waren ebenfalls aus Holz, das im Sonnenschein in einem warmen Hellbraun mit leicht oranger Färbung leuchtete. Das Haus fügte sich ins Gesamtbild des Viertels und stach nicht heraus. Es war wie jedes andere Haus in der Straße. Der Garten war gepflegt, aber nicht bemerkenswert.

Dann ging ich zum Briefkasten und holte die Post. Auf dem Weg zurück ins Haus sah ich die Sendungen durch. Darunter waren das Billa-Flugblatt mit den aktuellen Angeboten der Woche, ein Modekatalog, den meine Mutter immer durchblätterte, ein Brief von der Versicherung an meinen Vater, ein Brief von Greenpeace – sicherlich ein Spendenaufruf – und – ich konnte es kaum glauben und hätte fast alle anderen Sendungen fallen lassen – ein Brief an mich von der Akademie der bildenden Künste Wien.

Vor einiger Zeit hatte es mich gepackt, und ich hatte mich an der Kunsthochschule in Wien beworben, beseelt von dem Traum, bildende Kunst zu studieren. Zeichnen war meine Leidenschaft, und ich wollte mehr lernen. Das Studium versprach eine vielseitige Ausbildung: eigene Formsprache, neue Techniken und Wahrnehmungsschärfung. Auch das wissenschaftliche Arbeiten faszinierte mich. Die Chance zur Zulassung stand günstig, und nach der Prüfung kam endlich die ersehnte Zusage.

Jetzt, Ende Mai, hielt ich einen Brief von der Akademie in den Händen. Ich sprang vor Freude in die Luft und ein quietschender Laut der Freude entwich mir. Ich freute mich wie ein kleines Kind, buchstäblich wie ein Honigkuchenpferd.

Ich lief zurück ins Haus. Ich musste meinem Vater davon erzählen! Ich spürte ein Kribbeln in meinem ganzen Körper, eine vitale Energie, die mich durchfuhr, und dann ein Stich in den Magen. Ich blieb stehen und sah an die leere Wand. Ich fühlte mich plötzlich ebenso leer wie es der Flur war. Ich konnte mich erinnern, dass eben hier die Medaillen und Pokale meines Bruders präsentiert wurden. Heute war davon nichts mehr zu sehen.

Dann hörte ich sie. Eine Stimme in meinem Kopf, sanft wie Watte, aber intensiv und klebrig wie geschmolzener Zucker.

Kannst du deinem Vater wirklich davon erzählen? Denkst du, er würde sich für dich freuen? Du kennst ihn doch. Er ist Realist, durch und durch. Träume sind Schäume, das sagt er doch immer.

Aber vielleicht, dachte ich, könnte ich ihm begreiflich machen, wie wichtig dieses Studium für mich wäre. Was für eine großartige Chance diese Zulassung für mich böte.

Eher würde er dein Bestreben, Künstlerin zu werden, nicht unterstützen. Zu unsicher, kein festes Gehalt. Was soll denn aus dir werden?

Was, wenn ich ihm unrecht tat, fragte ich mich. Er machte sich nur Sorgen um mich. Er wollte doch nur, dass es mir gut ging. Ich beschloss, es einfach zu versuchen. Ich würde ja sehen, wie er reagieren würde.

Na klar. Renn in dein Verderben. Schön in den Abgrund hinunter.

Ich spähte in unsere Küche. Zuerst fiel mein Blick auf ein Blechschild, auf dem mit großen, geschwungenen Lettern stand: Zu Hause ist es am schönsten.

Mein Vater spülte Töpfe und Pfannen ab, während er in seinen weißen Bart hineinfluchte. Es roch nach geschmolzenem Käse, Tomatensoße und etwas Eisenhaltigem … Hackfleisch, vermutete ich. Dem Geruch nach hatte mein Vater Lasagne gemacht. Überlagert wurde der Geruch vom Zitronenduft des Spülmittels.

Ich legte die Post auf die Anrichte. Danach goss ich Orangensaft in ein Glas und leerte es in einem Zug.

»Papa«, sagte ich.

Als Antwort bekam ich ein undefinierbares Geräusch, das sich mehr nach einem Husten anhörte als nach einer kommunikativen Entgegnung. Das kannte ich von ihm. Er drehte sich nicht mal zu mir um. Ich spürte einen Stich in der Brust, atmete tief durch und straffte meinen Rücken.

»Ich habe mich entschieden«, versuchte ich es wieder. Irgendwie hoffte ich immer, dass mein Vater sich doch noch einmal zu mir umdrehte und mir zuhörte. Wenigstens ein Mal.

Er fluchte etwas, während er eine Auflaufform schrubbte. Der eingebrannte Käse wollte sich wohl nicht wegwaschen lassen. Dann schwieg er wieder, vertieft in seine Arbeit.

»Bist du wütend?«, fragte ich.

»Ich bin nicht wütend«, fuhr er mich an.

Eine Weile stand ich still neben ihm und hoffte darauf, dass ihm doch noch einfiele, dass ich hier war. Eine Minute verging. Dann die zweite.

Ich nahm ein Geschirrtuch zur Hand und trocknete die Sachen ab, die mein Vater abgespült hatte.

Dritter Versuch, dachte ich. »Weißt du, ich habe mir überlegt …«

»Ich muss noch einkaufen«, stöhnte er. »Ich muss doch wirklich alles allein machen!« Er trocknete seine Hände ab und fuhr sich dann durch das graue Haar.

Mein Mund öffnete sich, aber bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich wieder die Stimme.

Lass es einfach. Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen. Halt lieber den Mund. Du machst es sonst nur schlimmer, und dann bist du schuld, wenn der Haussegen schief hängt.

Ich nickte innerlich und wollte gerade gehen, aber dann … dann hörte ich es: ein ganz leises Geräusch. Als ob jemand einen Finger auf die Lippen legte und leise Psst machte. Psssst.Pssssst …

Es war nicht meine bekannte, zuckrig klebrige Stimme in mir. Ich drehte mich um. Aber niemand war in der Küche außer mir und meinem Vater. Ich schaute noch in den Flur hinaus. Aber wir waren wirklich allein. Dann hörte ich es wieder. Psssst. Es klang, als wäre es ganz nah an meinem Ohr. Als stünde jemand hinter mir. Ich drehte mich erneut um, aber da war nichts.

»Hörst du das?«, fragte ich.

Mein Vater sah zum ersten Mal auf und lächelte. Es war ein Lächeln, das nicht seine Augen erreichte, sondern nur sein Gesicht verzerrte. »Ich höre nur einen Haufen Arbeit, der nach mir ruft.«

Ich verdrehte die Augen. Mein Vater sah nur das, was nicht erledigt wurde.

Wieder hörte ich das leise Pssst. Woher kam es?

War es das Surren des Kühlschranks? Oder die Heizung? Konnte das sein? Ich ging zu den beiden vermeintlichen Verursachern und horchte. Aber die Heizung war aus und gab kein Geräusch von sich. Der Kühlschrank schnurrte wie eine Katze vor sich hin. Auch er war nicht für dieses Pssst verantwortlich.

»Sieh dir das an«, sagte mein Vater mit einem Lächeln, das ebenso echt war wie Margarine echte Butter war. »Kochen ist wirklich eine Traumarbeit.« Der Sarkasmus, den er an den Tag legte, troff aus jeder Silbe.

»Du musst das doch nicht tun«, sagte ich.

Meine Stimme war leise, und trotzdem kam sie mir hoch und brüchig vor. Um meine Unsicherheit zu verstecken, legte ich das Geschirrtuch sorgfältig über den Griff des Backofens.

»Das verstehst du eh nicht. Außerdem: Wer sollte es sonst tun?«, blaffte er. »Du?«

»Franz hat das doch auch gemacht«, sagte ich.

»Ist auch egal jetzt«, fuhr er mich an. Was er allerdings meinte, war: »Sprich nicht von deinem Bruder.« Sein Gesicht verfinsterte sich. Seine Augen waren zugekniffen, seine buschigen Brauen zusammengezogen, seine Lippen nur noch ein dünner Strich. Eine Ader an seiner Stirn stand leicht hervor und pulsierte.

Du weißt es doch besser, Hedwig. In diesem Haus spricht man nicht über Franz.

»Entschuldige«, antwortete ich fast tonlos und wusste nicht, ob ich mich bei meinem Vater oder der Stimme in meinem Kopf entschuldigte.

»Wie du meinst, egal«, sagte er nur und setzte seine Klagen fort: »Alles muss ich allein tun!« Dann sah er mich eindringlich an. »Aber schön, wie du deine freie Zeit hier nutzt und dich durchfüttern lässt.« 

Ich verließ mit schnellen Schritten die Küche. Ich fühlte, dass mein Körper einige Millimeter an Größe verloren hatte.

Darüber hatte ich ja mit dir reden wollen, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Mit meinen sechsundzwanzig Jahren hatte ich mir natürlich etwas Zeit gelassen, aber ich wollte einfach sicher sein. Mit achtzehn Jahren hatte ich die Matura erhalten, und danach lag ich nicht etwa auf der faulen Haut, wie es mein Vater vermutete. Ich hatte Praktika gemacht und kleinere Jobs ausprobiert. Meinen letzten Job, Büroarbeiten in einer kleinen Kunstgalerie, hatte ich schweren Herzens kündigen müssen, da sich meine Eltern mehr Unterstützung von mir erwarteten. Mein Vater wollte Hilfe im Haushalt, meine Mutter wollte mich als stille Gesellschafterin. Das Richtige war also nicht dabei. Aber mein größter Wunsch war mir schon früh klar gewesen: ein Kunststudium in Wien.

Leider war Wien an die fünf Stunden von uns entfernt. Sosehr ich Innsbruck liebte mit seiner romantischen Altstadt und den Bergen im Hintergrund, hätte ich aber in Wien viel mehr Möglichkeiten. Obwohl meine Eltern noch nie begeistert von der Idee waren, dass ich Künstlerin werden wollte, war es all die Jahre mein Traum geblieben. Und er gedieh jeden Tag ein bisschen mehr.

Ich hatte mich nur nicht getraut, ihn zu verwirklichen. Dafür hätte ich nach Wien ziehen müssen.

Dort wärst du ganz allein gewesen.

Und noch schlimmer, dachte ich. Ich hätte meine Eltern allein gelassen. Meine Mutter war zwar oft schwierig, aber ich wusste, dass sie sich davor fürchtete, einsam zu sein. Und mein Vater brauchte Hilfe mit ihr und dem Haus.

Ist das dein Problem?

Sie hatten sich so lange um mich gekümmert. Ich konnte nicht so undankbar sein und einfach gehen. Franz war ja schon weg. Isabel, meine kleine Schwester, konnte ich hier nicht allein lassen. Nur, damit ich woanders leben konnte.

Einmal hatte ich es versucht. Es war an einem Sonntag. Ich saß auf der Couch im Wohnzimmer und suchte über meinen Laptop eine Wohnung in Innsbruck. Mein Vater hatte nur gelacht, als er davon erfuhr: »Du könntest doch gar nicht allein leben. Wie stellst du dir das vor?«

Außerdem: Ich war ja schon zu viel weg, als ich noch in der Galerie gearbeitet hatte. Wie sollte es dann erst werden?

Ich stieg die Treppe zu den Schlafzimmern meiner Familie hoch. Heute erschien mir der Flur entsetzlich lang und trostlos. An der Wand hingen keine Familienfotos, sondern Ölgemälde von Landschaften. Auf der Kommode stand eine Vase mit Trockenblumen. Eigentlich mochte ich die Gemälde, aber heute kamen sie mir trist und düster vor. Ebenso die Blumen. Heute sah ich sie an und dachte, das Leben sei vollständig aus ihnen entwichen. Ein Lufthauch, und sie würden zu Staub zerfallen. Schnell ging ich weiter, denn der Gedanke betrübte mich.

Mein Zimmer lag neben dem meines Bruders Franz. Er war vor Jahren ausgezogen, versprach aber, dass er bald wieder heimkommen würde. Keiner von uns betrat jemals sein Zimmer. Wenn er wiederkam, würde alles so sein, als wäre er nie weg gewesen. Auf der anderen Seite meines Zimmers lag das meiner Schwester Isabel.

Sie hat die besseren Anlagen geerbt. Ihr Haar ist viel fülliger und perfekt gelockt. Deines hängt nur kraftlos herab.

Ich strich meine dünnen Haare, die ich zu einem Zopf geflochten hatte, über die Schultern nach vorn und drehte Strähnchen.

Isabel ist auch die Mutigere von euch. Sie kommt aus sich heraus und steht gern im Mittelpunkt.

Das stimmte. Es war nicht so, dass es nur um sie gehen sollte, aber sie mochte es, gesehen zu werden. Ich hingegen lebte in mir zurückgezogen.

Ich drehte mich zur Tür am Ende des Flures. Dahinter lag das Zimmer meiner Mutter Margarethe, Gretel wie sie von allen genannt wurde. Ich wollte mit ihr reden, um ihr von meiner Unizulassung zu erzählen. Vielleicht hatte sie heute einen guten Tag und würde stolz auf mich sein. Ich klopfte leise an. So, dass ich sie nicht wecken würde, falls sie schlief, aber es hören könnte, wenn sie wach wäre.

»Was?«, dröhnte es zu mir hinaus. Ich musste schlucken. Das klang nicht nach einem guten Tag.

»Hörst du nicht, dass ich schlafe?«, schrie sie aus dem Zimmer heraus.

Sie will dir auch nicht zuhören. Sieh es doch endlich ein. Deine Eltern scheren sich nicht um dich. Du bist nicht wichtig.

»Entschuldige, Mama«, flüsterte ich und ging.

Sie erinnerte mich immer mehr an meine Großmutter, die bis zu ihrem Tod im Haus nebenan gewohnt hatte. Sie war eine sehr harte Frau gewesen. Viele Kinder aus der Nachbarschaft fürchteten sich vor ihr. Je älter ich wurde, umso mehr fürchtete auch ich mich. Egal wann ich nach Hause kam, ging der Vorhang am Fenster beiseite, sie lauerte dort und beobachtete mich. Als sie schließlich starb, blieb der Vorhang an seinem Platz. Nur manchmal, wenn ein Luftzug ihn bewegte, dachte ich noch nach vielen Jahren, dass sie dort stünde, um mein Heimkommen zu beschatten. Mehr Kontakt gab es nicht. Weder besuchten noch redete meine Familie und sie je miteinander. Ihr Haus wurde schließlich verkauft. Die neuen Nachbarn kannte ich bis heute nicht.

Wieder hörte ich das Geräusch von vorhin. Psssst. Pssssst. Pssssssst.

Ich schüttelte den Kopf über mich. Ich fühlte mich albern, weil ich hoffte, dass meine Eltern mir ihre Aufmerksamkeit schenken würden. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen mit einem Schulranzen, der viel zu groß für den kleinen Körper ist. Wo ist der Vater, der das Mädchen von der Bushaltestelle abholt und ihm den Schulranzen abnimmt? Um dann Hand in Hand das Kind nach Hause zu bringen. Wo ist die Mutter, die das Mädchen zu Hause in Empfang nimmt und ihm das Mittagessen serviert? Wo sind die Eltern, die mit dem Mädchen spielen?

Ich rieb meine Augen, um das Brennen darin zu vertreiben.

Daran solltest du mittlerweile gewöhnt sein.

Natürlich sollte ich das. Aber wie eine zähe Spinne, die ihr Netz immer wieder aufs Neue in der gleichen Ecke spann, blieb in mir die Hoffnung zurück.

Ich eilte in mein Schlafzimmer und schloss gähnend die Tür. In letzter Zeit war ich immer müde. Die Wärme und Helligkeit, die von meinen hellbraunen Birkenholzmöbeln ausging, umfingen mich wie eine warme Decke. Sie tat mir gut. Die Deckenlampe tauchte alles in einen goldenen Schein. Die blauen Wände schluckten zwar die Farben des Lichts, aber sie gaben dem Zimmer eine wundervolle und anheimelnde Atmosphäre. Meine Grünpflanzen – drei buschige, saftig grüne Birkenfeigen, eine große Monstera in voller Pracht, ein üppiges Einblatt, ein paar Goldfruchtpalmen, Streifenfarne, Efeupflanzen und zwei Bambusse – hießen mich willkommen. Sie waren überall in meinem Zimmer: in den Regalen über meinem Schreibtisch und über meinem Bett, auf meinem Nachtschränkchen. Mein Zimmer war ein kleiner Urwald von luftreinigendem Grün. Ich setzte mich in die Ecke meiner Couch, nahm eines der vielen großen Kissen in die Arme und drückte es fest an mich. Manchmal wünschte ich mir, dass mich jemand so in die Arme schlösse.

Ich verlor mich in den Bildern meiner blau-orange-gelb gemusterten Couch. Ich erkannte in regelmäßigen Abständen eine fratzenartige Maske in Form eines Dreiecks im Stoff. Ihr Kinn war stark ausgeprägt. Sie hatte einen großen Fleck auf der Wange, als ob sie errötet wäre. Es gab eine Figur, die aussah wie eine Steinstatue der Osterinsel. Daneben befand sich ein roter Schemen, der wie ein Mörder mit einem großen Messer auf seine Chance wartete zuzustechen. Es gab aber auch Lilien, die auf der Couch erblühten.

Einer inneren Eingebung folgend schlich ich wieder in die Küche und spähte hinein. Mein Vater war nicht da. Ich stellte den Wasserkocher an und holte einen Beutel Früchtetee aus dem Schrank. Mit dem kochenden Wasser füllte ich meine blaue Tasse mit den goldenen Sternen und rührte noch einen Löffel Zucker hinein. Die Müdigkeit, die ich fühlte, löste sich wie der Zucker im Tee auf. Ich hatte noch Lust zu zeichnen. Ich spürte sie ganz deutlich: ein Jucken in den Fingerspitzen. Ich nahm den Tee und ging in mein Zimmer zurück. Mit einem Zeichenblock und meinem Metalletui voller Faber-Castell-Bleistifte setzte ich mich auf die Couch. Ich nahm einen Bleistift mit dem Härtegrad 8B aus dem Etui. Es war der kürzeste von allen. Ich setzte ihn an, und er ließ sich weich über das Papier führen. Ich wusste, dass diese Härte nicht zum Skizzieren gedacht war, aber ich liebte das Gefühl, mit weichem Grafit zu zeichnen. Ein weiterer Vorteil an diesem Härtegrad war, dass die Farbe um ein Vielfaches dunkler war. Ich skizzierte die verschiedenen Figuren, die ich auf meiner Couch erkannt hatte, und präzisierte dann ihre Formen und Schatten.

Irgendwann hörte ich das Gurgeln der Heizung neben mir. Das Geräusch gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein.

Ich gähnte und sah auf die Uhr. Ein paar Stunden waren vergangen. Ich sah mir meine Werke an und war zufrieden.

Bist du wirklich zufrieden?

Ja, mit meiner Zeichnung. Aber trotzdem fühlte ich weiterhin eine Traurigkeit in mir, denn ich konnte meine Freude über die Zulassung weder mit meinen Eltern noch mit Franz teilen.