Der rote Rabe - Lilli Palmer - E-Book
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Der rote Rabe E-Book

Lilli Palmer

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Beschreibung

»Der rote Rabe« ist einer der Besteller von Lilli Palmer: Die wahre Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen ihr, ihrer besten Freundin Anabel und dem Mann, den Lilli Palmer liebte. An einem Herbsttag im Jahr 1947 sitzt Lilli Palmer Modell bei einer Malerin Modell und entdeckt in deren Atelier den kleinen Bronzekopf einer Frau, den sie nur zu gut kennt: Anabel war drei Jahre lang ihre innigste Freundin, aber auch ihre größte Feindin gewesen. Sie hatte Lilli sowohl beschenkt und beraubt als auch ihr Leben bereichert und ruiniert – zweifelsohne aber hat diese Geschichte Lilli Palmers Leben und ihren Werdegang als Schauspielerin, Malerin und Schriftstellerin entscheidend beeinflusst. Eine intime und sehr persönliche Geschichte einer speziellen »Freundschaft«, kompromisslos erzählt.

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Seitenzahl: 324

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Lilli Palmer

Der rote Rabe

Roman

Vorwort

Mein Vater kam zum Mittagessen nach Hause. Meistens pünktlich um ein Uhr. Wir warteten dann bereits, hungrig wie die Löwen. Während des Essens erwähnte er nie, was sich am Vormittag im Krankenhaus abgespielt hatte. Wollte wissen, wie es uns in der Schule ergangen war. Nur das war wichtig.

Um zehn Uhr abends lagen die Dinge anders. Er beschloss dann seinen Tag mit einer extra Mahlzeit, die nur aus Obst bestand. Während er sorgfältig mit seinen unaufhörlich gewaschenen, daher trockenen und abgeschabten Chirurgen-Fingern einen Apfel oder eine Birne schälte, erzählte er manchmal von den trostlosen oder grotesken menschlichen Verstrickungen, die ihm seine Patienten vor oder nach der Operation aufbürdeten. Ohne Namen natürlich. Damals, in den zwanziger, dreißiger Jahren, ging man noch nicht so selbstverständlich zum Psychiater wie heute. Man vertraute sich dem Arzt an, der, im weißen Kittel, das Messer sozusagen in der Hand, eine Art göttliches Bodenpersonal verkörperte. Vielleicht würde er sich dann besondere Mühe geben – Wir hörten schweigend und respektvoll zu. Aber nur mit einem Ohr. Wir waren jung genug zu glauben, dass »solche Sachen« anderen Leuten passierten. Nicht uns.

Zum Schluss, kurz bevor er aufstand, um schlafen zu gehen, spielte er immer noch ein paar Minuten versunken mit den Obstschalen und sagte mit einem ganz bestimmten Lächeln, mehr zu sich als zu uns: »Das bisschen Leben …«

*

Das bisschen Leben überfiel mich aber doch einige Male. Wenn es von vorne angriff, konnte ich es einigermaßen bewältigen. Aber der rote Rabe, zum Beispiel, kam von hinten.

1. Teil

1

Die Sache begann mit dem Bronzekopf auf dem Kaminsims im Atelier. Ich hatte ihn noch nie bemerkt, obgleich ich schon seit Wochen Modell saß.

»Pause«, sagte die Malerin, steckte die Pinsel in das Einweckglas, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und verschwand in der Küche.

Seit fünfzehn Minuten hatte ich unbeweglich das Kaminsims angestarrt. Ich kannte es auswendig, von rechts nach links: die alte Vase, daneben zwei Froschskulpturen, die leere Rotweinflasche und der Azaleentopf ohne Blüten. Der Bronzekopf war mir noch nie aufgefallen, wahrscheinlich, weil er von der Vase (griechisch? Flohmarkt?) verdeckt war.

Ich zog die kleine Skulptur ans Licht. Ein Mädchenkopf, höchstens zwanzig Zentimeter hoch. Ich hielt ihn in die Höhe, drehte ihn zur Seite, um das Profil zu studieren – aber meine Hand zitterte so stark, dass es unscharf blieb.

Die Malerin kam mit dem Tablett aus der Küche.

»Ist das ein Porträt?«, fragte ich. »Soll das jemand Bestimmtes sein?« Sie warf einen Blick über die Brille, während sie einschenkte. »Warum?«

»Ich glaube, ich kenne sie. Ist das – wäre es möglich, dass das eine Französin ist?«

»Ja«, sagte die Malerin, »Ihr Kaffee wird kalt.« Ich setzte mich auf den Hocker neben die Staffelei, nahm den Bronzekopf mit.

»Anabel Maclean?« Ich sprach so unbeteiligt und gelassen wie möglich. Die Malerin sah von ihrer Kaffeetasse auf, nahm die Brille ab, legte den Kopf etwas zur Seite, als sei sie schwerhörig, setzte die Brille wieder auf, sah mich aufmerksam an.

»Sie kannten sie?«

Ich drehte den Kopf hin und her, als sei ich an den technischen Feinheiten der Bronze interessiert.

»Die Stirn«, sagte ich, »an der Stirn habe ich sie erkannt, an dem Dreieck über der Nase, wie bei einem Vogel –«

Ich verstummte.

»Ja?«

»Sonst ist eigentlich nichts an dem Gesicht«, sagte ich und stellte den Kopf auf den Boden.

»Finden Sie«, sagte die Malerin, nicht als Frage, sondern als Urteilsspruch.

Das alles war neu. Wir hatten noch nie etwas Außerdienstliches besprochen. Mein Dienst war die Pose, im Sessel, entspannt, die Hände lässig, der Kopf etwas zur Seite. Ihr Dienst war der Kampf mit der Leinwand, den sie schweigend, manchmal auch knurrend besorgte. Beistand und Stütze für uns beide war die Dauermusik, Radio oder Langspielplatten. Bei ernstlichen Schwierigkeiten legte sie Mozart auf. Gleich am ersten Tag hatte sie die Weichen für unser Arbeitsklima gestellt: Es wurde geschwiegen, Musik gehört, in den Pausen weiter geschwiegen, Kaffee getrunken.

Sie goss sich eine zweite Tasse ein, warf den Kopf zurück und trank sie mit einem Schluck aus, als schütte sie sich Cognac in den Hals. Dann beugte sie sich vor, hob die Skulptur vom Boden auf und staubte sie mit dem Ärmel ab, rieb Nasenlöcher und Ohren brutal mit dem Terpentinlappen, als wolle sie dem Original eins auswischen, nahm die Brille ab, hielt die Büste dicht vor ihre kurzsichtigen Augen, berührte sie beinah mit der Nase.

»Ja«, meinte sie dann, »die Stirn war gut. Sehr hoch, sehr breit. So, als ob sie intelligent gewesen wäre –«

»War sie das nicht?«

»Nein. Sie hatte Instinkt. Das ist schon viel. Ich hätte sie am Mund erkannt.«

»Wieso?«

»Ein verschlossener Mund. Ein böser Mund.«

»Anabel war nicht böse«, sagte ich mit fester Stimme.

»Nein?« Sie setzte die Brille wieder auf und studierte mich. »Wann kannten Sie sie denn?«

»Vor dem Krieg.«

»Wann vor dem Krieg?«

Ich dachte nach, strengte mich an, zwang mich zur Ordnung.

»Zwei, drei Jahre vorher.«

»Da kannte ich sie nicht mehr«, sagte die Malerin und stellte den Kopf auf den Boden. Ich hob ihn wieder auf, drehte ihn hin und her, merkte, dass sie mich beobachtete, setzte ihn wieder ab.

»Sie können ihn mit nach Hause nehmen – leihweise.«

»Was soll ich denn damit«, sagte ich hastig, stand auf, betrachtete meine Uhr, sah die beiden Zeiger, konnte trotzdem nicht feststellen, wie spät es war – stand sinnlos in der Mitte des Zimmers. Die Malerin beobachtete mich stumm und wartete. Ich machte zwei Schritte zur Tür, drehte mich wieder um.

»Wann haben Sie sie gekannt?«

»Als sie noch Anabel Beauregard hieß. Wir lebten zusammen.«

»Lebten zusammen –«, wiederholte ich verständnislos und starrte sie an. Sie nickte. Ich kehrte zum Hocker zurück, gewann Zeit, indem ich mich sorgfältig hinsetzte, den Rock zurechtstrich, die Hände um die Knie verschränkte.

»Was heißt: Sie lebten zusammen?«

»In meinem Atelier in Paris, in der Rue Vineuse«, sagte sie ruhig. »Ich hatte keine Ahnung, dass Anabel auch –«

»Ja, ›auch‹. Sie legte sich da nicht fest. Ich habe immer nur Frauen gemocht. Aber das ist mein Geschmack, keine Tugend.«

Ich kreuzte unwillkürlich die Arme über der Brust. Sie sah es und lachte.

»Warum kreuzen Sie nicht auch die Beine? Sie sind wirklich ein Kindskopf. Wie alt sind Sie? Dreißig? Sie sind in keinerlei Gefahr. Merken Sie das nicht?«

Mir war kalt.

»Haben Sie den Kopf gemacht?«

»Wer sonst? Nicht gut übrigens, aber ähnlich.«

»Sehr ähnlich«, sagte ich.

Sie studierte mich immer noch aufmerksam durch die Brille, neutral, ohne Lächeln.

»Ich glaube, heute arbeiten wir nicht mehr. Sind Sie sicher, dass Sie ihn nicht mit nach Hause nehmen wollen?«

»Ja. Sicher.«

»Also, dann – morgen um elf.«

2

Ich sagte, die Sache begann im Atelier der Malerin. Umgekehrt. Dort hörte sie auf. Die Entdeckung des Bronzekopfes war der Epilog.

In einem Koffer meines Gepäcks lag ein verschnürter Pappkarton, immer ganz zuunterst in derselben Ecke. Er wurde niemals zu Hause gelassen, aber auch niemals ausgepackt. Ich musste nur wissen, dass er da war, erstens, damit niemand ihn aufmachen konnte – dieser Koffer war der einzige, den ich immer verschlossen hielt –, zweitens hätte es ja sein können, dass ich eines Tages doch einmal die Schnüre aufknoten würde. Ich wusste, was in dem Karton war: ein Tagebuch und ein Brief. Beide hatte ich noch nie geöffnet. Wollte nicht, konnte nicht. Wenn ich den Koffer aufmachte, um ihn zu packen, und den Karton in der Ecke liegen sah, von Jahr zu Jahr mahnender, drohender, dann häufte ich Unterwäsche und Pullover darüber. Aber ich ließ ihn nie zu Hause.

*

Die Sache mit dem Bronzekopf ereignete sich irgendwann gegen Ende 1947. Ich weiß das so genau, weil ich zu dieser Zeit zufällig in London war, obwohl wir bereits seit zwei Jahren in Hollywood lebten. Ende 1947 drehte mein damaliger Mann einen Film mit englischem Hintergrund, und so wohnte ich ein paar Monate lang im Hotel, war weder Schauspielerin noch Hausfrau, wachte morgens früh ohne Stundenplan auf, fühlte mich frei, aber faul, war eigentlich ganz froh, der Malerin zu sitzen, denn es gab mir zweimal in der Woche einen Anhaltepunkt.

Ich kannte sie erst kurze Zeit. Jemand hatte mich zu einer Ausstellung ihrer Bilder mitgenommen.

Die Ausstellung lief schon seit Wochen. Beinah alle Bilder hatten den kleinen roten ›Verkauft‹-Punkt rechts unten am Rahmen kleben. Ein paar Dutzend Menschen wanderten, den Katalog in der Hand, durch die Räume in der üblichen feierlichen, leicht verlegenen Stille.

Plötzlich wurde die Eingangstür aufgestoßen. Im Türrahmen stand eine kleine, stämmige Frau um die fünfzig, in Hosen, Poncho und eine Art venezianische Dogenkappe auf dem Kopf. Ein flaches, eckiges Gesicht, eine Kinder-Stupsnase und ein breiter, dünnlippiger Mund. Die Malerin! Obgleich sie mit dem Foto im Katalog wenig Ähnlichkeit hatte. Sie stand einen Augenblick still, wie, um Zündstoff aufzuladen, und marschierte dann quer durch den Raum auf die Bürotür zu, die sich hinter ihr schloss. Gleich darauf wurde sie wieder aufgestoßen, und sie erschien flankiert vom Galeriebesitzer, einem glatzköpfigen, bebrillten Hünen, und noch einem anderen, hilflos flatternden jungen Mann. »Dieses da – und das da drüben«, sagte sie mit lauter Stimme und zeigte auf zwei Bilder mit roten Punkten am Rahmen.

»Ausgeschlossen. Beide verkauft.« Der Riese sprach leiser, aber ebenso schroff. Aus beiden Räumen näherten sich die Besucher, unauffällig, aber unaufhaltsam. Keiner wollte sich das entgehen lassen. Riese sowie Malerin sahen und hörten uns nicht, waren nur von ihrem Zorn besessen.

»Weg damit«, sagte die Malerin schroff, »ich muss sie in Ordnung bringen. Ende der Woche können Sie sie wieder haben.«

Der Mann sah über seine Brillengläser im Kreise umher – wir warteten gespannt –, machte kehrt und verschwand grußlos in seinem Büro. Die Malerin stand mit verschränkten Armen, während der junge Mann die Bilder abmontierte, sah sich um und bemerkte uns zum ersten Mal. Als ihr Blick auf mich fiel, blieb er hängen. Sie betrachtete mich eingehend und ungeniert.

Der Jüngling war fertig und stand schwitzend mit den beiden Bildern vor ihr.

»Bringen Sie sie in meinen Kombiwagen.«

Sie marschierte zur Tür, hielt sie für ihn offen – kam noch einmal zurück. Pflanzte sich vor mir auf und sagte: »Ich möchte eine Skizze von Ihnen machen. Vielleicht auch ein Porträt. Hätten Sie Lust?«

*

Während der ersten Sitzung hatte sie nach zehn Minuten die Kohle aus der Hand gelegt.

»Ziehen Sie das Zeug da aus. Hier.«

Damit ging sie zu einer Truhe und zog einen hellen Poncho mit Lamafell umfranst ans Licht.

»Aus Cuzco. Echt.«

»Haben Sie in Peru gemalt?«

»Wollte sogar dort bleiben.«

»Und warum sind Sie nicht geblieben?«

»Bin zu alt. Oder noch nicht alt genug –« Sie lachte und zeigte auf eine Kommode in der Ecke, auf der ein grinsender peruanischer Mumienkopf mit schwarzem Zottelhaar stand, dem sie ihre venezianische Dogenkappe aufgesetzt hatte. Er sah ihr nicht unähnlich.

Ich hatte mir in ihrem Zigeuner-Badezimmer, in dem sie Pinsel wusch und das nach Terpentin stank, den Poncho angezogen, fand, er passte nicht zu meinem Gesicht, aber sie hatte zufrieden genickt, skizziert, dann zu malen angefangen. Das war vor drei Wochen gewesen. Es wurde immer noch geschwiegen, Musik gehört, Kaffee getrunken, »auf Wiedersehen« gesagt.

Ich hatte versucht, in der Galerie etwas über sie zu erfahren. »Eine schwierige Person. Gefährlich.« Das störte mich nicht. Das waren die meisten, die was leisten wollten. Niemand kannte sie persönlich. Ich auch nicht, obgleich ich zweimal in der Woche anderthalb Stunden in ihrem Atelier verbrachte.

Langsam wuchsen die Farben auf der Leinwand aufeinander zu. Jetzt war es bereits ein dichtes Gewebe. Nicht, dass sie jemals gesagt hätte: »Wollen Sie es sich ansehen?« Aber vielleicht wusste sie, dass ich das in den Pausen tat, sowie sie in der Küche verschwunden war.

*

Es war ein neblig-nasser englischer Winternachmittag gewesen, als ich an jenem Tag, an jenem hinterhältigen Tag, aus dem Atelier der Malerin ins Hotel zurückkehrte. Ich war den ganzen Weg zu Fuß gelaufen, wollte Zeit gewinnen, konnte das Knistern und Knacken nicht loswerden, das wie die Nachwehen eines elektrischen Schlages immer noch spürbar war, auch jetzt, eine gute Stunde, nachdem ich den Bronzekopf in der Hand gehalten hatte, Anabels Kopf, geschrumpft, wie es die Jivaro-Indianer mit den Köpfen ihrer Feinde taten.

Ich wusste genau, was zu geschehen hatte, wenn ich im Hotel angekommen war. Länger konnte ich es nicht mehr aufschieben.

Oben stand ich eine Weile am Fenster. Der Nebel draußen tat mir gut. Er bot mir kein Panorama zur Betrachtung an, nur eine sanft wogende, formlose Masse. Von Zeit zu Zeit teilten sich die Schwaden, und man konnte einen Augenblick lang die Themse tief unten erkennen, schiefergrau und griesgrämig. Dann verschwand sie wieder hinter dem Dunst-Plumeau.

Nicht, dass ich es noch ein letztes Mal hinauszögern wollte. Im Gegenteil, jetzt, wo es so weit war, fühlte ich sogar etwas wie Ungeduld. Aber dieser Ungeduld durfte nach so vielen Jahren des Aufschiebens und der Drückebergerei nicht sofort nachgegeben werden. Strafe muss sein. Außerdem wollte ich mir in aller Ruhe darüber klar werden, was mir bevorstand, wenn ich jetzt zur Gepäckkammer ging.

Ich holte den Koffer, legte ihn aufs Bett, setzte mich daneben und sah ihn an. Es war ganz leicht gewesen, ihn zu tragen und zu heben, er war ja leer. Bis auf den Pappkarton.

Der Schlüssel. Dann ein kleiner Druck, nur halb im Ernst gemeint – und die Kofferschlösser sprangen auf, hastig, bereitwillig. Da lag er.

Ich holte eine Schere und schnitt die dicken Schnüre durch, hob den Deckel ab. Das Tagebuch. Braunes Leder, kunstvoller Verschluss, wahrscheinlich aus echtem Gold. Daneben der Schlüssel, auch aus Gold. Anabel besaß nichts, was nicht echt war. Und der Brief. Den legte ich beiseite.

Öffnete das Buch. Auf der leeren Titelseite lag ein Stück Papier, irgendwo abgerissen, darauf mit Bleistift in Druckbuchstaben: »NEIN! ZUERST DEN BRIEF.«

Ich riss den Zettel mitten durch. Nein, zuerst das Buch. Schlug die erste Seite auf.

Die Handschrift, sorgfältig, rund, gleichmäßig, war mir so vertraut wie meine eigene. Dabei hatte ich nur wenige Briefe von ihr erhalten. Wir waren beinah immer in derselben Stadt gewesen, in London, vor dem Krieg. Es war klar, dass dieses Tagebuch Vorgänger hatte, denn es gab keinerlei Erklärungen ab, fing mittendrin auf einer Mittelmeerreise im Sommer '35 an. Das war noch vor meiner Zeit. Da kannte ich sie noch nicht. Aber nach dem, was die Malerin heute erwähnt hatte, kannte ich sie auch später nicht, hatte keine Ahnung, dass sie Tagebuch schrieb, und zwar, wie mir gleich die erste Seite zeigte, unbarmherzig und voller Hass. Auf Bill, ihren Mann, auf Nina, ihre Tochter, und auf sich selbst am meisten. Sie hasste sich also schon damals, noch bevor sie Jerome und mich traf.

Das erste Datum: 10. Oktober.

»… Ich stehe jetzt immer vom Frühstückstisch auf, bevor B. nach dem Obst greift. Ich kann's nicht ausstehen, wenn er in den Apfel beißt und der Saft nach allen Seiten spritzt …«

Ein Kinnhaken für B., ihren Mann, Bill Maclean. Wie hatte er nur ausgesehen? Groß, sehr groß sogar, mit hellem, gewelltem Haar (»geschneckelt« nannte es meine Mutter), sommersprossig. Einmal – wann war das? – wickelte er Anabel in ihren Pelz ein, ließ aber nicht los, hielt sie von hinten umklammert, drückte sein Gesicht in ihr Haar, murmelte: »Ach, das tut gut!«, hatte vergessen, dass ich danebenstand. Sie hielt still, aber ich war froh, dass er ihr Gesicht nicht sah.

Nächste Eintragung: 11. Oktober. Eine Ohrfeige für Nina, ihre Tochter, damals vierzehnjährig:

»… Gestern sind wir endlich in Genua gelandet, und ich brachte sie zur Bahn. Sie glaubte, es sei mütterliche Fürsorge. In Wahrheit wollte ich nur sicher sein, dass ich sie wirklich bis zu den Weihnachtsferien los bin. Ich warf dem abfahrenden Zug eine Kusshand nach. Hätte mich noch lieber davor auf die Schienen geworfen. Wie Anna Karenina. Tolstoi wusste Bescheid. Diese Sehnsucht, sich zermalmen zu wollen, zu Brei werden …«

Es war dunkler geworden. Ich hatte Mühe, die Worte zu entziffern, buchstabierte noch einmal den letzten Satz: »… zu Brei werden …« Sorgfältig, ruhig rund geschrieben, das i-Tüpfelchen in »Brei« haargenau über dem Strich.

Ich schlug das Buch zu.

3

Lag dann später lange im Dunkeln. Versuchte immer wieder, meine Gedanken loszureißen, die wie Taranteln an dem Tagebuch hingen, fand schließlich, todmüde, hellwach, Rettung bei meiner alten Kinder-Therapie. »Denk an Karl den Großen«, hatte mein Vater gesagt, wenn ich vor einem »Ereignis« vor Aufregung nicht einschlafen konnte. Warum Karl der Große? Mein Vater hatte geheimnisvoll gelächelt und gesagt: »Du wirst sehen – es hilft.« Es half. Karl der Große mit seiner Zackenkrone unterbrach mein Gedanken-Karussell, auch wenn er nur ein paar Sekunden lang in meinem Gehirn auf dem Thron saß.

Karl der Große also! Her mit ihm. Da saß er schon – aus Stein, auf einem kleinen Pferd, ein Gesicht wie ein Pfannkuchen – und weg war er. Dafür rauschte und plätscherte es um mich herum, als sei ich von Wasser umgeben. Immer, wenn ich mich in die Vergangenheit zurückdachte, »tauchte« ich. Gesichter, Gegenstände kamen »angeschwommen«, andere lagen dunkel »auf dem Grund« oder wehten wie Algen hin und her, ließen sich nicht verankern.

Nur was mit Jerome zu tun hatte, lag glasklar unter der Oberfläche, Umrisse, Hintergründe wie angestrahlt. Ich konnte seine Stimme hören und die der Menschen um ihn herum, auch meine eigene, als hätte ich alles auf Tonband aufgenommen.

*

Als wir Anabel zum ersten Mal trafen, waren wir gerade in unsere kleine Wohnung in Hampstead eingezogen. Jetzt mussten wir nicht mehr nachts heimlich in das Haus in der Parsifal Road schleichen, in dem ich mit meiner Mutter und meinen beiden Schwestern wohnte. Wenn meine Mutter etwas hörte, so ließ sie mich das nie wissen. Das Haus beherbergte noch ein paar Untermieter, deren Privatleben streng respektiert wurde. Und in dieser Hinsicht behandelte sie auch ihre erwachsenen Töchter wie Untermieter.

Tagsüber, wenn ich nicht im Atelier stand oder Probe hatte und wenn es nicht gerade goss, waren wir im Hyde Park umhergewandert. Wir liebten den Hyde Park. Er hatte uns Glück gebracht, war unsere erste Zufluchtsstätte gewesen seit dem Nachmittag, als ich Jerome zum ersten Mal sah.

Wenn ich den Anfang der »Sache« suchte, dann war das das richtige Datum: 2. April '36, der Tag, an dem alles angefangen hatte. Im Lyons Corner House am Marble Arch. Kein feines Lokal, aber damals spielte ich noch kleine Rollen, passte auf jeden Shilling auf. Früher Nachmittag. Das Café war leer. Ich wartete auf meinen Agenten, der mir ein Filmmanuskript bringen wollte, falls man kein englisches Mädchen vorziehen würde.

Der Agent kam nicht. Ich gab ihm noch zehn Minuten, dann würde ich mit dem Bus nach Hause fahren, meine Mutter würde es mir vom Gesicht ablesen, morgen würde ich es vergessen haben, anderen Hoffnungen nachjagen. Ich blätterte in meiner Zeitung, fühlte plötzlich ein Paar Augen auf mir. Sie brannten durch meine Baskenmütze, mein Rosshaar und meinen gesenkten Kopf hindurch. Schräg gegenüber saß ein junger Mann, vor ihm sein Tee, neben ihm ein leerer, angelehnter Stuhl, genau wie bei mir. Jemand hatte auch ihn sitzen lassen. Dunkel von Gesicht, schwarze Haare, pechschwarze, neugierige Augen – sicher kein Engländer. Als ich ihn ansah, lächelte er. Ich vertiefte mich wieder in meine Zeitung, fühlte die Augen, die sich nicht von meiner gelben Mähne lösten. Damals war ich strohblond gefärbt, überzeugt, dass mich das zum »Filmstar« machte.

Ein paar Minuten später stellte er seinen kalten Tee neben meinen, ließ sich auf den leeren Stuhl nieder, fragte, ob wir nicht einen Spaziergang machen sollten, es regne nicht mehr.

Kurz darauf standen wir auf der Straße, seine Hand unter meinem Ellbogen, überquerten die Oxford Street und wanderten in den Hyde Park hinein. Dort, so sagte er, gäbe es Liegestühle, Sixpence die Stunde.

Ich kannte sie. Sie waren vorigen Sommer – meinem ersten in London – mein Lunch-Restaurant gewesen. Dort hatte ich täglich gesessen und mein Knäckebrot ohne Butter mit Schinken verschlungen. Der Magen sollte schrumpfen und aufhören, nach Milchschokolade zu lechzen, denn noch sah ich vor der Kamera wie eine Pellkartoffel aus. Das war vor einem Jahr gewesen. Inzwischen hatte ich zehn Pfund verloren. Und auch einige Rosinen, was meine »kometenhafte« Karriere in England anbetraf.

Wir wanderten stumm nebeneinander her. Es gab da ein Gelände im Hyde Park, so abgelegen, dass nur selten ein Parkwächter erschien, um zu kassieren. Offenbar kannte der junge Mann diesen Platz genauso gut wie ich, denn er steuerte zielbewusst in diese Richtung. Von Zeit zu Zeit sah ich ihn verstohlen an – er fühlte es jedes Mal und lächelte mir zu. Er war jetzt, bei Tageslicht, eher noch dunkler von Teint und Haarfarbe. Die Gesichtszüge stritten sich, die oberen eher unheimlich durch die niedrige Stirn, die dichten, fast zusammengewachsenen Augenbrauen, die schrägen, etwas zu eng beieinanderstehenden Augen. Die unteren, Nase, Mund und Kinn, gehörten zu einem anderen Gesicht, so behutsam und mädchenhaft zart waren sie geschnitten. Je länger ich ihn ansah, desto schwerer fiel es mir, mich auf die Wiesen voller Krokusse zu konzentrieren, auf die er mich mitsamt lateinischen Namen aufmerksam machte. Ich gab ein paar freudig-zustimmende Geräusche von mir, wollte nicht, dass er zu sprechen aufhörte, wollte der Stimme, dieser dunklen, summenden Stimme, noch lange zuhören.

Ich merkte natürlich, dass auch er mich gelegentlich von der Seite ansah, lächelnd, abschätzend – vielleicht sogar beifällig –, ich war nicht ganz sicher. Ich war meiner überhaupt nicht sicher, wusste nicht, ob mir von der Haferlschuh-Wadenstrümpfe-Tintenflecken-Atmosphäre nicht doch noch etwas anhaftete, Überbleibsel der seligen Jahre – beinah noch greifbar –, als ich inmitten anderer deutscher Wandervögel den Rhein und die Mosel hinauf- und hinuntergewandert war, »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein, wer lange sitzt, muss rosten …« singend. Wir rosteten nicht, schafften zwanzig Kilometer am Tag. Ein fauler Witz der damaligen Zeit teilte die Wandervögel in zwei Kategorien ein: solche, die wanderten – –

Zu diesen gehörte ich. Kugelrund, von aggressiver Gesundheit, den Rucksack auf dem Rücken, in Jugendherbergen oder Bauernscheunen übernachtend, streng bewacht von unseren Lehrern. Hänke-Pänke gab's nicht.

Daher hatte ich Jungen gegenüber eine fatal burschikose Art, die sich erst langsam verlor. An ihre Stelle trat dann der erste Anflug von Koketterie, etwas verkrampft und verspätet. Anderen Mädchen war so was angeboren. Aber ich war auf einigen Gebieten rätselhaft zurückgeblieben.

Zum Beispiel im Tanzen. Gramzerfranst musste ich zusehen, wie andere Mädchen die kompliziertesten Schritte und Wendungen im Arm ihrer Partner ausführten. Woher wussten sie, was der jetzt gerade für eine Drehung plante?

Ich beichtete meiner Mutter, dass ich immer »heftige Kopfschmerzen« hatte, wenn man mich aufforderte, woraufhin mein Vater mich eines Tages beim Mittagessen mit der Ankündigung überraschte – streng sachlich, ohne Augenzwinkern –, dass er private Tanzstunden für mich arrangiert hätte, um den Foxtrott, den Englishwaltz und sogar den Tango zu erlernen. Eine junge Dame aus gutem Hause würde es mir beibringen.

Die junge Dame aus gutem Hause hieß Fräulein Wassermann und war etwa zwanzig Jahre alt, vier Jahre älter als ich. Sie besaß ein Grammofon (zum Aufdrehen), eine Anzahl Schlagerplatten und einen gewaltigen Busen. Dieser war ein Hindernis, denn er war mir im Wege, wenn sie mich – streng pädagogisch – an sich drückte. Besonders beim Tango, der unter konvulsivem Rhythmus auszuführen ist. Wann immer sie mich elegant an einer Hand hielt, während wir Bein an Bein in halber Kniebeuge auf und nieder wogten, und mich dann plötzlich tangovorschriftsgemäß mit kühnem Ruck an sich riss, so prallte ich jedes Mal an ihren zwei Riesengummibällen zurück, außer Atem und Fassung. Der Tag, an dem sich dann zum ersten Mal anstelle der Gummibälle eine harte Männerbrust an meine drückte, wurde zum unvergesslichen Erlebnis. Obgleich die harte Männerbrust die vorgeschriebenen Schritte lange nicht so haargenau beherrschte wie ich und daher von mir in eisernem Zangengriff hin und her manipuliert wurde, so, wie es Fräulein Wassermann befohlen hatte.

Ich kann mich noch an den Ausdruck auf seinem Gesicht erinnern, als er mich eilig an meinen Tisch zurückbegleitete.

*

Wir fanden zwei Liegestühle unter einer alten Buche, rückten sie zusammen und streckten uns aus. In der Ferne spielten Kinder, bewacht von Nannys, auf Bänken sitzend, schwatzend und strickend. Manchmal kam ein fremder Hund und beschnüffelte uns, wurde aber bald von dem Pfiff eines unsichtbaren Herrn fortgescheucht.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte ich streng.

Der junge Mann beeilte sich, seine Personalien anzugeben: Jerome sei sein Name. Sein Vater hieß Simon Lorrimer, seine Mutter Garibalda Pampanini.

Mehr hörte ich nicht. Garibalda Pampanini! Ich hatte schon zweimal angestanden, um eine Karte im dritten Rang für die Covent Garden Opera zu bekommen, als sie »Turandot« und »Carmen« sang. Der Sohn der Pampanini! Daher der dunkle Teint. Daher die Stimme. Seine Mutter stammte aus Sardinien, nicht wahr? Ja, aus Olbia. Das 14. Kind in der Familie. »Mein Großvater saß gerade im Turm. Er war ein Anhänger Garibaldis. Meine Mutter war bereits die zweite Tochter, die er nach ihm nannte. Die Älteste, die auch so hieß, war bereits verheiratet. Und er musste jemanden im Haus haben, den er ›Garibalda‹ rufen konnte.« Sie sei von Anfang an ein »flotter Knochen« gewesen, vor Gesundheit und Lebensfreude strotzend, hatte schon als Kind beim Singen lokaler Volksweisen Aufsehen erregt, bis »jemand« sie hörte und ein anderer »jemand« sie ausbilden ließ. Alles Weitere kam von selbst: Adelina Patti war eines Abends indisponiert – und die achtzehnjährige Garibalda gab ihr Debüt an der Pariser Oper als »Aida«. Ihr Partner hieß Caruso.

»Und Ihr Vater?«

Jerome riss zwei Grashalme aus der Erde, presste sie flach zwischen beide Daumen und blies einen quietschenden Ton heraus.

»Mein Vater – im Augenblick ist er nicht da.«

»Wo ist er?«

»Meine Eltern leben schon seit vielen Jahren getrennt. Ich glaube, sie sind sogar geschieden. Jedenfalls hat meine Mutter jahrelang neue Livreen für die päpstliche Leibgarde bezahlt, damit die Scheidung anerkannt wird. Sie ist nämlich fromm. An katholischen Feiertagen machen wir Prozession durch die Wohnung. Mamma voran, ich mit dem Weihrauch hinterher, dann die Köchin, dann der Chauffeur – er hasst das, er ist evangelisch – und zuletzt Benito, der Dackel. Da wird jede Zimmerecke mit Weihrauch geweiht, so fromm ist sie.«

Ich vergaß anständige Zurückhaltung, wollte noch mehr hören über Garibalda, wollte wissen, wie es sich mit ihr lebte (»abenteuerlich«), ob man überhaupt mit ihr reden könnte (»Manchmal. Dann ist sie sogar auf alt-bäuerliche Art weise.«), ob er das Gefühl hätte, eine Mutter zu haben.

»Mutter? Sie ist Sängerin. Ich gehörte zu ihrer Kapitalanlage.«

»Gehörte? Jetzt nicht mehr?«

»Neulich versuchte sie, mich meistbietend zu versteigern. Hatte bereits jemand Erträgliches im Auge, betrachtete mich aufmerksam von oben bis unten und erklärte, mein Oberkörper sei zu lang im Vergleich zu meinen Beinen. Daher müsse ich meinen Antrag im Sitzen machen. Ich wollte mich aber nicht verheiraten, weder im Sitzen noch im Stehen. Daraufhin wurde ich abgenabelt.«

»Hatten Sie es schwer – als Kind?«

»Nur wenn ich zu Beginn der Ferien vom Internat nach Hause kam. Da ließ sie sofort Badewasser einlaufen und verabreichte mir einen Löffel Rizinusöl, denn ›ein Sohn muss seine Mutter äußerlich und innerlich sauber begrüßen‹.«

Ich starrte ihn an. Er lachte.

»Sie ist bedeutend amüsanter als die Mütter meiner Freunde. – Und Sie? Wo kommen Sie her? Was tun Sie?«

»Ich komme aus Berlin –«

»Emigrantin. Hab's mir doch gedacht. Sie wohnen in Hampstead.«

»Woher wissen Sie das?«

»Alle Emigranten wohnen in Hampstead.«

Stimmte. Die ersten deutschen Auswanderer hatten sich den Vorort Hampstead ausgesucht. Er erinnerte sie an ruhige deutsche Straßen mit seinen zweistöckigen viktorianisch-wilhelminischen Häusern hinter Ahornbäumen.

»Ich bin Schauspielerin.«

»Auch das habe ich bemerkt.«

»Woran?«

»An Ihrer Haarfarbe. Haben Sie einen Liebhaber?«

Ich schwieg empört. Der war doch frech, der Kerl. Er nahm meine Hand. »Raue Hände!«, meinte er und streichelte sie. Hastig entzog ich sie ihm.

»Das Wasser in unserem Haus ist hart – ich vergesse immer, Handcreme zu kaufen …«

»Glyzerincreme«, sagte er, »das Beste und Billigste. Alles andere ist parfümierter Schwindel. Ich weiß das. Ich bin Maler. Das Terpentin reißt meine Hände auf. Morgen bringe ich es vorbei. Wo wohnen Sie?« So hatte es angefangen. Mit Glyzerincreme für raue Hände.

Das Gras im Hyde Park begann zu flimmern, unsere Liegestühle schwammen weg. Ich versuchte, Jerome noch einmal ins Blickfeld zu zwingen: Da stand er am nächsten Tag – vor dem Gartentor in Hampstead – ein Paket in der Hand – ich sah ihn vom Fenster aus – etwas verwackelt – unscharf – löste sich auf, löschte aus.

4

Am nächsten Morgen weckte mich das Telefon.

»Wo sind Sie?« Die Stimme der Malerin.

Wo war ich? Ich musste erst Licht machen, bevor ich es wusste.

»Im Hotel. Wieso?«

»Es ist elf Uhr«, knurrte sie wütend und legte auf.

Als ich eine halbe Stunde später ohne Frühstück ins Atelier hetzte, saß sie vor ihrer Staffelei, brummte etwas, ohne aufzusehen, in Hintergrundschattierungen versunken. Ich stülpte eilig den Poncho über, verfiel in meine Pose, Hände gefaltet, Kopf nach links, Richtung Kaminsims.

Da stand er, der kleine Kopf. Jetzt war er deutlich zu sehen. Mehr nach vorn gerückt. Vielleicht hatte sie ihn sich noch einmal hervorgeholt. Sie drehte die Augen zu mir, konzentrierte, abwesende Maleraugen. »Sie sehen so verkrampft aus – denken Sie doch an etwas.«

»An was?«

»Egal. Aber denken Sie an etwas Bestimmtes. Irgendein Erlebnis. Das zeigt sich in Ihrem Gesicht, aber das stört mich nicht, ich bin gerade am Knie. Der Körper entspannt sich, und Sie merken nicht, dass Sie eine Pose halten müssen.«

An etwas Bestimmtes denken – meine Mutter winkte von Weitem – Karl der Große galoppierte grußlos vorüber – Jerome tauchte auf – blieb stehen. Jerome. Das erste schöne Jahr, als wir beide keinen Pfennig hatten, spazieren gingen, hin und wieder auch mal ins Kino, oben im zweiten Rang.

Da oben saßen wir eines Abends, aber nicht, um den Film zu sehen. »Du solltest meine Mutter kennenlernen«, hatte Jerome schon ein paarmal gesagt, »dann muss ich dir nicht so viel erklären.«

Von Nach-Hause-Einladen war aber nicht die Rede. Garibalda erlaubte nicht, dass ihr Sohn ein Mädchen in die Wohnung mitbrachte. Warum eigentlich nicht? Garibalda gab nie Gründe an.

Wo und wie konnte man sie dann kennenlernen? »Zufällig«, sagte Jerome. Deshalb saßen wir heute zufällig im Carlton Cinema während einer Film-Premiere. Garibalda hatte ihr Erscheinen zugesagt.

Jerome durfte an diesem Abend ihren Bentley benutzen. Den bekam er manchmal geliehen, natürlich ohne Chauffeur. Und ohne Benzin. Garibalda fand, das könnte »das Mädchen« dazusteuern. Und dabei, wenn möglich, den Tank auffüllen. Im Inneren des Autos roch es nach Tuberosen. Ich trug ein neues Kleid, Jerome zum ersten Mal im dunklen Anzug.

Vom obersten Rang aus sahen wir zu, wie sich das Kino füllte. »Da ist sie«, sagte Jerome. Überflüssig, denn niemand hätte ihren Eintritt übersehen können. Von Kopf bis Fuß in weißen Hermelin eingewickelt, darüber der schöne dunkle Kopf, Diamanten an den Ohren, Orchideen in der Hand, ein Paradiesvogel, gefolgt von drei Pinguinen, tadellosen Herren passenden Alters. Langsam bewegte sie sich durch den Mittelgang, lächelte breit nach allen Seiten mittels zweier Schnüre sehr weißer Zähne, wurde erkannt, gedämpft applaudiert, nahm Platz.

Ich wusste von der Bühne der Covent Garden Opera her, was unter dem majestätischen Hermelin saß: eine italienische Primadonna-Statur mit gewaltigem Busen – wer wogt, gewinnt –, Opulenz, in ein Korsett gepresst, aber gerettet von einem unerwartet langen Hals, über dem der schwarze Kopf mit den Brombeeraugen königlich thronte. Auch als es bereits dunkel war im Kino, konnte ich noch den weißen Pelz leuchten und die Diamanten blitzen sehen.

Nach der Vorstellung kämpften wir uns zum Foyer durch und beobachteten Garibalda, die üppig die Treppe hinunterschwang. Dann stieß mich Jerome vorwärts – und die weiße Dame blieb erstaunt stehen. »Mio figlio«, erklärte sie den begleitenden Pinguinen. Es klang wie ein Verdi-Rezitativ. Jerome drückte mich noch einen Schritt vor, und sie streckte einen weißen Glacéhandschuh aus, den ich ergriff und vor dem ich knickste. »Ah«, meinte sie huldvoll, »das ist also die Kleine. Rrreizänd.« Dann wandte sie sich an Jerome und sagte blitzschnell auf italienisch (später von Jerome übersetzt), immer mit dem gleichen Weihnachtsengel-Lächeln auf dem Gesicht: »Wenn auch nur die kleinste Schramme am Bentley ist, hau' ich dir eine.«

»Naturalmente, Mamma«, sagte Jerome dankbar und küsste den Glacéhandschuh. Dann glitt sie an uns vorbei –

*

»Pause«, sagte die Malerin und verschwand in der Küche.

Als der erste heiße Schluck Kaffee hinuntergerieselt war, fasste ich einen kühnen Entschluss.

»Könnten Sie den Kopf nicht woanders hinstellen?«

»Welchen Kopf? Ach so. Wenn es Ihnen so viel ausmacht –«

Aber sie blieb sitzen, trank, rauchte und sah mich lächelnd an.

»Ist die Erinnerung so unangenehm?«

Ich antwortete nicht. Sie stand auf und stellte die Skulptur hinter ein Buch auf das Bücherregal.

»Ich brauche ein gelassenes, ruhiges Modell«, sagte sie und setzte sich wieder hin.

»Tut mir leid.«

»Wenn ich jetzt Cézanne wäre, würde ich Sie nach Hause schicken und sagen: Probieren wir's morgen wieder. Aber ich bin nicht Cézanne.«

»Vielleicht käme ich nicht wieder.«

»Eben. Und das kann ich mir nicht leisten bei einem halb fertigen Bild. Lassen wir das Malen heute. Erzählen Sie mir.«

»Was?«

»Von Anabel. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Weiß nur, dass sie nach England ging und dort heiratete.«

Ich goss mir eine zweite Tasse Kaffee ein, war aber auch dann nicht in der Lage zu antworten. Ging notgedrungen zum Angriff über.

»Erzählen Sie doch von Anabel.«

Sie lehnte sich im Sessel zurück und nahm die Brille ab, dehnte sich wie ein alter Kater und antwortete erstaunlich milde.

»Was wollen Sie wissen?«

»Wie lebte es sich mit Anabel?«

»Genauso schlecht wie mit einem Mann.«

»War sie Ihr Modell?«

»Nein, aber sie wollte es sein. Ich hatte nach einem Modell annonciert, hatte bereits einige interviewt. Alle zu dünn. Es war kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wir hatten nicht viel zu essen. Dann klingelte es – und da stand Anabel. In einem hellen Mantel, den Gürtel viel zu eng gezogen, damit ich ihre Taille bewundern sollte. Es war mir aber nicht um die Taille zu tun –«

»Um was denn?«

»Um die Proportionen natürlich, und die waren alle falsch bei ihr, die Schultern zu breit, die Beine zu lang. Aber sie gefiel mir. Sie gefiel mir so gut, dass ich Kaffee machte. Sie schlängelte sich wie eine Ölsardine an meinen Leinwänden vorbei, die Kaffeetasse in der Hand, schlürfte laut, sagte: ›Pardon, aber sonst schmeckt's mir nicht, hier gefällt's mir‹ in einem Atemzug, blieb stehen, setzte die Tasse ab und begann, sich ohne jede Zimperlichkeit auszuziehen, langsam, als ob sie zu Hause ins Bad steigen wollte. Legte jedes Kleidungsstück ordentlich gefaltet auf den Hocker – auf den da, auf dem Sie sitzen – –«

Ich fuhr in die Höhe. Sie sah mich erstaunt an, hörte auf zu sprechen und legte den Kopf wieder auf die Seite, als hätte ich etwas gesagt, was sie nicht verstanden hatte. Ich setzte mich wieder hin. Sie wiederholte ruhig: »Legte alles ordentlich auf den Hocker und richtete sich auf. ›Na?‹, sagte sie. ›Schön?‹ ›Leider nicht‹, sagte ich. ›Wie ein abgeknabberter Hühnerknochen. Melden Sie sich bei einer Modezeitschrift als Mannequin. Da wird man vielleicht Verwendung für Sie haben.‹ ›Sind Sie sicher, Sie haben keine für mich?‹, sagte sie und blieb gleich da. So hat es angefangen.« Sie schwieg und griff nach ihren Gauloises. »Ich machte einen großen Fehler, etwas, was mir eigentlich nicht passieren durfte. Schließlich war ich zehn Jahre älter und hundert Jahre gescheiter. Aber ich fiel auf sie rein. Und als ich's merkte, war's zu spät.«

Sie zündete die neue Zigarette an der alten an. Dann sagte sie, jedes Wort sorgfältig abwägend: »Ich hielt ihre Leidenschaft für Wärme. Hab' ganz schön dafür blechen müssen – für meine Verhältnisse.«

»Was waren Ihre Verhältnisse?«

»Eine Hornhaut wie ein Rhinozeros. Die musste man haben, damals in Paris, wenn man aus der Provinz kam. Ich kannte keine Seele, als ich ankam, aber ich wusste, dass ich Talent hatte. Und dass ich Männern nicht gefiel. Wahrscheinlich, weil sie mir nicht gefielen. Manchmal gefiel mir eine Frau. Aber gewöhnlich lebte ich allein. Anabel war eine Ausnahme. Sie ging mir unter die Haut, vielleicht, weil sie beides war, meine Geliebte und mein Kind. Damals war sie höchstens achtzehn. Ich erzog sie, lehrte sie. Sie wusste nichts und war auch noch stolz darauf. Aber einiges hat sie dann doch allmählich begriffen.«

Diese also, diese mit der Brille und dem befleckten Malerkittel, diese dort in dem Stuhl, halb ausgelöscht von ihren eigenen Rauchschwaden, diese hatte mit Anabel gelebt, als sie erst halb fertig war und störrisch und schamlos. Wie hatte sie wohl ausgesehen mit achtzehn Jahren? Schon damals zu dünn und zerbrechlich, unausgegoren, aber bereits gefährlich. Diese da, die Malerin – wie hatte sie wohl damals ausgesehen? –, die war ihr noch viel näher gewesen, als ich es jemals war – und hatte sie ungeschädigt abstreifen können …

»Wie sind Sie von ihr losgekommen?«

»Mit Gewalt«, sagte sie grimmig, »ich konnte sie mir nicht mehr leisten. Nicht des Geldes wegen – das auch, aber das war nicht so wichtig –, aber ich konnte nicht mehr malen. Ich stand am Fenster und sah auf die Avenue Kleber hinunter, anstatt vor meiner Leinwand zu sitzen. Ich wartete auf das Taxi, das vor dem Haus anhalten würde. Das ging manchmal halbe Nächte lang. Eines Nachts ertappte ich mich dabei, wie ich in die Dunkelheit hinunterstarrte und die Hände rang – wie Lillian Gish im Stummfilm. Da wusste ich, es war so weit. Ich packte ihre Sachen in drei Koffer, warf alles kunterbunt hinein, und noch ein paar alte Mallappen dazu, mitten zwischen die Abendfähnchen. Der Geruch geht nie ganz heraus. Goss noch ein paar Tropfen Terpentin hinterher. Nahm die große Schere – die da, dort drüben –, zerschnitt ihren Pelzmantel in kleine Stücke und stellte die Koffer vor die Haustür. Dann ging ich schlafen. Ohne Schlafmittel. Irgendwann klingelte es. Ich wachte auf – da fiel mir alles ein. Ich hatte Angst, dass ich einen Rückzieher machen würde, deshalb sagte ich ganz laut zu mir: ›Bist du eine Fußmatte – oder ein Maler?‹ Sie rief durch die Tür: ›Was sagst du da? Mach doch auf.‹ Ich öffnete die Tür. ›Was soll das heißen?‹, sagte sie und zeigte auf die drei Koffer. ›Das soll heißen, dass ich ein Maler bin‹, sagte ich und schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht. Dann machte ich die Tür zu.«

Ich saß ganz still. Diese dort hatte Anabel ins Gesicht geschlagen, »mit aller Kraft«. Sie las es mir an den Augen ab und sagte gelassen: »Es hat mir nie leidgetan. Es musste so enden. Gewalttätig. Anders hätte man sich von ihr nicht trennen können.«

»War das das Ende?«

»Beinah.« Sie lachte, als ob ihr noch die Erinnerung Spaß machte, schüttelte den Kopf (über sich? über Anabel?) und griff wieder nach den Gauloises. Blies den ersten Rauch gleichzeitig mit den ersten Worten aus: »Ein paar Monate später saß ich während einer Vernissage auf einem Stuhl, als mir jemand von hinten die Hände vor die Augen hielt und »Wer bin ich?« rief. Ich versuchte, mich loszumachen, hatte die Stimme natürlich erkannt. Aber sie verkrallte sich geradezu. ›Riech mal!‹, sagte sie und drückte mir die Hände vor die Nase, dass ich beinah erstickte. ›Terpentin!‹ Dann ließ sie mich los und schlängelte sich schnell durch die Menge und zur Tür hinaus.«

»Und der Bronzekopf? Sie sagten doch, Anabel hätte Ihnen nie …«

»Hat sie auch nicht. Den Kopf habe ich viel später modelliert. Weiß selbst nicht mehr, warum. Hatte ihn eigentlich vergessen – bis Sie ihn da gestern hervorkramten. Hatte auch Anabel vergessen. Weiß nicht mal, ob sie noch lebt.«

5

Als ich aus der Haustür trat, versank ich sofort in dichte, schwärzlich grüne Nebelschwaden. Peasoup-fog