9,99 €
In einer nicht allzu fernen Bildungszukunft findet an der kleinen Rolf-Zuckowski-Grundschule in Aiberg eine technische Revolution statt: E.m.i.l.e, der erste vollwertige Lehrerersatz in Deutschland. Die Lösung für gestresste und Burnout geplagte Pädagogen. Für den Testlauf im Schulbetrieb wurde Janina Rudmatis auserwählt, eine Grundschullehrerin mit Herz, Hand und Verstand. Sie soll den neuartigen Androiden als Mentorin anleiten. Zunächst scheint sich E.m.i.l.e bestens zu entwickeln, bis er Rousseaus großen Bildungsroman in die Finger bekommt. Außerdem ist da noch Doreen Specht, die Kultusministerin, die ihre ganz eigenen Pläne verfolgt. Die Ereignisse spitzen sich zu, als eine ehemalige Lehrerin unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt. Für Janina stellt sich bald die Frage, ob sie ihrer Maschine noch vertrauen kann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Siggi WalterZ
Der Rousseaumat
oder
Über die digitale Erziehung
Würdest Du einer Maschine
Dein Kind anvertrauen?
Alle Rechte vorbehalten
Cover /Bild Seite 2: Erstellt mit Microsoft Designer
Autor, Satz und Design: Siggi WalterZ
Korrektur: Julia A. Zaloha
Verlag: FOX-Books
Veröffentlicht über:
S. Spreng
Am Erbersberg 1
87746 Erkheim
Imprint: Independently published
1. Auflage, März 2025
Liebe Leser, liebe Leserinnen,
Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und bewerten Sie dieses Buch auf einer Ihnen genehmen Plattform. Viele positive Rezensionen führen dazu, dass das Buch mehr Menschen angezeigt wird.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!
Registre Personnel
Die weiblichen Hauptpersonen:
Die männlichen Hauptpersonen:
Die humandroiden Hauptpersonen:
Nebenfiguren:
Die Handlung des Buches spielt in einer nicht allzu fernen pädagogischen Zukunft. Sämtliche Personen sind frei erfunden. Bei Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Individuen handelt es sich um reinen, unvorhersehbaren Zufall.
… und nein … nicht alle Menschen sind Hyänen!
„Bei jedem Plan ist zweierlei zu erwägen: erstens die absolute Güte des Plans und an zweiter Stelle die Leichtigkeit der Ausführung.“
Aus J.J. Rousseaus, Èmile oder über die Erziehung, Anaconda Verlag GmbH: Köln, 2010*, Seite 10.
D
ie Nachricht erwischte Doreen Specht, ihres Zeichens Bayerische Staatsministerin für Unterricht und Kultus, eiskalt. Sie ploppte in jeder Zone mit Netzabdeckung und ohne werbefreie Zone auf. Holographische Litfaßsäulen auf Augenhöhe, in 15 Zoll, hochauflösend. Eine dieser unaufschiebbaren Blitzmeldungen, die den Alltag der meisten Bürger für dreißig Sekunden unterbrach, weil ihr in ihrer blinkenden Penetranz kaum jemand entrinnen konnte.
„Ist ihr Bayern zu wenig? Von der Kultusministerin zur Führerin oder Mein Kampf mit der Doktorarbeit“, waren nur zwei der reißerischen Überschriften, die über den Liveticker sausten.
Die Ministerin hatte in ihrer Doktorarbeit abgeschrieben. Unwissentlich, ja, aber Mitleid hatte keines zu erwarten. Zumal sie, wie in ihren Kreisen üblich, für die Dissertation sehr viel Unterstützung erhalten hatte. Trotzdem war keinem ihrer PR-Berater die im Nachhinein verblüffend zahlreichen Passagen aufgefallen, die aus einem Machwerk vergangenheitspolitischer Couleur stammten, dessen Verfasser nicht gerade für seinen demokratischen Leumund bekannt war. Wer holte sich schon ernsthaft Ratschläge aus Adolf Hitlers Hetzschrift Mein Kampf? Klar, ein Missverständnis, ein technischer Fehler, aber was für ein verhängnisvoller!
Dementsprechend niederschmetternd fielen die Reaktionen des sich bedrohlich gegen sie zusammenrottenden Medienmobs aus.
Doreen Specht rieb sich die Schläfen, während sie auf die illuminierte Katastrophe starrte. Die Quelle allen Übels war ein, aus gesinnungstreuem Dafürhalten, ein schmieriger Kurznachrichtendienst. Dessen Betreiber waren bekannt dafür, per neuester Chat-Glutamat-Pyruvat-Transaminase, bekannt als ChatGPT, solange im Müll prominenter Persönlichkeiten herumzustochern, bis sich ein Skandal auftat. Auf die Politprominenz hatten sie es offenbar besonders abgesehen.
Dabei war der Ministerin dieser angeblich so schlaue Nerd wärmstens empfohlen worden. Ein Informatiker, Studienabschluss in Silicon Valley. Sie selbst hatte doch keine Ahnung von diesem Computerkrimskrams, war froh, dass sich überhaupt jemand um ihre Social Media Accounts kümmerte. Auf ihrem Smartphone konnte sie eine Landtagsrede mit 560 Anschlägen pro Minute tippen – und das mit nur zwei Daumen. Wenn, wie es hieß, Bits und Bites die DNA dieses sogenannten Genies waren, dann hatte sie Machiavelli und Adenauer im Blut, oder besser Báthory und Merkel. Doreen Specht war Vollblutpolitikerin. Verdammt, sie war Jahrgangsbeste an der Uni gewesen! Den Bachelor of Science hatte sie in der Tasche, doch nachdem ihre Politkarriere überraschend steil angelaufen war, hatte sie einfach keine Zeit mehr gefunden ihre Doktorarbeit abzuschließen. Unbegreiflich, weshalb es für etablierte Staatsdiener wie sie keine Ausnahmeregelungen gab, wenn man beruflich tagein tagaus sowieso nicht anderes tat, als das, worüber man später promovierte. Die Bürokratie der Hochschulen ließ den berufstätigen Doktoranden der höheren Dienste ja quasi gar keine andere Wahl, als sich mit Auftragsschreibern zu umgeben. Wortakkrobaten, die einem wenigstens die Zeit für den nächsten Wahlkampftermin freischaufelten. Alle machten das so! Warum sonst hätte sie diesen Kerl verpflichten sollen, von dem der Leiter des Referats Bescheinigungsbehörde behauptete, er könne mit einem Wisch den Securitymann jeder x-beliebigen Sparkasse zum Präsidenten der Europäischen Zentralbank befördern?
Wasserdicht, lautete das Prädikat, dass man dem ach so virtuosen Experten für computergestütztes Ghostwirting verlieh. Offensichtlich kannte er sich aber im Finanzsektor wesentlich besser aus als in Organisationssoziologie. Trotz seines horrenden Stundenlohns erwiesen sich seine überaus laxen Programmierungskünste als der letzte Backstein für die Zelle, in die man Doreen Specht lebendig einmauern würde, wenn sie nicht gegensteuerte.
Sie war nicht bereit, sich kaltstellen zu lassen, doch ihre Beliebtheitswerte auf dem nach unten hin offenen Politbarometer rauschten im Sekundentakt in bedenkenswerte Tiefen. Hinzu kamen in Echtzeit gepostete Haterkommentare, die - trüge die Ministerin Hosen - dem Begriff Gürtellinie Hohn spotteten.
Dass sie als Politikerin eine dicke Haut brauchte, musste ihr niemand sagen, dennoch fuchsten sie die kurzen fiesen Textnachrichten von Leuten, die sie als degenerierte Unterschichtsintellektuelle betrachtete. Die den Landtag, ganz zu schweigen vom Reichstag, höchstens als Hintergrundkulisse der nachmittäglichen Lieblingssoap erkannten.
Gerade hinterließ der Minderheitenbeauftragte der Rechten Partei seine Meinung im Netz darüber, dass er, „Hashtag #Mein Krampf“, die Doppelmoral der neu gegründeten Mischlingsfraktionen schon immer für heuchlerisch gehalten habe. Endlich erhielte die CWP für das Zitat „Wildern in fremden Jagdgründen“ die Quittung, kommentierte er hämisch.
Dabei lag Doreen Specht nichts ferner, als mit der selbst noch relativ jungen Compact-Alternativpartei in einen Topf geworfen zu werden. Sie hatte nur den Fehler gemacht, sich ihre Doktorarbeit vor der Abgabe nicht noch einmal persönlich in allen Einzelheiten durchgesehen zu haben. Noch weniger verstand sie, weshalb sie weder von ihrem Doktorvater oder wenigstens der Uni informiert worden war. Immerhin hatte sie alle Beteiligten mit einer nicht unerheblichen Fördersumme bedacht. Fünf Jahre lang hatte niemand etwas beanstandet. Frau Dr. Doreen Specht MdL, lautete sodann die neue Kopfzeile ihrer Dienstmail.
Fünf Jahre, in denen sie sich darauf vorbereitete, in die Fußstapfen ihres politischen Ziehvaters zu treten, des altgedienten bayerischen Ministerpräsidenten, der, als dunkelgraue Eminenz von seiner weinfränkischen Trabantenburg aus, noch immer lange Fäden spann. Er hatte sein Handwerk noch beim letzten Grandseigneur der Christsozialen – ebenfalls ein Franke – gelernt. In den Nullerjahren verlor die Partei an Einfluss und hielt sich mit wechselnden Koalitionspartnern mehr schlecht als recht am Leben. Dies nahm Doreen Spechts Mentor zum Anlass, seine Fraktion gleich mit in den Ruhestand zu nehmen. Gleichwohl veranlasste er die Neugründung eines gemeinnützigen Vereins, dem er das vertraute „C“ voranstellte. Den Zeitpunkt hätte er nicht glücklicher wählen können. Sein brandneuer Christlicher Wertepakt, kurz CWP, traf bei den Wählern einen Nerv.
Links und Rechts waren soweit auseinandergedriftet, dass sich an jedem Ende ein extremes Lager hart an der Grenze zur Legalität bewegte. Die Mitte bildeten die üblichen Stimmenfänger, im vorigen Jahrhundert noch Großparteien mit entsprechenden Mitgliederzahlen. Inzwischen durften sie sich glücklich schätzen, wenn sie über zehn Prozent lagen. Zu behaupten, die Verantwortlichen hätten daraus ihre Lehren gezogen, wurde der Wahrheit nicht gerecht. Nach jeder Wahl mit noch weniger Stimmen als zuvor, blieb es bei dem Allerweltscredo man müsse vor einer Veränderung erst die Analyse der Ergebnisse abwarten. Es gefiel den Staatsdienern bei weitem besser, sich für die eigenen Leistungen – also der Job für den sie bezahlt wurden - auf die Schulter zu klopfen, als eine Innovation anzuschieben, bei der man sich allzu leicht die Finger verbrannte. Mit „Wumms“ wurden Reformen verballhornt, die großspurig verkündet alsbald im Sande verliefen.
Das Wahlvolk, von diesem hahnentrittartigen Kanzleimuster extrem genervt, kam irgendwann zu dem fatalen Schluss, dass seine Stimme für den einen gesichtslosen Kandidaten ebenso gut wog wie für alle anderen. Selten noch trieb es mehr als die Hälfte der Deutschen zur Wahlurne und den wenigen, die gingen, war es gleich, wo sie ihr Kreuzlein setzten. Die Konsequenz daraus war, dass sich mindestens vier der altgedienten Mitte-Fraktionen zusammenschließen mussten, um eine halbwegs wirkkräftige Regierungsmehrheit zu bilden. Diesen Zweckverbänden, die sich untereinander höchstens bis zur nächsten Wahl über den Weg trauten, gelang es leidlich, sich alle vier Jahre aufs Neue gegen die radikalen Ausuferungen ihrer Mitbewerber zu behaupten.
Das faustisch geniale an der Umwidmung der CWP war keineswegs ihr wegweisendes Parteiprogramm, denn das verhieß keine nennenswerte Veränderung. Nein, das wirklich Bahnbrechende war ein simpler Taschenspielertrick, den die freie Marktwirtschaft in Perfektion beherrschte: Lutscht sich eine Handelsmarke ab, nimmt man sie nicht etwa aus dem Sortiment, sondern erfindet sie einfach neu. Gleiches Produkt, neue Verpackung.
Raider hieß jetzt nicht mehr Twix sondern CWP, und wenn man so wollte, war Doreen Specht einer der zwei Schokoriegel, die der Marke ihren Geschmack verliehen. Der Erfolg war so durchschlagend, dass sich sogar die einst übermächtige Schwesterpartei des Bundes dafür entschied, unter dem neuen Logo zu firmieren.
In Bayern wurden nun Kanzler gemacht und das Amt des Ministerpräsidenten war das Sprungbrett dazu. Den Topposten besetzte momentan jemand anderes, doch bis zum Supergau des heutigen Tages handelte man Frau Doktor Doreen Specht als aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge. Innerhalb eines halben Jahrzehnts war sie von einer kleinen Landtagsabgeordneten aus der hinteren Reihe zur bayerischen Kultusministerin aufgestiegen. War stets den Empfehlungen ihres großen Vorbilds und dessen Seilschaften gefolgt. Auf die Anweisung ihres Idols, das sie als Poster über ihrem Teenager-Bett angehimmelt hatte, ragte sie wortwörtlich bei jeder ihr sich bietenden Gelegenheit mindestens eine Kopflänge über ihre Gegner hinaus. Nur so überlebte frau in diesem schmutzigsten aller Geschäfte. Durchsetzungsstark, emanzipiert, im ersten Viertel ihrer 40er. Geachtet, gefürchtet, elegant …und mit einem plagiierten Doktortitel, dessen Gültigkeit sich zu großen Teilen aus den gesammelten Ergüssen von Adolf Hitlers Weltanschauung herleitete.
Ein „Bedienungsfehler“, lautete die lapidare Entschuldigung des Verantwortlichen. Ein sogenannter Experte für alles Computerzeugs, mit dem sie sich nicht auskannte. Er habe die KI basierte Zitatenauswahl irgendwie wohl falsch programmiert.
Was für ein unsäglich dämlicher Fauxpas!
Die amtierende Kultusministerin stibbte sich ihre Stilettos mit den Endlosabsätzen unter dem Schreibtisch von den Füßen. Goldene Zierstreifen schlängelten sich über das Sprungbein und den Mittelfußknochen. Ihre heimlichen Erfolgsgaranten für große Auftritte. Jetzt taten ihr die Gelenke weh.
Sie trug eine graue 7/8-Hose, darüber einen enganliegenden Kurzblazer mit Stehkragen-Bluse. Die roségoldene Smartwatch am Handgelenk fiepte steinerweichend den Untergang ihrer glanzvollen Karriere ein: Puls 126, Blutdruck 153 zu 65. Ihre helmartige Frisur mit den drei parallel zueinander verlaufenden Haarsträhnen, ihr Markenzeichen, hatte jeglichen Halt verloren.Sie vergrub ihr Gesicht in den vor Adrenalin brennenden Händen.
Schon pulste der nächste Aufmacher auf. Diesmal stammte er von einer der angesehensten Agentur des Landes. Was zählte, war die Reichweite. Mit über einer Millionen Nutzern, eines der fünf deutschen Leitmedien, meistens einen Tick hintendran, dafür passte die Recherchearbeit. Fake News? Fehlanzeige. Was dieser Verlag publizierte, wurde gelesen und konnte Wahlen entscheiden. Die Ministerin hatte ihren holografischen Anzeiger so programmieren lassen, dass besonders Eilmeldungen aus dieser entscheidenden Quelle mit einem Hörnersignal, dem „la curée – dem Dank an die Hunde“, eingespielt wurden. Da erschien ihr das ironische Halali noch als passend. Nun aber kam sich Doreen Specht selbst vor wie das Streckwild aus den Tagen der archaischen Gesellschaftsjagden. Mit zerrauftem blondem Haar und geröteten Augen hob sie den Kopf.
Die Laufzeile lautete:
BAYERISCHE KULTUSMINISTERIN BEGEHT POLITISCHEN SELBSTMORD!
Besser konnte man ihre Situation nicht beschreiben. Das war die Endstation. Am besten sie verfasste gleich ihre Rücktrittserklärung, bevor es noch peinlicher wurde.
Niedergeschlagen drückte sie auf einen Knopf an ihrem Schreibtisch. Die holografische Anzeige erlosch. Das Ministerium verfügte über einen Schutzschirm, durch den sich die wichtigsten Büros im Amt vor der Einflussnahme von außen schützen ließen.
Es wurde still im Raum.
Außer ihrem Arbeitsplatz enthielt er wenig anderes Interieur. Doreen Specht liebte die Klarheit der Strukturen. Hinter ihr an der Wand hing eine grüne Flussaue in Öl, die dort schon ihrem Vorgänger nicht aufgefallen war. Eine Ellenbogenbreite daneben befand sich ein großes Fenster, auf dessen Sims eine Klivie stand, die im Spätwinter herrlich pastellorange Blüten trug. Der einzige Farbtupfer, den sie sich erlaubte. Im Augenblick jedoch waren nur die langen grünen Schwertblätter zu sehen. Die Pflanze musste dringend wieder einmal gegossen werden. Sie würde ihrer Sekretärin Bescheid geben… Ihre Gedanken kreisten.
Alles war besser, als an das Dilemma zu denken, in dem sie bis an den Kragenrand steckte. Ein leises Surren befreite sie von ihrem Kopfkino. An ihrem Hausapparat leuchtete ein grünes Lämpchen auf, das einen Videoanruf anzeigte – von außerhalb des Ministeriums. Es gab nur eine Person, die trotz der Sperre von zu Hause aus Zugriff auf das landesstaatliche Intranet hatte und damit sämtliche Warteschleifen in den Vorzimmern umgehen konnte.
Die Ministerin richtete sich auf. Sie schnitt Grimassen, damit man ihrem Gesicht den Stress darin nicht ansah. Dann hielt sie die Luft an und nahm den Anruf entgegen.
Ein Wisch über das elfzöllige Display belebte eine stecknadelgroße Kristalllinse. Ähnlich eines Hologramms platzierte sie die den lichtprojizierten Oberkörper eines gutsituierten Endneunzigers auf einem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch von Doreen Specht.
„Herr Ministerpräsident“, grüßte sie mit einem bleiernen Lächeln, während sie unter dem Tisch nervös wie ein Schulkind die Finger knetete.
„Doreen“, entgegnete ihr Ziehvater knapp, „was habe ich Ihnen gesagt. Nur Aristokraten nehmen ihren Titel über den Ruhestand hinaus mit ins Grab. Wir Politiker verschwinden mit unseren Taten und bleiben der Nachwelt mit unserem Namen in Erinnerung, ich bin längst nicht mehr der Landesvater. Aber lassen wir das! Doreen, ich will gleich zum Punkt kommen. In meiner elektronischen Post sammeln sich seit heute früh ein paar äußerst beunruhigende Nachrichten an. Was ist da los bei Ihnen?“
Die Kultusministerin versuchte an der synthetisierten Mimik ihres Gegenübers abzulesen in welcher Gemütsverfassung er sich befand. Ihr Ziehvater setzte sich bevorzugt für emanzipierte Frauen in Führungspositionen ein, doch dafür verlangte er absolute Perfektion. Seinerzeit, als er noch in Amt und Würden stand, waren seine Wutausbrüche legendär gewesen. Noch durch die geschlossene Sicherheitstür seines Arbeitszimmers konnte man ihn toben hören, wenn er mit der Arbeit seiner weiblichen Angestellten nicht zufrieden war. Sickerte etwas nach außen durch, wurde frau von ihm in einer verklausulierten Pressemitteilung zum politischen Freiwild erklärt. War sein Misstrauensspruch erst einmal gefällt, sah man sich besser nach einem anderen Job um.
Ohne das Wohlwollen des großen weißen Mannes, wie er sich gern selbstgefällig nannte, war man als Paria der Partei abgestempelt. Das galt selbst jetzt noch, obwohl der alte Herr nun seit über dreißig Jahren nur noch aus dem Hintergrund agierte. Diese Partei war seine Partei.
Doreen Specht achtete auf den kleinsten Hinweis eines bevorstehenden Ausbruchs. Seine tiefen langen Nasenfalten liefen ohne Zucken an den Mundwinkeln vorbei. Hätte sich seine rechte Augenbraue auch nur einen süffisanten Millimeter nach oben bewegt, wäre das ein schlechtes Zeichen gewesen. Die im Alter noch deutlicher hervorgetretenen Hängewangen mit den grauen Stoppeln hoben sich im Ernstfall an und verliehen ihm wegen seiner zusammengekniffenen braunen Augen das Antlitz eines auf Beute lauernden Habichts. Zwei, vom zügellosen Kaffeegenuss grau gewordene Schneidezähne untermauerten den Eindruck eines gewetzten Schnabels. Wie der Greifvogel liebte er es einen Überraschungsangriff aus der Deckung zu starten. Je mehr sein Fang zappelte, desto besser.
Sicherheit gab es nicht, aber zu ihrer Erleichterung verhielt sich das Gesicht ihres großen Vorbilds weitgehend ausdruckslos. Vor Anspannung krallte sie die manikürten Fingernägel unter dem Tisch in ihre Handflächen, bis von ihnen der rote Lack abzuplatzen drohte.
„Meine Doktorarbeit“, druckste sie herum, „die, die haben…“
„Dann sind die Gerüchte also wahr“, unterbrach er sie. Selbstverständlich war der ehemalige Landesvater bereits bestens informiert.
„Ich fürchte ja“, gab Doreen Specht zu und wünschte sich im nächsten Augenblick auf einen Planten, weit weg von diesem Sonnensystem. Sie machte sich auf den Einlauf ihres Lebens gefasst, doch zu ihrem Erstaunen geschah nichts dergleichen.
Ihr Ziehvater stieß lediglich einen langen sorgenvollen Seufzer aus. Er lehnte sich zuhause im Bürostuhl zurück, verschränkte die Arme über seinem Trachtenhemd, das sein Schmerbäuchlein keineswegs kaschieren sollte und hob nachdenklich das Kinn.
„Das habe ich befürchtet“, nickte er. Und dann, nach einer Weile: „Schöner Schlamassel.“
Er fragte nicht nach den näheren Umständen, nicht nach dem wie oder warum. Es spielte schlicht keine Rolle, weshalb ihr dieser fatale Schnitzer passiert war. Ihre Karre steckte im Dreck fest. Entweder würde er ihr helfen, sich daraus freizuschaufeln oder er würde sie erst darin stecken lassen, um sie anschließend unterzutauchen. Die Partei - sein Lebenswerk - durfte keinen Schaden nehmen, darum ging es jetzt. Etwas anderes hatte ihn noch nie interessiert.
„Was können wir… was kann ich tun?“, fragte sie vorsichtig.
„Gegensteuern“, lautete die rasch und reservierte Antwort.
„Und wie?“
Die graue Eminenz der Landespolitik streckte ihr seinen Zeigefinger entgegen.
„Wir machen jetzt ganz große Politik, meine Liebe“, sagte er kryptisch und ballte dann kämpferisch die Faust.
„Doreen, ich habe Sie entdeckt! Ich habe Sie herangezogen, ich habe Sie genährt. Sie sind mehr als jeder andere in dieser Partei mein Baby. Unter keinen Umständen lasse ich mir das von diesen neodigitalen Zeilenschindern mit ihren krachfarbenen Titelaufhängern nehmen! Wir gehen zum Gegenangriff über. Ab jetzt läuft alles, aber auch wirklich alles über mich. Sie tun ab sofort nichts mehr, ohne dass es mit mir abgestimmt wurde. Haben Sie das verstanden?“
„Mhm.“
Doreen Specht versuchte geschmeichelt zu klingen. Dass er sie als sein „Baby“ titulierte, war eine seiner üblichen Machoallüren, über die sie hinwegsah, solange sie auf seine Fürsprache angewiesen war. Vorbild hin, Vorbild her. Bei allen fortschrittlichen Leistungen die sich im 22. Jahrhundert eingestellt hatten, wurde die sexuelle Ausrichtung eines Menschen weitaus mehr wertgeschätzt als sein Geschlecht. Angeblich scherzhaft gemeinte Bemerkungen von Mannspersonen über Frauen waren offenbar nicht auszurotten. Was sie jedoch noch mehr ärgerte, war die hochnäsige Nonchalance mit der er ihr seine Unentbehrlichkeit aufdrängte. Er war ihr den einen entscheidenden Schritt voraus, denn ihr wollte absolut nicht einleuchten, wie sie ihre falsche Doktorarbeit vergessen machen konnte. Selbst wenn sie jetzt noch schnell die allergrößte Politikleistung ihres Lebens hinlegen würde, stünde ihr Vermächtnis auf Ewig mit ihrem Versagen in Verbindung, und das sagte sie ihm auch.
„Vergessen machen“, blinzelte er ihr zu, „das ist genau mein Stichwort. Vertrauen Sie mir.“
Der Alte beschwor eine kurze Periode aus seiner Amtszeit herauf. Einer seiner Konkurrenten war anno dazumal mit einem hetzerischen Flugblatt konfrontiert worden, das er als Jugendlicher in Umlauf gebracht hatte. Die gedankliche Nähe zu braunem Gedankengut war unübersehbar und doch gelang es ihm, den Hals aus der sprichwörtlichen Schlinge zu ziehen.
„Was die Leute einmal geschluckt haben, schlucken sie auch ein zweites Mal“, gab sich der Grandseigneur der ausgeklügelten Staatskunst sicher. „Noch eine Sache“, zeigte er an, dass sich ihr Gespräch dem Ende näherte, „erinnern Sie sich an Ihren Abgeordnetenbesuch in China vor zwei Jahren? Selten habe ich Sie enthusiastischer erlebt.“
Natürlich erinnerte Doreen sich.
Die Chinesen hatten die halbe pädagogische Welt zu einer ganz besonderen Bildungsmesse eingeladen. Neben schier unglaublichen Neuerungen wurde der Öffentlichkeit der letzte Schrei technischer Errungenschaft präsentiert: Selbstlernende Assistenzroboter für die Schule. Künstliche Intelligenzen die den Lehrkräften den Unterricht erleichterten.
Im Grund keine völlig bahnbrechende Idee. Immerhin wurden in Deutschland Robotiksysteme, ergänzend zum regulären Schulbetrieb, im kleineren Umfang bereits seit über fünfzig Jahren genutzt. Da gab es die Humanoiden Nao oder Pepper, die Schülerinnen und Schülern das Programmieren beibrachten oder Kindern mit Autismus das Lernen erleichterten. Besondere Avatare ermöglichten es im Einzelfall, dass man eine Schule in Echtzeit über das Internet besuchen konnte. Lustige Spielereien, die eher dazu taugten, einen technischen Fortschritt an den Bildungseinrichtungen suggerierte, wo man im Vergleich zu anderen Ländern hinterherhinkte.
Das wirklich Umwälzende an der chinesischen Erfindung, die Doreen Specht restlos überzeugte, war deren Gesamtpaket. Die asiatischen Robotermenschen übernahmen nicht nur ein paar unbedeutende Aufgaben. Kopieren, Laminieren und ausschneiden, nein, die unglaublich lebensecht wirkenden Minilehrer managten einen Unterrichtalltag fast zur Gänze selbstständig.
Die Finnen und Amerikaner reagierten umgehend und bestellten gleich im großen Stil. Die Franzosen gaben sich gleichgültig, machten sich jedoch auffällig viele Notizen. Auch Doreen Specht kam schwer beeindruckt nach Hause, hatte die Begebenheit aber schon ad Acta gelegt.
„Und Sie haben doch die diesjährige Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz inne“, schob ihr Mentor eine weitere rhetorische Frage nach, für deren Beantwortung sie nicht einmal mehr zucken musste.
„Gut. Wenn Sie ab sofort genau das tun, was ich Ihnen sage, dann kommen wir möglicherweise mit einem blauen Auge davon. Der erste Schritt: Sie werden mit sofortiger Wirkung ihre Staatssekretärin entlassen und dafür meinen Kandidaten einsetzen. Er wird Ihnen alle Einzelheiten zur nächste Woche außerplanmäßig einzuberufenden
Kultusministerkonferenz der Länder übermitteln. Die Planungsdetails überlassen Sie ruhig mir. Das wird Ihnen ein wenig Luft verschaffen Mehr brauchen Sie vorerst nicht zu wissen. Ist noch was unklar?“
Die Ministerin blähte angestrengt die Wangen. Ihr blieb keine große Wahl.
„Ich denke nicht“, brachte sie kleinmütig hervor.
„Braves Mädchen. Halten Sie erst mal die Füße still, und denken Sie daran: Kein Wort zu niemandem!“
„In dem Zustand, in welchem sich die Dinge nunmehr befinden, würde ein von seiner Geburt an sich unter den anderen selbst überlassener Mensch der verunstaltetste von allen sein.“
nach *ebenda, Erstes Buch, S. 13.
D
ie Hauptmann schwitzte. Wie klebriges Pech klebte ihr das rote dauergewellte Haar an der Kopfhaut. Ihr dünnes Sommerkleid – sie bevorzugte luftige Stoffe mit großflächigen Blütenaufdrucken – hing normalerweise erst am Ende des Schultages wie ein mehrmals ausgewrungener feuchter Lappen an ihr. Diesmal war es schon in der großen Pause soweit. Die gelbfettig verschmierten Nasenpfännchen ihrer klobigen Vollrandbrille klammerten sich ganz vorne auf der Knorpelspitze ihres Riechorgans fest. Sicher, sie war eine korpulente Frau und schwitzte daher vermutlich leichter als andere Leute. Aber jedes Mal, wirklich jedes Mal, zeichnete sich deswegen unter ihrem Kleid der mächtige Büstenhalter aus weißer Baumwolle ab.
Mit ihrer Behauptung, sie ließe sich in Modefragen von einem dieser Style-Bots im WorldWideWeb beraten, ging das gar nicht zusammen. Vor allem den männlichen Kollegen gegenüber beteuerte sie mit Blick auf ihre transparent durchweichte Oberweite hartnäckig, dass die programmierbaren Fashionists ja gar keine Ahnung hätten, welch hohen Ansprüchen die von ihnen empfohlenen Kleidungsstücke in fünf bis sechs Unterrichtsstunden pro Tag gerecht werden mussten. Freilich stieß sie bei den Herren der Schöpfung damit auf offene Ohren. Für die bestand Modeberatung im morgendlichen Riechtest.
Die beiwohnenden Kolleginnen mit mehr Ahnung von der Materie nickten in solchen Momenten dann zwar verständig, rollten innerlich aber mit den Augen. Offen hätte der Hauptmann sowieso niemand widersprochen, dafür war sie schon zu lang an der Schule - im nächsten Monat vierzig Jahre! Ein Urgestein, dem man den gefälligen Respekt zollte, egal, was man von seinem Äußeren hielt.
Die Tür zum Lehrerzimmer flog mit dem Verklingen des ersten Pausengongs krachend auf. Richard Wagner selbst hätte seinen Ritt der Walküre nicht dramatischer inszenieren können. Im Aufzug des Dramas trat die sonst so resolute Lehrerin in die Schwelle. Eine von der Schlacht gezeichnete Schildmaid. Nicht weniger als eine Schlacht musste die Ärmste durchlitten haben, denn die Blässe in ihrem talgigen Gesicht sprach Bände. Gebannt folgte das spärlich gesäte Publikum, das heute keine Aufsicht im Hof hatte, dem sich anbahnenden Schauspiel.
Zuerst griff sich die Hauptmann theatralisch an die Brust. Dann ließ sie sich lautstark über den, ihrer Meinung nach vom Hausmeister viel zu laut eingestellten, Pausengong aus und pflanzte sich anschließend unverständlich maulend auf ihren Stammplatz am Fenster. Der aufrüttelnste Akt ihrer Darbietung bestand darin, dass sie ein ledernes Schreibetui, welches die Intarsien zu ihren Korrekturarbeiten enthielt und das sie höchst selten aus den Augen ließ, wutentbrannt in die nächstbeste Ecke pfefferte. Schwer ließ sie die verschränkten Ellenbogen und ihren Busen auf die Tischkante sinken.
Als sie begriff, dass sie erneut aufstehen musste, um sich ihren obligatorischen Becher Kaffee mit dem einen Schuss Sojamilch aus dem teuer von der Gemeinschaftskasse erstandenen Bohnotast-Automaten zu holen, schraubte sie ihren massigen Körper mit einem geknurrten, „verdammter Scheißtag!“, wieder empor.
Das schweigende Kollegium wagte kaum zu atmen. Niemand sah eine Veranlassung dafür, deeskalierend auf die hochfahrende Brünhild einzuwirken. Jeder wusste, dass Pädagogen in Stresssituationen per se zu kurzen preziösen Gefühlsausbrüchen neigen. Das war gar nicht persönlich gemeint, eher eine Art mentales Sicherheitsventil, aus dem hin und wieder der Überdruck abgelassen werden musste. Jeden erwischte es mal, mithin bewegten sie sich auf dem Berufsfeld der Gemeinnützigkeit. Innerhalb dessen es nicht ausblieb, eher früher als später in Konflikt mit abweichlerischen menschlichen Ansichten zu geraten.
Im Gros gingen alle Lehrerinnen und Lehrer einer staatlich examinierten Bestimmung nach, die generell nicht ehrenvoll genug eingeschätzt werden konnte. Schließlich kam es ihnen zu, mit der denkbar größten Erfüllung jene Kinder heranzubilden und zu formen, die später das Rückgrat der Gesellschaft stellten. Sie waren gewillt diese Verantwortung anzunehmen aber das Fell, das sie sich dafür wachsen lassen mussten, wurde immer dicker. Einen Pelz, der ihnen nur allzu leicht über die Ohren gezogen werden konnte. Ohne diesen Schutz fühlten sie sich ausgeliefert. Eingekreist. Bedrängt von einem Rudel geckernder Hyänen. Aasgeile Biester, die aufmerksam um den Schutzraum Schule herumstrichen, bis ein argloses Opfer seinen Kopf aus der Herde streckte.
Die hysterischen Raubtiere tauchten auf in Gestalt brüskierter Hyäneneltern mit ausgezeichneten Anwaltskontakten. Übereifrigen Hyänenkollegen ohne geregelte
Familienplanung. Hinterhältigen Hyänenvorgesetzten, die sich zum Ziel setzten, menschliches Versagen vollkommen auszumerzen. Hyänenpolitikern, die immer neue Aufgaben an die Schulen auslagerten, Dinge die man sich quasi im Vorbeigehen aneignen kann, um die Mutation zum Lord of Lehrkraft erfolgreich abzuschließen. An und für sich reichten solche Hyänenbisse nie sehr tief unter die Lehrerhaut. In der Masse jedoch verursachten sie darauf unschöne Narben die nie sauber verheilten und selbst unter dem dicksten Fell juckten.
Vielleicht trug die Hauptmann ihre dünnen Sommerkleidchen ja genau deshalb. Als erfrischenden Ausgleich zu ihrem dicken Fell, überlegte Janina Rudmatis.
Die Rudmatis unterrichtete die Vierte.
Sie war eine der auskömmlichsten Lehrerinnen an der Rolf-Zuckowski-Grundschule in Aiberg, einer etwa 2300 Einwohner zählenden Gemeinde, gelegen am Westrand Südbayerns. Mit 42 Jahren zählte sie zwar noch nicht zu den altgedienten Knörzen der Bildungseinrichtung, unterrichtete jedoch schon so lange, dass ihre Meinung in Konferenzen ins Gewicht fiel. Die Kinder ihrer Klasse mochten sie gut leiden, weil sie die Pädagogin nicht so übermäßig streng raushängen ließ wie die anderen Lehrer.
Durchaus bestimmt drängte sie auf die Einhaltung von Regeln, war jedoch stets für einen Scherz zu haben und nahm ganz allgemein die Dinge einfach etwas gelassener hin. Was ihrer Ansicht auch daran lag, dass sie eben nicht wie alle anderen nur das geradlinige Lehramtsstudium hinter sich gebracht hatte. Bevor ihr klargeworden war, dass es in ihrer Bestimmung lag Kinder zu unterrichten, hatte sie Köchin werden wollen. Ihr Traumberuf, seit sie denken konnte. Obwohl ihr alle Welt – in diesem Fall ihre Eltern – kundtat, dass sie mit dem Abitur in der Tasche bitteschön etwas mehr aus ihrem Leben machen sollte. Lebenslanges Töpfe- und Pfannenschwingen sei für eine gebildete Frau keine Option. Mama und Papa hielten wenig von einem Beruf in dem sich seit der Jungsteinzeit nur die Art des Feuermachens wesentlich verändert hatte.
Sie rechneten nicht mit dem Sturschädel ihrer Tochter. Den setzte sie letztlich durch, und es gelang ihr tatsächlich ohne Wissen der Eltern einen Ausbildungsplatz in einem Nobelgasthof zu ergattern.
Die willensstarke junge Frau knallte ihren bestürzten Angehörigen einfach den Ausbildungsvertrag auf den Tisch. Den Ausschlag für das bekümmertes Einlenken von Mama und Papa gab Armin Sander, der berühmte Sternekoch aus dem Fernsehen. Er wurde Janinas Lehrherr. Das heißt, eigentlich geriet sie unter die Fuchtel des Sous Chefs. Der Starkoch selbst beehrte das exklusive Etablissement, das einer Holding gehörte, mit seiner Anwesenheit nur dann, wenn darin ein prominenter Gast zu bedienen war, eine neue Folge seiner Kochshow abgedreht wurde, oder er den tiefsitzenden Drang verspürte, seine Küchenbrigade mal wieder ordentlich zur Sau zu machen. Sander war ein Tyrann wie aus dem Lehrbuch für Gastronomie. Vom Unterkoch bis zur Küchenhilfe, er verschonte niemanden. Den geringsten Stellenwert besaßen für ihn die Lehrlinge. Von ihren Leidensgenossen bekam Janina lediglich den Tipp, die Launen des Maitres besser kommentarlos hinzunehmen - wenn sie noch was werden wollte.
Über zweieinhalb Jahre hielt sie die das demütigende Klima in der Küche aus. Die Hoffnung, am Ende auf den Posten der „Küchenschlampe“ vorrücken zu dürfen, die Ehrenstellung des Tournants, die gleich auf den „Suppenwichser“ folgte, den Potager, hielt sie aufrecht. Erst als das rasiermesserscharf geschliffene Tamahagane-Messer des Fernsehkochs knapp an Janinas Kopf vorbeisauste und sich flatternd wie ein Pfeil in die gekachelte Wand dahinter bohrte, reichte sie ihre Kündigung ein. Nur eine Woche vor ihrer Abschlussprüfung als Köchin. Ein weiteres Jahr dauerte es, bis sie sich des rauen Küchenjargons und des dazugehörigen Fluchens entledigt hatte. Vorher waren auch ihre Eltern, die das Unheil natürlich vorausgesehen hatten, nicht bereit gewesen, ihre Tochter wieder auf die Gesellschaft loszulassen.
Ihre einschneidenden Erlebnisse im Gastrogewerbe bewogen Janina, ein Psychologiestudium anzugehen. Doch als im vierten Semester die Reihe ans pawlowsche Objektlernen kam, wurde ihr mit einem Schlag klar, dass Sander sie längst zu einem konditionierten Wesen gemacht hatte. Eines, das selbst jetzt noch beim leisesten Klappern eines Kochtopfes nervös zusammenzuckte. Das Studium geriet ins Stocken. Janina war weder in der Lage sich selbst zu therapieren, noch verspürte sie die Lust, später in den Köpfen anderer Menschen herumzupfuschen. Am Ende des Tages - als promovierte Psychiaterin - würde ihr bestimmt wieder irgendein Verrückter ein Messer hinterherwerfen. Darauf konnte sie getrost verzichten.
Ihr erster Liebhaber, ein kiffender Fünftsemester namens Ingvar, brachte sie schließlich darauf es mit Lehramt zu versuchen. Er meinte, da seien ihre Psychologiekurse wenigstens nicht ganz für‘n Arsch.
„Grundschule! Genau das Richtige für Dich. Gibt im Endeffekt zwar weniger Kohle, is‘ aber bestimmt chilliger als Gymnasium oder Mittelschule. Die kleinen Scheißer sind doch eh mehr das Ding von Euch Frauen, oder?“
Die Liaison mit Ingvar war nicht auf Dauer ausgelegt. Er blieb auf Marihuana hängen, sie an seiner davon vernebelten Idee. Das nächste Studium war dann endlich die Offenbarung. Wer hätte gedacht, dass es etwas gab, dass sie voll und ganz erfüllte? Kinder zu unterrichten, wurde zu ihrer Berufung.
Inzwischen lag das eine gefühlte Ewigkeit zurück, fast erschien ihr Ingvar, Sander, ihre gestressten Eltern, wie die Erinnerung an ein anderes Leben. Als gereifte Lehrerin stand Janina seit nunmehr 16 Jahren fest im Schuldienst. Ihre beiden Staatsexamina waren keine Glanzleistung gewesen, weshalb es mit der Verbeamtung ein wenig länger gedauert hatte. Sechs Jahre um genau zu sein, innerhalb derer sie haarklein die Unsicherheiten einer Angestellten im föderalen Amtskarussell kennenlernte. Sie stand auf einer sich jährlich erweiternden Warteliste. Sie bekam weniger Gehalt als ihre staatlich abgesicherten Kollegen, musste während der Ferien ohne Versicherungsschutz auskommen und wusste nie, ob sie im folgenden Schuljahr noch an derselben Schule unterrichten würde wie im abgelaufenen.
Janina tröstete sich mit dem Gedanken, dass es ihr in ihrem angestrebten Lehrberuf vermutlich noch schlechter ergangen wäre, doch darüber büßte sie unmerklich einige ihrer idealistischen Grundeinstellungen als Lehrerin ein. Zumindest gab sie sich bald keinen Illusionen mehr darüber hin, dass Opferbereitschaft in ihrem Pennälerdasein zwar gefordert wurde, sie jedoch stets selbstlos sein zu hatte und keinen Anspruch auf Dankbarkeit erheben brauchte. Gab man für seine Schülerschaft das letzte Hemd, dann durfte man sich nicht wundern, wenn man dafür gemaßregelt wurde, dass man plötzlich vor ihnen blankzog. Selbstverständlich nur im bildlichen Sinne. Außerdem stellte Janina fest, dass in diesem Beruf, neben der eigenen Gesundheit, Zeit das kostbarste Gut war. Die verflog so rasend schnell, dass die Lehrerin gar nicht merkte wie sie ihr entglitt.
Die ehemals junge Frau überschritt die Vierzig ohne einen festen Partner an ihrer Seite. Als hässliches Entlein hätte sie sich zwar nicht abgestempelt, doch fehlte ihr das nötige Selbstbewusstsein, aus ihrem Spiegelbild mehr herauszulesen als ein gewöhnliches Durchschnittsgesicht. In der rundlichen Form fand sie zwei glanzlos braune Augen. Ihre Nase besaß einen leichten Höcker, der sie störte, jedoch nicht entstellte. Und sie hatte schmale Lippen, die ihrem Aussehen einen etwas zu gutmütigen Charakter verliehen. Aus praktischen Gründen trug sie das rostbraune Haar von Kindesbeinen an hinterm Kopf zu einem einfach geflochtenen Boho-Zopf. Sie kleidete sich vorwiegend in unauffälligen Erdfarben. Ockerbraune Oberteile und dunkle Hosen – seltener einen beigen Rock.
Alles in allem hatte sie es sich in ihrem privaten Schneckenhaus pädagogischen Gleichmuts bequem eingerichtet.
Vormittags bestand ihre Woche aus Unterricht, nachmittags aus Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag, abends aus Korrekturarbeiten. Von Sonntag bis Freitag, eine ewige Tretmühle, die unmerklich Janinas Zukunftsträume ausgelöscht hatte. Am Wochenende schlief sie lang oder besuchte ihre Eltern, die weiter draußen auf dem Land lebten. Sie war kein Partygirl, das dauernd auf die Piste musste. Ihre größte Leidenschaft war shoppen nach Vorgabe. Sie war fasziniert von einer Comfort-App die für sie hochrechnete, was ihr zum Leben fehlte und wofür sie ein Abo brauchte. Lebensmittel, Hygieneartikel, Schreibwaren, Schuhe.
Wäre da nicht der Dienstagabend gewesen, hätte sie ihr Schicksal vielleicht sogar gottergeben hingenommen. Jeden Dienstag Punkt achtzehn Uhr trafen sich einige Kollegen zum Lehrersport. Bei genauerer Betrachtung hätte man diesen Termin auch nur für eine von vielen zusätzlichen Verpflichtungen halten können, denen Janina als Lehrerin mehr oder weniger freiwillig nachkommen musste. Aber für sie war es eine, die sie daran erinnerte, dass außerhalb der Parallelwelt Schule noch ein anderes Leben existierte.
Nun war Janina bestimmt keine Sportskanone, allerdings gab es einen guten Grund weshalb sie keine einzige Partie verpasste. Die Kollegen der benachbarten Mittelschule forderten das Team der Grundschule jede Woche aufs Neue heraus und einer ihrer Gegner war Klassenlehrer in der Siebten. Thomas Hoppe. Er war mindestens zwei Köpfe größer als Janina, hatte schütteres langes Haar, das an den Schläfen schon grau wurde und eine hohe furchige Stirn. Von dort bis zum Kinn erwuchs das gewitzte Gesicht zu einem langgezogenen Oval, aus dem durchdringend braune Augen herausstachen. Ein struppiger Schnäuzer hing über zwei gepressten Lippen und darüber eine große klassisch geschwungene Nase. Hoppe war zehn Jahre älter und so ziemlich genau das Gegenteil von Janina. Er verhielt sich unkonventionell, unangepasst und machte Gebrauch von einem ganz vortrefflichen Sarkasmus, der nicht einmal vor seinen Schülern Halt machte.
Genau ihr Typ.
Sie war hin und weg, er aber leider verheiratet.
Dennoch sondierte Janina ihre Aussichten. Ihre Nebenbuhlerin hieß Sofie Waren. Die Tochter des ortsansässigen Allgemeinarztes Dr. med. Theodor Waren, bei dem auch Janina in Behandlung war. Nach der Hochzeit hatte sie ihren Namen behalten und hieß nun Sofie Waren-Hoppe. Janina fand das ziemlich affig, ihren Schwarm störte das aber offensichtlich nicht. Aus der Beziehung waren zwei inzwischen halb erwachsene Kinder hervorgegangen, die beabsichtigten in ähnlich elitäre Kreise wie ihr Großvater mütterlicherseits aufzusteigen. Eine Vorzeigefamilie wie aus der Werbung eines Portals für Partnervermittlungen.
Janina Rudmatis, die Tochter aus einem gutbürgerlichen Elternhaus ohne akademische Ambitionen, hielt es für das Klügste, es Thomas gegenüber bei Anspielungen und platonischem Geplänkel zu belassen. Mit dem Motto Anhimmeln, nicht Anfassen, machte sie es sich zur Maxime, ihr durchaus vorhandenes Talent zur Verführung nicht auszureizen. Grundsätzlich besaß sie die feinen Antennen einer in Ansätzen psychologisch geschulten Frau, die einen Typen zwar herumkriegte, jedoch nie so, dass er es lange bei ihr aushielt. Ihre längste Beziehung nach Ingvar war die mit Lennard Bartel gewesen, dem Commercial Dispatcher eines Photovoltaikherstellers. Zwei Jahre, dann war Schluss gewesen. Denn urplötzlich war ihrem Kerl, der im Grunde nichts anderes machte als Sonnenenergie zu verwalten, aufgefallen, dass die Frau Lehrerin ihre Arbeit tatsächlich ernst nahm.
„Wie ist sowas möglich?“, hatte er geschimpft, „Du kommst mittags heim, sitzt dann aber abends um Elf immer an noch irgendwelchen beschissenen Schulsachen!“
Zivilisten verstanden davon nichts. Nur ein Lehrerkopf verstanden was in einem Lehrerkopf vorging. So viel war Janina klar geworden. Verhältnisse unter Kollegen waren keineswegs unüblich. Sie waren unkompliziert, wurden allerdings auch schnell wieder langweilig. Das Vorspiel bestand aus Pädagogikkram, dann kam der Sex und das Nachspiel bestand erneut aus Pädagogikkram. Jedes. Verdammte. Mal. Vögeln mit Kollegen war wie Murmeltiertag. Seit Jahren kannte sie nichts anderes mehr.
Thomas Hoppe war anders. Bestimmt. Sicher. Hoffentlich. Zumindest vorstellen konnte sie es sich mit ihm, auch wenn er in einer ganz anderen Liga spielte.
Ein herzzerreißendes Schluchzen unterband die Fortführung von Janinas Gedanken. Die Hauptmann stand vornübergebeugt an der Spüle. In der einen Hand hielt sie eine Tasse, die im Haushalt der Familie Waren-Hoppe kein Auskommen mehr gefunden hätte, in der anderen die Kaffeekanne, aus der das braune Rinnsal im Ausguss verschwand. Von der massigen Frau war nur die Rückseite zu sehen. Durch den gedrungenen Hügel, auf dem ein Blumenteppich mit durchscheinendem Büstenhalter lag, ging ein Beben.
Weinte da etwa jemand?
Verstohlen blickte Janina zu den anderen. Die meisten Kollegen versuchten die Bodensätze ihrer nachhaltigen Thermobecher zu ergründen. Das Grüppchen „Trockener“, die fatalerweise weder Tee noch Kaffee tranken, blätterte sich verlegen durch einen elektronischen Katalog für Lehrmittel oder schob die amtlichen Bekanntmachungen in Papierform zusammen, an der die Behörde zum Glück der Lehrer stoisch festhielt.
In Erwartung des zweiten Klingelns, dass die Lehrerpause beendete, rutschte man unpässlich auf seinem Stuhl herum. Eine Viertelstunde schlechten Gewissens dauerte länger als die Vertretung einer Doppelstunde mit der Ethikgruppe.
Der erste, dem die Anspannung zu viel wurde, war der Cujé aus der 3a. Er rutschte leise nach hinten, stand auf und schlich mit einem gemurmelten „hab ganz vergessen, dass ich noch einen Tafelanschrieb machen muss“, hinaus.
Janina Rudmatis schüttelte den Kopf.
Sie und ihre Kollegen waren Profis, wenn es darum ging, Kindern etwas sinnvolles beizubringen. Jeden Tag vermittelten sie Fach- und Sachwissen, gaben Hilfestellung oder spendeten Trost. Befanden sich diese Erwachsenen jedoch unter sich, waren sie wie ausgewechselt. An manchen Tagen verhielten sie sich in ihrem kleinen Kosmos Schule sogar wie ihre eigenen Schüler. Nur selten kotzte sich jemand über etwas anderes als aufmüpfige Kinder oder schulinterne Angelegenheiten aus. Klar war das Lehrerzimmer der passende Ort dafür, aber in punkto Einfühlungsvermögen wähnte sich Janina manchmal wie gefangen in einer überdimensionalen Vakuumpumpe. Ein Apparat, der einem nicht nur den Dampf den man abließ entzog, sondern zugleich auch die Luft zum Atmen nahm. Man handelte nach der leicht abgewandelten Fight-Club-Regel: Was einem Lehrer passiert, darf keine Disharmonie bei den anderen erzeugen!
Leider ließen sich die Probleme der Menschen oft genug nicht dazu überreden, auch in ihnen zu verweilen. Lehrersein hieß jedenfalls für Janina das x in der Gleichung ihrer Umwelt auflösen zu wollen. Sie war nicht die einzige, die sah, dass sich ihre verstörte Kollegin, die eigentlich kein zartbesaitetes Wesen war, vergeblich abmühte, ihr eigenes Problem regelkonform zu handhaben.
Der Cujé klopfte der Hauptmann beim Hinausgehen aufmunternd auf die Schulter. Er wusste es einfach nicht besser.
Männer, dachte Janina und erhob sich seufzend. Wenn sie jetzt nicht hinüberging, würde es bis zum Klingeln niemand mehr tun. Noch während sie sich auf ihr Gegenüber zubewegte, überlegte sie, wie sie ihr Mitgefühl am besten zum Ausdruck bringen konnte, da drehte sich die Hauptmann mit tränenroten Augen zu ihr um und hob ihre schweren Arme an Janinas Nacken. Ein feuchtwarmes Tropenklima legte sich ihr über Mund und Nase und der Geruch von Moschus wehte ihr entgegen. Ohne Gegenwehr dotzte sie an dem weichen Berg an. Ihr Ohr kam auf einer Erhebung zu liegen, von der sie hoffte, dass es kein Busen war. Augenblicklich überfiel Janina die Angst zu ersticken.
Die Hauptmann löste ihren Schraubgriff erst kurz bevor sie ihre Kollegin darin zu Tode gequetscht hatte. Sie fasste Janina bei den Schultern und schob sie auf Armeslänge zurück. Mit einem Finger rückte sie ihre verrutschte Brille zurecht. Das satte Orangerot ihrer bemalten Lippen lenkten die jüngere Lehrerin etwas von den Worten ab, die aufgewühlt dazwischen herausflossen.
„... hat doch keine Ahnung, was hier jeden Tag abgeht, oder?“, war der Satzfetzen, bei dem Janina den Faden wieder aufnahm.
„Ja, klar“, stimmte sie zu, während sie sich zusammenreimte, dass ihre aufgebrachte Kollegin eigentlich nur auf den Besuch des Schulrats Mehrlsteibl anspielen konnte. Am Morgen noch hatte es die Schulleiterin Frau Noll angekündigt. Zwei Lehrkräfte mussten im Laufe des Vormittags mit einem Unterrichtsbesuch der Dienstaufsicht rechnen. Das war keineswegs ungewöhnlich, denn etwa alle zwei Jahre bekamen sämtliche Lehrerinnen und Lehrer einer Schule, ähnlich wie ihre Schüler, eine Art Zeugnis ausgestellt, das Aufschluss darüber gab, wie kompetent der oder die Beurteilte sich im Umgang mit Kindern gab. Hierzu hatte man sich einem Unterrichtsbesuch seitens der Schulleitung in Begleitung eines Vertreters des zuständigen Schulamts zu stellen. Im Anschluss wurde die gezeigte Schulstunde in einem oft zermürbenden Zwiegespräch von den beiden Punkterichtern bis ins Detail zerpflückt. Danach erfüllte man deren Anforderungen entweder unzureichend, teilweise, im Wesentlichen, in jeder Hinsicht, erheblich darüber oder in herausragender Weise. In Noten ausgedrückt stand Janina zwischen Zwei und Drei. Solide. Sie wusste aber, dass es auch schlimmer kommen konnte.
Unter den Augen des Schulrats Mehlsteibl der auf jede Vorzeigestunde einen Monolog über die methodische und didaktische Wahl der Mittel folgen ließ, bekamen seine Delinquenten stets das Gefühl vermittelt, sie stünden selbst nach 25 Dienstjahren erst am Anfang ihres Staatsexamens. Selten verlief ein Unterricht so, wie es dem Herrn Schulrat beliebte. Der Name war Programm. Dieser Mann sah tatsächlich aus, als bestünde seine schreibstubenhafte Hülle, samt des billigen Funktionärsanzugs von der Stange, aus der staubfeinen Panade von gesiebtem Mehl. Dazu ein Paragraphenreiter wie aus dem Gesetzbuch. Seine heisere Stimme trug einiges dazu bei, sich in einer Klasse tobender Kinder wohler zu fühlen, als in Hörweite dieses Schulrats.
Obwohl Janina im guten pädagogischen Mittelfeld spielte, wurde auch sie nicht von seinen berüchtigten Plattitüden verschont. Zweimal schon hatte sie sich seine verdeckten Andeutungen - wie wenig sie von ihrem Beruf verstand - gefallen lassen müssen. Der alte Sack hätte sich bestimmt prima mit Armin Sander, ihrem früheren Ausbilder verstanden.
Ihre Schulleiterin, immerhin die vierte Nachbesetzung seit Janina an der Schule unterrichtete, war bei diesen Besprechungen meist nur das nette Beiwerk. Frau Noll, eine grauhaarige Mitfünfzigerin, die man hinter ihrem Rücken gehässig „die Knickflasche“ nannte, weil sie einen steifen, schräg nach links geneigten Nacken hatte. Der böse Spitzname rührte von der Verpackungsform eines angesagten Mundwassers her. Ungenannte verleumderische Zungen behaupteten, Frau Noll habe sich die Behinderung an ihrer ersten Schule zugezogen, wo sie ihren Kopf nicht mehr rechtzeitig aus dem Allerwertesten des Regierungsbeamten bekommen hatte, dem sie ihre Beförderungen verdankte. Prompt habe sie daraufhin ihren steifen Nacken als Dienstbeschädigung deklarieren lassen, damit man sie nicht nur als Frau, sondern auch als gehandicapte Person bevorzugte.
Janina gab nicht viel auf das dumme Geschwätz, aber da sich die Rektorin keine besondere Mühe zu geben schien, es zu entkräften, wurde Knickflasche in den dunklen Winkelgängen der Rolf-Zuckowski-Grundschule zum geflügelten Wort für anbiedernde Arschkriecherei.
In Anwesenheit des Schulrats Mehlsteibl erhob sie nur selten die Stimme. Mit ihrem butterweichen Vorweihnachtstimbre versicherte sie den geprellten Kollegen ihre ganze Anteilnahme. Freilich tat sie das immer erst hinterher, wenn der Schulrat längst fort war.
Nun also hatte er die Hauptmann runtergeputzt.
Wem sein zweiter Besuch gegolten hatte, war noch nicht raus oder die betreffende Person hielt sich bislang aus verständlichen Gründen bedeckt. Zumindest bei der beleibten Grundschullehrerin, die Jahr für Jahr Horden hyperaktiver Kleinkinder mit Bravour bändigte, hatte er ganze Arbeit geleistet. Was in über 25 Dienstjahren kein Schüler geschafft hatte, war Mehlsteibl in weniger als 45 Minuten gelungen, und er war dabei äußerst gründlich vorgegangen. Janina konnte kaum glauben, was sie zu hören bekam.
Offenkundig hatte der Schulrat die Stunde vorzeitig unterbrochen, um sie dann in Eigenregie zu beenden. Vor ihrer eigenen Klasse hatte er der langjährigen Lehrerin zu verstehen gegeben, dass ihr Unterricht in etwa so nachhaltig sei wie der Englisch-Telekolleg für Senioren. Da ihre Schüler und Schülerinnen leider nicht das Privileg besäßen, das Programm wegzuzappen, sehe er sich gezwungen die Initiative zu ergreifen. Er verbannte die Hauptmann an einen der hinteren Schülertische, von wo aus sie Protokoll führen musste, wie Mehlsteibl von ihrer Stunde rettete, „was noch zu retten war“.
Zu keinem Zeitpunkt fand die völlig verdatterte Lehrerin die Kühnheit, sich gegen den Schulrat zu stellen, was ihn wiederrum restlos von der Richtigkeit seines Handelns überzeugte. Die anschließende Nachbesprechung, eigentlich ein Vortrag über die Kunst des Lehrberufs im Allgemeinen und das Talent der Klassenlehrerin im Besonderen, gipfelte in dem Satz, dass „Mangelpädagogen wie Sie“ in absehbarer Zukunft durch den Einsatz künstlicher Intelligenzen – die diese Bezeichnung wenigstens verdienten – zum Auslaufmodell würden.
Angesichts eines solch vernichtenden Urteils grenzte es fast schon an ein Wunder, dass die Hauptmann bis jetzt durchgehalten hatte. Mit dem letzten Rest Selbstachtung war sie, ohne Gefühle zu zeigen, aus dem Besprechungsraum getreten und hatte bis ins Lehrerzimmer durchgehalten. Dort öffneten sich die Schleusen.
Janinas Kollegin klammerte sich zitternd an sie und kämpfte tapfer gegen den unabwendbaren Tränenmonsun an. Endlich erhoben sich auch die anderen Kollegen, um die Hauptmann in ihren tröstenden Schwarmkokon zu hüllen. Er bestand aus Standard-Umarmungen, Standard-Schulterklopfern. Sie dürfe den Kopf nicht allzu sehr hängen lassen. Von wegen. Sowas verfolgte einen noch im Schlaf!
Später, als Janina Rudmatis wieder vor ihrer eigenen Klasse stand, kam ihr noch einmal in den Sinn, was Mehlsteibl über die Künstliche Intelligenz gesagt hatte. Was wollte er mit dieser offensichtlichen Demütigung zum Ausdruck bringen?
Zu Beginn des Jahrhunderts hatten die Schulen in Deutschland einen massiven Wandel hin zur Digitalisierung erlebt. Es war erst 15 Jahre her, dass die Politik ihren sattsamen Wahlversprechen doch einmal Taten folgen ließ. Ein erster Schritt waren größere Klassenzimmer. Wissenschaftliche Studien aus China zum Lernklima, aber vor allem die zwei großen Pandemiewellen hatten gezeigt, dass Kinder eine eigene Resilienzzone brauchten. Einen gewissen Freiraum, bei dem man nicht Ellenbogen an Ellenbogen hockte. Eine persönliche Lernfläche, die auf die Nachkommastelle genau 2,25 Quadratmeter pro Kind betrug. Daraus folgte, dass in Gebäuden älterer Bauart entweder die Schülerzahlen reduziert werden mussten oder ein frisch renoviertes Schulhaus die Ausmaße einer Fabrikhalle annahm.
Entsprechend problematisch entwickelte sich die Möblierung der einzelnen Klassenzimmer. Gleichzeitig mit der Umgestaltung der Räume wurden die als Relikte preußischer Lernkultur verschrienen Schreibpulte und Holzstühle ausrangiert.
Stattdessen hielten sogenannte Bluecells Einzug. Gemütliche Sitzgelegenheiten, die sich automatisch auf die Körpergröße des darauf Platz nehmenden Kindes einstellen ließen. Durch Vibrationsflächen auf den Schalensitzen konnte sogar eine kurze Sporteinheit imitiert werden, wie es etwa nach einer geistig fordernden Mathematikstunde von führenden Experten unbedingt empfohlen wurde.
Jeder Sitz war über die Schulcloud vernetzt, auf die eine Lehrkraft vom Kontrollpult in der Mitte des Raumes zugriff. Die Plattform steuerte auch die Arbeitsplätze, die mit Hologrammbrillen, einem flexiblen Working-Tablet samt E-Pen-Writer - die Heft und Füller ersetzten - ausstaffiert waren. Richtige Bücher gab es zwar noch für den Fall, dass die Geräte ausfielen, aber die Technik veränderte die Lernumgebungen der Kinder in atemberaubendem Tempo. Dachte man sich die „neuen Medien“ einst nur als unterstützende Gimmicks, waren sie heutzutage nicht mehr wegzudenken. Am deutlichsten zeigte sich das an den weltweit genormten E-Pen-Writern: Die Lehrkraft konnte über ihren visuellen Zentralrechner sämtliche erstellten Textdateien der Kinder nicht nur auf Schreibfehler kontrollieren, sondern anhand des Schriftbildes auch feststellen, in welcher Verfassung sich ein Schreiber befand.
Ähnliches galt für Mathe. In Echtzeit zeigte ein Korrekturprogramm den Schülerinnen und Schülern ihre Fehler auf, dazu hielt in ihren Kopfhörern jedoch eine aufmunternde Stimme sogleich mehrere Lösungsvorschläge für sie bereit. Jedes Lernprogramm ließ sich sekündlich an den jeweiligen Leistungsstand und die augenblickliche Verfassung seiner Schützlinge anpassen.
Selbst im Musikunterricht wurden tragbare Auto-Tune-Mikrofone eingesetzt, die das beste Ergebnis aus den Gesangsstimmen der Kinder herausholten. Das jährliche Schulkonzert war die meist besuchten Kulturveranstaltung am Ort.
Kurz, alle Schüler, vom Schulanfänger bis zur Abschlussklasse, verfügten über eine hoch technisierte Ausstattung. Kinder und Equipment waren von einer Kabine umgeben, die sich je nach Unterrichtssituation nahezu schalldicht abriegeln ließ und ein beruhigend blaues Licht – daher der Name Bluecell – verströmte, um dadurch den Lernprozess bei den sogenannten User-Kindern auf der visuellen Ebene voranzutreiben. Die moderne Farbforschung war sich sicher, dass Blau den idealen Hintergrund für optimale Leistungsergüsse stellte.
Über allem stand die Schulcloud. Aus ihr ließen sich sämtliche Belange des Schulwesens speisen und steuern, eine Art riesige virtuelle Speicherkammer. Die benötigten Daten konnten sowohl abgerufen, als dort auch hinterlegt werden. Das Anwenderprogramm war selbstlernend, was bedeutete, dass es sich umso besser an den Nutzer anpasste, je länger es in Betrieb genommen wurde. Der Entwickler versprach den nötigen Datenschutz, wenngleich er selber nicht genau vorhersagen konnten, wie sich seine Schöpfung entwickelte. Kleine Sicherheitslücken kamen vor, wurden jedoch meist schnell behoben. Zwei größere Hacker-Angriffe hatte die Schulcloud schadlos überstanden.
Für die Lehrer bedeutete sie eine enorme Arbeitserleichterung. Lange Einkaufslisten an die Eltern zum Schulstart gehörten der Vergangenheit an. Niemand musste sich mehr mit fehlenden Heften und Stiften herumärgern, dafür gab es ja die Tablets. Analoge Arbeitsmittel wie Schere und Kleber waren nicht verschwunden, nur wurden sie fast ausschließlich in den musischen Fächern genutzt.
In den seltensten Fällen verirrte sich ein Arbeitsblatt in die Hände der Kinder. Die Holobrillen erzeugten virtuelle Wirklichkeiten, die auf das Hirn der Heranwachsenden so täuschend echt wirkten, dass später manch einer im Erwachsenenalter steif und fest behauptete, er habe 1835 selbst in einem der Waggons gesessen, die von Nürnberg bis Fürth von der ersten Dampflokomotive gezogen wurde.
Und das waren noch die bescheidensten Vorteile, die sich aus der Schulcloud ziehen ließen. Es gab endlos viele Anwendungsbeispiele und noch mehr Variationsmöglichkeiten.
Es war ein Lernen nach Präzisionsmaß, das im Endeffekt erstaunlich hohe Abschlussquoten hervorbrachte. Ausreißer, die trotz gründlicher Mangelanalyse durchs Raster fielen, gab es weiterhin, im Schnitt machten diese Unbeschulbaren aber weniger als zwei Prozent aus.
Verschmerzbar, aus Sicht der Statistiker.
Janina hatte zahlreiche Fortbildungen besucht. Sie wusste, dass sie mindestens zwei Leben brauchte, wenn sie das ganze Potential der Cloud voll ausschöpfen wollte. Auch die Lehrausbildung hatte sich auf die veränderten Umstände eingestellt. Lehramtsanwärter wurden nach der allgemeinen Ausbildung in Studiengänge getrennt. Es gab Spezialisten für algorithmische Programmierung, Datensicherheit, Objekttracking, Netzwerkmanagement und deep learning. Mit diesem Wissen unterstützten die Junglehrer ihre Schule zusätzlich mit ihren Fachkenntnissen. Sie sollten auf lange Sicht die überbezahlten Experten ersetzen, die derzeit für die Aufrechterhaltung des relativ neuartigen Systems von außerhalb herangezogen werden mussten.
Dass aber auch die Lehrkräfte selbst ersetzt werden konnten, war Janina Rudmatis noch nie in den Sinn gekommen. Oder wie sonst hatte man Mehlsteibls Anspielung zu verstehen?
Die Antwort trudelte einige Wochen später, das alte Schuljahr zählte nur noch wenige Tage, über den allmonatlichen Newsletter der Regierung ein. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt.
Während in Bayern die Ferienzeit erst begann, steckten die meisten anderen noch mittendrin. Die Schulen in Thüringen durchlitten den ersten Schock, denn hier waren die Ferien beinahe zu Ende. Vier weitere Bundesländer hatten noch zwei Tage mehr.
Es handelte sich um nichts weniger als um eine mehrseitige Kriegserklärung der länderregierten Kultusministerien an die ihnen unterstellten Lehrkräfte.
Der Wortlaut darin war betont freundlich gehalten, was das ganze Ausmaß der Botschaft beinahe ironisch vergiftete. Die Empörung der gesammelten Pädagogenvereinigungen war groß und rief sämtliche Interessenvertreter auf den Plan. Protestnoten wurden verfasst, es gab heiße Diskussionen, auch im Konferenzraum der Rolf-Zuckowski-Grundschule. Doch schlussendlich stellten sich die ansonsten eher gegenseitig blockierenden Regierungen taub und stur. Ihr Entschluss war einstimmig gefasst, es gab daran nichts mehr zu rütteln. Der zivile Widerstand bröckelte zuerst in Mecklenburg-Vorpommern.
Die übrigen Verbände folgten zähneknirschend just an dem Tag, an dem in Janinas Schule die letzte Unterrichtsstunde vor den Sommerferien ablief.
Das erste Opfer, das sich nicht mit den geplanten Veränderungen abfand, rutschte bei der Abschlussbesprechung als bleiches Bündel Blumenwiese vom Stuhl. Dunkelrot quoll das Haar der Hauptmann über ihr maskenhaftes Gesicht, als das Entlassschreiben aus ihren Fingern wie welkes Herbstlaub zu Boden glitt.
„Vermehret zugleich mit unsern Wünschen auch die Mittel zu ihrer Befriedigung, und ein jeder wird sich zum Herrn von allem machen.“
Zitat Thomas Hobbes (1588-1679) nach *ebenda, Erstes Buch,
S. 119.
J
anina Rudmatis‘ Handy klingelte mitten in den Ferien. Sonnenverwöhnt lag sie auf einer Ruheinsel in dem Bio-Badeteich eines Wellnesshotels in Österreich. Augenrollend klappte sie das herbstlaubgroße Foldphone auf und presste es sich unentspannt gegen ihr Ohr.
Was für eine fürchterlich alberne Angewohnheit das Ding ständig mit sich herumzuschleppen, hatte sie noch gedacht. Gleich beim ersten Summen war sie rangegangen. Klassische Konditionierung einer Beamtin. Sie kam sich vor wie der Pawlowsche Hund aus ihrem Psychologie-Studium, fehlte nur noch, dass sie anfing zu sabbern.
Frau Noll die Schulleiterin war dran. Die Knickflasche. Sie erinnerte die hörbar gereizte Frau Rudmatis daran, dass ihre Lehrerin keineswegs Urlaub hatte, sondern nur die unterrichtsfreie Zeit genoss. Die Rolf-Zuckowski-Grundschule sei als eine von 32 deutschen Erprobungsschulen auserwählt worden, dieses neue „Roboter-Dings“ für zwei Jahre auszuprobieren. Eine Ehre, dass ausgerechnet ihre Schule dafür in Frage kam … blablabla.
Das betreffende Roboter-Dingsda nenne sich E.m.i.l.e und sei sozusagen die politische Antwort auf das bis zur Schmerzgrenze ausgereizte Anforderungsprofil der Schulen. Sowie den unmöglich aus der Welt zu schaffenden Lehrkräftemangel.
Ein Androide, sprich menschenähnlicher Roboter, dem Frau Rudmatis in kleinen Schritten beibringen solle, wie man guten Unterricht macht. Wie sie guten Unterricht macht. Für die erfahrene Lehrerin war die unterschwellige Botschaft hinter der Anweisung ihrer Chefin eine andere: Zeig der Maschine wie es geht, damit sie später mal Deinen Job machen kann!
Die hohen Tiere wollten ihrer Laufkundschaft weismachen, dass es sich bei dem Kunstgeschöpf nur um ein harmloses Spielzeug handelte. Noch eines, das den geplagten Lehrkräften da draußen die Arbeit erleichtern sollte.
Janina hätte das Angebot gerne abgelehnt. Leider war es kein Angebot, sondern eine – zugegeben – freundlich vorgetragene Anweisung. Außerdem vertrat Frau Noll wie die meisten Vorgesetzten die verquere Vorstellung, dass eine von ihr vergebene Aufgabe für die Ausübende keine Bürde, sondern eine Auszeichnung darstellte.
Eines war damit jedenfalls sonnenklar: Frau Rudmatis‘ Urlaub war hiermit zu Ende.
Das Führen des neumodischen Androiden hatte für Janina eine Fortbildung zur Folge, so die Rektorin. Angesetzt … morgen. Die Formalitäten? Schon geregelt! Nur ihre virtuelle Anwesenheit sei noch erforderlich. In dem ersten von vier Online-Modulen werde Janina erfahren, was sie mit so einem E.m.i.l.e anzufangen hatte. In Bälde bekäme sie ihn mit einer Paketdrohne an ihre Privatadresse geliefert. Spannend, oder? Den Empfang müsse sie persönlich vor Ort quittieren. Es handele sich schließlich um Schuleigentum.
Eher in einem Nachgang erfuhr Janina, dass ihr die Leitung der Jahreseingangsklasse übertragen worden war. Anstelle von Frau Hauptmann. Tragisch.
Janinas Einwand, sie habe „noch nie mit den ganz Kleinen…“, bügelte Frau Noll mit der Begründung nieder, dass die Kleinsten doch noch ganz einfach zu handeln seien, und „wir“, damit meinte sie den Schwesternbund der Frauen, „haben da ohnehin einen biologischen Vorteil!“
Sie, Frau Rudmatis könne einen solchen Klassenwechsel mit ihren 42 Jahren noch am ehesten bewältigen. Dem Herrn Cujé könne man das nicht mehr zumuten - sechsundzwanzig Kinder in einem Raum. Das sei nur eines der Auswahlkriterien, um als Anwendungs- und Erprobungsschule für dieses Androiden-Dingens in Betracht zu kommen. Junge Menschen wie Frau Rudmatis hätten zu solchem KI-Kram doch am ehesten einen Draht. Und es sei ja, wie bereits gesagt, gerade kein Urlaub, sondern unterrichtsfreie Zeit. Die Umstände täten ihr leid, klang die Stimme der Schulleiterin pflichtschuldig bedrückt, letztendlich delegiere sie selbst aber auch nur das staatlich angeordnete „Chaos“. Einfach das Beste aus der Situation machen, lautete ihr Rat, bevor sie das Gespräch beendete.
Janina schob den Daumen quer übers Display, legte es neben sich und stöhnte laut auf. Eine Libelle schwirrte mit ihren langen, metallisch blauen Flügeln heran und setzte sich auf die glänzende Mattscheibe. Ihr auf und ab wippender Körper spiegelte sich darauf. Vielleicht hatte das dumme Ding den Untergrund auf dem sie saß, mit einer kleinen Pfütze verwechselt.
Wie leicht sich ein Lebewesen doch von einer Maschine manipulieren lässt, dachte Janina, während sie aufstand.
Sie machte sich daran, ihren Urlaub zu stornieren. Die gut 250 Kilometer des Heimwegs bewältigte sie in weniger als einer Stunde. Was den Ausbau der touristischen Infrastruktur anbelangte, machte den Österreichern keiner etwas vor. Sie waren die ersten gewesen, die ihren marode gewordenen Bahnkonzern aufs verdiente Abstellgleis schoben. Wer fuhr heute noch Bahn? Das Land investierte in eine stark verbesserte Untergrundbahn, die ihre Fahrgäste in annähernder Schallgeschwindigkeit von einer Station zur nächsten brachte, nein, schoss. Die Österreichische Schallgeschwindigkeits Untergrundbahn – abgekürzt ÖSUB. Hierzulande löste sie als Mutterkonzern eben erst die hoffnungslos heruntergewirtschaftete Deutsche Bahn ab.
Janina kam sich in einem solchen Waggon zwar jedes Mal vor wie eine menschgewordene Kanonenkugel. Doch die Zeitersparnis beim Reisen entschädigte sie locker für ihre nachrauschenden Ohren, wenn der Kabinendruck wieder einmal nicht richtig eingestellt war.
Wie bestellt saß Janina tags darauf auf ihrer Couch und meldete sich für das Online-Seminar an. Über die Augen hatte sie einen viereckigen grauen Kasten gezogen. Eine Holobrille.
In ihrem Sichtfeld baute sich eine blaugelbe Seite auf, vor der ein wuchtig weißes Gebäude in Barockbauweise erschien. Sie spazierte entlang der hohen vierstöckigen Fassade, bis sie an ein säulenbewehrtes Portal gelangte. Über dem Eingang prangte das in Stein gemeißelte nomina sacra - der geheiligte Namen Christi - als Erinnerung an die Eintretenden, dass sich die Lehranstalt seit Beginn den Werten klerikaler Bildungstradition verpflichtet fühlte.
Hinter diesen ehrwürdigen Mauern steckten über 600 Jahre Geschichte, die man beinahe zu Atmen glaubte, wenn die virtuelle Wirklichkeit dies zugelassen hätte. Die Hohe Schule des Jesuitenkollegs. Sie war eine Reaktion der katholischen Kirche auf die Volkslehren des Protestantismus. Bis in das zwanzigste Jahrhundert wurden im Kolleg Priester ausgebildet. Später diente es dem Freistaat als die Bayerische Akademie für Lehrerfortbildung. In echt.
An der Wand rechts neben dem Treppenaufgang erschien ein kleines Tastenfeld. Nachdem Janina Rudmatis dort ihren Namen, ihre Schulnummer und ein geheimes Passwort eingegeben hatte, öffnete sich der rechte Flügel des schweren Klosterportals aus dunkler Eiche. Sie erklomm die fünf Stufen, dann betrat sie einen kahlen Vorraum. Dort hielt sie sich rechts und ging durch eine gläserne Schiebetür. Sie kannte den Weg von früheren Fortbildungen, manchmal musste man hier sogar in lifesize erscheinen. In einem gestreckten Empfangsraum blieb sie vor einer langen Theke stehen.
Dahinter saß eine junge Dame mit übertrieben langen blonden Haaren und etwas zu großen Kulleraugen. Eine Erscheinung wie aus einem Manga. Das Mitarbeiterkärtchen über dem Ausschnitt ihrer Bluse wies sie als Chatbot-Assistentin Kathy aus, die ihren einzigen Gast mit einem smarten Lächeln begrüßte. Ihre automatisierte Navigationsstimme registrierte Janinas Anwesenheit und schaltete die Lehrgangsberechtigung frei.
Instruiert von Kathy begab sich die Lehrerin zu ihrem Seminarort, den Lernraum. Zukunft. Dabei handelte es sich um einen, auf sämtliche futuristischen Anforderungen zugeschnittenen, Hörsaal in Würfelform.
Kubistische Zweckmäßigkeit, die den Charme eines Aquariums versprühte.
Einige Teilnehmer hatten sich bereits vor Janina eingeloggt. Angeregt unterhielten sie sich miteinander, während sie auf Laufstühlen saßen, an deren Armlehnen ein elektronisches Memoryboard befestigt war. Auf diese Weise konnte man sich frei bewegen und nebenbei Notizen machen. Die ließen sich, wenn man wollte, später in der Schulcloud abrufen.
Vereinzelt standen zwischen den Stühlen mannshohe graue Tafeln auf Rollen. Janina erinnerten sie vage an fahrende Grabsteine, was nicht ganz abwegig war, wenn man ihren Zweck kannte. Unter den älteren Lehrkräften gab es noch einige Retroromantiker, die sich eines Laptops mit Webcam behalfen. Eine sehr umständliche Kommunikationsmethode aus einer Epoche, die nur mehr von den grauen Tafeln verarbeitet werden konnte. Dergestalt waren die technikverlassenen Kollegen immerhin durch ihr Standbild vertreten, mit dem man sich auf Augenhöhe unterhalten konnte.
Ausgerechnet Janinas Lieblingskollege, Thomas Hoppe, gehörte zu den Liebhabern der schrottreifen Anwendung. „Virtuality-Schwachsinn“ nannte er den ganzen Kram rund um die Holobrillen. Er ärgerte sich furchtbar über die, seiner Meinung nach, totale Überwachung. „Nicht nur, dass die alles wissen, was wir tun, jetzt lassen wir die das auch noch mit unseren eigenen Augen sehen!“
Deshalb habe er sich vorsichtshalber einen dieser unhandlichen und antiquierten Klappcomputer bei einer Internetauktion ersteigert, verlieh er seinen Bedenken gegenüber der unsichtbaren Bedrohung Ausdruck.
Janina hatte keine Ahnung, wen Thomas mit „die“ meinte, fragte aber auch nicht nach, weil sie sich vor ihm keine Blöße geben wollte. Sie vermutete, dass er die großen und übermächtigen Digitalkonzerne wie SoutEngeniers meinte, die, wie allgemein bekannt, nach Bill Gates‘ Tod den Softwaregiganten Microsoft übernommen hatten, und die sozialen Netzwerke von den Erben Musks und Zuckerbergs. SoutEngeniers, die als Entwicklerfirma für E.m.i.l.ezuständig zeichnete, war der Grund, weshalb Janina jetzt diesen Lehrgang besuchen musste.
Thomas‘ graue Gedenktafel kehrte ihr gerade seine Rückseite zu. Er war in ein Gespräch mit zwei silbern schimmernden Astralleibern vertieft. Lehrer, die Janina nicht kannte. Dennoch gesellte sie sich hinzu. Sogleich begrüßte ihr heimlicher Schwarm sie herzlich.
„Das sind Sylvia Faltermayr und Rolf Reimers von der Mittelschule in Simbach“, stellte Thomas seine Gesprächspartner vor.
„Janina Rudmatis, Grundschule Aiberg.“
Sie nickten einander zu.
„Wir haben gerade über den Kollegen da drüben gelästert“, flüsterte Hoppes quadratischer Kopffüßler.