Der Ruf des Drachen - Pierre Grimbert - E-Book

Der Ruf des Drachen E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Gefährlicher, düsterer, magischer – mit "Der Ruf des Drachen" ist Pierre Grimbert ein mitreißendes Fantasy-Abenteuer gelungen

Einzig ein magischer Schleier und die geheimnisvolle Bruderschaft der Weltwanderer schützen die Menschen von Gonelore vor dem Reich der Dämonen. Doch im Laufe der Jahrhunderte ist der Schleier brüchig geworden und die Bruderschaft durch Machtkämpfe und Intrigen geschwächt. Ungehindert bringen die Dämonen nun Tod und Verderben über Gonelore. Die letzte Hoffnung der Menschen ist der junge Weltwanderer Jona, der mit den Ungeheuern sprechen kann. Doch Jona verbirgt ein Geheimnis, das ganz Gonelore für immer zerstören könnte ...

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Seitenzahl: 506

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Pierre Grim­bert

Der Ruf des Drachen

Die Saga von

Licht und Schat­ten 2

Ro­man

Aus dem Französischen von Sonja Finck

und Maximilian Stadler

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Verborgen vor den Augen der Menschen spannt sich ein magischer Schleier über die Welt von Gonelore und verhindert, dass die Dämonen in das Reich der Menschen eindringen können. Seit Jahrhunderten wird der Schleier von der sagenumwobenen Bruderschaft der Weltwanderer bewacht, aber nun ist der Schleier im Schwinden begriffen und die Weltwanderer selbst sind durch Intrigen und Verrat geschwächt: Tannakis, einer der mächtigsten Weltwanderer, hat sich von der Bruderschaft abgewandt und verfolgt seine eigenen Pläne. Pläne, die die Bruderschaft für immer entzweien könnten. Noch während der Weltwanderer Vargaï versucht, Tannakis zu besiegen, greifen die Dämonen Gonelore an und hinterlassen eine Spur der Verwüstung. Die letzte Hoffnung der Weltwanderer ist ihr Meisterschüler Jona, der mit den Ungeheuern sprechen kann. Doch Jona ist der Bruderschaft noch immer ein Rätsel. Ist er dazu bestimmt, der größte Weltwanderer aller Zeiten zu werden oder stammt er vielleicht selbst aus der Welt hinter dem Schleier? Der Welt der Dämonen …

Mit seiner preisgekrönten Bestsellerserie Die Magier schuf Pierre Grimbert eine einzigartige Fantasywelt – mit Die Saga von Licht und Schatten stellt er sein Erzähltalent nun erneut unter Beweis.

Der Autor

Pierre Grimbert wurde 1970 in Lille geboren und arbeitete einige Zeit als Bibliothekar, bevor der in Bordeaux Buchwissenschaften und Publizistik studierte. Mit seinen Romanzyklen um die geheimnisvolle Insel Ji feierte er riesige Erfolge und zählt seither zu den bekanntesten Fantasyautoren Frankreichs. Für Die Gefährten des Lichts wurde er mit dem renommierten Prix Ozon ausgezeichnet. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nordfrankreich.

Weitere Informationen zu Autor und Werk erhalten Sie unter: www.pierregrimbert.com

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von Pierre Grimbert im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden sie am Ende des Bandes.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Ti­tel der fran­zö­si­schen Ori­gi­nal­aus­ga­be

LE MAGUISTRE - GONELORE 2

Deutsche Erstausgabe 01/2015

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2013 by Pierre Grimbert

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Bürosüd, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-13997-1V002

1

Dælfine schreckte aus dem Schlaf auf, als hätte sie plötzlich das Atmen vergessen, oder als hätte ihr Herz einen Schlag ausgesetzt. Reflexartig sog sie die frische Luft ein, und augenblicklich meldete sich der Schmerz – besonders das grelle Stechen an der Rückseite ihres Schädels. Sie hob die Hand, um die Stelle vorsichtig abzutasten, doch im selben Moment holte sie blitzartig die Realität ein, und vor Angst und Verzweiflung vergaß das Mädchen die Schmerzen.

Bittere Schluchzer stiegen in ihrer Kehle auf, und sie würgte und musste sich auf die Seite drehen, um den Brechreiz zu unterdrücken. Da schob sich eine Hand in die ihre; die kleinen, zarten Finger gehörten Nobiane, die von Anfang an bei ihr geblieben war. Wie lange hielt dieser Albtraum nun schon an? Höchstens ein paar Stunden, aber ihr kam es vor, als wären es Jahrhunderte. Es war, als läge sie schon seit einer Ewigkeit auf dieser Bank, die sie nicht sehen konnte, in einem Raum, den sie sich nur vorstellen konnte, umringt von Menschen, deren Kommen und Gehen sie nur mit dem Gehör wahrnahm. Eine quälende Ewigkeit, während der sie sich fragte, ob sie irgendwann wieder sehen können würde.

Mindestens zum tausendsten Mal seit den dramatischen Ereignissen der Nacht wischte sie sich die Tränen weg, riss die Augen weit auf und konzentrierte sich angestrengt darauf, etwas in diesem Meer aus Dunkelheit, das sie umgab, zu erkennen. Und sei es nur einen etwas helleren Fleck inmitten dieser undurchdringlichen Finsternis – doch vergeblich. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Sie konnte sich keine grausamere Folter vorstellen.

»Ist es … immer noch Nacht?«

Ihre Stimme, von der Müdigkeit und dem vielen Schluchzen ganz heiser, kam ihr selbst fremd vor.

Nobiane ließ einige Zeit verstreichen, bevor sie antwortete.

»Nein«, gab sie schließlich zurück. »Der Tag ist bereits angebrochen.«

Dælfine nickte bedächtig, obwohl sie nicht sicher sein konnte, dass es bemerkt wurde. Dann begann sie wieder zu weinen, dieses Mal jedoch im Stillen. Große salzige Tränen rannen ihr die Wangen hinab, während sie die Götter anflehte, mit diesen Perlen des Leids ihre Iris auszuspülen und ihr das Augenlicht wiederzugeben.

Doch leider geschah kein Wunder. Nach einigen Minuten versank das Mädchen wieder tiefer in der Finsternis, und ein abscheuliches Gefühl der Hoffnungslosigkeit ergriff von ihr Besitz. Ein Wort, ein einziges Wort beherrschte ihre Gedanken: blind. Sie war blind! Für den Rest ihres Lebens würde sie eine erbarmungswürdige Invalidin sein. Das war meilenweit von dem entfernt, wie sie sich ihr Leben als Erwachsene vorgestellte hatte.

Erinnerungen tauchten in ihrem Kopf auf, Gesichter, ihre Eltern, ihre Geschwister, geliebte Orte, alles, was sie je schön gefunden hatte. Diese Bilder waren kostbarer als je zuvor, denn künftig würden keine neuen mehr hinzukommen. Das Mädchen klammerte sich an sie wie ein Schiffbrüchiger im Sturm an ein Stück Holz, wohlwissend, dass auch diese Erinnerungen irgendwann verblassen und schließlich in den Untiefen ihres Gedächtnisses verschwinden würden. Sie war dazu verdammt, für immer allein in dieser bleiernen Dunkelheit eingesperrt zu sein. In einem bodenlosen Schlund aus Ungerechtigkeit.

Von Verzweiflung überwältigt, durchlebte sie noch einmal die Szenen des Dramas. Am Abend zuvor hatte sie auf dem Leuchtturm von Zauberranke gegen Chimären gekämpft, die die Schule der Weltwanderer überfallen hatten. Vier ihrer Kameraden hatten an ihrer Seite gefochten, ebenso ihr Lehrer, Radjaniel der Messerschleifer. Aber gegen die Chiroptide, jene riesigen Fledermäuse, die aus dem Schleier herausgeströmt waren, hatten sie keine Chance gehabt. Die Biester waren ihnen zahlenmäßig zehnfach überlegen gewesen. Und so hatte Dælfine all ihren Mut zusammengenommen, um eine Schneise in die Reihen ihrer Feinde zu schlagen und ihren Freunden einen Fluchtweg freizukämpfen. Sie hatte etwas Heldenhaftes erreichen wollen, und beinahe wäre ihr das auch gelungen.

Beinahe.

Kurz vor dem Ziel hatte sie einen stechenden Schmerz am Hinterkopf gespürt. Sie wurde kurz ohnmächtig, und als sie wieder aufwachte, lag sie am Boden, von Bestien umringt, die sich mit aufgerissenen Mäulern auf sie stürzten. Dann hatte sich ihr Blick verschleiert, und sie war erblindet. Die folgenden Minuten waren ein einziger Albtraum gewesen.

Dælfine hatte wie eine Besessene gekämpft, um sich getreten und geschlagen und in wachsender Verzweiflung geschrien, um die Tiere zu verscheuchen, die sie verschlingen wollten. Schließlich war jemand zu ihrer Rettung herbeigeeilt, Hände hatten sie gepackt und in Sicherheit gebracht.

Doch über ihre Blindheit sprach niemand. Zumindest bisher traute es sich keiner.

Kurz nach den Vorfällen hatte man ihr Bettruhe verordnet. »Ruh’ dich aus, das wird schon wieder«, hatten ihr alle versichert. Ein paar Stunden später war der Satz verkürzt worden auf: »Ruh’ dich aus.« Dieser Rat wurde manchmal noch ergänzt durch den Zusatz: »Zerbrich dir fürs Erste nicht den Kopf über all das.«

Dabei wusste sie nicht einmal, wem die Stimmen gehörten. Anfangs war Radjaniel da gewesen, doch der Professor war längst zu anderen Notfällen gerufen worden. Auch Gess und Berris waren gekommen und wieder gegangen. Jona war offenbar noch immer oben auf dem Leuchtturm, das hatte sie aus den Gesprächen geschlossen. Lediglich Nobiane war bei ihr geblieben, zweifellos auf Befehl des einen oder anderen Erwachsenen, der den Raum betreten hatte. Die beiden Schülerinnen befanden sich in einer Schreibstube in der Mitte des Turms. Man hatte ihnen gesagt, ein Heilerin werde kommen und ihre Wunden versorgen, aber die beiden Mädchen hatte die ganze Nacht vergeblich auf sie gewartet. Dælfine hatte ohnehin wenig Vertrauen zu deren Fähigkeiten. Ihr Augenlicht war schon zu lange erloschen, und das, obwohl ihre Augen unverletzt zu sein schienen. Im Gegensatz zum Rest ihres Körpers, der von Dutzenden unterschiedlich schweren Wunden übersät war. Das junge Mädchen würde alles dafür geben, noch ein einziges Mal das Tageslicht sehen zu können. Voller Sehnsucht hatte sie dem Sonnenaufgang entgegengefiebert, doch als es hell geworden war, hatte sie immer noch nichts sehen können. Womöglich würde sie nie wieder einen Sonnenaufgang sehen können!

»Gibt es hier ein Fenster? Und auf welcher Seite?«

Nobiane führte den Arm ihrer Freundin nach links. Dælfine setzte sich vorsichtig auf und drehte sich in die angegebene Richtung, doch obwohl ihr Gesicht zweifellos von Sonnenlicht angestrahlt wurde, sah sie nur eine Wand aus Dunkelheit.

»Gibt es einen Fensterladen? Ist er geöffnet?«

»Ja«, antwortete ihre Freundin leise. »Man kann das Meer sehen.«

Dælfine nickte, auch wenn Nobianes Bemerkung etwas ungeschickt war. Sie fand es schade, dass sie nicht wenigstens die Meeresbrise auf der Haut spüren oder die salzige Luft riechen konnte. Sie musste daran denken, dass es immer hieß, Blinde würden den Verlust des Augenlichts mit den anderen Sinnen ausgleichen, vor allem mit einem schärferen Gehör. Was für ein Trugschluss! Jetzt, wo ihre Gedanken nicht mehr von ihrem Blick gelenkt wurden, fühlte sie sich, als wäre sie in eine dicke Schicht Lumpen eingewickelt. All ihre Sinne waren wie gedämpft.

Mechanisch tastete sie nach dem Ledergürtel, der ihre Brust umschloss, und umklammerte das Bandelier mit beiden Händen. Es war für sie eine Boje im Ozean der Dunkelheit. Woran hätte sie sich auch sonst festhalten sollen? Dælfine hatte praktisch alles verloren, was sie besaß, noch bevor sie die Tore von Zauberranke durchschritten hatte. Selbst die Kleider, die sie am Leib trug, hatten Sohia und Radjaniel ihr gegeben. Ohnehin waren sie nach dem Kampf in miserablem Zustand, zerrissen und blutverkrustet. Das Bandelier hingegen schien intakt zu sein. Es bedeutete ihr ungeheuer viel. Seit Jahren hatte sie dem Tag, an dem sie es endlich umlegen durfte, entgegengefiebert, und sie war so stolz gewesen, es zu tragen.

Selbst jetzt, da sie den Weltwanderern die Schuld an ihrem Leid hätte geben können, hielt sie das Wahrzeichen der Bruderschaft in Ehren. Sie tastete nach ihrem Schwert aus Krebsbein, doch es hing nicht mehr an ihrem Gürtel. Vermutlich lag es immer noch irgendwo auf dem Leuchtturm unter den Kadavern der Chimären begraben.

»Es kommt jemand«, sagte sie plötzlich.

Sie war selbst überrascht, dass sie die Schritte auf der Treppe vernommen hatte. War dies ein Zeichen dafür, dass es ihr besser ging? War ihr Leid bald vorbei? Würde sie vielleicht sogar wieder sehen können?

Sie wollte sich keinen falschen Hoffnungen hingeben, aber der Impuls ließ sich nur schwer kontrollieren. Als jemand durch die Tür der Schreibstube trat und sich den beiden Mädchen näherte, flehte Dælfine die Götter stumm um ein Wunder an.

»Ich bin Jora Fionaïs, Oberste Alchimistin«, stellte sich die Unbekannte vor. »Ich konnte leider nicht früher kommen.«

Die Stimme der Frau verriet ihre Müdigkeit. Dælfine hörte, wie etwas auf dem Boden abgestellt wurde, wahrscheinlich ein Koffer oder eine Kiste. Im Inneren klirrten Glasfläschchen. Dann trat die Heilerin an das Bett der Erblindeten und berührte sie an der Schulter, doch trotz der Behutsamkeit zuckte Dælfine zusammen.

»Entschuldige«, sagte die Alchimistin. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es war eine lange Nacht, und ich hatte alle Hände voll zu tun. Ich werde vorsichtig sein. Beug dich ein wenig vor, ich muss die Wunde an deinem Kopf untersuchen. Einverstanden?«

Dælfine nickte und tat, wie ihr geheißen. Abermals schossen ihr Tränen in die Augen. Sie fühlte sich elend und schwach. Sanft tastete die Weltwanderin ihren Hinterkopf ab und sprach beruhigend auf sie ein, und Dælfine fühlte sich fast wieder wie ein kleines Kind.

Alsbald hüllte sich Fionaïs jedoch wieder in Schweigen. Offensichtlich erkannte sie, wofür ihre Dienste benötigt wurden, denn sie ließ von der Kopfwunde ab und sah der Kranken aus kurzer Distanz in die Augen. Dælfine quälte es, dass sie die Heilerin nicht sehen konnte.

Als sie es nicht länger aushielt, streckte sie vorsichtig eine Hand aus. Ihre Fingerspitzen streiften ein mit Auszeichnungen geschmücktes Bandelier und eine glatte Haarsträhne. Plötzlich hielt sie beschämt inne. Konnte man sich wirklich daran gewöhnen, nichts mehr zu sehen?

Aus tiefstem Herzen wünschte sie, dass das nicht nötig sein würde. Die Alchemistin ließ ihr fast eine halbe Stunde lang die bestmögliche Pflege zukommen. Sie reinigte die Kopfwunde, wickelte geschickt einen Verband darum und träufelte ihr eine Flüssigkeit in die Augenwinkel. Allerdings gab die Weltwanderin keinen Kommentar zum Ergebnis ihrer Untersuchung ab, und Dælfine wagte nicht, sie zu fragen, wie sie ihre Heilungschancen einschätzte. Würde sie mit der Diagnose leben können? Je mehr Zeit verging, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Augen irreparabel geschädigt waren. Doch als die Heilerin sie bat, ihr zerfetztes Hemd auszuziehen, damit sie die anderen Wunden behandeln könne, konnte sich Dælfine nicht länger zurückhalten.

»Wird … wird es vorbeigehen? Werde ich wieder sehen können?«

Es kam ihr vor, als ließe sich die Weltwanderin eine Ewigkeit Zeit mit der Antwort. Da Dælfine ihre Miene nicht sehen konnte, stellte sie sich vor, dass ihr Müdigkeit und Mitleid ins Gesicht geschrieben standen.

»Das kann niemand sagen«, erwiderte die Heilerin schließlich.

Die Worte durchbohrten das Mädchen wie scharfe Klingen. Sie fröstelte, obwohl sie das Hemd noch nicht ausgezogen hatte.

»Die Kopfwunde ist nicht besonders tief«, erklärte die Heilerin weiter. »Aber die Schwellung darum herum zeigt, dass du einen gewaltigen Schlag abbekommen haben musst. Es ist eher der Schock, nicht die Verletzung, der diese … Folgen hatte. Leider kann man ein solches Leiden nicht mit irgendeinem Trunk behandeln. Der menschliche Geist ist zu komplex, zu zerbrechlich. Kein Elixier ist stark oder raffiniert genug, um etwas gegen solche Schäden ausrichten zu können.«

Dælfine nickte düster. Abermals liefen ihr Tränen über das Gesicht. Sie spürte, wie ihr Nobianes Hand über den Rücken strich. Dann kam Fionaïs Hand hinzu, größer und wärmer.

»Ich kann dich nicht belügen«, sagte die Heilerin seufzend. »Das wäre grausamer als die Wahrheit. Aber auch wenn dir Medikamente nicht helfen können, darfst du die Hoffnung auf eine natürliche Heilung nicht aufgeben. Niemand kann sagen, wann oder ob es passieren wird. Wir müssen Geduld haben. Dir wird es bestimmt besser gehen, sobald du nach Hause kommst, zurück in deine vertraute Umgebung.«

Dælfine nickte wieder, doch die Worte trösteten sie nicht. Im Gegenteil – gerade hatte man ihr bestätigt, dass sie Zauberranke würde verlassen müssen. Natürlich war das nur logisch, auf tragische Weise vorhersehbar. Man würde das verwundete Mädchen einfach seinen Eltern übergeben. Am Ende würden diese auf der Straße landen, weil ihre Tochter gescheitert war. Sie würde nie Weltwanderin werden. Nie würde sie den Wucherern, die die Herberge ihrer Eltern pfänden wollten, das Bandelier der Bruderschaft unter die Nase halten können. All ihre Träume wären zerstört, all ihre Opfer umsonst gewesen. Schlimmer noch: Sie würde dazu beitragen, die finanzielle Not ihrer Familie noch zu verschärfen. Ein blindes Kind war eine große Belastung. Ein nutzloser Mund mehr, der gefüttert werden musste.

Das war natürlich ein hartes Urteil, und Dælfine war zweifellos die Einzige, die das Ganze auf diese Weise sah, aber sie konnte nicht anders. Während Jora Fionaïs die Wunden an ihrem Oberkörper, ihren Armen und Beinen behandelte, gab sich Dælfine ihren düstersten Vorstellungen hin.

Wie hätte sie sich in der dunklen Welt, die sie jetzt umgab, auch anders fühlen können? Wie konnte man in einer so aussichtslosen Lage nicht mit dem Gedanken spielen, allem ein Ende zu bereiten? Natürlich wäre das feige, aber das war ihr in diesem Moment egal. Es gab keinen tieferen Abgrund als den, in dem sie sich bereits befand.

Die Heilerin widmete sich eine weitere halbe Stunde den Wunden, die die Chiroptide auf ihrem Körper hinterlassen hatten. Während dieser Zeit wurde kein einziges Wort gewechselt. Das Schweigen wurde erst gebrochen, als die Heilerin Nobiane bat, ihr ihre Wunden zu zeigen. Das rothaarige Mädchen legte sich gehorsam neben ihre Freundin auf die Bank, und beide hingen ihren Gedanken nach.

Dælfine konnte an nichts anderes denken als an die Tragödie der vergangenen Nacht, ihr eigenes Leid und die Ungerechtigkeit der Welt. Mittlerweile bedauerte sie ihre tollkühne Aktion. Sie hätte den Alleingang niemals wagen dürfen, sondern Radjaniel Bescheid geben und ihn um Hilfe bitten sollen. Wäre sie schneller und geübter im Kampf gewesen, wäre sie kein so leichtes Opfer für die Chiroptiden gewesen.

Unglücklicherweise würde sie diese Bilder wohl nie wieder loswerden. Es waren die letzten, die sich in ihre Netzhaut gebrannt hatten. Der Angriff würde ihr bis ins kleinste Detail im Gedächtnis bleiben. Die gierigen Mäuler der Bestien über ihr … Ihre Umrisse vor dem sternenklaren Himmel … Ihre Erregung angesichts ihrer Beute, die ihnen hilflos ausgeliefert war.

Dælfine musste nicht einmal die Augen schließen, um die Szene abermals zu durchleben. Sie erinnerte sich so genau daran, dass sie die Schreie der Chimären immer noch im Ohr hatte. Bei diesem letzten Gedanken zuckte sie plötzlich zusammen. In der Schreibstube war es ruhig, aber das Mädchen meinte, ein vage bekanntes Geräusch vernommen zu haben. Wie das Fiepen einer Maus oder das einer Ratte. Noch war es schwach, aber es schien sich dem Fenster von außen zu nähern. Als Dælfine das Geräusch erkannte, war sie im ersten Moment wie vom Donner gerührt. Dann versetzte ihr die Panik einen Energieschub.

»Dein Schwert«, rief sie Nobiane zu. »Schnell!«

Ohne auf die Reaktion ihrer Freundin zu warten, tastete sie fiebrig nach der Waffe, fand sie und packte den Griff.

»Was hast du …?« Die Heilerin kam nicht dazu, die Frage zu beenden.

Die Kreatur, die Dælfine gehört hatte, tauchte im Fenster auf, nachdem sie offenbar die Außenmauer hinaufgeklettert war. Der Schrei, den sie ausstieß, war unverkennbar der eines Chiroptiden, was Dælfine mit Hass und Wut erfüllte. Obwohl sie immer noch nichts sehen konnte, sprang sie von der Bank, streckte einen Arm aus, um zu überprüfen, wo sich die Heilerin befand, und schlug mit dem Schwert in die Richtung, in der sie die Bestie vermutete.

Die spitzen Schreie des Chiroptiden, der wütend versuchte, sich von dem Schwert zu befreien, das ihn durchbohrt hatte, schenkten ihr große Befriedigung. Dælfine hielt dagegen, obwohl ihr die Chimäre mit ihren scharfen Krallen das Handgelenk blutig kratzte. Sie trat einen Schritt vor und schob die Bestie über die Kante, stützte sich dann auf dem Fensterbrett ab, zog das Schwert aus dem Leib ihres Opfers und ließ die sterbende Bestie in die Tiefe stürzen.

Anschließend drehte sie sich zu den anderen um und hoffte, dass sie in die richtige Richtung sprach: »Ich werde Zauberranke nicht verlassen«, rief sie. »Nicht bevor ich eine richtige Weltwanderin bin. Selbst eine Blinde muss doch zu irgendetwas zu gebrauchen sein.«

Weder Nobiane noch Jora Fionaïs antworteten ihr. Ihnen hatte der Vorfall die Sprache verschlagen. Wenn Dælfine sich hätte sehen können – mit ihrem bandagierten Körper, den tränennassen Wangen, dem Bandelier vor der bebenden Brust und dem blutigen Schwert in der Hand – hätte sie sich vor sich selbst gefürchtet.

2

Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende«, stöhnte Berris.

Gess biss die Zähne zusammen und blieb stumm. Er war nicht minder erschöpft, zwang sich aber, es zu verbergen. Der Anführer ihrer Patrouille, ein Fünftkreisler, brachte ihnen auch so schon genug Verachtung entgegen. Er hatte sich ihnen nicht einmal vorgestellt und murmelte in regelmäßigen Abständen, dass er ohne die beiden Klötze am Bein viel schneller vorankäme. Und natürlich nutzte der arrogante Kerl die Vorlage, die Berris ihm bot: »Dann hau doch ab, du Wicht«, schimpfte er. »Dann sind wir dich endlich los!«

»Aber wir sollen bei dir bleiben«, entgegnete Berris. »Das hat Radjaniel gesagt!«

»Wozu?«, höhnte der ältere Junge. »Ich mache die ganze Arbeit. Ihr habt noch keinen einzigen Schlag mit euren Krebsschwertern ausgeführt. Sie dienen wohl nur der Dekoration!«

»Du gehst die ganze Zeit vor uns her«, warf Gess ein. »Außerdem, wenn du es unbedingt wissen musst: Wir waren es, die der Schlacht die entscheidende Wendung gegeben haben.«

»Na klar!«

Der angehende Weltwanderer beschleunigte kopfschüttelnd seine Schritte, und die beiden Erstkreisler mussten sich sputen, um nicht den Anschluss zu verlieren.

Gess hatte die Nase voll von dieser »Mission«. Doch er hatte keine Wahl – weigern konnte er sich nicht. Nachdem die Mitglieder des Hohen Rats den Leuchtturm wieder in Betrieb genommen und die schützende Lichtkuppel über Zauberranke wieder aufgeflammt war, hatte man die unverletzten Schüler damit beauftragt, die verbliebenen Chimären, die nun auf dem Schulgelände eingeschlossen waren, aufzuspüren und zu töten. Auch die neuen Rekruten wurden zu der Arbeit herangezogen, unter der Aufsicht und dem Schutz eines älteren Schülers. Was zunächst wie eine gefährliche Mission gewirkt hatte, erwies sich lediglich als zeitraubende, mühsame Plackerei. Sie verbrachten Stunden damit, das Gebüsch zu durchkämmen. Nach dem erbitterten Kampf und der schlaflosen Nacht waren die Jungen am Ende ihrer Kräfte.

»Wir sind sowieso fast fertig mit unserem Gebiet«, schnaubte der Möchtegern-Anführer. »Bald könnt ihr Hosenscheißer euch wieder unter eurem Bett verstecken.«

Berris warf ihm einen finsteren Blick zu, und Gess zeigte dem älteren Jungen den Mittelfinger, natürlich hinter dessen Rücken. Könnten sie ihm doch nur die Wahrheit ins Gesicht sagen! Könnten sie ihm doch nur erzählen, wie sie sich mit ihrem Lehrer in den Leuchtturm eingeschlichen hatten, gegen eine Überzahl Chimären gekämpft und die Schule gerettet hatten! Ohne sie hätte die Katastrophe, die über Zauberranke hereingebrochen war, noch viel schlimmer geendet. Gess fand, dass er im Grunde ein richtiger Held war, und so wollte er auch behandelt werden. Allerdings hatte Radjaniel sie gebeten, niemandem etwas davon zu erzählen. Zumindest nicht, bis alle Rätsel um den Verrat des Leuchtturmwärters Zakarias gelöst waren.

Wenigstens würden sie den Anführer ihrer Patrouille nicht mehr lange ertragen müssen. Man hatte ihnen eine unbesiedelte Gegend der Halbinsel zugeteilt, ein von Gestrüpp bewachsenes Hochmoor, aus dem hier und da ein paar Dornenbüsche herausragten.

Dreimal waren sie in den letzten Stunden auf Chiroptide gestoßen, die sich ins Gebüsch kauerten, und jedes Mal hatte der ältere Junge sie mit seinem Speer durchbohrt. Es war eine grausame Jagd, aber schließlich hatten die Bestien Dutzende Schüler getötet, und man konnte sie nicht einfach auf dem Schulgelände herumstreunen lassen. Sie zurück hinter den Schleier zu treiben, war unmöglich, denn die Chimären konnten die schützende Lichtkuppel, die sich über Zauberranke spannte, nicht verlassen. Doch Gess hatte kein großes Mitleid mit den Kreaturen. Bei der Erinnerung daran, was sie Dælfine angetan hatten, verging ihm jede Lust, Gnade vor Recht walten zu lassen.

»Seht mal dort drüben nach«, befahl ihr Anführer. »Ich kümmere mich um den Hain da hinten.«

Gess zuckte mit den Schultern und schlenderte lustlos zu einem großflächigen Dornengebüsch hinüber, das ihnen zugewiesen worden war. Es bestand keine große Gefahr, hier auf einen Chiroptid zu stoßen. Wollte der Fünftkreisler die neuen Rekruten beschützen? Oder sie als Schwächlinge dastehen lassen, indem er alle Chimären, die sie aufspürten, selbst erlegte? Wahrscheinlich ein wenig von beidem. Für ihren Schutz sorgte er aber vermutlich nur deshalb, weil der Hohe Rat ihn zur Rechenschaft ziehen würde, sollten die Erstkreisler verletzt werden.

Die beiden Jungen machten sich an die Arbeit – schließlich wollten sie nicht auch noch als Feiglinge beschimpft werden. Sie arbeiteten sich von beiden Seiten des Dornengebüschs zur Mitte vor, wobei sie sich mit ausholenden Armbewegungen durch die Ranken kämpften. In den vergangenen Stunden waren sie ein Dutzend Mal auf dieselbe Weise vorgegangen und hatten nichts als Kaninchen und Mäuse aufgescheucht. Dieses Mal schien es genauso zu verlaufen, doch als Gess unter einem Haufen Gestrüpp schwarze Haut hervorschimmern sah, schrie er überrascht auf. Berris, der ein paar Meter von ihm entfernt stand, warf ihm einen fragenden Blick zu und erbleichte, als er die Angst im Gesicht seines Freunds sah. Rasch kämpfte sich Berris zu Gess vor, der immer noch starr vor Entsetzen auf seine Entdeckung hinunterblickte.

»Wir sollten den Großen rufen«, flüsterte Berris. »Vielleicht verstecken sich hier noch mehr von den Bestien.«

Gess nickte, ging aber nicht auf Berris Vorschlag ein. Dazu war er viel zu stolz, auch wenn sie der Alleingang möglicherweise teuer zu stehen kommen würde. Allerdings war sich Gess ziemlich sicher, es nur mit einer einzigen Bestie zu tun zu haben. Zwar konnte er nicht von sich behaupten, nach einer einzigen durchkämpften Nacht ein erfahrener Chimärenjäger zu sein, aber er hatte bereits genug von den Kreaturen gesehen, um seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

»Nein, es ist nur eine, und sie ist verwundet«, sagte er beruhigend. »Sie hat sich hier verkrochen, um nicht von den anderen gefressen zu werden. Sie hat uns bemerkt, macht aber keine Anstalten, zu fliehen oder uns anzugreifen.«

Er nahm all seinen Mut zusammen, trat einen Schritt vor und schob die Blätter mit der Schwertspitze auseinander. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt und alle seine Sinne hellwach, und er wusste, dass es Berris nicht anders ging. Ihre Müdigkeit war verflogen.

»Sei vorsichtig«, flehte Berris.

»Keine Angst.«

Hinter der Fassade der Gelassenheit spürte Gess, wie sein Puls in die Höhe schnellte, als die Kreatur sichtbar wurde. Es handelte sich tatsächlich um einen Chiroptid. Er war von mittlerer Größe, nur wenig größer als die beiden Schüler. Die Chimäre wies keine sichtbaren Verletzungen auf, lag aber auf der Seite und verdeckte ihre Hinterbeine mit den ledrigen, schwarzen Flügeln. Sie keuchte vernehmlich.

»Es ist ein Weibchen«, sagte Berris unvermittelt.

Seine Worte überraschten Gess in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hatte er nicht erwartet, dass sein kräftiger Freund, der nicht gerade für seine Klugheit bekannt war, so etwas wusste. Zum anderen hätte er sich nicht träumen lassen, dass sich die Chimären, die jenseits des Schleiers lebten, wie alle Tierarten, die in Gonelore vorkamen, in zwei Geschlechter aufteilten. Doch Berris hatte recht: Die Chimäre hatte vier Paar schwarzer Brustwarzen, die sich unablässig hoben und senkten. Jetzt gerade standen sie deutlich hervor.

»Sie ist trächtig«, sagte Berris. »Sie steht kurz davor, Junge zu kriegen.«

Gess stand wie angewurzelt da. Er schluckte. Seine Schwertspitze schuf immer noch eine Lücke zwischen den Blättern, durch die sie die Kreatur beobachteten. Eigentlich hätte er ihr damit das Herz durchbohren müssen, doch trotz seines Hasses auf die Viecher war er dazu nicht in der Lage. Nicht in diesem Augenblick, nicht auf diese Art.

Auch Berris rührte sich nicht. Beide beobachteten stumm und reglos eine Szene, die nur sehr wenige Menschen je miterlebt hatten.

Fünf Minuten später schob sich der Anführer ihrer Patrouille durch das Gestrüpp und fragte unwirsch, was sie da eigentlich trieben. Als er die Chimäre erblickte, hob er seinen Speer, um zuzustoßen.

»Warte«, rief Gess.

»Neiiin!«, schrie Berris im selben Moment.

Der dicke Junge sprang vor und stellte sich zwischen die erhobene Waffe und die Chimäre. Seine Flinkheit verblüffte sowohl Gess als auch den Anführer. Der ältere Junge wollte ihn schon beiseite stoßen, hielt dann aber angesichts seines finsteren Gesichtsausdrucks inne. Nach kurzem Schweigen stieß er ein verächtliches Lachen aus.

»Wie du willst«, sagte er. »Das ändert ohnehin nichts.«

Er ließ seine Waffe sinken und stellte sich grinsend neben die beiden Jungen. Offenbar war er bereit, dem Chiroptid einen Aufschub zu gewähren, und die beiden Jungen richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Lücke im Gebüsch.

Sie mussten nicht mehr lange warten. Einige Minuten später krampfte sich der Körper der Chimäre zusammen, und gleich darauf brachte sie ihre Jungen zur Welt. Die Schüler konnten die Geburt nicht direkt mitverfolgen, da die Chimäre ihren Unterleib mit den Flügeln verdeckte. Doch nach einer Weile hob der Chiroptid seinen ledrigen Flügel, und sie entdeckten vier winzige, nasse Knäuel, die bereits versuchten, die Dornenranken zu erklimmen und kaum hörbare Schreie ausstießen.

Ihr Anblick machte Gess völlig ratlos. Was nun? Der Befehl, den die Patrouille erhalten hatte, war eindeutig gewesen. Doch er hatte Menschen, die Katzenjungen nach der Geburt töteten, schon immer verachtet. Könnten sie die Kreaturen nicht wenigstens irgendwo außerhalb der Schule aussetzen? Doch vermutlich waren sie auf ihre Mutter angewiesen, um zu überleben, und diese würde sich wohl nicht ohne Weiteres zum Tor von Zauberranke bringen lassen. Allzu lang musste sich Gess jedoch den Kopf über diese Frage nicht zerbrechen. Das Schicksal – oder vielmehr der Chiroptid – nahm ihm die Entscheidung ab. Plötzlich richtete sich die Kreatur auf und stürzte sich auf ihren eigenen Nachwuchs. Das Kleine, das sie mit den Zähnen packte, kam nicht einmal mehr dazu aufzuschreien, bevor sie ihm die Knochen brach und seinen zerschundenen Körper ausspuckte. Das zweite, das sie unter ihrem krallenbewehrten Fuß zerquetschte, stieß einen letzten qualvollen Schrei aus.

Die verbliebenen zwei Jungtiere folgten ihrem Instinkt und ergriffen die Flucht, indem sie zwischen den Dornen hindurchkrochen und sich mit verzweifelten Sprüngen zu retten versuchten.

Gess widerte der Anblick dermaßen an, dass er sich nicht rührte, als der ältere Junge abermals den Speer hob. Auch Berris unternahm diesmal nichts, um ihn aufzuhalten.

»Mistvieh!« Mit diesem Ruf stieß er mit der Waffe zu und tötete die Chimäre mit einem gezielten Treffer. Die Kreatur bäumte sich ein letztes Mal auf und ließ das Junge fallen, das sie bis zuletzt in ihren Klauen gehalten hatte. Die beiden Überlebenden nutzten die Chance und verkrochen sich rasch in einen schützenden Haufen Gestrüpp.

»Das hätten wir!«, rief der ältere Schüler mit einem bösartigen Grinsen. »Jetzt müsst ihr nur noch die beiden Bastarde einfangen und ihnen den Hals umdrehen. Dann ist unsere Mission beendet.«

Nach diesen Worten schlenderte er mit der arroganten Haltung eines Siegers davon, den Speer auf der Schulter. Diesmal gab Gess keine bissige Antwort. Er kam sich selbst ein wenig dumm vor.

»Was nun?«, fragte er. »Stellen wir uns zu beiden Seiten des Gebüschs auf und warten, bis sie herauskommen? Oder suchen wir alle Dornensträucher ab?«

Ihm kam auch der Gedanke, alles in Brand zu setzen, aber das wäre wohl doch etwas übertrieben.

»Warum die Mühe?«, fragte Berris. »Wir könnten es auch einfach darauf beruhen lassen. Das sind doch nur harmlose Jungtiere …«

Gess musterte ihn, um herauszufinden, ob er es ernst meinte. Ihm fiel auf, dass sein Freund verstohlen auf einen Dornenhaufen ganz in der Nähe schielte. Nun entdeckte auch er durch die Blätter hindurch eines der Chiroptidenjungen. Berris versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Ich habe eine Abneigung dagegen, Lebewesen zu töten«, gestand er. »Die hier haben doch nichts verbrochen!«

»Du hast eine Abneigung dagegen, Lebewesen zu töten«, wiederholte Gess ungläubig. »Was suchst du dann bei den Weltwanderern?«

Berris antwortete mit einem Achselzucken und einem schiefen Grinsen. Gess hakte nicht weiter nach. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Gründe, warum er nach Zauberranke gekommen war. Er selbst wollte sich hier vor seinen ehemaligen Lehrern verstecken, die ihn gezwungen hatten, als Dieb zu arbeiten, und gleichzeitig für seine Missetaten büßen. Es stand ihm also nicht zu, Berris eine Moralpredigt zu halten.

»Aber wir können die Viecher nicht einfach hier zurücklassen«, sagte er. »Sie haben keine Möglichkeit, aus Zauberranke herauszukommen. Früher oder später wird sie jemand bemerken, und dann bekommen wir großen Ärger. Außerdem werden sie wachsen und irgendwann jemanden angreifen.«

Berris schielte auf das kleine Wesen zu seinen Füßen.

»Überlass die beiden mir«, sagte er. »Warte vor dem Gebüsch auf mich, ich kümmere mich um den Rest.«

Nach kurzem Nachdenken nickte Gess und stapfte davon. Er war nicht sicher, ob er die richtige Entscheidung traf, aber er hatte keine Lust, mit Berris zu streiten. Zwar waren sich die beiden Jungen während der langen Reise nach Zauberranke nicht gerade grün gewesen, doch die Ereignisse der letzten Nacht hatten sie zusammengeschweißt. Und wer weiß, vielleicht hatte der so behäbig wirkende Junge ja verborgene Talente. Insgeheim fragten sich alle, warum Vargaï ausgerechnet ihn als Schüler rekrutiert hatte, aber ihr Lehrer hatte sicher gute Gründe, die sich ihnen irgendwann offenbaren würden.

Schnelligkeit gehörte jedenfalls nicht zu Berris’ ungeahnten Fähigkeiten. Nach zehn Minuten war er immer noch nicht aus dem Gebüsch aufgetaucht.

Allmählich verlor er die Geduld und rief: »Bist du noch da? Hältst du etwa ein Nickerchen in den Dornen, oder was?«

»Ich komme gleich …«

Doch es dauerte weitere fünf Minuten, während denen er unverständliche Worte flüsterte, raschelnd in den Blättern herumstöberte und leise fluchte, wenn er sich an den Dornen stach. Schließlich kam er mit hochrotem Gesicht und außer Atem zu Gess getrottet.

»Erledigt?«, erkundigte der sich.

»Erledigt«, antwortete Berris. »In unserem Gebiet gibt es keine Chimäre mehr, versprochen!«

Gess nickte zweifelnd. Sein Freund war noch ein wenig rundlicher als sonst. An zwei Stellen beulte sich sein Hemd, und diese Beulen bewegten sich ganz eindeutig. Hin und wieder stießen sie sogar leise Schreie aus.

Gess seufzte, beschloss dann aber, so zu tun, als würde er nichts bemerken. Er hoffte nur, er würde seine Entscheidung nicht schon bald bereuen …

3

Sohia verzog das Gesicht und zerrte abermals an dem Verband, der ihr beinahe mehr Schmerzen bereitete als die Wunde, die er bedeckte. Nach den schrecklichen Ereignissen dieser Nacht hatte die Heilerin nicht für alle Verletzten Zeit gehabt, und so hatten sich die Weltwanderer gegenseitig verbunden. Der Jorensan, der sich um ihr Schlüsselbein gekümmert hatte, hatte die Bandage so festgezurrt, dass sie ihren Arm kaum noch spürte. Sie beschloss, den Verband abzunehmen, obwohl die Verletzung natürlich noch nicht verheilt war. Erleichtert entfernte sie den Stoff, auch wenn sie sich jetzt äußerst vorsichtig bewegen musste, damit die Wunde nicht wieder zu bluten begann. Doch das war nicht allzu schwierig. Seit geschlagenen zwanzig Minuten saß sie nun schon auf der Bank im großen Versammlungssaal von Zauberranke, einem Amphitheater, das sich in der Festung unterhalb des Leuchtturms befand.

Alle Lehrer, die nicht mit einer bestimmten Aufgabe betraut waren, zum Beispiel der Versorgung der Verwundeten oder der Verfolgung der verbliebenen Chimären, hatten sich dort auf Anweisung des Magisters einzufinden. Das Amphitheater füllte sich nach und nach mit Weltwanderern. Alle gingen unterschiedlich mit der Katastrophe um, die über sie hereingebrochen war. So konnte man Wut oder Trauer, trotzige Zuversicht oder Misstrauen, Rachsucht oder Resignation in ihren Gesichtern lesen. Alle waren vor Erschöpfung und vom Schmerz angesichts des Tods von Freunden oder Schülern gezeichnet, und manche auch von körperlichen Verletzungen, die nie wieder ganz verheilen würden.

Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Überall wurde hitzig diskutiert oder hemmungslos geweint, und so wurde es allmählich immer lauter im Saal. Sohia wäre viel lieber zu ihren Schülern zurückgekehrt, statt hier nutzlos herumzusitzen. Zum Glück hatten alle überlebt, auch wenn zwei von ihnen wohl ein paar Tage brauchen würden, um wieder auf die Beine zu kommen. Im Augenblick befanden sie sich wie fast alle Schüler in der Obhut von Fünftkreislern, und Sohia würde sich wohl bis nach der Versammlung gedulden müssen.

Als die Mitglieder des Hohen Rats den Saal betraten, seufzte sie erleichtert. Endlich würde die Versammlung beginnen. Als die Würdenträger von Zauberranke an einem Tisch in der Mitte Platz nahmen, trat allmählich Stille ein. Bei Denilius’ Erscheinen erhob sich einiges Gemurmel. Der Magister war fast sechs Wochen lang fort gewesen, und viele Weltwanderer hatten ihn in der Nacht noch nicht zu Gesicht bekommen. Jetzt konnten sie sich endlich vergewissern, dass er tatsächlich zurück war.

Kurz darauf entstand neuer Aufruhr, als sich Radjaniel zu den Ratsmitgliedern gesellte. Für die meisten Lehrer war der Messerschleifer nichts als ein alter Säufer, der aus Gewohnheit oder Mitleid in Zauberranke geduldet wurde. Wie hatte er es nur geschafft, Mitglied des Hohen Rats zu werden? Als der Hüter des Zeughauses am Rande des Tisches Platz nahm, verstummte das Getuschel. Dieser Stuhl war den Beratern vorbehalten, und das bedeutete, dass der Trunkenbold als Zeuge geladen war. Man konnte ihn also getrost weiterhin verachten. Sohia beteiligte sich selbstverständlich nicht an dem Getratsche. Sie wusste, dass Radjaniel in der Schlacht eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Er hatte sich bis auf die Spitze des Leuchtturms vorgekämpft, und so war es ihm zu verdanken, dass die schützende Lichtkuppel wieder eingeschaltet werden konnte. Und vorher hatte er ihren Schülern das Leben gerettet. Seither achtete sie ihn nicht weniger als Vargaï, ihren ehemaligen Lehrer. Jetzt verstand Sohia endlich, warum der alte Weltwanderer sein Vertrauen Radjaniel geschenkt hatte.

Das konnte man jedoch nicht von allen Mitgliedern des Hohen Rats sagen. Die sechs Würdenträger saßen vor zwölfmal so vielen Weltwanderern und warteten darauf, dass endlich Stille einkehrte. Keiner von ihnen schien in der Nacht verletzt worden zu sein, und wenn doch, verbargen sie ihre Wunden gut. Das war eine erste Nachricht an alle Weltwanderer: Sie dürften sich von den Ereignissen nicht aus der Fassung bringen lassen. Der Hohe Rat war noch da, und die Lehrer konnten sich auf ihn verlassen. Auch wenn der leere Stuhl von Zakarias, dem Verräter und Verursacher der Tragödie, ihnen nur zu deutlich vor Augen hielt, dass nichts mehr so war wie zuvor.

»Jorensans und Joransames«, begrüßte Denilius die Anwesenden. »In diesen schrecklichen Stunden fällt es mir schwer, mich über meine Rückkehr zu freuen. Natürlich bin ich froh, euch alle wiederzusehen, aber mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was unserer Schule widerfahren ist. Angesichts der Schwere unserer Verluste kann ich leider kein Glück empfinden.«

Er wandte sich dem ältesten Ratsmitglied zu, dem Obersten Schreiber, der neben ihm saß, und erteilte ihm das Wort.

»Jor Selenimes, wenn Ihr so freundlich wärt …«

Der Alte nickte, und jeder konnte seine Erschöpfung und seinen Kummer sehen. Nach zwei misslungenen Versuchen, sich vor der Versammlung zu erheben, blieb er sitzen und entrollte mühsam ein Pergament.

»Das ist die schwierigste Aufgabe, die ich in Ausführung meines Amts je zu bewältigen hatte«, verkündete er mit zittriger Stimme. »Ich verlese nun die Liste mit allen Opfern, die mir bisher gemeldet wurden.«

Die Reihe der Namen, die er nun vorlas, wollte kein Ende nehmen. Jeder Name verursachte im Publikum die unterschiedlichsten Reaktionen: Ausrufe des Unglaubens, lautes Schluchzen oder ein Fausthieb auf eine Bank. Sohia selbst war mit drei der verstorbenen Weltwanderer zur Schule gegangen, und ihr Tod erschütterte sie sehr. Noch stärker allerdings traf sie die Anzahl der Schüler, die den Chimären zum Opfer gefallen waren; es waren so viele!

Endlich ließ Selenimes das Pergament sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Sohia bewunderte ihn dafür, dass er die düstere Bestandsaufnahme ausgeführt hatte, ohne sich eine einzige Pause zu gönnen. Nach kurzem, spannungsgeladenem Schweigen straffte Denilius die Schultern und verkündete: »Die Liste muss noch durch die achtzehn Namen der Seeleute ergänzt werden, die auf dem Schiff starben, das mich nach Zauberranke zurückgebracht hat. Ich werde diese Unglücklichen nicht vergessen, und das sollte niemand von uns. Aber als Magister trauere ich natürlich vor allem um die Mitglieder unserer Bruderschaft. Aus unseren Reihen gab es dreiundachtzig Opfer. Dreiundachtzig Menschenleben wurden brutal beendet, und siebenundsechzig davon waren Schüler, größtenteils Erst- und Zweitkreisler. Wir haben diese Kinder aus allen Ländern Gonelores zu uns geholt und geschworen, sie zu beschützen. Es waren Unschuldige, die den Beruf des Weltwanderers von uns lernen wollten. Gonelore selbst trauert an diesem Morgen um seine jungen Schützlinge, und unsere Welt ist in größerer Gefahr als je zuvor.«

Alle Versammelten schwiegen betroffen, und Sohia ging durch den Kopf, wie recht der Magister hatte. Jeder von ihnen ahnte, wie schlimm es um sie stand, aber Denilius hatte wieder einmal die passenden Worte gefunden. Wie immer hatte alles, was der Magister tat oder sagte, etwas Pathetisches an sich. Das war nicht einmal seine Absicht, aber mit seinem hohen Wuchs, seinem ernsten Gesicht, dem langen roten Haar, das ihm auf die grüne Robe wallte, und nicht zuletzt wegen der Streitaxt, die an seiner Hüfte baumelte, flößte er ganz einfach Ehrfurcht ein.

Sohia vergaß manchmal, dass der Magister der ältere Bruder von Vargaï war. Das Einzige, was die beiden gemeinsam hatten, waren ihre Beharrlichkeit und ihre Hingabe an die Bruderschaft.

»In diesen leidvollen Zeiten«, fuhr Denilius fort, »müssen wir uns vor allem der Unglücklichen annehmen, die immer noch zwischen Leben und Tod schweben. Ich bete zu allen Göttern, dass jeder von ihnen den Kampf gegen das Schicksal gewinnt. Doch selbst dann sind die meisten dieser tapferen Seelen für Zauberranke verloren. Mindestens elf unserer Schüler werden ihr Leben lang von ihren Verletzungen gezeichnet bleiben und zu ihren Familien zurückkehren müssen. Und wie viele andere, die das Glück hatten, den Chimären zu entkommen, werden die Schule verlassen und das Bandelier ablegen? Gut fünfzehn Fälle sind mir bereits gemeldet worden. Weitere werden sicherlich folgen. Das Fortbestehen der Bruderschaft steht abermals auf dem Spiel, gerade jetzt, wo die Welt sie am dringendsten braucht. So lautet die traurige Bilanz einer Schlacht, wie sie Gonelore seit dreißig Jahren nicht mehr erlebt hat. Niemand kann sagen, wir seien siegreich daraus hervorgegangen – nicht angesichts all der toten Körper, die nun am Strand aufgebahrt sind.«

Der Magister legte abermals eine Pause ein, und wieder senkte sich schwere Stille über den Saal. Offenbar hatte er die Lehrer nicht versammelt, um ihnen Mut zuzusprechen oder ihnen für ihre Heldentaten zu gratulieren. Doch lange blieb es nicht stumm, dazu waren die Gemüter zu erhitzt.

»Und was nun, Jorensan?«, rief jemand. »Sagt uns endlich, was Ihr von uns erwartet! Ich selbst habe zwei Schüler verloren. Wollt Ihr mich etwa von Neuem auf die Reise schicken, um neue Rekruten zu finden?«

Denilius warf dem Fragenden einen finsteren Blick zu, um ihn für seine Kühnheit zu strafen. Selbst in dieser außergewöhnlichen Lage war es streng verboten, ein Mitglied des Hohen Rats anzusprechen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

»Ich verstehe Eure Erregung, Jor Borgane, ja ich teile sie sogar. Dennoch ist es in diesen schlimmen Zeiten wichtig, dass jeder von uns die Gesetze und Traditionen der Bruderschaft respektiert. Wir müssen unseren Schülern mit gutem Beispiel vorangehen. Um Eure Frage zu beantworten … Nein, wir werden uns nicht nach neuen Rekruten umsehen. Zumindest nicht mehr in diesem Jahr. Jor Arold, bitte …«

Der Oberste Hüter stand auf, rückte sein Monokel zurecht und räusperte sich. Sohia war der Mann schon immer zuwider gewesen, doch einige Stunden zuvor war sie Zeuge geworden, wie er Denilius in die Arme gefallen war. Unsicher, was das zu bedeuten hatte, beschloss sie, ihm noch eine Chance zu geben.

»Wir werden einige Umverteilungen vornehmen«, erklärte er. »Alle Schüler, die in Zauberranke bleiben wollen und ihre Lehrer verloren haben, werden einem anderen Lehrer zugeteilt. Natürlich darf niemand mehr als fünf Schüler aufnehmen, diese Regel bleibt bestehen. Auch Wachdienste, Arbeiten für die Gemeinschaft und Lehrtätigkeiten werden auf alle verbliebenen Schultern verteilt. Und der Rat ermutigt all jene von Ihnen, die dazu imstande sind, den Unterricht so schnell wie möglich wieder aufzunehmen.«

Mit diesen Worten nahm er wieder Platz, aber ungeachtet dessen schossen mehrere Hände in die Luft. Jeder hatte eine Frage bezüglich der neuen Maßnahmen, jeder hielt sich für einen Sonderfall, und Jor Arold würde alle Hände voll zu tun haben, die Gemüter zu beschwichtigen. Sohia hatte beinahe Mitleid mit dem Monokelträger. Doch sie konnte nicht vergessen, wie despotisch und arrogant er sich aufgeführt hatte, als er einige Wochen lang das Amt des Magisters innegehabt hatte.

»Jor Gregerio, Ihr seid an der Reihe«, verkündete Denilius.

Der Angesprochene, der mit überkreuzten Beinen dagesessen hatte, erhob sich und strich sich über seinen Oberlippenbart. Wie seine Vorgänger wirkte er nicht überrascht, dass Denilius ihn aufgerufen hatte. Offenbar hatten sich die Ratsmitglieder vorher abgesprochen, um nach den Wirren der letzten Nacht Geschlossenheit zu demonstrieren. Ihre Diskussion war sicherlich ziemlich hitzig gewesen, auch wenn der Magister am Ende traditionell das letzte Wort hatte.

Sohia hatte Schwierigkeiten, Gregerio richtig einzuschätzen. Man sagte ihm große Fähigkeiten auf seinem Gebiet nach, und es hieß, er sei ein exzellenter Lehrer. Sohia hatte bisher noch keine Gelegenheit gehabt, seinem Unterricht beizuwohnen, allerdings gab es da offenbar ein Problem: Er schreckte auch nicht vor brutalen oder gefährlichen Lehrmethoden zurück, und da die meisten seiner Kollegen Angst hatten, ihn sich zum Feind zu machen, blieben seine Exzesse bisher folgenlos.

»Hätte man früher auf mich gehört«, begann er süffisant, »hätten wir heute wohl weniger Tote zu beklagen.«

Er wich bewusst Denilius’ Blick aus, was keinem der Anwesenden entging. Zweifellos hatte ihm der Magister verboten, derartige Äußerungen von sich zu geben, aber wie so oft tat Gregerio, was er wollte.

»Seit Jahren erhebe ich die Forderung, dass jeder eine Waffe tragen sollte«, fuhr er fort. »Ob Tag oder Nacht, ob Lehrer oder Schüler. Auch wenn uns die Ranke seit Jahrhunderten Schutz bietet, war eine solche Katastrophe nur eine Frage der Zeit. Und vergesst nicht, dass wir praktisch auf einem Berg von Beschwörungsprismen schlafen! Was in den Wänden und im Boden unter unseren Füßen angesammelt ist, würde ausreichen, um zwei bis drei Länder Gonelores von der Landkarte zu tilgen.«

»Hört doch auf, solchen Unsinn zu reden!«, rief Vrinilia, die Prismenschmiedin, die mehr von Prismen verstand als alle anderen an der Schule.

Sohia respektierte die Fähigkeiten der alten Dame, hasste jedoch ihren Charakter; sie war berechnend, arrogant und herablassend. Sonst hielt sie sich bei solchen Debatten zurück wie eine Königin, die ihren Ministern lauscht, doch jetzt war sie aufgesprungen, um Gregerio zurechtzuweisen – sehr zu dessen Belustigung.

»Sprecht nicht von Dingen, von denen Ihr nichts versteht«, fauchte sie. »Genau diese Art von Gerede ist dafür verantwortlich, dass sich die dümmsten Gerüchte verbreiten, aus denen nie etwas Gutes entsteht! Selbst wenn unsere Prismensammlung so umfangreich wäre, wie Ihr behauptet – was nicht der Fall ist –, wäre sie genauso sicher verwahrt wie unser tatsächlicher Besitz.«

»Jora Vrinilia …«, versuchte der Magister, sie zu beschwichtigen.

»Ich bitte um Verzeihung, Jorensan, aber ich kann mir solchen Unsinn nicht stillschweigend anhören.«

»Also was nun?«, fragte der Oberste Fährtenleser spöttisch. »Existiert der berühmte Schatz von Gonelore oder nicht? Aber davon sprechen wir besser nicht, das Thema ist zu heikel, nicht wahr? Ihr müsst mir vergeben; ich habe nun mal die Angewohnheit, den Finger in die Wunde zu legen.«

»Gregerio!«, versetzte Denilius.

»Reißt Euch zusammen!«, schimpfte Selenimes.

»Ich wollte mich nur dafür entschuldigen, dass ich meine Forderung nach dem Tragen einer Waffe nicht mit mehr Nachdruck erhoben habe«, säuselte Gregerio. »Vergessen wir die Sache mit den Prismen also. Es ist jedoch unumstritten, dass wir von Chimären umgeben sind, die außerhalb von Zauberranke herumschleichen oder auf dem Schulgelände eingesperrt sind. Genau genommen tummeln sich in unserer Umgebung mehr Bestien als in jedem anderen Land Gonelores. Wir aber spazieren ahnungslos mit den Händen in den Taschen zwischen dem Strand und dem Dorf umher. Das darf nicht sein! Diese Nacht hätte weniger dramatische Folgen gehabt, wenn Lehrer wie Schüler über die Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden Schlacht aufgeklärt gewesen wären.«

Er hielt inne und sah den Magister vielsagend an, bevor er fortfuhr: »Von diesem Tag an hat jeder die Pflicht, zu jeder Zeit eine Waffe bei sich zu tragen, auch innerhalb des Schulgeländes. Hiermit beauftrage ich Jor Radjaniel, in der nächsten Zeit einige Hundert Schwerter für unsere Schüler herzustellen. Die getöteten Chimären liefern dafür ausreichend Material. Zusätzlich werden alle Lehrer so bald wie möglich damit beginnen, ihre Schüler im Fechten zu unterweisen. Das wird sicher einige Umstellungen bedeuten, aber bedenkt bitte, wie anders die Schlacht verlaufen wäre, wenn diese Maßnahmen schon vorab getroffen worden wären.«

Seine Worte führten zu einem regelrechten Aufruhr im Saal. Dutzende Weltwanderer baten darum, sprechen zu dürfen, doch weder der Fährtenleser noch Denilius oder ein anderes Ratsmitglied erteilte ihnen das Wort. Sie hatten die Entscheidung offenbar längst getroffen und kannten alle Argumente, die man dagegen hätte vortragen können. Sohia ging die Argumente rasch im Kopf durch: Man könne doch keine elfjährigen Kinder bewaffnen; es werde Unfälle geben; jeder kleine Streit werde zum blutigen Kampf ausarten; man müsse die Schüler erst einmal geistig und körperlich auf diese Herausforderung vorbereiten. Sämtliche Einwände waren berechtigt, doch Sohia wusste auch, dass Selenimes Liste an diesem traurigen Morgen noch um mindestens zehn Namen länger gewesen wäre, wenn Radjaniels Schüler unbewaffnet gewesen wären.

»Jeder darf die neuen Regeln in seinem eigenen Tempo umsetzen«, versicherte der Magister. »Es wird einige Wochen dauern, bis wir uns alle an die Neuerungen gewöhnt haben. Aber wir dürfen dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren.«

Die Arme, die emporgeschnellt waren, sanken nun wieder herab, einige schneller, andere langsamer. Die Mehrheit der Weltwanderer schien die Entscheidung des Hohen Rats zu akzeptieren, und wer sich den neuen Gesetzen nicht unterwerfen wollte, dem stand es immer noch frei, Zauberranke zu verlassen und anderswo in Gonelore eine neue Schule zu gründen. Doch dazu kam es nur in den seltensten Fällen.

»Jetzt seid Ihr an der Reihe, Jora Maetilde«, sagte Denilius.

Die Oberste Gelehrte erhob sich und versuchte, ins Publikum zu lächeln, scheiterte aber kläglich: Die Ärmste war einfach zu erschöpft. Sohia zerriss es das Herz. Die ältere Weltwanderin war für sie eine Art Adoptivmutter, auch wenn sie ihr das nie gesagt hatte. Maetilde unterrichtete die jüngsten Schüler im Lesen, Schreiben und Rechnen. Zusätzlich kümmerte sie sich um Zauberrankes Nahrungsmittelversorgung und trug somit große Verantwortung. Auf diese Aufgabe bezog sich auch ihre Ansprache: »Ihr alle wisst, dass auch das Schiff, das gestern Abend ankam, angegriffen wurde. Nur wenige Seeleute haben das Massaker überlebt, indem sie sich in ihren Kabinen und auf dem Zwischendeck versteckt haben. Es sind leider nicht genug, sodass das Schiff vorerst nicht in See stechen kann. Doch durch die Gnade der Götter ist die Fracht, die sie geladen hatten, unbeschädigt geblieben. Unsere Schüler werden also in den nächsten Wochen genug zu essen und ausreichend neue Kleider haben. Bis zur nächsten Lieferung aus Messalyre, die am ersten Herbsttag eintreffen dürfte, können wir mühelos ausharren.«

»Das bedeutet allerdings«, warf Denilius ein, »dass Zauberranke mehr als einen Monat lang von der Außenwelt abgeschnitten sein wird. Unter normalen Umständen wäre das kein Problem, doch jetzt zwingt uns diese Situation, ein paar schnelle Entscheidungen zu treffen. Wir können weder die Verwundeten noch die Schüler, die das Bandelier ablegen und nach Hause zurückkehren wollen, so lange hierbehalten. Wir müssen also alles in unserer Macht Stehende tun, damit die Seeleute die Kinder nach Hause geleiten oder zumindest in einen sicheren Hafen bringen können.«

Er hielt inne und fuhr dann fort: »Wenn die Nacht weniger dramatisch verlaufen und die Zahl der Opfer geringer wäre, hätten wir erwägen können, auch die Toten zu ihren Familien zu überführen. Leider ist dies unmöglich. Ich hoffe also, dass Ihr die Kraft findet, Briefe über die Verdienste eines jeden Schülers oder Kollegen zu schreiben, den wir verloren haben. Jor Selenimes wird die Brief einsammeln und an die Angehörigen versenden.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. So konnten sie den Opfern zumindest eine letzte Ehre erweisen. Wenn ein Weltwanderer starb, schickte man den Angehörigen traditionell auch sein Bandelier. Doch in diesem Fall, dachte Sohia, wäre die Geste unangebracht, weil die meisten Opfer noch keine Auszeichnungen gesammelt hatten.

»Ich erteile Jora Vrinilia das Wort«, erklärte Denilius. »Sie ist die Letzte, die zu uns sprechen wird.«

Die Prismenschmiedin erhob sich abermals, und wie immer war ihr Gesichtsausdruck stolz und unnahbar. Sie wartete, bis völlige Stille im Saal herrschte, und verkündete dann: »Der Wahnsinn, der Jor Zakarias dazu verleitet hat, sich vom Turm zu stürzen, hat uns der Dienste eines erfahrenen Leuchtturmwärters beraubt. Bis der Posten neu besetzt werden kann, hat mir der Rat die Verantwortung und Aufsicht über das Wahrzeichen unserer Schule übertragen, weil die Wissenschaft der Prismen mein Spezialgebiet ist. Ich danke unserem Magister und jedem Kollegen für dieses Zeichen der Wertschätzung und des Vertrauens, und ich verspreche, mich dessen würdig zu erweisen!«

Sie warf Gregerio einen vernichtenden Blick zu, weil sie wohl fürchtete, er würde den feierlichen Moment mit einer spöttischen Bemerkung ruinieren. Doch er blieb stumm und grinste nur verächtlich.

Wieder hoben einige Weltwanderer die Arme. Dieses Mal willigte Vrinilia ein, einen einzigen Lehrer zu Wort kommen zu lassen. Es war offensichtlich, dass sie ihre Macht genoss, und natürlich wählte sie einen jungen Mann aus, der ihr bereits treu ergeben war.

»Erst einmal möchte ich Euch herzlich zu dieser Ernennung gratulieren, Jorensame! Ich freue mich, den Schutz von Zauberranke in Euren Händen zu wissen. Aber könnt Ihr uns vielleicht etwas mehr über Zakarias’ Motive und die Hintergründe der Geschehnisse erzählen? Es kursieren Gerüchte, dass es sich vielmehr um einen vorsätzlichen Verrat handelt und nicht um einen plötzlichen Anfall von Wahnsinn mit tragischen Konsequenzen … Gibt es etwa eine Verschwörung in unseren eigenen Reihen?«

Die ganze Versammlung schien in Erwartung der Antwort den Atem anzuhalten, und Sohia war keine Ausnahme. Der Magister hatte sie höchstpersönlich gebeten, nicht zu offenbaren, was sie über die Geschehnisse der Nacht wusste. Sie fragte sich, wie weit der Rat gehen würde, um das Geheimnis zu wahren.

»Zakarias hatte den Verstand verloren!«, wiederholte Vrinilia. »Sicherlich litt er seit Jahren unter einem Wahn, doch leider stand ihm niemand nah genug, um es zu bemerken. Bedenkt aber auch, dass dieser Mann zwei Drittel seines Lebens damit verbracht hat, auf der Jagd nach Chimären die Meere zu durchkreuzen, und dass er seit seiner Rückkehr die Tage oben auf dem Turm verschlief, um nachts arbeiten zu können … Leider ist niemandem die Veränderung in seinem Verhalten aufgefallen. Seine Geisteskrankheit gipfelte schließlich darin, dass er die Chimären in die Schule einließ. Offenbar wollte er sich nicht nur das Leben nehmen, sondern uns alle mit in den Tod reißen. Seid versichert, dass ich nicht denselben Fehler begehen werde. Niemandem wird es mehr erlaubt sein, dort oben in völliger Einsamkeit auszuharren. Wir werden immer zu zweit sein und uns mit der Wache abwechseln.«

Der junge Lehrer dankte ihr mit einer Verbeugung. Augenblicklich schossen zehn weitere Hände in die Höhe. Vrinilia ignorierte sie und wandte sich an den Messerschleifer, der am Rand des Tisches saß: »Jor Radjaniel, Ihr seid der Letzte, der mit Zakarias gesprochen hat, bevor er sich das Leben nahm. Wirkte er zurechnungsfähig? Gibt es guten Grund, an seinem Verstand zu zweifeln? Keine Angst – wiederholt einfach, was Ihr dem Rat bereits mitgeteilt habt.«

Radjaniel bedachte Vrinilia mit einem finsteren Blick, den Sohia leicht deuten konnte. Um ihn zu ärgern, ließ ihn Vrinilia wie einen Dummkopf aussehen, der sich nicht traute, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Das war eine schwere Beleidigung für jemanden, der bis vor wenigen Jahren die rechte Hand des Magisters gewesen war und den Posten bekleidet hatte, den nun Jor Arold innehatte. Doch Radjaniel ließ sich nicht provozieren: »Der Leuchtturmwärter sprach von Dingen, die er sich eingebildet hat. Als die Chiroptiden seinen Leuchtturm umkreisten, behauptete er, sie befehligen zu können. Als er seinen Irrtum erkannte, stürzte er sich vom Turm. Vielleicht waren seine Schuldgefühle am Ende doch zu groß. Das war alles.«

Mit einem Kopfnicken ermunterte ihn die Prismenschmiedin weiterzusprechen, doch Radjaniel blieb stumm. Immerhin reichten seine Worte, um die restlichen Arme herabsinken zu lassen. Nun, da ein weiteres Gerücht bestätigt worden war, machte sich eine gewisse Beschämung unter den Weltwanderern breit: Es war tatsächlich der notorische Säufer der Schule gewesen, der die Lichtkuppel über Zauberranke wieder eingeschaltet hatte. Radjaniel machte kein großes Aufhebens darum. Sein Bandelier strotzte ohnehin schon vor Auszeichnungen, was viele offenbar vergessen hatten, doch nun sahen sie ihn mit ganz neuen Augen. Und so kam niemand auf die Idee, seine Schilderung der Ereignisse infrage zu stellen …

Der Magister nutzte die betretene Stille und forderte Vrinilia und Radjaniel auf, sich wieder zu setzen.

»Wir werden in der nächsten Zeit noch ausführlich über die Geschehnisse sprechen«, erklärte er, »doch im Augenblick hat ein jeder von uns eine Vielzahl von Aufgaben zu bewältigen. Gibt es, bevor wir auseinandergehen, noch Bemerkungen oder Fragen zu einem Thema, das noch nicht erwähnt wurde?«

Das Publikum wartete gespannt, ob jemand die Gelegenheit ergreifen würde. Als Jor Kartigann in arroganter Manier die Hand hob, verzog Sohia das Gesicht. Sie hatte nichts als Verachtung für den Mann übrig. Ihre und seine Schüler kamen überhaupt nicht miteinander aus, und sie beide vertraten völlig unterschiedliche Ansichten darüber, was einen guten Weltwanderer ausmachte. So kam es jedes Mal, wenn sie miteinander zu tun hatten, zu Reibereien.

»Jor Denilius!«, rief Jor Kartigann jetzt. »Jeder von uns ist natürlich froh, Euch wiederzusehen. Aber dürften wir vielleicht endlich den Grund für die lange Abwesenheit unseres Magisters erfahren?«

Das Ratsoberhaupt lächelte leicht. Seine Miene schien zu sagen: »Treib kein Spiel mit mir, du Einfaltspinsel! Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich einlässt.«

Seine tatsächliche Antwort fiel hingegen äußerst knapp aus: »Es war eine rein persönliche Angelegenheit. Ich wollte einige Verwandte treffen, die ich lange nicht gesehen hatte.«

Kartigann hakte nicht weiter nach. Sohia hingegen blieb der Mund offen stehen … Erst vor wenigen Stunden war der Magister auf Jona zugelaufen und hatte ihn in die Arme geschlossen.

Da kam ihr Vargaï in den Sinn. Ihr väterlicher Freund hatte keine Ahnung von den Geschehnissen, die sich in Zauberranke abspielten.

Vermutlich steckte er im Augenblick selbst in den größten Schwierigkeiten ….

4

Für Vargaï gab es Schlimmeres, als gefangen gehalten zu werden. Er hatte Ähnliches schon zweimal durchgemacht und in weitaus schäbigeren Zellen gesessen als in diesem Holzhaus, das intensiv nach Wald duftete. Man hatte ihn noch nicht einmal verprügelt, und auch mit Folter hatte Tannakis bisher nur gedroht. Und Vargaï hatte seine Zweifel daran, dass er seine Drohung wirklich wahr machen würde. Im Grunde konnte sich der Weltwanderer mit seinem Dasein als Gefangener durchaus abfinden.

Etwas anderes störte ihn viel mehr: Man hatte ihm sein Bandelier und seine Waffen abgenommen, die er sonst nicht einmal zum Schlafen ablegte. Erneut verfluchte er sich selbst dafür, dass er eine Reihe von Fehlentscheidungen getroffen hatte. Er hätte diese Reise nicht unternehmen dürfen. Er hätte nach der Begegnung mit Tannakis Männern nicht weitergehen sollen, sondern auf sein Misstrauen hören sollen. Er hätte auch kein so kostbares Prisma zu einem Verräter der Bruderschaft bringen sollen. Und vor allem hätte er seinen jungen Schüler nicht mitnehmen sollen. Doch für Reue war es jetzt zu spät.

Andererseits hatte niemand ahnen können, dass Tannakis, ein ehemaliger Lehrer von Zauberranke und langjähriger Vertrauter Vargaïs, sich so sehr verändert hatte, dass er sie als Feinde behandelte. Sicher, Tannakis hatte seine eigene Schule eröffnet, die Enklave, und sich selbst zu dessen Magister ernannt … Er hatte sich mit seinen Anhängern tief in den Wald zurückgezogen, um dort unbeobachtet und abgeschnitten vom Rest der Welt zu leben. Aber wer hätte wissen können, dass der Abtrünnige sein Lager in eine gesicherte Festung verwandelt hatte? Dass er sogar eine kleine Armee befehligte? Noch beunruhigender war, dass der Mann von unbändigem Ehrgeiz angetrieben war. Vargaï hatte immer noch nicht herausfinden können, welche Absichten der Mann, der ihn gefangen genommen hatte, eigentlich verfolgte. Immer wieder spielte er im Geiste alle Möglichkeiten durch, eine düstere als die andere. Er würde sich weniger Sorgen machen, wenn er sein Bandelier auf der Brust spüren könnte. Er trug den Ledergurt schon so viele Jahre, dass er fast zu einem Körperteil geworden war. Allein, ihn zu berühren, gab ihm Sicherheit, wie bei einem Kind, das seine Puppe überall mit hinnimmt. Vor allem aber hatte sein Bandelier mehrere Geheimfächer, in denen sich unter anderem ein kleiner, nadelspitzer Dolch und ein einfacher Dietrich befanden. Beide Gegenstände hätte er in seiner Lage gut gebrauchen können.

Doch Tannakis war kein Risiko eingegangen. Immerhin war der Verräter selbst ein erfahrener Weltwanderer; er kannte alle Tricks der alten Garde. So hatte er seinen beiden Gefangenen nicht nur alle Schwerter, Messer und Prismen abgenommen, sondern auch die Bandeliere, die Stiefel und die Gürtel ihrer Hosen. Vargaï hatte sich nicht dagegen gewehrt. Wäre er allein gewesen, hätte er sich seinen Gegnern sicher widersetzt, und mit etwas Glück hätte er wohl auch die Oberhand gewinnen können. Doch die Räuber hatten auch seinen Schüler Vohn gefangen genommen, einen unschuldigen Zwölfjährigen, der ohne Vargaï gar nicht hier gewesen wäre. Um den Unglücklichen nicht zu gefährden, hatte sich der Weltwanderer Tannakis beugen müssen.

Seit gestern hatte er seinen Kerkermeister nicht mehr gesehen. Tannakis hatte ihn zu später Stunde und nach einem für beide Seiten unbefriedigenden Verhör in seine Zelle zurückgeschickt. Tannakis hatte eine Antwort verlangt, die ihm Vargaï nicht geben konnte, weil er sie nicht kannte. Der einzige Einfall, den er gehabt hatte, kam ihm selbst vollkommen abwegig vor. Und sollte er doch einen Funken Wahrheit beinhalten, war der Weltwanderer entschlossen, ihn niemals zu offenbaren.

Seit dem Vortag war niemand an seiner Zellentür erschienen. Der Weltwanderer hatte einen Teil der Nacht mit Nachdenken verbracht, bevor er sich dazu gezwungen hatte, ein wenig zu schlafen. Sollte sich ihm eine Gelegenheit zur Flucht bieten, durfte er auf keinen Fall übernächtigt sein. Doch es fiel ihm schwer, zur Ruhe zu kommen.

Als der Morgen dämmerte und Sonnenlicht durch die Gitterstäbe fiel, wurde Vargaï immer noch von düsteren Gedanken geplagt. Und jedes Mal, wenn er die Hand an die Brust hob, um nach seinem Bandelier zu tasten, stieg erneut Wut in ihm auf.