Die Hüter von Gonelore - Pierre Grimbert - E-Book

Die Hüter von Gonelore E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Das geheimnisvolle Reich Gonelore wird Nacht für Nacht von Dämonen bedroht. Die Mitglieder der Bruderschaft bewachen in ihren Grenzfestungen das Reich, denn sie sind die Einzigen, die in der Lage sind, die Dämonen zu sehen und wieder hinter den magischen Schleier, der die Welten trennt, zu verbannen. Als sich die Angriffe der Ungeheuer häufen, wird schnell klar, dass es einen Verräter innerhalb der Bruder schaft geben muss. Und dann ist da noch Jona, der Meisterschüler der Bruderschaft, der die Gabe besitzt, mit den Dämonen zu kommunizieren ...

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Seitenzahl: 524

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Pierre Grimbert

Die Hüter von Gonelore

Die Saga von

Licht und Schatten 1

Roman

Aus dem Französischen von Sonja Finck

und Maximillian Stadler

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Titel der französischen Originalausgabe

GONELORE – LES ARPENTEURS 1

Deutsche Erstausgabe 06/2014

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2013 by Pierre Grimbert

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Bürosüd, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-13924-7V002

1

Behutsam legte die junge Frau ihre flache Hand in den Abdruck. Die beiden Umrisse unterschieden sich deutlich voneinander. Selbst wenn sie die Finger spreizte, berührte sie die Ränder nicht. Dasselbe galt für seine Tiefe: Gut daumenlang hatte er sich in die gefrorene, steinharte Erde hineingebohrt. Welche riesige Kreatur konnte eine solche Spur hinterlassen haben, ausgerechnet hier, in dieser sonst so beschaulichen Gegend? Und noch wichtiger: Wo trieb sich dieses Ungeheuer jetzt herum?

Der Fährtenleserin lief ein Schauer über den Rücken. Hastig zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Sogleich zwang sie sich zu einer würdigen Haltung, schließlich verfolgte ein Dutzend Augenpaare jede ihrer Bewegungen aufmerksam. Doch zu spät: Der kritischste Beobachter runzelte die Stirn.

»Und, Sohia?«, fragte er. »Was sagt uns die Spur?«

Sie holte tief Luft. Dadurch gewann sie ein wenig Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und die beste Einschätzung zu formulieren, denn obwohl ihnen womöglich akute Gefahr drohte, nutzte ihr Lehrmeister die Gelegenheit, um sie auf die Probe zu stellen. Wie schon seit über einem Jahrzehnt und damit länger als die Hälfte ihres Lebens.

»Der Abdruck ist von gestern Abend«, begann sie, »oder aus den frühen Nachtstunden. Auf jeden Fall wurde er vor Tagesanbruch hier hinterlassen. Sonst wäre er nicht mit so viel Raureif bedeckt.«

»Vor Tagesanbruch, schön und gut, aber wann genau?«, wollte ihr Lehrer wissen. »Vor drei Tagen, einem Monat, einem Jahr?«

»Das kann nicht länger als zwei Tage her sein«, erwiderte Sohia. »Die Ränder des Abdrucks sind noch klar erkennbar, und das wäre nicht der Fall, wenn er lange Zeit Wind und Regen ausgesetzt gewesen wäre.«

»Aber wir befinden uns an einem Berghang«, entgegnete der Alte, »und hier hat es womöglich schon länger nicht mehr geregnet. Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Der Abdruck blieb vielleicht wochenlang erhalten, weil er gefroren ist.«

»Das ist möglich«, gab die junge Frau zu, »aber dann wäre er von einer dünnen Eisschicht überzogen. So wie die Pfütze da drüben.«

Als ihr Lehrer nickte, unterdrückte sie einen Seufzer der Erleichterung. Sie hatte keine Angst davor, sich zu irren, aber sie wollte dem Mann, der ihr alles beigebracht hatte, keine Schande machen. Ermutigt ließ sie abermals den Blick schweifen. Sie waren umringt von Tälern und mehr oder weniger verschneiten Gipfeln. Es gab nur wenige Spuren menschlichen Lebens. Auf einmal kam es ihr geradezu unwirklich vor, dass sie überhaupt hier waren, sie, ihr Lehrer, die zehn Kinder, die in den Planwagen warteten, und die drei Dorfbewohner, die tapfer genug gewesen waren, sie in dieses unwegsame Gebiet zu führen.

»Es ist der einzige Abdruck, den wir finden konnten«, fuhr Sohia fort, »dabei müsste es in so einem Boden weitere geben. Also gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens könnte es sich um einen schlechten Scherz handeln.«

Bei diesen Worten drehte sie sich zu den Dorfbewohnern um und musterte sie argwöhnisch. Ihr Lehrmeister tat es ihr gleich, nur dass sein Blick noch drohender war.

Zwei Hirten schüttelten heftig die Köpfe und schlugen die Augen nieder. Der dritte, der kühner und vorlauter war als seine Nachbarn, trat einen Schritt vor und fuchtelte nervös mit seiner Lanze herum.

»Ein Scherz!«, rief er empört. »Allein in der vergangenen Woche hab ich vier Tiere verloren. Glaubt Ihr, ich finde das lustig? Im ganzen Tal wurden mindestens fünfzig Lämmer von dem Ungeheuer gefressen. Denkt Ihr etwa, das macht uns Spaß?«

»Beruhigt Euch«, brummte der Alte. »Ihr müsst verstehen, dass wir einen weiten Umweg gemacht haben, um Euch zu Hilfe zu kommen. Und das, obwohl wir Kinder dabeihaben. Und Ihr konntet uns kein einziges gerissenes Lamm zeigen.«

»Wie denn auch?«, brüllte der Mann zornig. »Wo der Dämon sie doch verschwinden lä…«

»Beruhigt Euch!«

Diesmal war der Ton gebieterischer. Die junge Frau zuckte zusammen. Ihr Lehrer hob nicht allzu oft die Stimme, aber wenn er es tat, verschlug es den größten Draufgängern die Sprache. Er gehörte zur alten Generation der Weltwanderer und hatte seine Ausbildung vor über vier Jahrzehnten durchlaufen, und so strahlte er die Würde der alten Garde aus. Jeder spürte das. Selbst ein tölpelhafter Hirte aus einem gottverlassenen Tal, dessen Namen sie längst vergessen hatte.

»Weiter, Sohia. Was ist die zweite Möglichkeit?«

Sie wartete kurz ab, um sich zu vergewissern, dass der Hirte seinen vorlauten Mund hielt. Dann fuhr sie fort: »Die andere Schlussfolgerung, und die Einzige, die noch übrig bleibt, ist, dass wir es mit einer fliegenden Kreatur zu tun haben. Sie hat nur einen einzigen Abdruck hinterlassen, weil sie hier nur kurz aufgesetzt und sich gleich wieder in die Luft geschwungen hat. Das würde auch erklären, wieso die Tiere in dieser Gegend so rasch verschwinden und warum man ihre Kadaver nicht findet.«

»Und was würde eine solche Kreatur dazu veranlassen, an dieser Stelle einen Halt einzulegen?«

Die junge Frau sah sich erneut um und ging ein paar Schritte bergauf. Ihre Befürchtung bestätigte sich, und ihr Magen schnürte sich vor Schreck zusammen.

»Blut«, sagte sie und wies auf den Boden. »Nur wenig, aber es ist eindeutig Blut.«

Sie kehrte zu dem Abdruck zurück und untersuchte das Gelände darum herum, während ihr Lehrer und der vorwitzige Hirte die Blutspur betrachteten. Kurz darauf fand sie ein weiteres Indiz, das ihre Theorie belegte, und zwar auf einem Granitfelsen, der ihr bis zu den Schultern reichte.

»Ein zweiter Abdruck«, rief sie. »Er stammt von einem anderen Fuß desselben Wesens.«

Bei diesen Worten erbleichte sie. Die Krallen des Wesens, was auch immer es war, hatten so tiefe Spuren im Stein hinterlassen, dass ein Mensch einen halben Finger hineinstecken konnte. Und dabei hatte sich die Kreatur hier nur kurz mit dem Fuß abgedrückt. Sicher hätte es den ganzen mannshohen Felsbrocken hochheben können, wenn es gewollt hätte.

Als sie sich zum Rest der Gruppe umwandte, sah sie, dass die anderen ebenso entsetzte Gesichter machten wie sie selbst. Die Kinder verpassten kein Wort der Unterhaltung, auch wenn es ihnen strengstens verboten war, von den beiden Planwagen herunterzusteigen. Ein paar spuckten große Töne, aber Sohia hörte die Angst aus ihrem schrillen Kichern heraus. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie sie sich fühlten.

Die Hirten rangen um Fassung. Ihre Blicke huschten zwischen den beiden Abdrücken hin und her. Vermutlich stellten sie sich den riesigen Körper der Kreatur vor, die ihre Schafe stahl. Jetzt schien es, als wären sie jederzeit bereit, der Bestie ihre gesamte Herde zu überlassen und in ein anderes Tal zu fliehen. Selbst dem vorlauten Kerl hatte es die Sprache verschlagen. Er stand reglos vor den gefrorenen Blutstropfen, als warte er auf ein Wunder.

Nur der Alte blieb ungerührt. Allerdings hatte sich auf seiner Stirn eine tiefe Furche gebildet, die die junge Frau noch nie zuvor gesehen hatte. Stumm lief er mehrere Male zwischen den beiden Abdrücken hin und her und blieb dann neben seiner Schülerin stehen. Sohia begriff, dass die Zeit der Lektionen und Ratespiele vorbei war, und dieser Gedanke war äußerst beunruhigend.

»Das Wesen kam mit einem Lamm in den Klauen angeflogen«, erklärte er. »Es landete kurz, um seine Beute zu töten. Kurz bevor es den Boden berührte, ließ es das Tier los, biss ihm den Hals durch und hob gleich wieder ab. Das alles hat nur einen Augenblick gedauert.«

Sohia nickte. Sie war zu demselben Schluss gelangt. Die Bestätigung ihres Lehrers beruhigte sie allerdings nicht. Sie hatte keinerlei Erfahrung mit so mächtigen Wesen, und schlimmer noch: Bisher hatte sie nur in einem zweihundert Jahre alten Buch von deren Existenz gelesen!

»Wisst Ihr … Wisst Ihr, was das für eine Kreatur ist?«

»Eine Chimäre«, antwortete der Meister. »Das ist klar, da die Hirten die Bestie nicht gesehen haben. Sie hat nur wenige Spuren hinterlassen. Sie taucht auf, schlägt ihre Beute und verschwindet gleich wieder.«

»Ja, natürlich, aber … welche Art von Chimäre?«

Der Alte zögerte kurz. Das verhieß nichts Gutes.

»Ein Kokatrus«, sagte er schließlich. »Wenn wir Glück haben. Oder aber ein Drakonid.«

Sohia nickte, doch sie war noch blasser geworden. Diese Namen kannte sie nur aus alten Manuskripten, die sie während ihrer Ausbildung studiert hatte, und hin und wieder hatte ein ergrauter Lehrer sie erwähnt. Solche Bestien waren ihres Wissens höchst selten, jedenfalls auf der Erde. Schon seit mehreren Jahrzehnten war keine mehr gesehen worden. Sie bezweifelte sehr, dass ihr eigener Lehrmeister schon einmal eine gesehen hatte, aber sie fragte ihn lieber nicht danach. Zum einen hatte sie viel zu großen Respekt vor ihm, zum anderen wollte sie unbedingt weiterhin glauben, dass er die Lage im Griff hatte.

»Nimm dein Prisma«, sagte er. »Such die Umgebung ab und konzentrier dich auf Berghänge und Felsvorsprünge.«

Die junge Frau gehorchte, auch wenn sie bei dem Gedanken, dass sie die Chimäre finden könnten, eine Gänsehaut bekam. Sie öffnete eine Tasche des Bandeliers, das sie quer über der Brust trug, und holte eine Art Edelstein hervor. Er sah aus wie ein kostbares Monokel und bestand aus einer dicken, geschliffenen Linse, die in einen prächtig verzierten Ring aus edlem Metall eingefasst war. Es war zweifellos Sohias wertvollster Besitz und ein Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Bruderschaft der Weltwanderer.

Nach kurzem Zaudern schloss sie die Augen, hielt den Gegenstand vor ihr linkes Lid und öffnete es langsam. Trotz ihrer Vorsicht wurde ihr wie jedes Mal kurz schwindelig. Die meisten ihrer Kameraden hatten keine solchen Schwierigkeiten, aber sie hatte sich nie ganz davon befreien können. Zum Glück verging der Schwindel nach zwei Herzschlägen, und sie konnte damit beginnen, ihre Umgebung abzusuchen.

Alle Weltwanderer besaßen mindestens ein Prisma. Die meisten hatten zwei oder drei, und nur selten besaß jemand mehr als fünf. Es gab sie in den unterschiedlichsten Formen, Größen und Ausführungen. Das Prisma ihres Lehrers war kugelförmig, glänzte bläulich und steckte oben auf einem Stab, den er sich vors Gesicht hielt. Sohias Linse hingegen war rötlich, wodurch sie auch im Dunkeln etwas sehen konnte. Die Färbung verlieh ihrer Umgebung aber auch ein bedrohliches Aussehen, was nicht unbedingt angenehm war, vor allem dann nicht, wenn sie befürchten musste, eine schreckliche Entdeckung zu machen.

Dennoch suchte sie gewissenhaft die Landschaft ab, so weit ihr Blick reichte. Mithilfe des tiefroten Kristalls und seiner geheimnisvollen Macht nahm sie die steinigen Hänge, Gipfel und Felswände in Augenschein. Sollte sich tatsächlich eine Chimäre in der Gegend herumtreiben, war dies der einzige Weg, sie aufzuspüren. Sobald die Weltwanderer das Ungeheuer entdeckt hatten, mussten sie alles daransetzen, es von der Erde zu vertreiben – oder es sogar töten. Selbst wenn der Kampf von Vornherein verloren schien.

Nachdem sie eine gute Minute lang die Berge betrachtet hatte, löste sich ihre Anspannung ein wenig. Kein Kokatrus und kein Drakonid waren in Sicht. Sohia schämte sich fast ein wenig, solche Erleichterung zu verspüren, auch wenn sie nicht auf Feigheit beruhte. Zehn Kinder in den Planwagen hinter ihnen mussten in Sicherheit gebracht werden, und sie war persönlich für fünf von ihnen verantwortlich. Wenn die beiden Weltwanderer gewusst hätten, dass die Angelegenheit derart wichtig war, wären sie nicht das Risiko eingegangen, diesen Umweg zu machen. Glücklicherweise konnten sie ihre Reise bald fortsetzen. Später würden sie mehrere erfahrene Kollegen herschicken, damit sie sich der Chimäre annahmen.

Zumindest glaubte Sohia das – bis ihr Lehrer zu seinem Fernrohr griff.

Das Gerät bestand aus zwei Prismen und war ein Meisterwerk der Juwelierkunst, denn die Kräfte der Kristalle waren ungeheuer schwierig zu kombinieren. Mit dem Fernrohr konnte der Alte noch auf größte Entfernung jede Einzelheit erkennen. Als Sohia sah, wie er das Instrument auf einen Punkt richtete, der in Richtung der Abdrücke lag, begriff sie, dass er etwas entdeckt hatte. Als er ihr das Gerät reichte, bestätigte sich ihr Verdacht. In tausend bis tausendzweihundert Fuß Entfernung sah sie neben einem grasbewachsenen Hang einen Höhleneingang, der teilweise von Felsbrocken verborgen war. Gleich daneben lag etwas, das wie ein kleiner Haufen schmutzigen Schnees aussah – die Überreste eines halb aufgefressenen Lamms.

»Wir müssen nachsehen gehen«, sagte der Meister ernst.

Sohia gab ihm das Fernrohr zurück und nickte. Ja, natürlich. Das war ihre Pflicht. Ganz gleich, wie hoch der Preis sein würde.

»Wir lassen die anderen hier«, fuhr der Lehrer fort. »Auf keinen Fall dürfen wir die ganze Gruppe der Gefahr aussetzen. Ich werde den Hirten Anweisungen geben, damit sie wissen, was sie mit den Kindern tun sollen, falls … nun ja. Such du in der Zwischenzeit ein Kind aus, das uns begleitet.«

Sohia hob abrupt den Kopf. Sie glaubte, sich verhört zu haben, zumal ihr Lehrer sehr leise gesprochen hatte.

»Eines … eines der Kinder? Aber …«

»Wenn wir in die Höhle gehen, brauchen wir jemanden, der die Lampe hält«, erklärte der Alte. »Mir ist es lieber, wenn wir beide die Hände frei haben. Wir werden sie brauchen, nehme ich an.«

»Aber wir haben sie gerade erst rekrutiert! Der Älteste ist zwölf Jahre alt! Sie haben noch nicht einmal die Schule …«

»Es reicht, Sohia. Meine Entscheidung steht fest. Was die Kinder angeht, kennst du die Regel: Jede Erfahrung ist nützlich. Der oder die Ausgewählte bekommt die Gelegenheit, sich früher als die anderen im Kampf zu stählen.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu den drei Hirten, die ihrerseits beisammenstanden und sich berieten.

Sohia wiederholte im Geiste, was er gesagt hatte: »Die Gelegenheit, sich früher im Kampf zu stählen.« Sicher, wenn der oder die Ausgewählte den Ausflug überlebte, was niemand versprechen konnte!

Da ihr keine andere Wahl blieb, ging sie zu den Wagen hinüber. Zehn neugierige Augenpaare lugten unter den Planen hervor und verfolgten jeden ihrer Schritte unter aufgeregtem Tuscheln. Als Sohia vor ihnen stehen blieb, wurde es mucksmäuschenstill.

2

Der Junge links von Dælfine schubste sie zum zweiten Mal innerhalb einer Minute. Das Mädchen hatte endgültig die Nase voll. Sie boxte ihm hart in die Rippen und sorgte dafür, dass sich der Rüpel auf dem Boden des Wagens wiederfand. Bei seinem Sturz riss er einen unschuldigen Jungen mit. Egal! Wenigstens war die Botschaft angekommen: Sie würde nicht zulassen, dass man ihr auf den Füßen herumtrampelte. Zufrieden kniete sie sich wieder auf die Bank, von der aus die Kinder die Weltwanderer belauerten. Erst da bemerkte sie, dass Sohia sie anstarrte. In ihrem Blick lag Tadel, und das konnte nur bedeuten, dass es Schwierigkeiten gab.

Dælfine hatte zwar einen aufbrausenden Charakter, aber dumm war sie nicht. Sie begriff sofort, dass sie sich schleunigst klein machen musste. Leider war der Rüpel, dem sie eine Lektion erteilt hatte, nicht so geistesgegenwärtig. Kaum stand er wieder aufrecht, warf er sich von hinten auf sie, schlang ihr einen Arm um den Hals und versuchte, sie auf den Rücken zu werfen. Und es kam noch schlimmer: Der Junge, der mit ihm zu Boden gegangen war, kam dem Schwachkopf wütend zu Hilfe und packte ihre Handgelenke. Dælfine hätte Sohias Eingreifen abwarten können, aber ihre Reflexe waren ausgeprägter als ihre Geduld. Sie warf sich nach hinten, verpasste ihrem Angreifer einen Kopfstoß und gab dem anderen Jungen eine schallende Ohrfeige, was seiner Wut einen gehörigen Dämpfer verpasste.

Die beiden Jungen standen völlig verdattert da. Der eine wischte sich das Blut ab, das ihm aus der Nase lief, der andere rieb sich die brennende Wange. Dælfine stand mit geballten Fäusten da und ließ die beiden nicht aus den Augen, aber als der Rest der Gruppe die Verlierer auslachte, kam sie zu dem Schluss, dass sie fürs Erste nichts mehr von ihnen zu befürchten hatte. Sie drehte sich um und fand sich etwas sehr viel Furchteinflößenderem gegenüber: dem Zorn ihrer erwachsenen Begleiterin.

»Du!«, sagte Sohia und zeigte auf sie. »Du scheinst ja vor Energie zu sprühen! Runter vom Wagen. Du kommst mit.«

Dælfine stieß einen genervten Seufzer aus, der nicht zu überhören war, aber sie trieb die Aufsässigkeit nicht auf die Spitze. Kurz darauf stand sie neben dem Planwagen und scharrte mit der Ferse in der gefrorenen Erde, während die Weltwanderin unter den neun verbliebenen Kindern einen Anführer bestimmte.

Die Kinder starrten sie entgeistert an. Es war das erste Mal seit dem Beginn der Reise, dass sich die beiden Lehrer von ihren Schülern trennten. Bisher waren sie ihnen nicht von der Seite gewichen. Als Sohia dem Mädchen befahl, ihr zu folgen, konnte sie ihre Neugier nicht mehr im Zaum halten: »Werde ich jetzt bestraft? Wo gehen wir hin?«

Die Lehrerin zögerte, bevor sie antwortete. Das allein war schon seltsam.

»Nein, du wirst nicht bestraft. Auch wenn es vielleicht so aussieht. Ich brauche nur jemanden … der entschlossen handeln kann.«

»Auch wenn es vielleicht so aussieht?«, wiederholte Dælfine.

Sie bekam keine weitere Erklärung. Als die Weltwanderin wieder den Mund öffnete, hatte sie schon das Thema gewechselt: »Das war nicht deine erste Prügelei, stimmt’s?«

»Meine Eltern führen eine Herberge«, antwortete Dælfine achselzuckend.

»Ah.«

Der Zusammenhang schien Sohia nicht gleich einzuleuchten. Für Dælfine lag er dagegen auf der Hand: Seit Jahren prügelte sie sich mit den Kindern der Gäste, wehrte sich gegen ältere Jungs, die sie im Stall in die Enge treiben wollten, und gegen Mädchen, die ihr zwischen den Tischen Beinchen stellten. Und das war noch nicht alles, wie ihr plötzlich einfiel.

»Außerdem habe ich fünf Brüder und drei Schwestern«, fügte sie hinzu.

»Aha. Eine große Familie also.«

Sie verstummte abrupt, weil dieses Thema für Weltwanderer oft schmerzhaft war, und damit auch für alle Anwärter auf die Bruderschaft. Dælfine gab sich Mühe, das Heimweh, das sie plötzlich überfiel, zu unterdrücken. Es hatte keinen Sinn, irgendetwas zu bereuen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und jetzt musste sie dazu stehen.

»Und was ist mit den beiden Idioten, die mich angegriffen haben? Werden sie wenigstens bestraft?«

»Nicht, wenn sie so schlau sind und es dabei belassen. Ihr alle werdet in den kommenden Jahren viel durchmachen müssen, und ihr müsst lernen, euch nicht zu bekriegen, sondern zusammenzuhalten. Eure Lehrer haben Besseres zu tun, als kindische Streitereien zu schlichten.«

»Aber sie haben sich zu zweit über mich hergemacht! Sie haben versucht, mich zu erwürgen!«

»Da habe ich aber etwas anderes gesehen. Außerdem weiß ich weder, wie lange ihr euch schon triezt, noch wer angefangen hat. Und es ist mir auch vollkommen egal. Noch einmal, die Lehrer haben Wichtigeres zu tun. Ihr müsst lernen, selbst zurechtzukommen. Je früher, desto besser.«

Dælfine verzog das Gesicht. Ein paar Augenblicke lang hatte sie gedacht, Sohia ziehe sie den anderen vor, aber da hatte sie sich offensichtlich geirrt.

»Ihr werdet«, setzte Sohia hinzu, »noch oft genug die Gelegenheit haben, die Klingen zu kreuzen und eure schlechte Laune aneinander auszulassen. In der übrigen Zeit verhaltet euch bitte still oder sorgt dafür, dass uns eure Streitigkeiten nicht zu Ohren kommen.«

Das Mädchen hätte zu gern mehr darüber erfahren, aber die Weltwanderin schien nicht geneigt, ihre Worte näher zu erläutern. Außerdem waren sie in diesem Moment bei dem Alten angelangt, und er war offenbar ziemlich schlecht gelaunt – was reichte, um alle um ihn herum verstummen zu lassen.

Dælfine musste sich eingestehen, dass der Mann sie immer noch tief beeindruckte – mindestens genauso sehr wie bei ihrer ersten Begegnung, als er durch die Tür der Herberge ihrer Familie getreten war. Sein Name war Vargaï, er war knapp sechzig Jahre alt, und seine Erscheinung flößte einem Respekt ein. Und das, obwohl er recht klein war, eine hohe Stirn hatte und sein gelblich grauer Kinnbart von zweifelhafter Sauberkeit war. Wenn sie nebeneinanderstanden, überragte Sohia ihn um einen halben Kopf. Sie trug das Haar zu einem langen Zopf geflochten und hatte ein anmutiges Gesicht, das ohne Schminke auskam. Dælfine wünschte sich manchmal, sie wäre von der Weltwanderin rekrutiert worden und nicht von dem Alten. Aber das Schicksal hatte anders entschieden: Sie würde bei dem Alten in die Lehre gehen. Gerade jetzt, wo sie seine finstere Miene sah, machte sie dieser Gedanke nicht gerade froh.

»Was ist los?«, fragte Sohia.

Vargaï deutete gereizt auf den Hirten, der sich gerade abgewandt hatte und zu den anderen Dorfbewohnern ging.

»Dieser Trottel will unbedingt mitkommen!«, schimpfte der Alte. »Egal, wie oft ich ihm gesagt habe, dass wir nicht für seinen Schutz sorgen können, er rückt nicht von der Idee ab. Haben die Leute denn nach nur dreißig Jahren alles vergessen? Na, wenn er meint. Soll er sich doch einen Arm abreißen lassen, wenn ihm das Spaß macht!«

Er hätte sicherlich noch eine Weile weitergeschimpft, wenn Sohia nicht unauffällig mit dem Kopf auf Dælfine gezeigt hätte. Erst jetzt schien der Weltwanderer das Mädchen wahrzunehmen. Auf einmal war ihr sehr mulmig zumute. Was war das für eine Geschichte mit dem abgerissenen Arm? Und war das jetzt eine Strafe oder nicht?

»Wenn er mitkommt«, versetzte Sohia, »könnten wir sie ja …«

»Es bleibt dabei«, entschied der Alte. »Wenn dieses Großmaul im letzten Augenblick einen Rückzieher macht, stehen wir beide mit der Lampe da. Darum können wir uns nicht auch noch kümmern.«

Wortlos stapfte er zu dem zweiten Planwagen, und die anderen beiden folgten ihm. In diesem Wagen transportierten sie das Gepäck und alles, was sie sonst für die Reise brauchten: Lebensmittel und Trinkwasser, Decken, ein paar Küchengeräte und Geschirr, Werkzeuge – und nicht zuletzt die Ausrüstung der Weltwanderer.

Die beiden Lehrer trugen auch im Alltag eine Montur, mit der sie für alle Eventualitäten gewappnet waren: bequeme, eng anliegende Kleider, feste Stiefel, einen wasserdichten Umhang mit Kapuze und dem legendären Bandelier, das neben den Prismen das zweite Erkennungszeichen der Bruderschaft war. Diesmal schien dieser Aufzug jedoch nicht auszureichen. Dælfines Unbehagen wuchs, als sich Vargaï einen zusätzlichen Schutz um Arme und Beine schnallte: dicke Lederplatten, die violett schimmerten, aber seltsam schuppig aussahen. Sohia schlüpfte in ein Überkleid aus einem unangenehmen Stoff, der aussah, als wäre er aus dem Flügel einer riesigen Fledermaus geschneidert worden, und streifte sich Handschuhe aus demselben Material über.

»Du bist dran«, erklärte sie dann.

Dælfine nickte, auch wenn sie nicht wusste, ob sie sich freuen sollte, dass die Lehrer um ihre Sicherheit besorgt waren, oder ob sie eher Angst haben sollte, weil dies notwendig war. Sie dachte noch über diese Frage nach, als Sohia ihr einen großen flachen Gegenstand hinhielt, der in eine Decke geschlagen war.

»Das ist ein Schild«, erklärte sie und wickelte es aus. »Du musst ihn dir mit dem linken Arm vor den Körper halten und dich falls nötig dahinter zusammenkauern. Verstanden? Bleib auf keinen Fall wie erstarrt stehen und reiß den Schild einfach nur hoch. Halte ihn dir auch nicht unters Kinn oder stell ihn auf den Zehen ab. Das hier ist die richtige Höhe und die richtige Position. Keine andere, kapiert?«

Das Mädchen hörte kaum die Frage, so gebannt starrte sie auf den Schild. Von der Form her ähnelte er einem gigantischen Reißzahn oder dem Giftzahn einer Schlange, und die weißliche Färbung verstärkte diesen Eindruck noch. Man glaubte wirklich, den Teil eines Gebisses vor Augen zu haben. Es sah aus, als hätte jemand einen furchterregend spitzen Zahn in Scheiben geschnitten.

»Kapiert?«, wiederholte Sohia.

»Ja«, antwortete das Mädchen hastig.

Sie packte den Schild und bemühte sich, ihn so zu halten, wie Sohia es ihr gezeigt hatte. Die beiden Weltwanderer warfen sich einen vielsagenden Blick zu, und da sie nichts mehr sagten, nahm Dælfine an, dass sie sich nicht allzu dumm anstellte. Auf einmal wurde ihr klar, dass ihr Unterricht soeben begonnen hatte, und bei dem Gedanken wurde ihr warm ums Herz. Endlich war es so weit! Nun war sie auf dem besten Weg, eine Weltwanderin zu werden.

Während ihre Lehrer die Vorbereitungen fortsetzten, musterte sie erneut den merkwürdigen Gegenstand, den man ihr anvertraut hatte. Er war viel leichter, als er aussah, und dennoch schien er hart wie Marmor zu sein. Aus welchem Material war der Schild hergestellt worden? Und mit welchem Werkzeug?

Bei genauerem Hinsehen erkannte sie an der Oberfläche des Schilds zahlreiche Spuren, die bezeugten, dass er schon sehr alt sein musste. Es handelte sich um Kratzspuren, die sehr weit auseinanderliegende Krallen hinterlassen hatten, oder tiefere Kerben, die wohl von gierigen Reißzähnen stammten. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Offenbar gab es Bestien, die stark genug waren, um ein so hartes Material zu beschädigen. Richtige Gänsehaut bekam sie, als ihr aufging, dass die Weltwanderer im Begriff waren, sie in den Kampf gegen eine dieser Bestien mitzunehmen.

»Gehen wir«, sagte Vargaï plötzlich. »Je eher wir dort sind, desto schneller ist es vorbei.«

Dælfine fragte sich, was er damit wohl meinte, aber als die Lehrer losmarschierten, bemühte sie sich hastig, mit ihnen Schritt zu halten.

Bis zum Eingang der Höhle, die sie erkunden wollten, brauchten sie etwa zwei Stunden. Vargaï wusste, dass Entfernungen in unwegsamem Gelände schwierig einzuschätzen waren, aber er hatte dennoch mit einem kürzeren Marsch gerettet. Ein Anfängerfehler – er hatte sich geirrt.

Und Vargaï hasste es, sich zu irren.

Er hatte nicht einmal eine Entschuldigung: Alle hatten das stramme Marschtempo durchgehalten, Sohia, der abenteuerlustige Hirte und selbst das Mädchen mit den pechschwarzen Haaren. Keiner hatte sich über den beschwerlichen Weg beklagt, und sie hatten nur gesprochen, wenn es wirklich wichtig war, um keine Energie zu verschwenden. Der Rückweg würde leichter werden, weil es vor allem bergab ging, aber die beiden Lehrer würden nicht vor Anbruch der Nacht zurück bei ihren Schülern sein. Wenn alles gut ging. Was nicht gewiss war.

Ungewissheit hasste Vargaï auch.

Wenigstens würden sie sich bald Klarheit verschaffen. Sie würden die Höhle inspizieren und herausfinden, ob eine Chimäre sie als Versteck in dieser Welt gewählt hatte. Im besten Fall war die Höhle unbewohnt. Oder die Bestie war zwar hier gewesen, hatte sich aber längst in einen anderen Horizont zurückgezogen. Auf so einen glücklichen Ausgang konnte er nur hoffen, denn genauso gut konnten sie auf eine Kreatur stoßen, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen worden war. In diesem Fall mussten sie alles daransetzen, sie zu vertreiben oder zu töten, notfalls, indem sie ihr eigenes Leben opferten.

Das war ihre Pflicht und das oberste Gesetz der Bruderschaft: Weiche niemals vor einer Chimäre zurück – denn wenn sich die Bestien in der Welt der Menschen ausbreiten, ohne auf Widerstand zu stoßen, wäre binnen weniger Jahre ganz Gonelore davon befallen. An Beispielen für tragische Ereignisse im Laufe der vergangenen Jahrhunderte mangelte es nicht – selbst in der jüngsten Geschichte, dachte er und berührte instinktiv die Abzeichen an seinem Bandelier.

Aus diesem Grund hatten sie einen Umweg durch das Gebirge gemacht. Ein paar entlegene Dörfer hatten die Weltwanderer um Hilfe gebeten, aber angesichts einiger gerissener Lämmer hatte Vargaï erwartet, einen Lupinus, eine Felina oder allerhöchstens einen Ursid anzutreffen. Gewiss jedoch keine Kreatur, die man seit zwei Generationen bezwungen glaubte, auch wenn die Ereignisse der letzten Jahre darauf hingedeutet hatten, dass ihnen eine böse Überraschung bevorstand.

Hätte der Weltwanderer geahnt, was sie in dem Gebirge erwartete, hätte er die neuen Rekruten dieser Gefahr nicht ausgesetzt. Aber jetzt, wo sie den Abdruck entdeckt hatten, gab es kein Zurück mehr. Er hatte einen Eid abgelegt, also musste er der Fährte bis zum Ende folgen. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass das Unterfangen nicht so gefährlich würde, wie er befürchtete. Immerhin hatte die Bestie offenbar noch keine Menschen angegriffen. Vielleicht war sie doch nicht so gefährlich, wie Vargaï dachte. Vielleicht irrte er sich …

In diesem Fall hätte er nichts dagegen, sich zu irren.

Mit einem leisen Seufzer befahl er einen Halt und blickte abermals durch sein Prismafernrohr. Ein weiterer Seufzer folgte. Aus dieser Entfernung war kein Zweifel mehr möglich: Am Höhleneingang lag tatsächlich der Kadaver eines Lamms. Es sah aus, als hätte ihn das schwarze Loch ausgespuckt, dieser finstere, unergründliche Schlund, durch den ein ganzes Haus gepasst hätte – oder ein riesiger Flugsaurier.

»Wir bleiben dicht an der Felswand«, sagte er, »und gehen bis zur Höhle an ihr entlang.«

»Das ist ein Riesenumweg!«, protestierte der Hirte. »Die Höhle liegt doch direkt vor uns!«

»Es wäre keine gute Idee, ohne Deckung durchs offene Gelände zu laufen. Wenn sich die Bestie von oben auf uns stürzt, seht Ihr sie erst im letzten Moment. Aber vielleicht seid Ihr ja scharf darauf, Euch wie ein Schaf packen und davontragen zu lassen …«

Er wartete die Antwort des Hirten nicht ab, da er überzeugt war, dass dieser ihnen folgen würde. Und tatsächlich setzten die drei Erwachsenen und das Mädchen ihren Aufstieg im Schutz der Felswand fort.

Die letzte Etappe war am mühsamsten. Sie mussten möglichst wenig Geräusche machen und warfen immer wieder besorgte Blicke zum Höhleneingang. Der Himmel über ihnen färbte sich bereits rot. Vargaï und Sohia sahen immer wieder durch ihre Prismen, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie wussten nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Bald waren sie am Ziel angelangt. Jetzt war es an der Zeit, Dælfine ihre Aufgabe zu übertragen. Der Weltwanderer winkte sie zu sich heran und reichte ihr seinen Stab.

»Du musst ihn hoch über den Kopf halten«, flüsterte er. »Stütze ihn auf dem Schild ab, falls dir die Kraft ausgeht.«

Mit bangem Gesicht nickte das Mädchen. Vargaï zwang sich, beim Blick in ihre braunen Augen, in denen kindliche Unschuld und die grausame Wirklichkeit des Erwachsenenlebens miteinander im Widerstreit lagen, nicht weich zu werden. In einer perfekten Welt bräuchten die Menschen keine Weltwanderer, die sie beschützten, und die Lehrer müssten keine Kinder im Kampf ausbilden, um ihre Nachfolge zu sichern. Doch leider war Gonelore keine perfekte Welt.

»Ich befestige jetzt die Lampe an dem Stab«, fuhr er fort. »Sie ist sehr kostbar, gib also darauf acht, nirgendwo anzustoßen.«

Er zog die Lampe aus ihrer Schutzhülle und hängte sie an den Haken an der Spitze des Stabs. Was den Wert der Laterne anging, hatte er nicht übertrieben. Sie bestand aus sechs recht einfachen Prismen, die aber so geschliffen waren, dass sie aus dem Licht einer Kerze eine kraftvolle Aura erschufen. Auf diese Weise wurde jede Chimäre, die sich ihnen näherte, für die Menschen sichtbar. Das war ein entscheidender Vorteil, konnte doch jeder Überraschungsangriff das vorzeitige Ende des Kampfs bedeuten.

»Bleib einfach immer zwei Schritte hinter uns«, schärfte er dem Mädchen ein, »und achte darauf, dass wir immer genug Licht haben. Alles Weitere ergibt sich in der Höhle. Wenn ich dir zurufe, dass du weglaufen sollst, lass alles fallen und renn zurück zu den Planwagen, ohne dich noch einmal umzudrehen. Verstanden?«

Dælfine nickte abermals, jetzt noch blasser als zuvor. Vargaï hatte nicht vorgehabt, ihr Angst zu machen, aber im Grunde war das vielleicht gar nicht so schlecht. Lieber eine eingeschüchterte Helferin, die wusste, womit sie rechnen musste, als eine, die im ungünstigsten Moment kopflos die Flucht ergriff.

Damit war das Wichtigste gesagt, und der Weltwanderer entzündete die dicke Kerze im Inneren der Lampe. Dann trat er zur Seite und zog seine Schaumklinge. So nannte er seinen Säbel, weil die weiße Klinge von unzähligen kleinen grünen und blauen Punkten übersät war, die wie Gischt auf dem Meer aussahen.

Auf dieses Zeichen hin stellte sich Sohia neben ihn. Sie umklammerte ihren Speer, dessen Spitze aus der Schere eines Krebstiers bestand, die mit einer Reihe von Widerhaken bewehrt war. Die beiden Krieger benutzten ihre Waffen natürlich nicht zum ersten Mal, darum fiel ihnen das ungewöhnliche Aussehen gar nicht mehr auf. Ganz anders erging es ihrem Schützling und dem Hirten, die neugierige Gesichter machten. Für Fragen blieb allerdings keine Zeit: Vargaï marschierte bereits auf die Höhle zu.

Während der kleine Trupp die letzten Meter bis zum Eingang zurücklegte, herrschte angespanntes Schweigen. Dabei musste der Weltwanderer an Ereignisse zurückdenken, die schon mehrere Jahrzehnte zurücklagen, seinem Gedächtnis aber für immer und ewig eingebrannt waren. Nur ungern würde er so etwas noch einmal erleben … Doch leider konnte er sich jetzt, wo er im Begriff war, das Versteck des Ungeheuers zu betreten, nicht länger einreden, dass die Vorzeichen trogen. Die Befürchtungen der alten Garde und die Vorhersagen der Weisen und Seher, die diese schon vor zehn Jahren getroffen hatten, bewahrheiteten sich also. Der Verwesungsgeruch des toten Lamms, der dem Alten in die Nase fuhr, war ein untrüglicher Beweis dafür …

»Licht«, zischte er.

Die kleine Dælfine schlüpfte sogleich hinter ihn und reckte den Stab in die Höhe. Der Schein tanzender Flammen erhellte den Höhleneingang. Vargaï und Sohia hielten kurz inne, lauschten angespannt und bewegten sich dann vorsichtig auf die dunkle Öffnung zu. Ihre junge Schülerin folgte ihnen unverzüglich, und auch der Hirte schloss sich ihnen an.

Wenigstens, dachte der Weltwanderer, erfüllt die Kleine ihre Aufgabe gut. Sollte es zu einem Kampf kommen, müssten sie ihn wenigstens nicht im Dunklen austragen!

Nachdem der Alte in einem Zustand höchster Wachsamkeit etwa fünfzig Meter weit in die Höhle vorgedrungen war, begann er sich ein wenig zu entspannen. Seine Erfahrung und die Beschaffenheit der Höhle verrieten ihm, dass hier im Moment keine Chimäre lauerte. In einem nahen Horizont konnte sie auch nicht sein. Eine blutrünstige Bestie von solcher Größe hätte die Menschen, die es wagten, ihr Versteck zu betreten, längst angefallen. Entweder war sie also irgendwo weit hinter dem Schleier, oder sie war in den Bergen unterwegs und konnte jeden Moment zurückkehren. In beiden Fällen durften sie keine Zeit verlieren, um nicht in der Höhle von ihr überrascht zu werden.

»Wir machen einen raschen Erkundungsgang, und dann verschwinden wir«, befahl er. »Hier entlang.«

Er führte den kleinen Trupp in den hinteren Teil der Höhle, wo es bestialisch nach Verwesung stank. Er musste nur seiner Nase folgen. Sie hatten keine Mühe, die Quelle des Gestanks zu finden: Tierkadaver, hauptsächlich von Lämmern und Steinböcken, abgenagte Knochen, abgerissene Köpfe, Eingeweide und verwesende Körperteile übersäten den Boden. Der kleinen Dælfine wurde speiübel, und sie erbrach ihr Mittagessen auf einen Haufen blutiger Knochen – immerhin ohne dabei die Prismalaterne loszulassen, wie Vargaï zufrieden feststellte.

Der Weltwanderer überwand seinen eigenen Ekel und untersuchte die Überreste des Gemetzels genauer. Nach wenigen Augenblicken stand fest: Es war kein Menschenfleisch darunter. Das war zwar eine große Erleichterung, aber auch ziemlich seltsam: Eine Chimäre von solcher Größe unterschied bei ihren Raubzügen eigentlich nicht zwischen Schafen und den Menschen, die sie hüteten. Hatten die Hirten mehr Glück gehabt, als sie ahnten? Wie oft waren sie in der letzten Zeit einem schrecklichen Tod entronnen, ohne es überhaupt zu wissen?

Sohias Stimme unterbrach seine Überlegungen.

»Ich glaube, da ist etwas«, murmelte sie. »Da drüben.«

Vargaï wandte sich blitzschnell um und starrte in die Richtung, in die sie zeigte. Dieser Teil der Höhle lag jedoch im Dunkeln, sodass er nichts sah als undurchdringliche Finsternis. Sohia konnte nur dank ihres rötlichen Prismas etwas erkennen – was unter diesen Bedingungen eine enorme Hilfe war. Sie reichte es dem Alten, und er blickte durch die Linse. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen daran gewöhnten. Die Konturen waren zunächst nur undeutlich zu erkennen, doch bald klärte sich das Bild. Etwas von der Größe und Gestalt eines Kartoffelsacks lag in der Mitte der Höhle am Boden. War es ein halbwegs vollständiges totes Lamm? Oder …

»Schnell!«, rief er plötzlich. »Sehen wir nach!«

Er lief auf die Gestalt zu und überraschte damit die kleine Dælfine, die nicht so rasch folgen konnte. Vargaï musste stehen bleiben, damit seine Gefährten mit der Laterne zu ihm aufschließen konnten. So entdeckten sie alle gleichzeitig, was sie hier niemals erwartet hätten.

Einen Jungen.

Er lag zusammengerollt auf dem kalten Felsboden. Dreckig, mit zerlumpten Kleidern und schmutzigem Haar, aber offenbar unverletzt. Noch bevor die Weltwanderer reagieren konnten, kniete sich der Hirte vor die kleine Gestalt.

»Er lebt vielleicht noch!«

»Rührt ihn nicht an!«, warnte der Alte.

Er wusste nicht einmal, weshalb er diesen Befehl gab. Vermutlich aus reinem Instinkt. Im Laufe langer Reisen durch die Welt, eines harten Lebens auf der Straße und unzähliger Kämpfe gegen mehr oder minder listige Chimären hatte er eine Art Überlebensreflex entwickelt.

Aber es war bereits zu spät.

3

Als der Hirte den Jungen berührte, brach die Bestie aus dem Schleier hervor und stürzte sich auf die allzu verletzlichen Menschen.

Gleich in den ersten Augenblicken des Kampfs wurde Dælfine der Stab aus der Hand gerissen. Dabei hatte sie ihn mit aller Kraft umklammert und sich das Ende sogar zwischen Unterarm und Rippen geklemmt. Doch angesichts der Wucht, die das Holz traf, hatte sie keine Chance. Noch dazu war alles blitzschnell gegangen: die Entdeckung des Jungen. Vargaïs Warnruf. Dann der seltsame Eindruck, dass sich die Luft in der Höhle kräuselte wie kleine Wellen auf dem Wasser – nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn im nächsten Augenblick war die Bestie schon da. Direkt vor ihnen, und so groß, dass sie gleichzeitig links, rechts und über ihnen zu sein schien.

Diesen Anblick würde das Mädchen nie vergessen. Die Kreatur schien geradewegs einer uralten Legende entsprungen zu sein, die sich die Menschen erzählten, oder ihrem schlimmsten Albtraum – was mehr oder weniger auf dasselbe hinauslief. Sie hatte einen reptilienhaften Körper, lederne Flügel, einen langen, schuppigen Kamm und ein Maul, mit dem die Kreatur ein ganzes Krokodil am Stück hätte verschlingen können.

Inzwischen hatte sich die Bestie zu ihrer vollen Größe aufgerichtet und mit ihrem Schwanz einen Rundumschlag vollführt. Dælfine, die ein wenig abseits stand, hatte nur ein heftiger Windstoß gestreift, aber die Schwanzspitze riss ihr den Stab aus der Hand und kugelte ihr fast den Arm aus. Trotzdem kam sie noch glimpflich davon – im Gegensatz zu ihren Gefährten.

Sohia und der Hirte hatten dem Schlag nicht mehr ausweichen können. Beide wurden hart getroffen und mehrere Meter weit durch die Luft geschleudert. Sie landeten hart auf dem felsigen Boden. Vargaï, der über erstaunliche Reflexe verfügte, konnte gerade noch einen Satz nach hinten machen.

Die Atempause war jedoch nur von kurzer Dauer. Die Kreatur stürzte sich von der Seite auf den Alten, und obwohl er auszuweichen versuchte, wurde er von dem mit Widerhaken versehenen Schwanz im Gesicht getroffen.

Inmitten des Chaos ging Dælfine auf, dass ihr nur noch wenige Augenblicke zu leben blieben. An Flucht dachte sie nicht. Vermutlich wäre sie ohnehin tot, bevor sie dem Wesen den Rücken zuwenden könnte. Wie erstarrt stand sie da, ebenso verängstigt wie fasziniert.

Das seltsame Licht, das die Szene erhellte, verwirrte sie noch mehr. Durch einen merkwürdigen Zufall war der Stab in einen senkrechten Spalt in der Felswand gefallen und klemmte nun dort fest. Zum Glück war die Kerze nicht ausgegangen, obwohl die Lampe wild hin und her schwankte. So wurde der Kampf abwechselnd in ein flackerndes Licht und tiefe Dunkelheit getaucht, und die Bilder, die Dælfine vor ihren Augen aufblitzen sah, waren furchterregend.

Die meisten zeigten Vargaï in großen Schwierigkeiten. Der Alte erwies sich als ungeheuer beweglich. Flink wich er den Attacken der Bestie aus, aber jedes Mal, wenn die Szene im Dunkeln versank, war Dælfine überzeugt, dass der Weltwanderer von den Krallen des Reptils zerfetzt oder von dem klaffenden Maul verschlungen werden würde. Das nächste Bild zeigte ihr, dass sie sich täuschte, aber das konnte nicht ewig so weitergehen. Die Bestie war etwa dreißigmal stärker als der Alte, der sich verzweifelt gegen sie zur Wehr setzte, und die wenigen Säbelhiebe, die er anbringen konnte, fügten der schuppigen Haut kaum einen Kratzer zu.

»Sohia!«, schrie er, als das Gebrüll der Kreatur kurz verstummte. »Bring sie in Sicherheit!«

Durch seinen Ruf kehrte das Mädchen wieder in die Wirklichkeit zurück. Mechanisch wandte sie den Kopf in Richtung der beiden Verletzten und stellte verwundert fest, dass nur der Hirte noch am Boden lag. Da legte sich ihr von hinten eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte heftig zusammen und musste zweimal blinzeln, bis sie die Weltwanderin erkannte.

»Reiß dich zusammen!«, befahl Sohia ihr. »Gib uns mit dem Schild Deckung!«

Dann rannte sie auf den Alten zu und ließ Dælfine völlig verdattert stehen. Als sich Sohia bückte, den Jungen hochhob und zum Ausgang rannte, begriff das Mädchen endlich, was von ihr erwartet wurde. Wie von der Tarantel gestochen sprintete sie hinter der Kriegerin her und bemühte sich, den Schild hochzuhalten und im Dunkeln nicht zu stolpern. Das war alles andere als einfach, doch als sie einen kurzen Blick über die Schulter warf, duckte sie sich tiefer hinter den Schild und rannte noch schneller.

Sohias Eingreifen hatte die Bestie in Raserei versetzt. Sie schleuderte Vargaï brutal zur Seite und jagte den beiden fliehenden Menschen hinterher, die ihr das Mittagessen raubten. Wäre die Höhle breiter gewesen, hätte sie nur ihre Flügel ausbreiten müssen und wäre im nächsten Moment bei ihnen gewesen. Aber auch so würde die Verfolgungsjagd ein blutiges Ende nehmen …

Als die Bestie hinter Dælfine aufbrüllte, dachte sie, der Augenblick wäre gekommen. Jeden Moment rechnete sie mit dem Schlag, der sie zu Boden schleudern, unter dem lächerlichen Schild begraben und zerquetschen würde. Es gelang ihr, noch drei Schritte zu tun, vier, fünf, ohne dass etwas geschah. Dann konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen und drehte sich um. Vielleicht zum letzten Mal …

Was sie sah, ließ sie erstarren.

Sie vergaß ganz, dass sie fliehen musste, und starrte wie hypnotisiert ins Halbdunkel der Höhle. Aus dem Nichts war eine weitere monströse Kreatur aufgetaucht und hatte sich auf die erste gestürzt.

Diese zweite Bestie war kleiner als die erste, sah aber nicht weniger fantastisch aus. Sie war eine Art Kreuzung zwischen Löwe und Stier – allerdings von der Größe eines Elefanten. Eine orangefarbene Aura, die ab und zu ein wenig verschwommen wirkte, als könnte sie jeden Moment erlöschen, umgab ihren Körper. Und diese wundersame Erscheinung hatte sich nun mit wütendem Fauchen auf den Drachen gestürzt.

Dælfine begriff sofort, dass dies ihre Rettung war. Der Löwe mit dem Stierkopf hatte seine Reißzähne in den Schwanz des Drachen geschlagen und ihn so daran gehindert, seine Opfer zu verfolgen. Die beiden Kreaturen kämpften wutentbrannt gegeneinander. Ihre Hiebe hätten einen Menschen auf der Stelle getötet, aber die Bestien schienen sie kaum zu spüren.

Das Mädchen war sicher, dass Vargaï tot oder schwer verletzt weiter hinten in der Höhle lag. Wie könnte es auch anders sein? Die Kreaturen hatten ihn vermutlich gleich zu Beginn ihres Kampfes totgetrampelt, vermutete Dælfine. Und so traute sie ihren Augen kaum, als sie den Weltwanderer plötzlich hinter dem Löwen ausmachte. Im schwachen Licht der Prismalampe sah sie den Alten jetzt ganz deutlich. Zu ihrer großen Überraschung versuchte er weder sich zu verstecken noch zu fliehen. Im Gegenteil, er stürzte sich in den Kampf.

Sie stand zu weit weg, um zu erkennen, was er genau tat. Vargaï setzte kaum noch seinen Säbel gegen den Drachen ein. Dafür wurde die Bestie immer wieder von hellen Blitzen getroffen, die der Weltwanderer zu lenken schien. Außerdem hatte Dælfine den Eindruck, dass er der Herr des abscheulichen Löwen war und ihm in einer fremden Sprache Befehle gab. Oder bildete sie sich das alles nur ein?

Offenbar war sie vor lauter Angst in eine Art Fieberwahn gefallen und konnte nicht mehr klar denken. Ihre Augen spielten ihr eindeutig einen Streich. Sie musste sich zusammenreißen und endlich diese grauenvolle Höhle verlassen, solange das noch möglich war.

Sie gab sich einen Ruck, wandte sich ab und wollte gerade zum Ausgang laufen, als sie fast mit Sohia zusammengestoßen wäre, die zurückgekommen war, um sie zu holen. Die Weltwanderin erfasste die Lage mit einem Blick, packte Dælfine am Handgelenk und zog sie hastig aus der Höhle.

Das Mädchen wehrte sich nicht. Endlich musste sie nicht mehr nachdenken. Da Sohia nun die Führung übernommen hatte, konnte sie einen letzten Blick zurückwerfen. Viel konnte sie nicht mehr erkennen, doch im Zwielicht hatte sie kurzzeitig den Eindruck, dass sich Vargaï verwandelte. Es war, als würde der Alte verschwinden und ein drittes Wesen seinen Platz einnehmen, dessen Umrisse noch recht verschwommen waren. Aber das konnte nur eine optische Täuschung sein, eine Einbildung.

Ihr blieb keine Zeit, genauer hinzusehen. Im nächsten Moment ließen das Mädchen und ihre Lehrerin die Höhle hinter sich und standen im orangefarbenen Licht der untergehenden Sonne. Sohia zog sie ein wenig abseits unter einen Felsvorsprung, wo sie zuvor den bewusstlosen Jungen abgelegt hatte.

»Bleib hier!«, befahl sie. »Und zähl bis zweihundert. Falls ich dann nicht wieder zurück bin, läufst du zurück zu den Planwagen, und ihr fahrt alle zusammen ins Tal hinab.«

Dælfine nickte, auch wenn sie der harte Gesichtsausdruck ihrer Lehrerin einschüchterte.

»Und … und er?«, fragte sie leise.

Sohia zog die Riemen ihrer Montur fest, die sich beim Laufen gelockert hatten. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die leblose Gestalt.

»Allein kannst du ihn nicht tragen, und es wäre verrückt, einen der Hirten herzuholen. Wenn in drei Minuten niemand aus der Höhle kommt, fliehst du. Ihn lässt du hier. Etwas anderes kannst du nicht tun.«

Das Mädchen nickte unsicher. Sie fröstelte in der kühlen Abendluft und musterte den fremden Jungen, dessen Schicksal bald besiegelt sein würde. Der Arme … Er war ungefähr so alt wie sie selbst. Ein Kind noch, erst zehn oder elf Jahre alt, und doch musste sie ihn vielleicht dem sicheren Tod überlassen.

»Bis zweihundert«, schärfte ihr die Weltwanderin noch einmal ein und nahm den Schild.

Dann lief sie los, zurück in die Höhle. Da ihr keine große Wahl blieb, fing Dælfine an zu zählen. Eins, zwei, drei…

Ihr war noch ganz schwindelig. Die Bilder von den Ungeheuern und dem wütenden Kampf gingen ihr nicht aus dem Kopf. Neun, zehn, elf… Sie hüpfte von einem Bein auf das andere und blies sich in die eiskalten Hände. Ihre Stirn hingegen glühte. Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig … Unverwandt starrte sie auf den Höhleneingang: Würde ein Weltwanderer heraustreten? Oder eine blutrünstige Bestie? Dreiunddreißig, vierunddreißig…

Nach einer Weile wanderte ihr Blick zu dem fremden Jungen. In Kürze würde sie fliehen und ihn im Stich lassen müssen. Bei diesem Gedanken platzte der Kloß in ihrem Hals, und Tränen traten ihr in die Augen. Neunundfünfzig, sechzig… Wer er wohl war? Ein Bewohner dieser Berge? Ein junger Hirte, den die Bestie gefangen hatte, als er versuchte, seine Schafe zu schützen? Ein Unschuldiger, der von seiner Familie vermisst wurde? Siebzig …

Spontan ging Dælfine neben dem Jungen in die Hocke. Er starrte vor Schmutz, und seine Haut war von verkrustetem Tierblut überzogen. Trotzdem zwang sich das Mädchen, ihm über das Haar zu streichen. Achtzig … So war er wenigstens in den nächsten zwei Minuten nicht ganz allein. Dreiundachtzig… Vierundachtzig…

Die folgenden dreißig Sekunden vergingen ähnlich schnell. Als sie bei hundertzwanzig angelangt war, begann Dælfine trotz ihrer Angst, langsamer zu zählen. Ihr Überlebensinstinkt schrie ihr zu, die Beine in die Hand zu nehmen und die Höhle weit, weit hinter sich zu lassen … Aber mit jedem Augenblick, der verstrich, und bei jeder Zahl, die sie vor sich hinmurmelte, hatte sie das Gefühl, ein Todesurteil auszusprechen. Also ließ sie sich Zeit … Hundertdreißig. Eine Pause. Ein Seufzer. Hunderteinunddreißig…

Bei hundertsiebzig erklang plötzlich wütendes Gebrüll aus den Tiefen der Höhle, ein bestialischer, schauerlicher Schrei. Er drang sogar bis zu dem bewusstlosen Jungen durch, denn er fing plötzlich an, sich zu bewegen. Dælfine beachtete ihn jedoch nicht, sondern starrte bang auf den finsteren Höhleneingang. Sie wagte gar nicht, sich vorzustellen, was als Nächstes passieren würde.

In diesem Moment brach der gigantische Drache fauchend und brüllend aus der Dunkelheit hervor. Wie eine Kanonenkugel schoss er aus der Höhle, schlug laut flappend mit den Flügeln und stieg mit rasender Geschwindigkeit in den Himmel empor. Wenn er verletzt war, schien ihm das jedenfalls keine Kraft zu rauben. Das Mädchen rechnete fast damit, dass er mitten im Flug explodieren und tödliche Schuppen in alle Richtungen schleudern würde – und tatsächlich geschah etwas Außergewöhnliches. Allerdings setzte die Bestie nicht zu einer letzten wütenden Attacke an, nein, im Gegenteil – sie verschwand komplett.

Dælfine blinzelte mehrmals und kniff die Augen fest zusammen. Sie musste sich getäuscht haben. Aber es war kein Irrtum möglich: Die Kreatur hatte sich verflüchtigt. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst – oder zumindest, als hätte sie diese Welt verlassen.

Das Mädchen suchte den Himmel ab und sah sich nach allen Seiten um. War die Gefahr tatsächlich gebannt? Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Bestie tatsächlich ein für alle Mal verschwunden war, wandte sie sich wieder dem Jungen zu.

Er hatte die Augen weit geöffnet.

Mit starrem Blick sah er in den Himmel, genau auf die Stelle, wo der Drache verschwunden war. War das ein Zufall? Stand er vielleicht einfach unter Schock, und sein Blick ging ziellos ins Leere? Nahm er überhaupt wahr, was um ihn herum geschah?

Als er den Kopf langsam Dælfine zuwandte und sie sah, wie das Leben in sein blutverschmiertes Gesicht zurückkehrte, erstarrte sie vor Schreck. Kaum hörte sie die beiden Silben, die der Junge mühsam hervorstieß: »Wo…biax.«

Seine Augen quollen hervor und fielen dann wieder zu. Er hatte abermals die Besinnung verloren. Dælfine war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Was war das für ein seltsames Wort gewesen? Bedeutete es irgendetwas? In welcher Sprache hatte er gesprochen? War es ein Name gewesen? Oder fehlte ein Teil?

Kurz darauf kamen Sohia und Vargaï aus der Höhle, in der sich das Drama abgespielt hatte. Als Dælfine sah, wie schwer beide verletzt waren, hatte sie plötzlich sehr viel weniger Lust, eine Weltwanderin zu werden.

Allerdings war es längst zu spät, um einen Rückzieher zu machen.

4

Als der Junge aufwachte, hörte er als Erstes den Regen. Das stete Plätschern hatte ihn schon im Schlaf begleitet und sich mit seinen wirren Träumen vermischt. Als Nächstes kamen die Geräusche eines fahrenden Gespanns hinzu, das Knirschen der Räder – und Kinderstimmen. Jetzt war er endgültig wach. Er schreckte hoch und warf die Decke zurück.

Für einen kurzen Augenblick glaubte er noch zu träumen. Was tat er hier? Warum befand er sich in einem schwankenden Wagen, während Regen unablässig auf die Plane prasselte? Warum lag er auf einer Bank, auf der man ihm ein Bett bereitet hatte? Und wer waren die zehn Kinder, die ihn misstrauisch anstarrten?

»Endlich!«, rief eines von ihnen.

Es handelte sich um einen wohlgenährten Jungen von kräftiger Statur. Unhöfliche Menschen hätten ihn vielleicht als »dick« bezeichnet, aber der Junge blickte so finster drein, dass es wohl niemand wagen würde, ihm das ins Gesicht zu sagen. Als er von der Bank aufstand und sich auf das behelfsmäßige Lager setzte, rückten seine Kameraden dankbar auf den freien Platz.

»Das wurde aber auch Zeit!«, rief er. »Du hast ja ewig geschlafen, Mann! Seit drei Tagen quetschen wir uns auf einer Bank zusammen, während du seelenruhig vor dich hin schnarchst!«

»Seit drei Tagen?«, wiederholte der Junge.

Jetzt glaubte er nicht mehr, dass das Ganze ein Traum war – oder doch? Er versuchte sich zu erinnern, wo er vorher gewesen war, aber in seinem Kopf herrschte vollkommene Leere. Alles, was ihm einfiel, waren ein paar unzusammenhängende Bilder: eine Frau gab ihm Wasser zu trinken und wischte ihm das Gesicht mit einem Lappen ab, und ein Mann stellte ihm tausend Fragen, sobald er ein Auge öffnete.

Verwirrt sah er sich abermals um, und dabei fiel sein Blick auf die Kleider, die er trug. Sie gehörten ihm nicht. Oder doch? Plötzlich war er sich nicht mehr sicher. Im Grunde hatte er keine Ahnung.

»Also?«, schnauzte ihn der rundliche Junge an. »Wer bist du? Wie heißt du?«

Er setzte zu einer Antwort an, stellte aber verwundert fest, dass er über die Fragen nachdenken musste. Mit jeder Sekunde wuchs seine Angst. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, schnappte panisch nach Luft und schrie: »Ich weiß es nicht! Ich erinnere mich nicht!«

»Aha!«, höhnte ein anderer. »Ich hab es dir gesagt, Berris! Du hast die Wette verloren und schuldest mir einen Dukaten!«

»Verdammt!«, fluchte Berris.

Um seinen Ärger an jemandem auszulassen, boxte er dem an Gedächtnisschwund leidenden Jungen gegen die Schulter. Dieser spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Nicht der Schmerzen wegen, die waren nicht schlimm, sondern wegen der Verzweiflung, die ihn überkam. Was machte er hier? Und wer war er?

»Bu-hu-hu!«, spottete der Junge, der die Wette gewonnen hatte. »Jetzt fängt er gleich auch noch an zu heulen! Habt ihr so was schon mal gesehen? Einen heulenden Schakal?«

»Halt die Klappe, Vohn!«, fuhr ihn ein Mädchen mit rabenschwarzen Haaren an, das bislang geschwiegen hatte. Sie war weder besonders groß noch wirkte sie sonderlich stark, im Gegensatz zu ihrem Widerstreiter, aber sie schien trotzdem keine Angst vor ihm zu haben.

»Halt doch selber die Klappe!«, blaffte der Junge zurück. »Was ist, Dælfine, hast du dich verliebt? Willst du ihm vielleicht dafür danken, dass wir seinetwegen einen Riesenumweg machen mussten? Gefällt es dir etwa, dass wir uns alle auf eine Bank zwängen müssen, wo wir eigentlich längst hätten da sein sollen?«

Sie zuckte nur verächtlich mit den Schultern und warf dem namenlosen Jungen einen Blick zu. Plötzlich meinte er, sich an sie zu erinnern. Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen … Und zwar …

Doch ganz gleich, wie sehr er sich den Kopf zerbrach, er konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Ein unüberwindliches Hindernis stand zwischen ihm und seinen Erinnerungen.

»Du musst dich wehren und zurückschlagen«, riet sie ihm. »Lass dir von diesen Schwachköpfen nichts gefallen, sonst wird es immer schlimmer.«

Die nun eintretende Stille knisterte vor Anspannung. Alle warteten auf die Reaktion des fremden Jungen, vor allem Berris. Noch hatte er die Hände nicht zur Verteidigung erhoben, aber er ballte schon drohend die Fäuste.

Der namenlose Junge hatte keine Lust auf eine Keilerei. Außerdem wusste er gar nicht, ob er sich in seinem jungen Leben überhaupt schon einmal geprügelt hatte, und von jetzt an würde er sich diese Frage wohl bei jedem Gedanken stellen, der ihm in den Sinn kam. Niedergeschlagen wandte er sich ab und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Gut so!«, spottete Vohn. »Versteck dein dreckiges Gesicht, dann müssen wir es wenigstens nicht mehr sehen! Und was mischst du dich da überhaupt ein, Dælfine! Du hältst dich wohl für die Anführerin, was?«

»Nein«, entgegnete die Schwarzhaarige. »Genauso wenig wie du. Sohia hat Nobiane ausgewählt.«

»Pfft! Das war vor ein paar Tagen in den Bergen, das zählt nicht. Ich bin der Größte und …«

»Der Dümmste«, ergänzte das Mädchen. »Also ist und bleibt Nobiane die Anführerin.«

Eine zweite, weniger selbstsichere Mädchenstimme meldete sich: »Ich hab mich nicht darum gerissen …«

Eine heftige Diskussion brach aus. Jedes der zehn Kinder brachte mindestens eine Meinung und zwei Beleidigungen ein.

Der namenlose Junge begriff, dass das Thema offenbar regelmäßig zum Streit führte. Ihm war das alles völlig gleichgültig; er hörte nicht einmal mehr zu. Diese Kinder waren für ihn Fremde. Unbekannte, die ihn noch dazu nicht ausstehen konnten. Sie zankten sich über völlig belanglose Dinge, während er sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern konnte.

Schon bald ertrug er ihr Geplapper nicht mehr. Es machte ihn wahnsinnig, während er verzweifelt versuchte, seine Erinnerungen wachzurufen. Als er es nicht mehr aushielt, richtete er sich abrupt auf und schrie aus vollem Hals: »Kann mir vielleicht endlich mal jemand sagen, wer ich bin?«

Mit einem Schlag war es wieder still, nur der Regen prasselte weiter auf die Plane. Dann kam der Wagen zu einem Halt, ein Beweis dafür, dass auch der Kutscher den Schrei gehört haben musste.

Dælfine rang sich als Erste zu einer Antwort durch: »Das weiß niemand. Wir haben dich vor vier Tagen im Gebirge gefunden. In einer Höhle weit entfernt von jedem Dorf.«

»Und dort hast du tote Lämmer gefressen«, ergänzte Vohn. »Wie ein Schakal.«

Der namenlose Junge spürte die tiefe Verachtung hinter den Worten. Er selbst fand die Vorstellung ebenfalls widerwärtig, und er hatte keinerlei Erinnerung an all das. Konnte das wirklich wahr sein?

»L… Lämmer?«, wiederholte er fassungslos.

»Hör nicht auf ihn«, riet ihm Dælfine. »Er sagt viel, wenn der Tag lang ist. Er will sich nur wichtig machen.«

»Vargaï hat es selbst gesagt!«, widersprach Vohn. »Ich habe es genau gehört, und ich bin nicht der Einzige!«

»Das stimmt!«, rief Berris. »Er hat sogar gesagt, dass es so aussah, als hätte das Ungeheuer ihn ernährt!«

»Ja! Und da fragt man sich doch, wieso!«

»Bestimmt, weil sie miteinander verwandt sind!«, höhnte Berris. »Stell dir vor, die Mutter des Schakals ist ein Drache!«

In diesem Augenblick machte es im Kopf des namenlosen Jungen Klick. Oder besser gesagt: irgendetwas explodierte. Zwar fand er seine Erinnerungen nicht wieder, aber er sah eine Reihe von grellen Bildern vor seinem geistigen Auge aufblitzen. Doch auch wenn sie sogleich wieder verschwanden, war es zu spät. Unbändiger Zorn stieg in ihm auf.

Mit bestialischem Gebrüll warf er sich auf Berris und packte ihn an der Gurgel. Er drückte mit aller Kraft zu, ohne auf die entsetzten Rufe der anderen Kinder zu hören, ohne die Hände zu beachten, die ihn wegziehen wollten, und vor allem ohne Erbarmen für sein Opfer …

Es brauchte das energische Eingreifen eines Erwachsenen, um Berris, der bereits blau angelaufen war, zu befreien. Aber nicht einmal das reichte, damit der namenlose Junge von ihm abließ. Erst nachdem Vargaï ihm eine schallende Ohrfeige versetzt hatte, kam er wieder halbwegs zu Sinnen.

Ein paar Minuten zuvor hatte es aufgehört zu regnen. Sohia nutzte die Gelegenheit und führte den fremden Jungen ein Stück von den Planwagen fort. So konnten sich die erhitzten Gemüter erst einmal beruhigen. Vargaï konnte es gewiss kaum abwarten, sich zu ihnen zu gesellen, um den Jungen auszufragen, aber er musste sich zuerst vergewissern, dass es dem kleinen Berris gut ging, der einer seiner zukünftigen Schüler war. Außerdem war der Weltwanderer der Meinung gewesen, dass sich der namenlose Junge vielleicht eher der jungen Frau anvertrauen würde. Da hatte er sich allerdings getäuscht. Seit sie auf einem moosbewachsenen, feuchten Baumstumpf Platz genommen hatten, kam dem Jungen kein Wort über die Lippen. Er starrte nur stumpf auf den Boden. Da war er ja sogar im Schlaf redseliger gewesen …

»Willst du mir wirklich nicht sagen, was los war?«, fragte Sohia abermals sanft.

Keine Antwort. Die junge Frau konnte ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Der Arme musste völlig verwirrt sein. Er wusste nicht, wer er war, und konnte sich an nichts erinnern. Außerdem war er noch ein halbes Kind. Er musste Dinge erlebt haben, die so grauenvoll waren, dass sein Gehirn beschlossen hatte, sie auszulöschen – zusammen mit dem Rest seiner Persönlichkeit. Jeder andere hätte genauso panisch reagiert, wenn er in solch einem Zustand aufgewacht wäre. Seine Wut war nur Ausdruck seiner Verwirrung.

»Als wir dich gefunden haben«, fuhr sie fort, »hast du mehrmals ein Wort gesagt. ›Wobiax.‹ Ist das ein Name? Sagt dir das irgendwas?«

Er zuckte kurz zusammen und schien nachzudenken, schüttelte dann aber langsam den Kopf.

Schade. Aber wenigstens hatte er auf ihre Frage reagiert.

»Könnte das vielleicht dein Name sein? Möchtest du, dass wir dich so nennen, bis wir herausfinden, wie du wirklich heißt?«

Wieder ein Kopfschütteln, diesmal weniger zaghaft. Zwar kamen sie dem Rätsel so nicht auf die Spur, aber immerhin führten sie eine Art Gespräch …

»Du brauchst einen Namen«, erklärte Sohia. »Auch wenn es nur vorübergehend ist. Verstehst du?«

Nach einer halben Ewigkeit nickte der Junge. Dann schluckte er und murmelte bitter: »Die anderen nennen mich ›Schakal‹.«

»Ich finde, das passt überhaupt nicht zu dir«, sagte Sohia mit Nachdruck. »Vielleicht ›Löwe‹ oder ›Hyäne‹, aber bei deinen blonden Haaren kann man dich beim besten Willen nicht ›Schakal‹ nennen.«

Endlich wandte er sich ihr zu, auch wenn er nur große Augen machte. Sohia ließ ihm keine Zeit, sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzuziehen. In scherzhaftem Ton fuhr sie fort: »Andererseits kann man es sich leicht merken, und es ist originell. Man begegnet nicht oft jemandem, der ›Schakal‹ heißt. Was meinst du, bleiben wir bei dem Namen, oder versuchen wir, etwas Besseres für dich zu finden? Willst du dir vielleicht einen Namen aussuchen?«

Er gab keine Antwort, sondern sah sie nur unendlich traurig an. Sein verlorener Blick berührte Sohia tief. Spontan nahm sie ihn in die Arme und wiegte ihn sacht hin und her. So etwas war bei den Weltwanderern normalerweise nicht üblich, aber das war ihr egal. Der arme Junge war ohnehin kein Anwärter auf die Bruderschaft. Auch wollte sie nicht die Mutter für ihn spielen. Vom Alter her war sie eher so etwas wie eine große Schwester. Für einen Jungen, der alles verloren hatte, war das schon viel.

»Jona«, murmelte sie. »Wir nennen dich Jona.«