Die Tore zur Dämmerung - Pierre Grimbert - E-Book

Die Tore zur Dämmerung E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Gefährlicher, düsterer, magischer – mit »Die Tore zur Dämmerung« setzt Pierre Grimbert seine epische Saga von »Licht und Schatten« fort

Ein schrecklicher Verrat hat die Bruderschaft der Weltwanderer, die das magische Reich Gonelore vor Dämonen schützt, geschwächt – ausgerechnet jetzt, wo die finale Schlacht gegen die Ungeheuer bevorsteht. Aber es gibt noch einen kleinen Hoffnungsschimmer für die Bruderschaft: Die alten Legenden der Weltwanderer erzählen von einer magischen Waffe, mit deren Hilfe die Dämonen ein für alle Mal besiegt werden könnten. Doch die Waffe hat ihren eigenen Willen, denn ihre Macht könnte sich ebenso gut gegen den eigenen Träger richten – und damit ganz Gonelore endgültig dem Untergang preisgeben ...

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Seitenzahl: 530

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Pierre Grimbert

DIE TORE ZUR DÄMMERUNG

Die Saga von

Licht und Schatten 3

Roman

Aus dem Französischen von Sonja Finck

und Nadine Püschel

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Das Buch

Seit Jahrhunderten schützen magische Schleier die Menschen Gonelores vor den Dämonen und Chimären aus anderen Welten. Und seit Jahrhunderten bewacht die Bruderschaft der Weltwanderer die Schleier. Doch nun sind die Schleier im Schwinden begriffen, und die Bruderschaft ist entzweit.

Kaum haben die Weltwanderer von Zauberranke die letzte Schlacht gegen die Chimären geschlagen, werden sie von einem neuen, noch viel gefährlicheren Feind bedroht: Der Verräter Tannakis, einst selbst ein Weltwanderer Zauberrankes, ist in den Besitz eines einzigartigen Artefakts gelangt – ein Gegenstand, der so mächtig ist, dass Tannakis damit eine Armee von Chimären kontrollieren kann. Wird die Bruderschaft einem Angriff der Chimären und der Abtrünnigen standhalten können? Um Zauberranke und ganz Gonelore zu retten, muss sich der junge Weltwanderer Jona auf eine gefährliche Reise begeben. Eine Reise in die Vergangenheit der Bruderschaft. Eine Reise, die ihn schließlich hinter die Schleier führen wird …

Mit seiner preisgekrönten Bestsellerserie Die Magier schuf Pierre Grimbert eine einzigartige Fantasywelt – mit Die Saga von Licht und Schatten stellt er sein Erzähltalent nun erneut unter Beweis.

Der Autor

Pierre Grimbert wurde 1970 in Lille geboren und arbeitete einige Zeit als Bibliothekar, bevor er in Bordeaux Buchwissenschaften und Publizistik studierte. Mit seinen Romanzyklen um die geheimnisvolle Insel Ji feierte er riesige Erfolge und zählt seither zu den bekanntesten Fantasyautoren Frankreichs. Für Die Gefährten des Lichts wurde er mit dem renommierten Prix Ozon ausgezeichnet. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nordfrankreich.

Weitere Informationen zu Autor und Werk erhalten Sie unter:www.pierregrimbert.com

www.heyne-fantastisch.de

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Titel der französischen Originalausgabe

LES CHIFFONIERS – GONELORE 3

Deutsche Erstausgabe 08/2015

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2014 by Pierre Grimbert

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Bürosüd, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-15573-5V002

www.heyne.de

1

Sprung über einen umgestürzten Baumstamm. Kurz aus dem Tritt geraten, sich wieder fangen, weiterrennen. Weicher Boden, dann eine Lichtung voller Farne. Die feuchten Blätter peitschen ins Gesicht. Blind weiterhetzen. Wieder in den Wald eindringen. Vor einem Dornengestrüpp scharf rechts abbiegen, beschleunigen. Dreißig Meter geradeaus rennen, unter einem großen Wurzelgeflecht hindurchschlittern, ein kurzes Stück kriechen, wieder aus dem Hindernis hervorbrechen. Weiterrennen. Ohne Pause. Ohne Gewissheit, es zu schaffen.

Vargaï hätte nicht sagen können, wie lang diese wilde Flucht schon andauerte. Mindestens eine Stunde, vielleicht auch zwei oder drei. Der Weltwanderer hatte jede Orientierung und jedes Zeitgefühl verloren. Der finstere Wald, in den er immer tiefer vordrang, schien ihn verschlingen zu wollen. Außerdem verlor er mehr und mehr die Kontrolle über seinen neuen Körper.

Er hatte schon immer Vorbehalte gegen Verwandlungsprismen gehabt. Zwar hatte er in seiner langen Laufbahn als Weltwanderer schon etliche Male eines benutzt, aber immer nur in höchster Not. So wie in dieser Nacht, in der er vor seinen Feinden floh. Auch wenn er ihnen entkommen war, hatte er sich damit womöglich ins Verderben gestürzt.

Der Lupinus, dessen Gestalt er angenommen hatte, wehrte sich gegen den fremden Einfluss – oder besser gesagt, sein Geist, sein Phantom, denn das Geschöpf selbst war seit mehreren Wochen tot. Sein letzter Atemzug war kristallisiert, und Vargaï hatte das rohe Prisma gefunden und es heimlich, in nächtelanger Arbeit, zurechtgeschliffen. Im entscheidenden Moment hatte er es dann zwischen seinen Zähnen zerbissen und das freigesetzt, was von der Chimäre übrig war: ein Abbild ihrer Seele, ein schwacher Widerhall ihrer früheren Existenz, der in einem fremden Horizont gefangen war … Die Verschmelzung von Vargaïs Bewusstsein mit dem Geist des Lupinus hatte dem Weltwanderer das Aussehen eines riesigen Wolfs verliehen. Doch die Kreatur kämpfte darum, die Kontrolle über ihren Körper wiederzuerlangen, und Vargaï konnte sie nur mit Mühe zurückdrängen.

Er wusste, dass er den Kampf früher oder später verlieren würde. Mit jedem Augenblick wurde der Geist der Chimäre mächtiger und sein eigener schwächer. Das Phänomen wurde durch die wilde Flucht noch verstärkt: Der Lupinus befand sich in seinem natürlichen Lebensraum, während Vargaï sich in fremder Umgebung zurechtfinden und einen fremden Körper steuern musste.

Vargaï spürte, dass er der Chimäre bald unterliegen würde. In der tausendjährigen Geschichte der Bruderschaft war das schon mehrmals passiert. Dass eine unwiderrufliche Verwandlung nur sehr selten vorkam, beruhigte ihn nicht. Wenn er den geistigen Kampf gegen die Bestie verlor, würde er für immer in einem Körper gefangen sein, über den er keine Kontrolle mehr hätte. Er würde hilflos miterleben, wie der riesige Wolf durch die Gegend strich und seine Beute jagte. Nur wenn jemand ihn angriff und tötete, würde er sich wieder in Nichts auflösen. Doch das konnte sehr lange dauern. Zumal es mehr als unwahrscheinlich war, dass Vargaï den gewaltsamen Tod der Kreatur überleben würde.

Aus diesem Grund hatte er die Verwandlung bislang nie länger als ein paar Minuten aufrechterhalten. Er hatte die Verwandlungsprismen immer nur eingesetzt, wenn sein Leben in Gefahr war – um einen aussichtslosen Kampf in letzter Sekunde zu gewinnen oder sich aus einer Notlage zu retten. Sobald sein Ziel erreicht war, hatte er den Spuk schnell wieder beendet. Um seine menschliche Gestalt wiederzufinden, musste er es sich nur fest genug wünschen. Mit einem einfachen Willensakt konnte man den Geist der Chimäre zurückweisen, und das Phantom verschwand endgültig hinter dem Schleier, so wie es ihm bestimmt gewesen war. In dieser Nacht, hier im Wald, hätte Vargaï also nur stehen bleiben und sich die Bestie fortwünschen müssen, um wieder in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Aber er tat es nicht. Die Schnelligkeit und Ausdauer des Lupinus waren in seiner Lage einfach zu nützlich, um sie jetzt schon aufzugeben. Er musste noch ein wenig durchhalten. Es konnte nicht mehr weit sein …

Vielleicht war es aber auch schon zu spät.

Im nächsten Moment ertappte er sich dabei, wie er laut knurrte. Ein finsterer Schatten war wenige Meter über seinem Kopf vorbeigeflogen, er hatte sich deutlich vor dem Sternenhimmel abgezeichnet. Der Weltwanderer musste all seine Willenskraft aufbieten, um das Grollen in seiner Kehle zu ersticken. Der Instinkt des Lupinus befahl ihm, mit gespreizten Krallen und hochgezogenen Lefzen über die Kreatur herzufallen, die ihn so frech herausforderte. Doch Vargaï konnte noch klar genug denken, um sich stattdessen in die Farne zu ducken. Das Herz pochte ihm bis zum Hals.

Das Glück war ihm nicht hold. Die dunkle Gestalt flog noch zweimal über das Gebüsch hinweg, in dem er sich versteckte, und landete dann rund zehn Meter weiter. Äste und Zweige splitterten unter lautem Knacken. Durch die Augen des Wolfs konnte er in der Dunkelheit hervorragend sehen. Vargaï fletschte die Zähne, als er einen Speier erkannte, einen Kokatrus der übelsten Sorte, eine Chimäre mit gewaltigen Klauen, die die Gestalt eines riesigen Straußes hatte. Sollte es zum Kampf kommen, würde er nicht lange dauern. Die Frage war nur, welche der beiden Bestien als Erste zum tödlichen Schlag ausholen würde …

Vargaï zögerte noch mit dem Angriff. Mit drei Sätzen wäre er bei dem Speier, und er könnte ihm mit einem einzigen Biss das Genick brechen. Der Lupinus hatte nichts anderes mehr im Sinn. Er scharrte erregt mit den Pfoten, ohne dass sich der Weltwanderer dessen bewusst war. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die Kreatur mit den riesigen Flügeln, auf den Abstand zu ihr, auf die Baumstämme, die sie teilweise verbargen. Dann trippelte sie in sein Blickfeld, und er konnte sie endlich ganz sehen. Abermals stieß er ein drohendes Knurren aus.

Der Kokatrus war nicht allein. Auf seinem Rücken, in der Kuhle zwischen dem abstoßenden Hals und dem grässlichen Höcker, an dem die Flügel saßen, thronte eine menschliche Gestalt. Im ersten Augenblick wollte Vargaï nicht wahrhaben, was er da sah. Doch als diese Reiterin der Finsternis unvermittelt den Kopf in die Richtung wandte, aus der das Knurren kam, war kein Zweifel mehr möglich. Der Zorn brachte sein Blut zum Kochen: Seine Verfolgerin war keine Geringere als seine eigene Halbschwester, Nejabeth.

Während sie absaß, hatte er Gelegenheit, sie eingehend zu mustern. Nejabeth trug dieselbe Kluft wie vor wenigen Stunden, als er in ihrem Beisein die Flucht ergriffen hatte: eine lange, schwere Robe, ein Bandelier aus Kettengliedern, einen gebogenen Dolch und ihre Alchimisten-Tasche voller Phiolen, eine gefährlicher als die andere. Unter der Kapuze ihres langen Mantels schauten einige rote Haarsträhnen hervor. Das Ebenbild einer Hexe, dachte Vargaï. Und die Verräterin kam auf ihn zu.

»Bruderherz?«, rief sie. »Ich weiß, dass du da bist. Komm, zeig dich.«

Vargaï rührte sich nicht vom Fleck. Die Krallen seines Raubtierkörpers bohrten sich in den Waldboden. Ihn verlangte es danach, sie in lebendiges Fleisch zu schlagen.

»Komm schon«, wiederholte seine ältere Schwester. »Du kannst nicht vor mir fliehen. Wusstest du etwa nicht, dass Speier eine zehnmal bessere Nase haben als Hunde? Mein Reittier wittert deinen Menschengeruch, auch wenn du aussiehst wie ein Wolf. Es gibt in diesem Wald keinen Fleck, an dem du dich verkriechen könntest.«

Der Weltwanderer dachte fieberhaft darüber nach, was er tun sollte, doch dann verdrängte der wölfische Instinkt alle Vernunft, die ihm noch geblieben war. Die Bestie, deren Gestalt er angenommen hatte, hechtete los, um den Speier totzubeißen, der ihn so mühelos aufspüren konnte. Der Kokatrus flatterte in Panik davon, und Vargaï schaffte es, die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen. Wenige Schritte vor seiner Schwester hielt er lauernd inne.

Nejabeth ging in Abwehrstellung und musterte ihn einen Moment lang schweigend. In der Dunkelheit konnte sie wahrscheinlich nur eine riesige, drohend geduckte Gestalt und ein Paar glühende Augen ausmachen. Ihr Gesicht war angespannt, doch das genügte Vargaï nicht. Er hätte zu gern nackte Angst auf ihren Zügen gesehen.

»Du solltest wieder deine menschliche Gestalt annehmen«, sagte Nejabeth. »Der Metamorph hat dich bereits in seiner Gewalt. Bald wird es zu spät sein.«

Statt einer Antwort schnappte Vargaï mit gebleckten Zähnen nach der Verräterin. Wollte er ihr Angst machen? Ihr drohen? Oder glaubte sein verwirrter Geist, noch zum Sprechen imstande zu sein? Der Lupinus machte zwei nervöse Sprünge zur Seite und knurrte wütend.

»Siehst du! Ich habe recht«, fuhr Nejabeth fort. »Du bist nicht mehr bei Sinnen, lieber Bruder. Ich mache mir Sorgen um dich, Vargaï. Nur deshalb habe ich nach dir gesucht, nur deshalb bin ich hier. Bitte setz dich keinen unnötigen Gefahren aus. Von mir hast du nichts zu befürchten.«

Der Wolf hörte auf zu knurren, während der Weltwanderer, der in seinem Körper steckte, mit widerstreitenden Gefühlen kämpfte. Er misstraute seiner Schwester zutiefst, aber ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Einerseits wollte er das Weite suchen, andererseits war er neugierig, was sie ihm zu sagen hatte. Seine Abneigung gegen die Verräterin war groß, aber er würde nicht so weit gehen, seiner eigenen Schwester an die Kehle zu springen. Der Lupinus hingegen wollte nichts lieber als das, und Vargaï gelang es kaum noch, seinen Willen und den der Chimäre zu unterschieden.

»Das ist keine Falle«, versicherte Nejabeth. »Wie du siehst, bin ich allein. Tannakis weiß nicht, dass ich hier bin. Auch von meinem Kokatrus ahnt er nichts. Seine Männer und er durchsuchen ein Gebiet weiter westlich von hier. Du hast also einigen Vorsprung und könntest ihnen vermutlich entkommen. Du sollst wissen, dass ich dich nicht daran hindern werde.«

All diese schönen Versprechen – oder schamlosen Lügen – konnten den Metamorphen nicht besänftigen. Sein Blutdurst drohte die Oberhand zu gewinnen. Mit äußerster Willensanstrengung gelang es Vargaï, ein Stück in die Dunkelheit zurückzuweichen, doch der Geist des Lupinus trieb ihn zurück, bis er wieder mit gebleckten Zähnen vor Nejabeth kauerte. Die Alchimistin verlor die Selbstbeherrschung nicht, schob aber die linke Hand in die Tasche mit den tödlichen Phiolen.

»Ich bin dir nicht feindlich gesinnt«, beteuerte die Hexe. »Doch wenn du mich dazu zwingst, mich zu verteidigen, werde ich vor nichts zurückschrecken. Lass dich nicht von einer Chimäre besiegen, mein Bruder. Komm zu Sinnen, nimm menschliche Gestalt an, und kehr aus eigener Kraft nach Zauberranke zurück, auf zwei Beinen. Du hast einen Vorsprung vor Tannakis, das habe ich doch schon gesagt. Und ich werde ihm nichts von unserer Begegnung sagen.«

Der Wolf schnappte wieder mit den Kiefern. Mit Grausen wurde Vargaï bewusst, dass er versucht hatte, eine Antwort zu geben. Offenbar verwechselte er die Gestalt der Chimäre nun wirklich mit seiner eigenen.

»Nicht dass du mich falsch verstehst«, fuhr Nejabeth fort. »Ich bleibe der Enklave treu. Doch ich weiß, dass es an unseren Plänen und an unserem bevorstehenden Sieg nichts ändern wird, wenn du in Zauberranke Alarm schlägst. Die Schule der Weltwanderer ist so gut wie unser, Bruderherz. Bald werden Tannakis und ich unseren Stützpunkt dorthin verlegen, und dann werden wir uns die Länder Gonelores eines nach dem anderen untertan machen. Gegen unser Chimärenheer sind all eure Waffen nutzlos!«

Der Lupinus machte einen mächtigen Satz, um seiner Feindin an die Kehle zu gehen. Erst im letzten Augenblick konnte sich Vargaï bremsen. Die Hexe hatte bereits eine kleine Phiole mit einer schillernden Flüssigkeit hervorgezogen. Der Weltwanderer merkte kaum, dass er nur knapp dem Tod entronnen war. Verwirrung, Wut und Hass vernebelten ihm den Geist. Er wusste zwar noch, dass er den Metamorphen jederzeit aufgeben konnte, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Ob aus Angst vor einer Falle oder weil es bereits zu spät war, hätte er nicht sagen können.

»Komm zur Vernunft, Vargaï! Begreif doch endlich, dass wir der Bruderschaft nicht den Krieg erklären. Wir werden alle Weltwanderer, die dazu bereit sind, in unsere Reihen aufnehmen. Sie werden in Scharen zu uns überlaufen … Wir opfern seit tausend Jahren unser Leben, Vargaï! Generationen um Generationen von Weltwanderern starben bei der Verteidigung Gonelores, während die Könige und Kaiser in Saus und Braus lebten! Es ist an der Zeit, endlich den Platz einzunehmen, der uns gebührt. Da die Länder und Nationen auf unseren Schutz angewiesen sind, ist es nur recht und billig, dass wir auch über sie herrschen!«

Für den Bruchteil eines Augenblicks konnte der Weltwanderer wieder klar denken, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Nejabeth verschanzte sich hinter einer seltsamen Ideologie, aber sie war so heimtückisch, gierig und machthungrig wie eh und je. Andererseits schien sie ihn weniger zu hassen, als er gedacht hatte …

»Jeder, der ein Bandelier trägt, kann sich uns anschließen«, wiederholte Nejabeth. »Und wer auch nur einen Funken Verstand hat, wird das auch tun. Überleg es dir gut, Vargaï. Wäge meine Worte auf dem Weg zurück nach Zauberranke sorgfältig ab. Und wenn du dort angekommen bist, versuch den Hohen Rat davon zu überzeugen, uns einzulassen, statt nutzlose Barrikaden zu bauen. Das wäre die weiseste Entscheidung.«

Der Lupinus zog sich in die Dunkelheit zurück. Dieses Gespräch wurde ihm zu gefährlich. Je länger Vargaï seiner Schwester zuhörte, desto mehr war er geneigt zu glauben, dass sie recht hatte. Kurz erwog er, dem Lupinus für kurze Zeit die Kontrolle zu überlassen, damit er die Verräterin zum Schweigen brachte. Dann könnte sie seinen Geist nicht länger vergiften ….

Nejabeth konnte ihn bald nicht mehr sehen. Sie blieb allein zurück und suchte das Unterholz nach dem glühend roten Augenpaar ab, hinter dem sich der Weltwanderer verbarg. Doch Vargaï gelang es, an seiner Entscheidung festzuhalten und sich weiter von ihr zu entfernen. Er hoffte nur, dass er es rechtzeitig zurück nach Zauberranke schaffen würde. Er rannte abermals los, während seine Schwester ihm noch ein paar letzte Worte hinterherrief.

»Wenn in Zauberranke niemand ein Einsehen haben will, opfere wenigstens du dich nicht, Bruderherz! Du kannst dich uns immer noch anschließen und an unserem Triumph teilhaben! Vergiss nicht, dass uns Weltwanderern die Herrschaft über Gonelore zusteht, weil wir die Einzigen sind, die die Chimären aufhalten können. Und unsere Familie hat die besten Weltwanderer hervorgebracht!«

Vargaï hielt kurz in seinem rasenden Galopp inne und stieß ein lang gezogenes Heulen aus, bevor er weiterrannte. Er wusste nicht genau, warum er das tat. Vielleicht war es ein letztes Aufbäumen gewesen, eine letzte trotzige Herausforderung. Oder wollte er seiner Schwester damit sagen, dass er ihre Worte nicht vergessen würde? Vargaï war wieder einmal seinem wölfischen Instinkt gefolgt. Vielleicht ein Mal zu viel.

Gleich darauf verriet ihm ein schrilles Pfeifen, dass Nejabeth den Kokatrus zu sich rief. Doch der Lupinus, Phantom einer Chimäre aus einem fremden Horizont, hatte nur noch eine verschwommene Vorstellung davon, was das bedeutete.

2

Nobiane rieb sich den geschundenen Hals. Das Mädchen glaubte immer noch zu spüren, wie sich Zakarias’ Hände um ihre Kehle schlossen und zudrückten, fest und immer fester. In jenem Moment war sie überzeugt gewesen, sterben zu müssen, und obwohl seitdem mehrere Stunden vergangen waren, hatte sie noch immer den Eindruck, dem Tod ins Auge zu blicken. Dieses Gefühl stürzte sie in eine tiefe Schwermut, und so brütete sie schweigend vor sich hin.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Radjaniel.

Seine Worte rissen Nobiane aus ihren düsteren Gedanken, und sie nickte dem Lehrer zu. Nach einer durchwachten Nacht war Radjaniels Gesicht müde und sein Blick glasig, doch er war immer noch auf den Beinen und jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren. Nobiane bewunderte seine Ausdauer. Sie selbst saß schon seit einer ganzen Weile im Sand und kauerte sich unter ihrem Mantel zusammen. Mehrmals war ihr der Kopf auf die Knie gesunken, doch jedes Mal war sie nach wenigen Augenblicken wieder hochgeschreckt und hatte nach Luft geschnappt, als befände sie sich immer noch in Zakarias’ Würgegriff.

»Die Sonne geht auf«, sagte Radjaniel. »Gleich können wir uns ausruhen.«

Nobiane nickte und blickte erleichtert auf die ersten Sonnenstrahlen, die auf dem Meer schimmerten. Für das Häuflein Weltwanderer, die am Strand von Zauberranke wachten, bedeutete die Morgendämmerung Entwarnung. Einer nach dem anderen löschten sie ihre Lampen. Sie steckten ihre Waffen weg und streckten ihre müden Glieder. Drei von ihnen machten sich auf den Weg ins Schuldorf, nachdem sie Radjaniel zum Abschied zugewinkt hatten. Die drei anderen begannen, die Kadaver der in der Nacht getöteten Chimären zu inspizieren.

Immerhin hatten sie mit ihrem raschen Eingreifen Schlimmeres verhindern können. Kaum war am Vorabend die Lücke in dem Kristallwall entdeckt worden, der die Schule zum Meer hin schützte, hatte Arold, der Oberste Wächter von Zauberranke, seine Miliz dazu abkommandiert, die Bresche zu bewachen. Sechs Weltwanderer hatten die erste Schicht übernommen und waren dann von anderen abgelöst worden. Mit Radjaniels Hilfe hatten sie das gute Dutzend Chimären, die die Gelegenheit nutzen wollten, zurückgedrängt oder getötet. Es handelte sich vor allem um Krustenkrebse, aber es waren auch einige Chiroptiden dabei, die von einem geschickten Armbrustschützen mitten im Flug abgeschossen worden waren. So hatten die anderen Bewohner der Halbinsel eine ungestörte Nacht verbringen können. Die wissen ja gar nicht, was für ein Glück sie gehabt haben!, dachte das Mädchen.

Radjaniel und Nobiane hatten die ganze Nacht am Strand in der Nähe des Zeughauses ausgeharrt. Ihr Lehrer hatte sie gebeten, bei ihm zu bleiben, angeblich, weil er jemanden brauchte, den er im Notfall losschicken konnte, um Verstärkung zu holen. Doch vermutlich hatte er seine jüngste Schülerin einfach nur im Auge behalten wollen. Oder er sehnte sich nach etwas Gesellschaft, um sich von dem Kummer über Jonas Verschwinden abzulenken.

Die ganze Nacht hatten sie auf die Rückkehr des Jungen gehofft. Immerhin glaubten sie, dass er noch am Leben war, denn am Strand hatten sie Spuren gefunden, die ihnen Mut machten. Tags zuvor hatte ein Kind unweit der Bresche im Schutzwall Fußabdrücke im Sand hinterlassen. Daneben waren die Fußspuren eines Erwachsenen zu sehen. Gemeinsam waren sie zum Wasser gelaufen. Womöglich hatten sie versucht, dem grausamen Kampf zu entgehen, der sich dort abgespielt haben musste: Im Sand waren die Abdrücke von riesigen Krallen und Pranken erkennbar. Dazu passte, dass einer der Wachmänner behauptete, er habe einen Drakoniden vom Himmel stürzen sehen. Offenbar hatte der Drakonid die Meereschimäre bezwungen, die den Schutzwall beschädigt hatte …

Vielleicht hatte Jona diesen Kampf der Titanen mit angesehen. Jedenfalls hatte sich kein anderer Schüler gefunden, der zu dieser Zeit am Strand gewesen war. Und auch kein Weltwanderer hatte etwas von den Ereignissen mitbekommen. Deshalb ging das Gerücht um, dass es sich bei dem Erwachsenen um den Magister von Zauberranke handelte, Jor Denilius höchstpersönlich, der ebenfalls spurlos verschwunden war. Seither zermarterten sich Radjaniel und seine Schüler den Kopf darüber, was am Strand passiert war, und die meisten ihrer Überlegungen waren nicht gerade optimistisch … Waren die Vermissten von einem der beiden Ungeheuer verschleppt worden? Hatten sie in einem Ruderboot fliehen können? Schließlich fehlte einer der Kähne, die am Strand gelegen hatten. Aber warum kamen sie dann nicht zurück, jetzt, da die Gefahr gebannt war? Versteckten sie sich auf einer der Inseln vor der Küste? Oder war das Boot beim Angriff des Seeungeheuers im Wasser gelandet und aufs Meer hinausgetrieben? Waren Jona und Denilius unauffindbar, weil die Chimären ihre Leichen hinter den Schleier verschleppt hatten?

Nobiane schluckte, um diesen grauenvollen Gedanken zu verscheuchen, doch als sie ihren wunden Hals spürte, überfiel sie schlagartig wieder die Erinnerung an Zakarias, der sich aus seinem Grab erhoben hatte. Selbst bei Tageslicht war dieses Bild so furchterregend und widernatürlich, dass sich ihr der Magen umdrehte. Der Pirat war tatsächlich von den Toten auferstanden, nachdem seine Leiche drei Monate lang in einer eiskalten Gruft gelegen hatte! Die Finger, die er ihr um den Hals gelegt hatte, waren so kalt gewesen, so kalt …

Sie konnte den Brechreiz nicht mehr unterdrücken. Rasch wandte sie sich ab und übergab sich in den Sand. Die Magensäure brannte ihr in der Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen. Nun konnte sie nicht mehr an sich halten. Nobiane begann haltlos zu schluchzen. Vor ihrem geistigen Auge zogen all die schrecklichen Ereignisse des letzten Jahres vorbei: der Verrat durch ihre beste Freundin, die Schande, die Verbannung, die Trennung von ihrem Vater, das harte Leben in Zauberranke, die Demütigungen, die Kämpfe. Und auch ihre Zukunft sah alles andere als rosig aus. Um Dælfine zu helfen, die seit der Schlacht um den Leuchtturm blind war, hatte Nobiane Jora Vrinilia ein kostbares Prisma gestohlen. Die Oberste Prismenschmiedin war eine der mächtigsten Persönlichkeiten der Schule, und der Diebstahl war bereits entdeckt worden. Sicher würde Nobiane schon bald der Schule verwiesen werden. Sie würde den einzigen Ort verlassen müssen, an dem man ihr eine zweite Chance gegeben hatte.

»Keine Sorge«, sagte Radjaniel tröstend. »Wir sind jetzt außer Gefahr.«

Der Weltwanderer hatte sich neben sie gesetzt und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. Doch Nobiane konnte sich einfach nicht beruhigen. Die Situation schien ihr ausweglos. Wieder würde man mit dem Finger auf sie zeigen und sie mit Schimpf und Schande davonjagen. Sie würde ihre neuen Freunde verlassen müssen, und sie würde nie erfahren, ob Dælfine ihr Augenlicht wiedererlangen oder Jona unversehrt ins Zeughaus zurückkehren würde! Um ihrem Vater weitere Schmach zu ersparen, würde sie ein zurückgezogenes Leben führen müssen. Sie würde in einer Kammer in ihrem Elternhaus hocken, keine Besucher empfangen und dort inmitten der Gespenster der Vergangenheit alt werden … Es war wirklich zum Verzweifeln.

»Komm, wir gehen zurück ins Zeughaus«, sagte Radjaniel sanft. »Wir essen einen Happen und ruhen uns ein wenig aus. Außerdem sollten wir nach unserem Gast sehen.«

Nobiane nickte und rappelte sich auf. Wenn sie etwas zu tun hatte, konnte sie sich wenigstens der Illusion hingeben, dass sie dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert war. Noch war nicht alles verloren. Dass sie eine düstere Zukunft erwartete, war bislang nur eine Vermutung.

Nachdem sie einige Minuten schweigend vor sich hingestapft waren, kam ihr ein Gedanke, an den sie sich klammerte wie an einen Rettungsring. Eine Überzeugung, die ihr neuen Mut gab: Nobiane bereute nicht, was sie getan hatte.

3

Als sie das Prisma vor ihr linkes Auge hielt, stellte Dælfine verärgert fest, dass es helllichter Tag war. Sie hatte den Sonnenaufgang verpasst! Seit drei Monaten hatte sie dieses Naturschauspiel nicht mehr erlebt. Doch kurz vor dem Morgengrauen hatte sie die Müdigkeit übermannt. Sie würde also bis zum nächsten Tag warten müssen …

Ihre Enttäuschung verflog schnell. Sie war überrascht, wie viele verschiedene Farben sie durch den Kristall sehen konnte. In der vergangenen Nacht, im Schein der Lampen und Kerzen, hatte sie alles nur in Dunkelblau wahrgenommen. Im Tageslicht sah sie ihre Umgebung zwar immer noch in Blautönen, aber so detailliert, dass sie fast den Eindruck hatte, wieder sehen zu können!

Unwillkürlich ließ sie das Prisma sinken, um ihr Sehvermögen zu überprüfen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Vergeblich. Es war also kein Wunder geschehen: Sie war immer noch blind. Doch das Prisma half ihr, die Welt um sie herum wahrzunehmen, indem es das Licht verstärkte, das die Dinge reflektierten. Auf einmal ertrug sie die Dunkelheit nicht mehr und hielt sich die ungeschliffene Linse schnell wieder ans Auge. Dann ließ sie den Blick durch die Schlafkammer schweifen, die sie mit Nobiane teilte, als sähe sie den Raum zum ersten Mal.

Der Fensterladen stand offen. Natürlich – nach den Ereignissen der Nacht hatte sich niemand mit solchen Nebensächlichkeiten aufgehalten. Dælfine freute sich über das hereinfallende Licht, aber gleich darauf starrte sie entsetzt auf das Durcheinander, das in ihrem Winkel der Kammer herrschte. Ihre Kleider lagen in einem Knäuel in der Ecke, Laken und Bettdecke waren völlig zerwühlt, und auf ihrem kleinen Arbeitstisch türmte sich ein Berg von Krustenkrebsbeinen aus Radjaniels Werkstatt. Dabei hatte Dælfine geglaubt, ihren Alltag mittlerweile ganz gut zu meistern. Ein so klägliches Ergebnis hatte sie nicht erwartet.

Das bestärkte sie nur in ihrem Entschluss: Sie würde das Prisma nie und nimmer seiner Besitzerin zurückgeben. Sie wollte nicht wieder im Dunkeln umhertappen müssen, an den einfachsten Handgriffen scheitern und von den anderen bemitleidet werden.

Schließlich wanderte ihr Blick zu Nobianes Bett, und die Aufgabe, die man ihr anvertraut hatte, fiel ihr wieder ein. Dælfine sollte auf die Frau aufpassen, die dort lag. Deshalb war sie die ganze Nacht wach geblieben, bis sie kurz vor dem Morgengrauen von der Müdigkeit überwältigt worden war. Genauso gut hätte sie aber auch stundenlang schlafen können. Die Fremde hatte sich nicht gerührt.

Als Radjaniel, Arold und die Schüler sie gefunden hatten, war sie mehr tot als lebendig gewesen, völlig verwirrt und wie wahnsinnig vor Verzweiflung. Sie hatte sich über den Strand geschleppt und gestammelt: »Er wird ihn umbringen! Dieses Ungeheuer wird ihn umbringen!« Dann war sie schluchzend auf die Knie gesunken und hatte das Bewusstsein verloren. Sie hatten die Fremde ins Zeughaus gebracht, und seither hatte nichts sie wecken können: kein Rufen, kein Schütteln, nicht einmal die Riechsalze, die Radjaniel aus der Vorratskammer hervorgekramt hatte. Ihnen blieb nichts übrig, als zu warten und auf ein Wunder zu hoffen …

Dælfine seufzte leise, legte das Prisma auf ihrem Oberschenkel ab und rieb sich sanft die Augenlider. Alle, die von der Sache wussten, gingen davon aus, dass die Fremde etwas über Jonas und Denilius’ Verbleib wusste. Die wenigen Worte, die sie am Strand hervorgestoßen hatte, waren nicht gerade beruhigend. Ihre Aussage würde Zauberranke womöglich abermals in tiefe Trauer stürzen. Dabei waren die Wunden der letzten Zeit noch nicht verheilt.

Das Mädchen schüttelte betrübt den Kopf und nahm das Prisma wieder zur Hand, um ihrer dunklen Welt zu entfliehen. Als sie sich die Linse vors Auge hielt, wäre sie vor Schreck fast vom Bett gefallen: Die Fremde stand direkt vor ihr, und sie richtete einen Krummdolch auf sie!

Dælfine konnte nicht fassen, wie schnell und lautlos sich die Frau bewegt hatte. Der scharfe Ton, den die Unbekannte nun anschlug, tat sein Übriges, um sie einzuschüchtern: »Wer bist du?«, zischte sie. »Was mache ich hier? Wo sind wir?«

Dælfine musste zweimal schlucken, bevor sie antworten konnte.

»Im … im Zeughaus. Am Strand von Zauberranke. Ich heiße Dælfine. Ich bin eine Schülerin von Radjaniel …«

Die Fremde ließ die Waffe nicht sinken und musterte das Mädchen mit tiefem Misstrauen, was sich Dælfine nicht erklären konnte. Erst als die Frau weitersprach, verstand sie ihren Argwohn.

»Was machst du da mit dem Prisma vor dem Auge? Hältst du mich für eine Chimäre?«

»Nein, ich … Ich bin blind. Jedenfalls ohne diesen Kristall. Er hilft mir, die Dunkelheit zu lüften, die mich umgibt. Andere Kräfte hat er nicht.«

Fast hätte sie hinzugefügt: »Ihr habt nichts zu befürchten«, aber das kam ihr lächerlich vor. Die Fremde war zwar misstrauisch, aber Angst schien sie keine zu haben. Wie auch! Dælfine war ja fast noch ein Kind, und angesichts der scharfen Klinge, die auf sie gerichtet war, wagte sie sich nicht zu rühren. Die Frau hingegen sah aus wie eine Abenteurerin, eine kampferprobte Weltwanderin mit ebenso viel Erfahrung wie Vargaï.

Radjaniel hatte am Strand ihren Namen gesagt, Lygwenn, und Arold hatte ihm nicht widersprochen. Wie der Messerschleifer und der Oberste Wächter gehörte auch Lygwenn zur Generation der Veteranen. Wegen ihrer Falten und ihres weißen Haars schätzte Dælfine sie auf fünfzig oder sechzig, doch das Alter hatte weder ihrer Kraft noch ihrer Schönheit etwas anhaben können.

Voller Bewunderung musterte Dælfine die Fremde, die hellwach und kerzengerade in der Kammer stand. Plötzlich überkam sie der heftige Wunsch, dieser stolzen, unbeugsamen Frau mit der Lederkluft, der schartigen Waffe und dem abgewetzten Bandelier zu gleichen. Schon jetzt kam sie ihr vor wie eine Seelenverwandte. In vierzig Jahren würde Dælfine ihr hoffentlich ähneln.

Die Kriegerin bewegte ihre freie Hand zweimal vor Dælfines Gesicht hin und her, um zu prüfen, ob sie tatsächlich blind war. Dann ließ sie den Dolch sinken. Dælfine stieß einen erleichterten Seufzer aus, doch im nächsten Augenblick sprang Lygwenn in Richtung Tür.

Sie hatte sich so schnell bewegt, dass das Mädchen an eine optische Täuschung glaubte. Vielleicht zeigte ihr das Prisma auch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Gerade eben hatte die Fremde noch tief geschlafen, und jetzt bewegte sie sich mit geradezu übernatürlicher Geschwindigkeit. Ihre Bewegungen hatten etwas Animalisches, genauer gesagt: etwas Reptilienhaftes.

Dann ging alles so schnell, dass Dælfine der Mund offen stehen blieb: Die Weltwanderin riss die Tür auf und beförderte zwei Gestalten in die Kammer. Gess und Berris plumpsten zu Boden wie zwei Kätzchen, die man am Genick gepackt hatte.

Im nächsten Moment kniete die Frau auf Berris und hatte Gess einen Arm auf den Rücken gedreht. Sie warf der wie gelähmt dasitzenden Dælfine einen herausfordernden Blick zu. Aber was hätte das Mädchen schon tun können?

»Aua!«, protestierte Gess. »Was soll das?«

»Wir haben Stimmen gehört«, erklärte Berris.

»Genau!«, rief sein Kamerad. »Wir wollten doch nur nachschauen, wer da redet! Das ist doch kein Grund, gleich so durchzudrehen!«

Lygwenn drückte sie noch eine Weile zu Boden, aber dann machte sie plötzlich ein bestürztes Gesicht. Ihr Blick ging von Dælfine zu den beiden Jungen, und sie wurde totenbleich. Dann stammelte sie: »Ich … ich erinnere mich an euch … Ihr wart bei ihm … Auf dem Leuchtturm … Und im Wagen …«

Langsam erhob sie sich vom Boden. Dælfine sprang auf, um sie zu stützen, denn Lygwenn schien kurz davor, abermals in Ohnmacht zu fallen.

Da zeigte die Fremde mit dem Finger auf sie: »Und … ich erinnere mich an dich … Du warst in der Höhle … Ihr habt ihn mir weggenommen …«

Dælfine wechselte einen verwirrten Blick mit ihren Kameraden, die sich mittlerweile aufgerappelt hatten. Offenbar war die Weltwanderin noch nicht wieder ganz bei sich. Sie redete vollkommen wirres Zeug.

»Ihr habt ihn mir weggenommen«, wiederholte Lygwenn. »Und dann … hat er ihn mir geraubt … Er hat ihn entführt … Er wird ihn umbringen!«

Sie sprach nur noch mit sich selbst und schien in ihrer eigenen Gedankenwelt gefangen zu sein. Im nächsten Moment rannte sie zur Tür. Doch bevor sie den Ausgang erreichte, versagten ihr die Beine.

Gess und Berris fingen sie unbeholfen auf und halfen ihr zum Bett, aber kaum hatten sie die Weltwanderin auf der Kante abgesetzt, sprang sie schon wieder auf. Dann brach sie auf dem Bett zusammen.

»Ich muss hinterher …«, murmelte sie. »Ich muss ihn finden … Er wird ihn umbringen …«

»Wer bringt wen um?«, hakte Gess nach. »Eine Chimäre? Jona?«

Lygwenn kämpfte vergeblich gegen die Ohnmacht an. Ihre Augen verdrehten sich, und ihr schwanden die Sinne.

»Denilius … Dieser Wahnsinnige … Er wird Lehander umbringen. Er wird … ihn opfern … Ich muss …«

Das war das Letzte, was sie herausbrachte. Dælfine befürchtete schon, die Weltwanderin wäre gestorben, und sie griff rasch nach ihren Hand und fühlte den Puls. Nein, er war zwar schwach, aber eindeutig zu spüren.

»Denilius?«, fragte Gess. »Glaubt ihr, sie hat tatsächlich von unserem Magister geredet?«

»Er hat mir schon immer Angst eingejagt«, gestand Berris. »Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn er verrückt ist.«

»Und dieser Lehander, wer soll das sein? Ein anderer Weltwanderer?«

Gess sah fragend zu Dælfine, doch sie antwortete nicht. Durch ihre Prisma betrachtete sie das Gesicht der ohnmächtigen Frau, die Form ihrer Augen, das Grübchen am Kinn und das Schandmal, das sie am Bandelier trug. Es mochte Zufall sein, aber das alles erinnerte sie an jemanden. An einen Jungen, mit dem sie seit drei Monaten sehr viel Zeit verbracht hatte. Wenn sie richtig lag, würde das so einiges erklären.

»Es ist Jona«, sagte sie unvermittelt. »Lehander muss sein echter Name sein. Und diese Frau ist mit ihm verwandt.«

Die beiden Jungen starrten sie mit offenem Mund und aufgerissenen Augen an. Dann wanderte ihr Blick zu der Fremden. Gewiss suchten sie nach Ähnlichkeiten mit ihrem verschwundenen Kameraden. Unterdessen wurde Dælfines Vermutung zu Gewissheit. Sie wusste einfach, dass sie recht hatte. Alles passte so gut zusammen …

Nur einen Gedanken versuchte das Mädchen zu verdrängen. Sie wollte nicht an die Höhle denken, die die Weltwanderin erwähnt hatte, denn die Bilder, die vor ihrem geistigen Auge aufstiegen, flößten ihr furchtbare Angst vor der Fremden ein.

4

Radjaniel ärgerte sich, dass er den Moment verpasst hatte, als Lygwenn aufgewacht war, zumal er nur wenige Minuten zu spät gekommen war. Es hätte ihn weniger verdrossen, wenn sie in der Nacht zu sich gekommen wäre, während er am Strand Wache hielt … doch er schluckte seine Enttäuschung hinunter und konzentrierte sich auf den atemlosen Bericht seiner Schüler. Auch Nobiane, die neben ihm stand, lauschte ihren Kameraden gebannt.

Als die drei geendet hatten, trat Schweigen ein. Alle Blicke ruhten auf der ohnmächtigen Fremden, und alle versuchten, den Sinn ihrer gestammelten Worte zu verstehen. Dann wandten sich die Schüler zu Radjaniel um. Er war der Einzige, der Licht ins Dunkel bringen konnte. Zwar wagte keiner, ihn direkt zu fragen, aber ihre Neugier war unübersehbar.

Der Messerschleifer begriff, dass er sich nicht vor einer Erklärung drücken konnte. Wortlos winkte er die Schüler aus der Kammer. Sie versammelten sich im Gemeinschaftsraum um den Tisch. Radjaniel überlegte kurz, wie er anfangen sollte, aber er war einfach zu müde, um lange um den heißen Brei herumzureden.

»Es stimmt. Jona heißt in Wahrheit Lehander, und Jora Lygwenn ist seine Großmutter. Wie ihr selbst gesehen habt, ist die Ähnlichkeit nicht zu leugnen.«

Seine Schüler machten verblüffte Gesichter und bestürmten ihn dann mit Fragen:

»Seid Ihr sicher?«

»Und seit wann wisst Ihr davon?«

»Weiß Jona Bescheid?«

»Warum habt Ihr uns nichts gesagt?«

Radjaniel konnte ihre Empörung verstehen, bemühte sich aber, die Wogen zu glätten.

»Nur die Mitglieder des Hohen Rats wussten davon, und das auch erst seit Denilius’ Rückkehr. Jona, äh, Lehander war natürlich eingeweiht, aber da er entschieden hat, die Sache für sich zu behalten, stand es mir nicht zu, darüber zu sprechen. Ich nehme an, dass er sich erst an den Gedanken gewöhnen oder warten wollte, bis seine Erinnerung zurückkehrte.«

Dann erzählte er ihnen, dass Lygwenn sieben Jahre zuvor eine Weile in Zauberranke gelebt hatte. Damals versprach Denilius ihr, den Jungen in die Schule aufzunehmen, wenn er alt genug war.

»Lehander war also dazu bestimmt, das Bandelier der Schüler zu tragen«, schloss Radjaniel. »Daran hat auch sein Gedächtnisverlust nichts geändert. Wir wussten nur nicht, ob seine Großmutter noch lebt. Sie ist seine einzige Verwandte. Aber diese Frage ist ja nun geklärt.«

Alle blickten zur Tür der Schlafkammer. Die Fremde hatte etwas Faszinierendes an sich, dem sich niemand entziehen konnten. Radjaniel wusste selbst nicht so recht, was er von ihr halten sollte. Sicher war er Lygwenn vor vierzig Jahren schon einmal begegnet, aber damals waren sie so viele Weltwanderer gewesen, dass er sich nicht an sie erinnerte. Und als sie vor sieben Jahren nach Zauberranke gekommen war, um den Tod ihrer Tochter zu verarbeiten, hatte er seinen Geist mit Alkohol betäubt. Was für einen Menschen hatte er im Zeughaus aufgenommen? Wie verwundet musste ihre Seele sein, wenn sie einer blinden Elfjährigen einen Dolch an die Kehle hielt?

»Wie hat sie Zauberranke überhaupt erreicht?«, fragte Berris. »Außer mit einem Boot kommt man nachts doch gar nicht auf die Halbinsel.«

Dælfine zuckte zusammen, Gess schluckte vernehmlich, und Nobiane erbleichte unter ihren Sommersprossen. Die drei hatten die Antwort offenbar schon erraten. Früher oder später würde einer von ihnen den Gedanken laut aussprechen, so aberwitzig und furchterregend er auch war, und ihren Lehrer nach seiner Meinung fragen. Radjaniel wollte diesen Moment so lange wie möglich hinauszögern. Zwar hatte er sich selbst die halbe Nacht mit der Frage herumgeschlagen, aber er fühlte sich noch nicht imstande, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

»Das müssen wir Lygwenn selbst fragen«, sagte er ausweichend, »sobald sie wieder zu sich kommt.«

»Der arme Jona …«, murmelte Nobiane. »Da ist seine Großmutter hier bei uns im Zeughaus, und er weiß es nicht mal. Sie haben sich so knapp verpasst!«

Radjaniel und ihre Kameraden nickten traurig. Unter anderen Umständen hätten sie an diesem Tag ein Freudenfest gefeiert.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte Berris. »Warum sollte der Magister Jona entführen? Was hat er mit ihm vor?«

Radjaniel zuckte ratlos die Schultern. In den letzten Monaten hatte er an Denilius Wesenszüge entdeckt, die ihn überrascht und erschreckt hatten. Der Magister hatte sich als jähzornig, unnachgiebig und grausam erwiesen. Und was noch schlimmer war: Er hatte die Sicherheit der Schüler aufs Spiel gesetzt. Radjaniel erkannte Vargaïs Bruder, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband, kaum wieder. Was mochte ihn so verändert haben?

Der Messerschleifer wollte zu gern glauben, dass alles nur ein Missverständnis war. Denilius konnte nicht so gefährlich sein, wie es den Anschein hatte oder wie Lygwenn behauptete. Gewiss hatte er gute Gründe für sein Verhalten, und zu gegebener Zeit würde sich alles aufklären.

Allerdings konnte sich Denilius genauso gut als Verräter erweisen, das wusste Radjaniel. Und wenn der Magister den Jungen entführt hatte, blieb ihnen wenigstens die Hoffnung, ihn lebend wiederzufinden. Waren die beiden hingegen in den Kampf der beiden Riesenchimären verwickelt worden, dann …

Radjaniel verdrängte die schrecklichen Bilder, die vor seinem geistigen Auge aufstiegen. Sie waren ihm unerträglich. Er konnte nicht schon wieder einen Schüler verloren haben. Das hatte er sich geschworen. Lehander würde irgendwann wiederauftauchen, und wenn nicht, würde Radjaniel Gonelore höchstpersönlich durchkämmen und jeden Wald, jede Höhle und jede verlassene Ruine nach ihm absuchen!

»JOR RADJANIEL!«

Der laute Ruf von draußen ließ sie alle vor Schreck aufspringen, zumal sie sich im Flüsterton unterhalten hatten. Instinktiv blickte sich der Messerschleifer nach seiner Lanze um, aber dann fiel ihm ein, dass sie mit dem Verräter Huguebald über die Klippen in die Tiefe gestürzt war. Hastig packte er seine Machete und lief zur Tür, gefolgt von seinen Schülern.

Er hatte die Stimme von Arold, dem Obersten Wächter von Zauberranke, auf Anhieb erkannt. Doch irgendwie ahnte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Als er die bewaffneten Milizionäre sah, die auf dem Steg warteten, wusste er, dass der Monokelträger ihm keinen Höflichkeitsbesuch abstatten wollte.

»Jor Arold«, rief er zur Begrüßung. »Ihr seid früh auf den Beinen. Die Nacht war ja doch recht lang. Ist etwas vorgefallen?«

»Nichts, was Euch etwas anginge«, antwortete Arold. »Und bei Euch? Keine neue Katastrophe, um die ich mir Sorgen machen muss?«

Radjaniel musterte die fünf Milizionäre, die den Obersten Wächter begleiteten. Im Alltag waren sie gewöhnliche Lehrer, wie die meisten Weltwanderer, die in Zauberranke wohnten, doch aus Ehrgeiz oder Pflichtgefühl hatten sie dem Hohen Rat Waffentreue geschworen und konnten jederzeit abkommandiert werden.

»Ich habe nichts zu vermelden«, sagte er.

»Und die Tuchwanderin? Ist sie aufgewacht?«

Rajaniel zuckte zusammen, als Arold diese Bezeichnung für Jora Lygwenn gebrauchte. Natürlich hatte sie damals zu jener Gruppe von Weltwanderern gehört, die ganz Gonelore in Gefahr gebracht hatten, aber das alles war nun vierzig Jahre her, und keiner von ihnen hatte Schuld daran. Arold schien zu vergessen, dass seine treueste Verbündete, Jora Vrinilia, selbst zu den Tuchwanderern gehört hatte, und Denilius auch. Aber vermutlich war das ja das Problem.

»Sie schläft«, behauptete er.

Seine Schüler hielten den Atem an, aber keiner von ihnen war so töricht, ihm zu widersprechen. Radjaniel wusste selbst nicht genau, warum er log. Zumal Arold und er in den letzten Monaten recht gut miteinander ausgekommen waren. Sie hatten sogar Seite an Seite gekämpft, erst in den Katakomben der Schule und dann oben auf der Klippe. Doch die Tatsache, dass Arold am frühen Morgen mit einer bewaffneten Eskorte bei ihm auftauchte, ließ bei Radjaniel alle Alarmglocken schrillen.

»Hoffentlich kratzt sie uns nicht ab«, sagte der Oberste Wächter. »Zumindest nicht, bevor sie ausgesagt hat. Ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft wird ihre Lebensgeister wecken. Geht sie holen, Wachen!«

Die Milizionäre erklommen die Treppe zum Zeughaus. Radjaniel starrte sie verblüfft an, und als er sah, dass sie eiserne Schellen und Ketten trugen, verzog er ungläubig das Gesicht.

»Aber … Ihr wollt sie mitnehmen? In ihrem Zustand?«

»Was denn sonst?«, herrschte ihn Arold an. »Meint Ihr, ich bin hergekommen, um mit Euch über das Wetter zu plaudern? Wir sind schon ein hohes Risiko eingegangen, als wir diese Frau heute Nacht bei Euren Schülern zurückgelassen haben!«

Instinktiv stellte sich Radjaniel auf den oberen Treppenabsatz, um den Milizionären den Weg zu versperren. Der Oberste Wächter lief vor Wut rot an, aber der Messerschleifer ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Das war unsere gemeinsame Entscheidung!«, entgegnete er. »Was hat Euch dazu bewogen, Eure Meinung zu ändern, Arold? Und was sollen die Ketten? Die Frau ist völlig geschwächt, und außerdem trägt sie das Bandelier unserer Bruderschaft! Wie wollt Ihr sie zu einer Aussage bewegen, wenn Ihr sie wie eine Feindin behandelt?«

»Ich will kein Risiko eingehen«, erwiderte der Monokelträger. »Außerdem muss ich Euch nicht um Erlaubnis fragen, Radjaniel! Ich bin immerhin der amtierende Oberste Wächter von Zauberranke! Und die Ermittlungen, derentwegen ich Eure Gesellschaft ertragen musste, sind abgeschlossen!«

Der Messerschleifer rührte sich nicht von der Stelle. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Wenn er dem Anführer der Miliz weiter die Stirn bot, würde er großen Ärger bekommen. Andererseits konnte er nicht schweigend zusehen, wie ein Unrecht geschah.

»Macht endlich Platz!«, drängte Arold. »Seid nicht töricht! Ihr wisst, dass der Hohe Rat in den nächsten Tagen neu zusammengesetzt wird. Begeht nicht den Fehler, Euch jetzt auf die falsche Seite zu schlagen!«

Radjaniel nickte, ohne so recht zu wissen, welcher der beiden Aussagen er zustimmte.

»Bei allen Göttern!«, fluchte Arold. »Was habt Ihr Euch denn so? Fürchtet Ihr, etwas Wichtiges zu verpassen? Wenn es Euch beruhigt, verspreche ich Euch gern, Euch die Ergebnisse des Verhörs mitzuteilen! Aber das ist der letzte Gefallen, den ich Euch erweise!«

»Ich will Jona wiederfinden«, erwiderte der Messerschleifer.

Die Worte waren ihm wie von selbst über die Lippen gekommen. Plötzlich war die Sache ganz klar.

»Ihr könnt Jora Lygwenn gern zu Denilius, dem Komplott gegen Zauberranke und dem Grund für ihr plötzliches Auftauchen in Zauberranke befragen«, erklärte er. »Das alles interessiert mich nicht groß. Aber sie ist die einzige lebende Verwandte meines Schülers und womöglich die Letzte, die ihn vor seinem Verschwinden gesehen hat. Wenn sie aufwacht, will ich sie fragen, wo wir nach ihm suchen müssen.«

Arold seufzte übertrieben laut, während die Blicke seiner Milizionäre fragend zwischen den beiden Männern hin und her gingen. Offenbar waren sie nicht besonders scharf darauf, sich auf Radjaniel zu stürzen, aber wenn Arold es ihnen befahl, würden sie zu den Waffen greifen müssen.

»Eure Launen sind ermüdend«, sagte der Oberste Wächter. »Ihr wollt mir doch nur das Leben schwermachen!«

»Ganz im Gegenteil«, widersprach Radjaniel. »Seid doch froh, dass ich Euch Arbeit abnehme. Ihr habt mehr als genug um die Ohren. Lygwenn zu vernehmen ist wohl kaum die dringlichste Aufgabe, um die Ihr Euch kümmern müsst. Überlasst das mir. Natürlich werde ich Euren Anweisungen folgen. Das versteht sich von selbst!«

Arolds Miene blieb grimmig, doch dann gab er sich einen Ruck.

»Wenn Ihr sie hierbehalten wollt, müsst Ihr sie aber in Ketten legen.«

»Wenn Ihr darauf besteht«, sagte Radjaniel.

»Und ich dulde weder Gefühlsduselei noch Mitleid! Ihr werdet ihr die Fesseln nicht abnehmen, bis ich Euch dazu auffordere!«

»Das macht die Sache schwieriger, aber ich werde mich daran halten. Das verspreche ich Euch.«

»Ihr tragt die Verantwortung für die Gefangene!«, versetzte der Monokelträger. »Wenn sie flieht, jemanden angreift oder stirbt, müsst Ihr dafür geradestehen!«

»Selbstverständlich«, versicherte der Messerschleifer.

Sie funkelten sich einen Augenblick lang wortlos an. Dann sagte Arold: »Abgemacht. Ihr geht mir also noch eine Weile zur Hand. Ich hoffe für Euch, dass ich diese Entscheidung nicht bereuen werde!«

Radjaniel nickte und trat beiseite, um die Wachen durchzulassen. Seine vier Schüler sahen betreten zu Boden. Er war nicht gerade stolz darauf, derart mit Arold geschachert zu haben, aber er hatte auch nicht widerspruchslos zulassen können, dass Lygwenn abgeführt wurde. So behielt er wenigstens einen letzten Trumpf in der Hand. Vielleicht würde die Weltwanderin ihm ja tatsächlich einen Hinweis auf Jonas Verbleib liefern. Alles andere war unwichtig.

Als Arold die Treppe hochkam und sich dicht neben ihn stellte, kamen ihm Zweifel, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Der Oberste Wächter flüsterte ihm ins Ohr: »Wagt es nie wieder, Euch in Gegenwart meiner Männer wie ein Pfau aufzuplustern, Radjaniel. Ist das klar?«

Die Hand des Messerschleifers krampfte sich um den Griff seiner Machete, aber das war nur ein Reflex. Gleich darauf nickte er zähneknirschend.

»Dann sind wir uns ja einig«, höhnte Arold. »Wenn Ihr weiterhin so vernünftig seid, belohne ich Euch vielleicht mit einem kleinen Posten.«

Radjaniel nickte abermals. Verstohlen sah er zu seinen Schülern hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie diese demütigenden Worte nicht gehört hatten. Zu seiner Erleichterung starrten die vier den Wachen hinterher, die im Zeughaus verschwunden waren, um Lygwenn in Ketten zu legen. Ihre fassungslosen Blicke taten Radjaniel in der Seele weh. Die Welt der Erwachsenen konnte wirklich grausam sein.

Schließlich wandte er sich ab und schaute aufs Meer hinaus, um sich auf das Wesentliche zu besinnen. Lehander ist irgendwo da draußen. Gib die Hoffnung nicht auf.

Zum ersten Mal seit Langem verspürte Radjaniel den Wunsch, ein Gebet zu sprechen.

5

Noch nie hatte er so gefroren. Natürlich erinnerte er sich nur an die letzten vier Monate seines Lebens, also konnte er sich dessen nicht wirklich sicher sein, aber das war in diesem Moment egal. Ihm war kalt, und damit basta. Der schneidende Wind, die Gischt, das Wasser, das immer wieder aus dem Boot geschöpft werden musste – er war durchgefroren bis auf die Knochen. Irgendwann hatte er sich hinten im Boot unter einem durchnässten Mantel zusammengekauert und war in einen Dämmerzustand gefallen, mehr Ohnmacht als Schlaf. Beim Einnicken hatte er Angst, er werde nicht mehr aufwachen. So knapp war er dem Tod bestimmt noch nie entronnen.

Doch auch das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. In den Tiefen seines Gedächtnisses lag bestimmt so einiges verborgen …

Darüber dachte er lieber nicht nach. Die Kälte, die ihm in den Knochen saß, war eine Tortur, aber auch eine willkommene Ablenkung. So konnte er sich ganz auf den Schmerz konzentrieren und alles andere vergessen. Die Gesichter seiner Kameraden, die Tragödien, die sie gemeinsam erlebt hatten, die Seelenqualen, all das verschwand durch den stummen Aufschrei seines Körpers. Er konnte an nichts anderes denken als an die Kälte.

Leider konnte er die Außenwelt nicht ganz ausblenden.

»Lehander«, sagt jemand zum wiederholten Male. »Lehander, wach auf!«

Der Junge klammerte sich verzweifelt an das Nichts, in dem er versunken war. Er kniff die Augen fest zusammen, als reichte das, um die Wirklichkeit zu leugnen. Doch seine Mühe war vergebens. So unvermittelt und heftig wie ein Schlag auf den Hinterkopf flammte die Erinnerung an die letzten Stunden in ihm auf. Bevor ihn die Panik überwältigte, riss er die Augen auf.

»Ah, endlich! Ich hatte schon Angst, du würdest nicht mehr aufwachen.«

Der Mann schien es ernst zu meinen. Im Licht des neuen Tages hatte der Junge den Eindruck, als sähe er dieses Gesicht zum allerersten Mal. Ein kampferprobter Weltwanderer um die sechzig, mit vollem Haar und rotem Bart, in dem vereinzelt weiße Strähnen schimmerten, und mit diesem rätselhaften Funkeln in den Augen, mal wohlwollend, mal so kalt, dass man es kaum ertragen konnte. Denilius, Magister von Zauberranke – und sein Großvater. Zumindest behauptete er das.

»Ich habe so lange wie möglich gewartet«, erklärte der Alte. »Ich weiß, dass du dich ausruhen musst, aber die Sonne ist aufgegangen, und wir können das Boot nicht hier zurücklassen. Ich brauche deine Hilfe, um es an Land zu ziehen.«

Lehander nickte, allerdings mehr aus Höflichkeit. Er fühlte sich außerstande, irgendeine körperliche Anstrengung zu vollbringen. Als er seine betäubten Glieder bewegte, stöhnte er vor Schmerz auf. Doch Denilius starrte ihn auffordernd an, und so nahm der Junge all seine Kraft zusammen, raffte sich auf und stieg aus dem Boot.

Das eiskalte Wasser, das seine Unterschenkel umspülte, machte ihn endgültig wach. Seine Gedanken waren nun klarer, und jetzt nahm er auch die Umgebung wahr. Sie befanden sich mitten in der Wildnis, aber das war auch kein Wunder: Die Region rund um Zauberranke war nur spärlich besiedelt, das hatte er im Erdkundeunterricht gelernt. An der Stelle, an der Denilius an Land gehen wollte, mündete ein breiter Fluss ins Meer. Weit und breit war keine menschliche Behausung zu sehen, ja, nicht einmal eine Fischerhütte … Ringsum gab es nur den weiten Ozean, den Fluss und dichten Wald.

»Los«, drängte Denilius. »Pack mit an!«

Lehander griff nach dem Rand des Ruderboots, aber bevor er etwas tun konnte, wurde er vom Elan des Magisters mitgerissen. Mit fünf schnellen Schritten zog der alte Mann das Boot an Land und brachte es mit vier weiteren Rucks außer Reichweite der Wellen. Der Junge musste kaum mit anpacken, Denilius hätte es mühelos auch ohne ihn geschafft. Wenn man bedachte, wie müde er sein musste, war seine Kraft beeindruckend.

Doch dann zuckte Lehander zusammen: Offenbar diente das Manöver nicht etwa dem Zweck, das Boot aufs Trockene zu ziehen. Denilius versteckte es im Gebüsch und bedeckte es sogar noch zusätzlich mit Zweigen.

Da kam ihm ein Verdacht – ein furchtbarer Verdacht.

»Ihr befürchtet, dass wir verfolgt werden?«, platzte es aus ihm heraus.

Denilius antwortete, ohne den Blick zu heben.

»Du kannst mich duzen, weißt du. So wie es unter Verwandten üblich ist.«

Lehander schluckte und nahm all seinen Mut zusammen.

»Warum versteckst du das Boot? Es sieht ganz so aus, als … als wolltest du nicht, dass man uns findet. Als hätten … als hätten wir etwas Schlimmes getan.«

Es war kein direkter Vorwurf, aber er war wohl deutlich genug. Der Magister ließ von dem Boot ab und starrte den Jungen mit unergründlichem Blick an.

»Du grübelst, du zweifelst … Das ist nur verständlich. Wer einen so wachen Geist hat wie du, der begnügt sich nicht mit dem äußeren Anschein der Dinge. Die Dinge sind kompliziert, mein Junge. Wir werden auf unserer Reise mehr als genug Zeit zum Reden haben.«

Das Wort traf Lehander wie ein Peitschenhieb. Reise. Am Abend zuvor hatten sich die Ereignisse derart überschlagen, dass er mit Denilius mitgegangen war, ohne groß nachzudenken. Unwillkürlich hatte er nach der einzigen Hand gegriffen, die das Schicksal ihm hinzustrecken schien … Doch im Licht dieses kalten Morgens sah alles schon ganz anders aus.

»Eine Reise? Wohin?«

»Eine Reise, die deine Ausbildung vollenden wird, mein junger Freund. Und vielleicht wird sie uns sogar noch weiter führen, so die Götter es wollen!«

Diese rätselhafte Antwort trug nicht gerade dazu bei, Lehander zu beruhigen. Vor allem, da der Magister bei der Erwähnung der Götter ein ganz entrücktes Gesicht machte.

»Aber kehren wir denn nicht nach Zauberranke zurück? Ich dachte, wir bringen uns nur die Nacht über in Sicherheit. Bestimmt hat sich die Lage dort längst beruhigt. Sicher sucht man uns schon!«

Denilius runzelte die Stirn.

»Zauberranke ist kein Ort mehr für uns«, knurrte er. »Das ist zwar bedauerlich, aber so ist es nun mal. Würde ich noch länger dort bleiben, würde ich nur meine Zeit verschwenden. Ich müsste gegen den Hohen Rat ankämpfen und mich für Ideen einsetzen, für die noch niemand bereit ist. Wir werden unsere Arbeit viel besser tun können, wenn wir uns von all dem fernhalten, Lehander. Du wirst schon sehen.«

Doch die Angst quälte den Jungen weiterhin. Immer wieder suchte er den Horizont nach dem Leuchtturm ab, der die Halbinsel von Zauberranke überragte, aber er konnte ihn nirgends entdecken. Er wusste ja nicht einmal, in welcher Richtung er lag.

»Keine Sorge«, fügte der Magister hinzu. »Wenn alles wie erhofft läuft, werden wir an einem Ort leben, der tausendmal schöner ist als Zauberranke. Du wirst dich noch ärgern, nicht früher dorthin gekommen zu sein!«

Lehander glaubte ihm kein Wort. Er sah eher schwarz für seine Zukunft, denn das Paradies, von dem Denilius sprach, konnte genauso gut das Jenseits sein.

»Ich kann nicht!«, sagte er. »Ich kann meine Freunde nicht im Stich lassen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben! Vielleicht irren sie immer noch durch die Katakomben!«

Denilius runzelte wieder die Stirn. Er schien kurz davor, die Geduld zu verlieren. Jeden Augenblick konnte ein Donnerwetter über Lehander hereinbrechen.

»Deinen Kameraden geht es gut«, sagte der Magister gereizt. »Als ich sie zurückließ, waren Arold und Radjaniel bei ihnen, und sämtliche Chimären waren besiegt. Du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen.«

»Aber sie machen sich bestimmt Sorgen um mich! Radjaniel muss erfahren, dass ich noch am Leben bin!«

»Und wozu, bei allen Göttern?«, herrschte ihn Denilius an. »Seit gestern Nacht ist er nicht mehr dein Lehrer! Eigentlich solltest du nicht mehr sein Abzeichen tragen, sondern meins!«

In seiner Erregung machte Denilius drei rasche Schritte auf den Jungen zu, doch der wich ebenso schnell zurück und bedeckte die Nieten seines Bandeliers mit der Hand. Zum Glück gewann der Magister seine Selbstbeherrschung zurück, bevor die Lage eskalierte.

»Das regeln wir später«, sagte er knapp. »Die Sache eilt ja nicht. Ich schätze, wir müssen uns erst besser kennenlernen, bis wir einander vertrauen. Ich verspreche dir also, deinen Gürtel nicht anzurühren, mein Junge. Und du versuch bitte zu begreifen, dass deine Situation sich verändert hat. Du bist jetzt kein einfacher Erstkreisler mehr. Von nun an bist du der einzige Schüler eines der bedeutendsten Mitglieder der Bruderschaft. Häng dein Herz nicht unnötig an diejenigen, die zurückbleiben. Das hält uns nur auf.«

Lehander bemühte sich, dem bohrenden Blick seines Großvaters standzuhalten, auch wenn er am liebsten das Weite gesucht hätte. Großvater hin oder her, Magister hin oder her … Dieser Mann schien bereit zu sein, über Leichen zu gehen, um seine Ziele durchzusetzen.

»Und wenn es nicht so läuft wie geplant?«, fragte er. »Wenn unsere Reise erfolglos ist? Darf ich dann nach Zauberranke zurück?«

Denilius schüttelte den Kopf, und Lehander zog sich der Magen zusammen.

»Wenn unsere Reise erfolglos ist, das heißt, wenn es mir nicht gelingt, dir beizubringen, wie du deine Gabe am besten nutzen kannst, dann wird es niemandem gelingen. Was danach geschieht, ist gleichgültig, weil Gonelore und die Menschheit zum Untergang verurteilt sein werden. Von mir aus kannst du dann auch nach Zauberranke zurück. Dann kannst du tun und lassen, was du willst – in der Zeit, die uns noch bleibt.«

Der Junge hütete sich, etwas dazu zu sagen, aber sein Urteil stand fest: Der Magister war völlig von Sinnen. Seine Worte erinnerten ihn an Zakarias. So ähnlich hatte der Pirat dahergeredet, bevor er sich vom Leuchtturm in die Tiefe gestürzt hatte. Und drei Monate später war er von den Toten zurückgekehrt.

Als Lehander schwieg, fuhr Denilius fort: »Ich kann mir vorstellen, dass es dir schwerfällt, das zu akzeptieren, aber du musst mir vertrauen, Lehander. Ich bin der Einzige, der dich deiner Bestimmung zuführen kann. Und obendrein bin ich dein Großvater, der einzige Verwandte, den du noch hast. Vergiss das nicht!«

Der Junge nickte lustlos. Denilius’ Worte überzeugten ihn nicht, zumal es niemanden gab, der ihren Wahrheitsgehalt bestätigen konnte. Wieso hatte er sich nur in diese missliche Lage gebracht? Er hätte sich an Radjaniel, Sohia, Maetilde oder irgendeinen anderen Weltwanderer, dem er vertraute, wenden sollen, bevor er zu seinem Großvater ins Boot stieg.

Natürlich wusste er genau, warum er Denilius gefolgt war: aus reiner Feigheit. Aus jener Angst heraus, die ihn nicht mehr losließ, seit er entdeckt hatte, dass er die Fähigkeit besaß, den Schleier zu durchbrechen und in andere Horizonte vorzudringen. Machte ihn diese Fähigkeit zu so etwas Ähnlichem wie einer Chimäre? War er überhaupt ein Mensch wie jeder andere? Denilius behauptete, ihm beibringen zu können, wie man diese Gabe beherrschte. Wie konnte er da nicht versucht sein, ihm Glauben zu schenken?

Andererseits: Wie konnte er ihm nicht misstrauen? Schließlich schien er ganz eigene Ziele zu verfolgen …

Während er so hin und her überlegte, stand Lehander reglos da. Da löste Denilius plötzlich seine Streitaxt vom Gürtel. Der Blick des alten Kämpfers war hart geworden und so stechend, als könnte er durch Lehander hindurchsehen. Was hatte er jetzt schon wieder falsch gemacht? Doch als der Magister sein Prisma aus einer Tasche an seinem Bandelier zog und es sich vor das linke Auge hielt, wurde dem Jungen bewusst, dass sie in Gefahr waren. Im nächsten Moment befahl ihm Denilius, sich zu Boden zu werfen, und Lehander gehorchte blindlings.

Die Chimäre streifte ihn nicht, aber der Luftzug, den er im Rücken spürte, ließ seine Haare zu Berge stehen. Als er den Kopf hob, sah er gerade noch eine Gestalt mit einer Flügelspannweite von mehreren Metern. Dann verschwand die Chimäre wieder hinter dem Schleier. Denilius ließ sie nicht aus den Augen und folgte ihrer Bahn mit dem Prisma. Da begriff Lehander, dass das Tier erneut angriff – und zwar im Sturzflug!

»In Deckung! Hinter das Boot!«, schrie der Magister. »Schnell!«

Das brauchte er dem Jungen nicht zweimal zu sagen. Halb rannte, halb kroch er auf das Boot zu und duckte sich hinter den Rumpf, auch wenn der nur einen sehr dürftigen Schutz bot. Er hätte alles für eine eigene Waffe gegeben, aber sein Krustenkrebsschwert war in der Brust von Zakarias stecken geblieben.

Im nächsten Moment tauchte die geflügelte Kreatur wieder in Gonelore auf und stieß einen gellenden Schrei aus, der Lehander durch Mark und Bein ging. Ihre ausgestreckten, messerscharfen Krallen waren nicht weniger furchterregend. Beim Anblick des gigantischen Greifvogels, der auf ihn zuschoss, fühlte sich Lehander wie ein Kaninchen, das gleich von einem Adler gepackt wird.

Unwillkürlich schrie er auf, als Denilius’ Axt durch die Luft sirrte und den Falkoniden mitten im Flug am Kopf traf. Die Bestie stürzte tödlich verwundet zu Boden, und die Waffe schlug neben ihr auf. Im Todeskampf zuckte die Chimäre wild mit einem Flügel und fegte mit dem anderen in alle Richtungen über die Erde. Der Junge wagte nicht, sich zu rühren. Der Anblick verstörte ihn und widerte ihn an. Er zitterte immer noch, als der Magister seine Streitaxt aufhob. Im nächsten Moment sprang Denilius vor und machte dem Ungeheuer mit einem gezielten Hieb den Garaus.

Der Falkonid war sofort tot. Dennoch schlug Denilius wieder und wieder mit seiner Axt auf den Kadaver ein. Bei jedem Hieb dachte Lehander, dass es nun endlich vorbei wäre und der Magister von der Chimäre ablassen würde. Doch da täuschte er sich. Er hielt den Atem an, während der Mann, der behauptete, sein Großvater zu sein, den Kopf des Falkoniden zu Brei drosch.

Nach endlosen Minuten hielt der Krieger endlich inne und wandte Lehander sein blutbespritztes Gesicht zu, das nicht einmal erleichtert wirkte, sondern zu einer furchterregenden Grimasse verzerrt war. Mit der Axt in der Hand ging Denilius neben dem Jungen in die Hocke.

»Das alles wird bald vorbei sein, das verspreche ich dir. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem wir die Chimären nicht mehr fürchten müssen und endlich in Frieden leben können!«

Der Junge nickte hastig, denn er wollte diesen unberechenbaren Mann auf keinen Fall reizen. Er nahm sogar die Hand, die der Magister ihm reichte, um ihm aufzuhelfen … Wieder einmal!