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Der K2 ist der König jener Giganten aus Eis und Fels, die auf unserer Erde am weitesten in den Himmel hinaufragen. Es ist nahezu unmöglich, sich seiner Faszination zu entziehen. Tamara Lunger, die wohl eine der stärksten Bergsteigerinnen unserer Zeit ist, hatte den K2 bereits im Sommer des Jahres 2014 bestiegen. Nach einer Reihe traumatischer Erlebnisse, darunter die Pandemie, die Überwindung einer tiefen emotionalen Krise und der Schock, Simone Moro in eine Gletscherspalte des Gasherbrum stürzen zu sehen, beschließt sie, auf den K2 zurückzukehren und dessen Erstbesteigung im Winter zu wagen. Dies hier ist das außergewöhnlich Tagebuch dieser nervenaufreibenden und tragischen Expedition. Wie bei einer Liveübertragung erzählt Tamara vom anfänglichen Enthusiasmus, aus dem zunächst tiefe menschliche Bindungen zu ihren Berg- und Seilkameraden entstehen, von den unmenschliche Mühen, der eisige Kälte und den immer wieder unvorhersehbaren Situationen, und schließlich vom Tod, der fünfmal direkt vor ihren Augen einen nach den anderen ihrer Kameraden und Freunde zu sich holt. Doch aus ihren Erzählungen geht auch hervor, wie sich Tamara inmitten all dieser Tragödien und unter dem ewig vereisten Gipfel des K2 erstmals gezwungen sieht, sich plötzlich tiefgehend mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und genau darin liegt die Erkenntnis des Höhenbergsteigens: in der immensen Kraft und Stärke der Natur, neben der das menschliche Dasein zu einem unwichtigen Nichts verblasst. Niemals wird es uns wirklich gelingen, einen Berg zu bezwingen; es ist uns lediglich erlaubt, ihn zu respektieren. Im Gegenzug zeigt er uns, manchmal auf schreckliche und totbringende Weise, wer wir wirklich sind. Und genau so ist es Tamara Lunger ergangen.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für meine Freunde Sergi, Ali, Atanas und John. Und ganz besonders für meinen Seilkameraden JP. Du sagtest einmal zu mir: „Du bist ein sehr intensiver Mensch. Das gefällt mir!“
Es waren sehr schwierige und intensive Zeiten, die wir gemeinsam durchgestanden haben. Du hast mir damit die Kraft geschenkt, den Verlust von Sergi und dir sowie von Ali, John und Atanas anzunehmen. Dafür danke ich dir!
Ihr alle werdet für immer in meinem Herzen sein!
Vorwort von Gerlinde Kaltenbrunner
Rückblende – die Gletscherspalte
K2 – meine ganz persönliche Göttin
Aufbruch zum Basislager
Am Fuß des Berges
Frau und Bergsteigerin
Begegnungen
Der erste Aufstieg
Puja, Tänze und Kälte
Alles erstrahlt im Lager I
Lager II
Sergi
Der Tag danach
Tränen und Träume
Das Warten, die Pläne und die Lust auf den Gipfel
Letzte Vorbereitungen
Auf zum
summit push!
Der längste Tag
Summit push
und Abbruch
Der Abstieg
Rückkehr ins Basislager
Abschied vom K2
Nachwort – sich an alles erinnern
Schlusswort
Danke sagen
Es war Mai 2005, als ich einen Vortrag in der Nähe von Tamaras Heimatort halten durfte. Wie so oft berührte mich dabei das Eintauchen in meine Welt der 8000er und die lebhafte Anteilnahme vieler Zuhörer sehr. Der im Anschluss daran rege, persönliche und individuelle Austausch vertieft diese Erfahrung. So auch an jenem Abend. Nach zahlreichen Gesprächen stand eine junge, sportliche Frau vor mir, die mich zurückhaltend, ja fast schüchtern, fragte, wie und ob sie es wohl schaffen könnte, ebenfalls mit 23 Jahren auf einem 8000er zu stehen. „Selbstverständlich kannst du das“, sagte ich sofort. „Du musst es nur aus tiefstem Herzen wollen.“
Und so war es bei Tamara auch. Sie wollte es so sehr, dass sie dem richtigen Menschen für ihr Vorhaben begegnete, und bereits 4 Jahre später mit einer von Simone Moro geleiteten Expedition zum sechsthöchsten Berg der Welt, dem Cho Oyu, aufbrach. Das Team plante, über die Normalroute auf der Nordseite des Berges, der an der Grenze zwischen Nepal und Tibet liegt, aufzusteigen, doch gerade deshalb sollte ihnen der Cho Oyu in jenem Jahr verwehrt bleiben: China schloss die Tore zu Tibet, und niemand durfte den Cho Oyu im Herbst 2009 besteigen. Tamara ließ sich jedoch nicht entmutigen, denn ihr Herzenswunsch war so groß, dass sie im folgenden Frühjahr wieder aufbrach – dieses Mal sollte es der vierthöchste Berg der Welt sein – der Lhotse. Ich freute mich sehr über die Nachricht, dass sie am 23. Mai 2010, kurz vor ihrem 24. Geburtstag, den Gipfel erreicht hatte. Damals war sie die jüngste Frau, der das gelungen ist.
Dieser Erfolg war der Beginn von Tamaras intensiver Bergsteigerkarriere, die sie auf einige hohe Gipfel dieser Welt führte. Sie ging durch Höhen und Tiefen, durfte bei ihren Expeditionen Erfolge feiern, musste aber auch Enttäuschungen und Schmerz erfahren, Rückschläge einstecken. Mit ihrer positiven und energiegeladenen Art schien Tamara auch die schweren Momente, die sie sehr berührten, immer wieder gut zu verarbeiten. Sie hat die Gabe, nach innen zu gehen und auf ihr Bauchgefühl zu hören, was ihr in vielen Situationen Vertrauen und Sicherheit gibt, und ihr bei der Winterexpedition zum K2 wohl auch das Leben gerettet hat. Diese Expedition hinterließ bei Tamara tiefe Spuren. Der K2 ist es aber auch, der ihr eine breite Palette an Erfahrungen und Kenntnissen bescherte. Und so erreichte sie im Jahr 2014 als zweite Italienerin ohne Flaschensauerstoff den Gipfel.
Der K2 ist für mich selbst weit mehr als der letzte 8000er, den ich besteigen durfte. Es ist der Berg, der mich besonders nachhaltig prägte. Die Erinnerungen an meine K2-Expedition(en) rufen auch heute noch ein allumfassendes Gefühl der Dankbarkeit und tiefen Freude hervor. Zum K2 habe ich eine ganz besondere, ja karmische Verbindung. Tamaras lebhaften Berichten und Schilderungen kann ich entnehmen, dass sie mit diesem magischen Berg eine ähnliche Erfahrung gemacht hat.
Auch deshalb hat mich ihr Buch sehr berührt; uns beide verbindet die Liebe zu den Bergen, der Herzenswunsch, in der Natur zu sein, und eben auch diese besondere Beziehung zum K2, der uns wunderbare Glücksgefühle, aber auch Leid beschert hat. Jedoch bin ich überzeugt, dass es Fügung war und unser Schicksal, und dass wir das, womit uns der K2 konfrontierte, zu erleben hatten, um daraus unsere Lehren für Wachstum und Entwicklung ziehen zu können. Für Tamara bedeutete dies beispielsweise, neue Wege einzuschlagen, andere Menschen noch mehr zu unterstützen, zu motivieren und zu bewegen. Nicht nur das, was sie für jene Mädchen in Pakistan macht, bewundere ich sehr. Sie beteiligt sich dort selbst tatkräftig am Bau einer Kletterwand, bohrt Routen ein und bringt den jungen Frauen bei, wie man sich am Fels und in den Bergen bewegt. Tamara greift Möglichkeiten sofort auf, packt an und hilft. Ich bin überzeugt, dass sie auch auf ihrem weiteren Weg zu den hohen Bergen und durch ihr Sosein noch viele Menschen motivieren und begeistern wird.
Gerlinde Kaltenbrunner, Attersee, im März 2023
18. Januar 2020, Gasherbrum – Pakistan
„Schneide das Seil durch! Simone, wenn du irgendwo in Sicherheit bist, schneide das Seil durch!“
Die Schreie sprudeln mit all meiner Verzweiflung aus meinem Mund, schneller noch als jeder Gedanke. Ich bin völlig geschockt. Und kann es selbst kaum glauben: Mir bleibt keine Wahl mehr und ich kann nichts anderes machen, als Simone mit aller Kraft zuzurufen, dass meine Hand feststeckt. In einem Sekundenbruchteil war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Verschwunden in diesem schwarzen Loch, das auch mich gleich hineinziehen und verschlingen wird. Simone ist da irgendwo tief unten und ich weiß nicht, wie sein Zustand ist, oder ob er mich überhaupt hören kann. Alles, was ich im Moment weiß, ist, dass nur er mir jetzt helfen kann. Um mich herum ist sonst nichts und niemand, nur das immense, endlose, blendende Weiß des Gletschers. Ich bin vollkommen allein. Ich fühle mich verloren, doch irgendwie muss es mir gelingen, mich zu befreien. Simone muss mich einfach hören!
Heute Morgen war ich noch diejenige, die darauf bestand, aufzubrechen. Das lange Warten im Basislager hatte ich gründlich satt. So bin ich eben nun einmal. Ich schaffe es einfach nicht, längere Zeit stillzuhalten. Irgendwann werde ich unruhig und wohl auch ein wenig stur. Also habe ich Simone überzeugt, aufzubrechen, obwohl Karl Gabl, unser „heiliger“ Meteorologe aus Österreich, dem Simone nahezu blind vertraut, schon zu Beginn vorausgesagt hatte, dass das Wetter nur zwei Tage lang schön bleiben würde. Seit dem Start des Unternehmens waren jedoch bereits achtzehn Tage vergangen, und unsere Gasherbrum-Expedition hat nur geringe Fortschritte erzielt: Das schlechte Wetter und ein schier unüberwindbarer Gletscher haben unsere Pläne bislang zunichtegemacht.
Heute ergab sich dann endlich die Gelegenheit, zumindest ein bisschen weiter nach oben vorzustoßen. Froh darüber, der aufreibenden Untätigkeit zu entkommen, waren wir dann beide fast ein wenig aufgedreht. Wir hofften, es bis zum ersten Lager zu schaffen, mit etwas Glück am darauffolgenden Tag sogar bis Lager II. An unseren Füßen tragen wir nun Schneeschuhe, um nicht im Tiefschnee zu versinken. Auch eine Leiter haben wir dabei und hoffen, so die breiten Gletscherspalten überwinden zu können, die wir bereits in den letzten Tagen gesichtet haben. Wie geplant bin ich es, die am ersten Tag spuren darf, während es Simone am zweiten Tag treffen wird, vorauszugehen. So setze ich meine Füße einen nach dem anderen in den weichen Schnee, und wir fühlen uns glücklich wie zwei Kinder, die sich auf der Suche nach neuen Abenteuern ihren Weg durch die Wildnis bahnen.
Wir starten voller Elan und Freude: Endlich ist es soweit, den Weg zum Lager I anzutreten.
Bislang ist alles wunderbar gelaufen. Wir haben inzwischen Gletscherspalten überwunden, einige davon mithilfe unserer Leiter, und stießen bis in eine Höhe von 5.500 Metern vor, wo wir eine Art Hochebene erreichten, die wieder von drei Gletscherspalten durchzogen war. Und jetzt geht es wieder etwas steiler bergauf. Simone sichert mich, bis ich oberhalb des Steilstückes angelangt bin, wo ich mich darauf vorbereite, ihn als Nachsteigenden zu sichern. Ich will deshalb einen Halbmastwurf (Anm.: Knoten zum Abseilen und zur Sicherung des Kletterpartners) machen und bin gerade dabei, dazu unser Seil entsprechend in den Schraubkarabiner zu schlingen, wobei ich den Knoten mit dem Daumen offenhalte, da mit den dicken Handschuhen alles so viel schwieriger ist. Und da sehe ich es. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Simone plötzlich einen Schritt vorwärts macht und dann plötzlich verschwindet.
Der Gletscher wird mit zunehmender Höhe immer zerklüfteter. Wir brauchen sehr viel Feingefühl und Intuition, denn die Gefahr lauert überall.
Es passiert schneller als ein Blitzschlag. Wie eine Rakete verschwindet er, und ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig, das Seil, das uns verbindet, in den Karabiner einzuhängen. Es schnürt mir den Daumen ab und zieht mich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit und enormer Kraft in Richtung dieser Gletscherspalte. Ich bin völlig machtlos. Meine linke Hand ist unerbittlich ins Seil geklemmt, und während meiner unaufhaltsamen, rasanten Rutschpartie Richtung Abgrund gelingt es mir nicht, den Eispickel aus dem Klettergurt zu ziehen. Mit den Schneeschuhen an den Füßen ist es schwierig, noch irgendwie zu bremsen, nein, es ist mir absolut unmöglich. Ich kann nur noch hoffen und beten. Bleib stehen, flehe ich in den Himmel, lass mich bitte stehen bleiben! Und plötzlich, als bereits alles Hoffen vergeblich scheint, findet die wilde Fahrt ihr Ende. Rückblickend erscheint mir das heute noch als ein Ding der Unmöglichkeit, und doch kam ich nur ganz kurz vor diesem großen schwarzen Loch, und damit meinem und Simones sicherem Ende, auf einmal zum Halten.
Die richtige Ausrüstung ist bei einer Expedition unerlässlich, wenn man auf alles vorbereitet sein will.
Doch auch jetzt bleibt mir zum Nachdenken keine Zeit, ich muss schnell handeln. Ich greife nach dem Eispickel und grabe ihn so tief wie möglich in den Schnee ein. Danach fasse ich mit meiner freien rechten Hand eine Reepschnur (Anm.: dünnes, dehnungsarmes Seil), befestige sie mühsam am Pickel und sichere unser Seil mit einer Prusikschlinge (Anm.: Klemmknoten, der sich bei Belastung zuzieht), wobei ich auch die Zähne zu Hilfe nehme. Die endlich entstandene kurze Verschnaufpause nutze ich, um meinen Atem zu beruhigen und mir ein Bild von unserer Lage zu verschaffen. Sie schaut alles andere als gut aus. Meine linke Hand ist immer noch im Seil gefangen, das mir beinahe den Daumen abtrennt. Zudem ist diese Hand mittlerweile vollkommen gefühllos. Ich reiße mit aller Kraft am Seil, schaffe es aber weder, mich zu befreien, noch das Seil in meine Richtung zu ziehen. Das Seil, an dem die siebzig Kilo Simones hängen – und weitere zwanzig Kilo seines Rucksacks –, hält weiterhin meine Hand in Geiselhaft und schnürt sich immer noch fester um sie.
Und nach wie vor kein Lebenszeichen von Simone.
Es wird mir immer klarer, dass ich verloren bin. Wenn es ihm nicht irgendwie gelingt, etwas von seinem Gewicht aus dem Seil zu nehmen, werde ich früher oder später meine Hand verlieren. Zudem ist mein „Toter Mann“ (Anm.: komplexes Einrichten eines Haltepunktes im Schnee, auf den das Seil übertragen wird) alles andere als gut, aber die einzige Möglichkeit. In der Hektik, und dazu nur mit einer freien Hand, baue ich ihn in aller Eile und bin mir wirklich nicht sicher, ob er Simones Gewicht tatsächlich aushalten wird. Meine Gedanken sind blitzschnell und sehr klar. Ich spiele die verschiedenen Szenarien durch. Sollte der „Tote Mann“ nicht gut genug halten, wird mich Simone langsam, aber unaufhaltsam in diese Gletscherspalte ziehen. Dann kommt jener Moment, in dem all meine Angst und Hoffnung in lauten verzweifelten Schreien aus meiner Kehle strömen: „Schneide das Seil durch! Simone, wenn du sicher bist, schneide das Seil durch!“ Nichts als Stille. Ich schreie nochmals. Und nochmals. Dann, nach einer wahren Ewigkeit, scheint es mir, als ob ich ihn hören könnte. Und ja, er lebt! Wir sind gerettet! Zumindest hoffe ich das. Bis der Zug auf meinen Daumen nachlässt, dauert es noch einige Minuten, in denen ich unaufhörlich vor Schmerzen schreie. Ich will ihm dadurch begreiflich machen, dass er sich keine Zeit lassen darf, weil ich Gefahr laufe, meine linke Hand zu verlieren.
Endlich lässt der Zug nach. Ich atme auf und einmal tief durch. Später wird Simone mir berichten, dass er nur ein sehr schwaches „Schneide das Seil durch“ hören konnte. Er hing kopfüber zwanzig Meter unter der Oberfläche, als er mein Flehen vernahm: eine drastische Aufforderung, die jedem Bergsteiger das Drama und die Odyssee von Joe Simpson und Simon Yates auf dem Siula Grande in Peru ins Gedächtnis ruft. Auch für Letzteren war es auf keinen Fall ein angenehmer Moment, eine solch schwere Entscheidung treffen zu müssen.
Simone hat dort unten wirklich keine Zeit verloren und – was noch viel wichtiger ist – instinktiv richtig gehandelt, indem er sich aufrichtete und eine Eisschraube in die Eiswand trieb. Dank einer Schlinge, die er an der Eisschraube befestigte, konnte er sein Gewicht auf diese verlagern. Gerade so viel, dass es mir nun endlich gelingt, meine Hand aus der mörderischen Umklammerung zu ziehen. Er selbst legte anschließend noch seine Steigeisen an, die er im Rucksack hatte.
In der Zwischenzeit verbessere ich bereits den „Toten Mann“, grabe den Pickel noch weiter in den Schnee ein. Ich will absolut sichergehen, dass die Konstruktion Simones Gewicht tragen kann. Dann schleppe ich mich auf allen Vieren zu einem Bereich mit Blankeis (Anm.: schneefreier Gletscherbereich), wo ich eine Schraube eindrehe, um einen weiteren sicheren Stand zu haben. Dafür musste ich mich aber zuvor aus unserem Seil binden. Ich muss sagen, ich habe mir dabei fast „in die Hose geschissen“, weil mir klar war, dass an dieser Stelle nicht gerade fester Untergrund ist. Erneut betete ich zum Himmelvater in der Hoffnung, dass er mich heute ein zweites Mal erhört.
Simone Moro: Ein Mann, den ich sehr respektiere und achte.
Nach einer mehr oder weniger langen inneren „Kampfphase“ bin ich bereit, Simone bei seiner Kletterei aus der Gletscherspalte zu helfen, so gut ich eben kann, denn meine linke Hand ist nicht mehr zu gebrauchen … Also hänge ich sein Seil in ein Sicherungsgerät, sodass ich imstande bin, ihn auch nur mit einer Hand zu unterstützen. Als ich ihn so gesichert habe, hole ich entschlossen das Seil ein, während sich Simone durch piolet traction, also mittels Steigeisen und Eispickel, langsam Richtung Oberfläche emporarbeitet. Je weiter er hinaufklettert, desto besser können wir beide auch wieder kommunizieren. Gleich zweimal fragt er mich, ob ich ihn schon ausreichend gesichert habe. Und zweimal versichere ich ihm, dass dies der Fall sei. Langsam fühle ich, dass wir in Sicherheit sind, dass wir es noch einmal geschafft haben. Es fällt mir schwer, mein Gefühl zu beschreiben – ich bin gleichermaßen erleichtert wie abgekämpft.
Noch nie habe ich eine Erfahrung dieser Art gemacht. Auch mein Absturz am Nanga Parbat ist vollkommen anders verlaufen. Damals war ich gänzlich auf mich allein gestellt; wäre ich gestorben, hätte es nur mich getroffen. Hier jedoch konnten wir uns nur gemeinsam retten. Simones Wohl hing buchstäblich von mir ab und meines von ihm. Unser beider Leben hing an einem einzigen Seil, an dessen beiden Enden wiederum wir beide hingen.
Dies alles dauerte vielleicht zwei Stunden. Ich kann es nicht genau sagen, denn in einem solchen Zustand schaut man nicht auf die Uhr, und die Zeit verfliegt, ohne dass man es mitbekommt. Endlich erscheint Simone wieder an der Erdoberfläche. Ich atme erleichtert einige Male tief aus. Als Erstes überprüft er die Sicherung und ruft mir mit seinem typisch verschmitzten, entwaffnenden Lächeln zu: „Bergführerkurs bestanden!“ Ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll, ob vor Glück oder aus welchem Gefühl heraus auch immer. Ich verstehe auch nicht wirklich, was in ihm tatsächlich vorgeht. Ob das für ihn etwas „ganz Normales“ war, oder ob er doch auch ziemlich Schiss hatte? Ich glaube aber, er wollte nur seine Angst verbergen, sonst hätte er mir nicht noch gesagt, er müsse erst kontrollieren, ob er sich nicht doch in die Hose gemacht hätte.
Spontan bitte ich ihn, mich zu umarmen. Er kommt meiner Bitte nach, wenngleich etwas zerstreut. Ich empfinde ihn innerlich weit entfernt, als ob er eigentlich an etwas ganz anderes denken würde. Höchstwahrscheinlich ist er mit seinen Gedanken wirklich irgendwo anders oder ist selbst geschockt, denn immerhin hätte uns beide die Sache um ein Haar das Leben gekostet. Möglicherweise plant er bereits die nächsten Schritte, doch ich will mich damit nicht zufriedengeben: „Ich möchte eine echte Umarmung“, fordere ich von ihm. Wir haben überlebt, doch bin ich immer noch zutiefst aufgewühlt. Was ich jetzt brauche, ist eine richtig starke Umarmung; jemand, der mich mit aller Kraft festhält. Ohne ein weiteres Wort zieht mich Simone fest an sich und drückt mich mit aller Kraft.
Noch ist aber nicht alles überstanden. Meine Hand ist angeschwollen und taub. Dick wie eine Wurst, vollkommen unbrauchbar. Wir müssen unbedingt ins Basislager zurück, denn hier zu biwakieren, inmitten dieses Labyrinths aus Gletscherspalten, ist für uns beide völlig undenkbar. Simones Rucksack mit dem Zelt und allen übrigen Sachen befindet sich zudem am Grund der Gletscherspalte. Wir sind nicht mehr imstande, ihn zu bergen, denn er hat sich irgendwo festgeklemmt. Alles Ziehen ist vergeblich. Das Wichtigste ist aber geschafft, und vor Erleichterung bekomme ich schon wieder meine Tage, obwohl ich meine letzte Regel erst vor zwei Wochen hatte. Unglaublich, wie so ein Gefühlschaos auf den Körper wirkt. Es scheint, als mache er sein ganz eigenes Ding, und ich weiß nicht recht, ob ich weinen oder mich darüber freuen soll.
Also überqueren wir erneut den Gletscher, mithilfe unserer Leiter. Langsam und vorsichtig überwinden wir alle Gletscherspalten, konzentrieren uns auch auf jede noch so unscheinbare, und auf jede kleinste Gefahr. Wir wissen genau, dass jetzt jeder weitere Fehler fatale Folgen haben würde. Ich spüre, dass diese Expedition – zumindest für mich – vorbei ist. Und Stück für Stück beginne ich zu verstehen, was gerade passiert ist. Ich bin erschöpft, doch es ist mir auch bewusst, dass ich einen weiteren Schritt nach vorn gemacht habe. Ich wurde auf die Probe gestellt, habe dabei meine Grenzen ausgelotet und habe bestanden. Ein weiteres Mal konnte ich erfahren, wer ich bin und wozu ich in der Lage bin. Darüber hinaus erlebte ich erneut hautnah, wie unbedeutend wir inmitten der Berge und der Natur sind. Wo uns jeder kleinste Fehler das Leben kosten kann, und wo nicht jede Gefahr von vornherein abschätzbar ist. Alle Bergsteiger wissen das. Manchmal jedoch vergisst man es, man verdrängt es, man nimmt es auf die leichte Schulter. An diesem Tag hat mir der Berg eine weitere wichtige Lektion erteilt, die ich niemals mehr vergessen will und für die ich ihm immer dankbar sein werde.
An den Ausläufern des Gletschers kommen uns dann die Freunde entgegen, die unser Team im Basislager bilden: Matteo Pavana – Filmemacher und Fotograf, Matteo Zanga – ebenfalls Fotograf, unser Guide Amir, der Küchenjunge und zuletzt unser Koch, der mich mit Tränen in den Augen umarmt. Ich erinnere mich gut an das eigenartige Gefühl, das mich dabei überkam. Ein Gefühl, das mit mir als Bergsteigerin zu tun hatte und mit meiner Zerbrechlichkeit. Ein Gefühl, an das ich mich auch noch ein Jahr später genau erinnern sollte. Und zwar während einer weiteren Winterbesteigung, dieses Mal am K2, dem letzten im Winter noch unbestiegenen Achttausender …
28. Dezember 2020, Baltoro – Pakistan n
Heute werde ich sie wiedersehen. Doch es besteht kein Grund zur Eile. Ich möchte mir meine Zeit nehmen, sodass ich unser Wiedersehen aufs Höchste genießen kann. Ich will mich an diesen nun schon so lange erwarteten Moment herantasten, mich ihm behutsam nähern, ich möchte bereit sein für alles, was er mir zu sagen hat. Es kommt mir so vor, als ob ich gleich eine geliebte Person wiedersehen würde, eines der schönsten Wesen dieser Erde.
Und ja, „der“ K2 ist für mich weiblich. Ich fühlte und betrachtete ihn von Beginn an als Sitz einer Göttin. Das war schon immer so, seit jenem Augenblick, als ich ihn 2012 zum ersten Mal erblickt habe. Damals hatte ich mit Skiern den zweithöchsten Gipfel des Pamir bestiegen, den Muztagh Ata, gemeinsam mit Paul Augscheller. Unmittelbar danach wolltenwir dann auch noch zum Broad Peak, der ja nur eineinhalb Stunden vom Basislager am K2 entfernt ist.
Gipfelglück am Muztagh Ata in China. Ein außergewöhnliches Erlebnis: mit Skiern auf dieser Höhe ...
Genau bei jener Expedition sah ich „meine Göttin“ zum ersten Mal. Es fällt mir schwer, das Gefühl zu beschreiben, das mich damals augenblicklich überkam. Ich war erfüllt von Respekt, beinahe von Angst. Diese immense Größe in absoluter Perfektion. Dieses gänzliche Fehlen von Schwachstellen. Diese Eleganz, gepaart mit solcher Härte und Komplexität, raubte mir einfach den Atem. Der K2 ist nach dem Mount Everest der zweithöchste Berg unseres Planeten, aber er ist auch der Schwierigste aller Gipfel, die mehr als 8.000 Meter in den Himmel ragen: vollkommene Schönheit, Schwierigkeit und extreme Ausgesetztheit gleichermaßen. Dieser einzigartige Berg erfüllte mich mit Furcht und zog mich gleichzeitig an. „Der große Berg“, Chogori, wie er in Balti (Anm.: gehört zur tibetischen Sprachgruppe) genannt wird, schien mir in jenem Moment so unerreichbar, geradezu unmöglich, dass „sie“ sofort zu meinem Ideal wurde. Die unangefochtene Königin Baltistans, des Baltoro Muztagh-Massivs, und weit darüber hinaus.
Vielleicht hätte es dabei auch für immer bleiben sollen – ein wunderschöner, aber unerfüllbarer Traum. Zu schwierig – und geradezu undenkbar, ja ein Sakrileg, sich „ihr“ auch nur nähern zu wollen. Ein bisschen wie unsere ersten Jugendlieben, so aufregend und perfekt, dass sie eigentlich eher ins Reich der Träume und Fantasien gehören, als in die reale Welt. In der Tat war es ein großer Liebeskummer, der mich schlussendlich dazu gebracht hat, an einer K2-Expedition teilzunehmen. Ein schwerer Schlag war der Verlust dieser Beziehung, für die ich alles gegeben hätte, da ich sicher war, den richtigen Menschen gefunden zu haben. Und ich gebe zu, dass ich in Gedanken bereits ein gemeinsames Leben mit ihm aufgebaut, von Kindern und einer Zukunft zusammen geträumt hatte. Ich war so unendlich traurig … und so wütend, dass es mir schwerfiel, an etwas anderes zu denken. Dauernd fragte ich mich, was schiefgelaufen war, obwohl ich genau wusste, dass ich auf diese Frage wohl nie eine befriedigende Antwort erhalten würde. Ich fühlte mich, als hätte ich alles verloren, und müsse jetzt dringend einen neuen Sinn im Leben finden.
Paul und ich im Lager II am Broad Peak. Seine „Gamswürste“ (Würste aus Gämsen-Fleisch) haben uns richtig „Schmalz“ gegeben
Der K2 mit seinen 8.611 Metern – wohl einer der schönsten Berge der Welt ... Für mich definitiv „der“ schönste Berg der Welt!
Irgendwann war ich dann bereit, wieder neu zu starten. Neu zu starten mit einem Projekt – und es erforderte meine ganze Konzentration, den Fokus von meinem Liebeskummer weg, und auf etwas anderes zu richten. Ich wollte mir selbst beweisen, was ich als Mensch und Bergsteigerin wert und wozu ich in der Lage war. Vor Tatendrang platzte ich förmlich aus allen Nähten, vor lauter Lust, endlich wieder etwas Aufregendes zu unternehmen, und war voller Freude. Als mich dann Giuseppe Pompili fragte, ob ich mich seiner Expedition anschließen wolle, gab es in mir, in meinem Kopf und in meinem Herzen, nur noch einen einzigen Gedanken: den K2.
Meine erste Begegnung mit dem K2 ... Emotionen pur und gemischte Gefühle am Concordiaplatz.
Der Aufstieg zum K2 im Sommer 2014 vom vorgeschobenen Basislager Richtung Lager I. Die Temperaturen sind tagsüber recht angenehm.
Am 26. Juli 2014 stand ich dann am Gipfel des K2. Nikolaus, „Klaus“ Gruber, mein großartiger Expeditionspartner und ich, waren 20 Minuten nach Mitternacht vom Lager IV gestartet. Wir hatten uns Zeit genommen, wollten den anderen Seilschaften den Vortritt lassen, wollten den Aufstieg genießen.
Ich hatte mich großartig gefühlt. Fast zu gut, sodass wir die anderen Seilschaften bereits im Morgengrauen eingeholt hatten: auf 8.200 Metern, am „Flaschenhals“, jener äußerst heiklen Passage – einer engen, steilen Rinne voller Eisbrocken. Sie bildet den Übergang vom oberen Teil des Berges zu den letzten mühseligen und entscheidenden 420 Metern zum Gipfel. Irgendwann hatte ich die Warterei fast nicht mehr ausgehalten, ich wollte überholen, war ungeduldig. Ich hatte Angst, dass es zu spät werden würde, hatte dauernd auf die Uhr geschaut. Jeder Versuch zu überholen war jedoch gescheitert: verließ man nämlich die Spur, versank man augenblicklich bis zur Hüfte im tiefen Schnee. Also hatte ich weiter gewartet, wie es sich gehörte. Ungefähr 300 Meter unterhalb des Gipfels hatten einige Bergsteiger dann noch eine kurze Rast eingelegt, um etwas zu essen. Darauf hatte ich nur gewartet: Ich nutzte meine Chance und war schnell vorbeigezogen. Von da ab bis hin zum Gipfel war alles nur noch wunderschön. Ich war euphorisch, außer mir vor Begeisterung. Aber auch hochkonzentriert. Endlich konnte ich meinem eigenen Rhythmus folgen. Für mich gab es nur noch den Gipfel, diese 8.611 Meter, die wie im Traum auf mich zukamen.
2014 am Gipfel des K2, ohne Sauerstoff und Hochträger. Ich konnte es kaum fassen. Einer der emotionalsten Momente meines Lebens.
Mein Glücksgefühl war schier unbeschreiblich, ich war vollständig von Freude erfüllt. Mit Tränen in den Augen dankte ich dem Berg dafür, dass er mir erlaubt hatte, bis hier oben vorzudringen. Meine Göttin war gnädig mit mir gewesen. Und auch geduldig. Ich konnte es einfach nicht glauben: Ich hatte den Gipfel beim ersten Versuch geschafft. Niemals werde ich diese Augenblicke der Glückseligkeit vergessen.
Über eine Stunde verbrachte ich am Gipfel, um auf Klaus zu warten. Da er nicht kam, beschloss ich abzusteigen, dachte nur noch an unser Zelt und daran, wo Klaus wohl blieb. Ich fand ihn wenige Meter unterhalb des Gipfels, zusammen mit Michele Cucchi, einem Bergführer aus Alagna, und wir vereinbarten, dass ich im Lager IV auf ihn warte. Ich hatte auf einen tiefen, erfrischenden Schlaf gehofft, dann aber kaum ein Auge zugetan, da es in dieser Nacht, nachdem Klaus angekommen war, noch einige Zwischenfälle gab. Klaus bekam ein Lungenödem, und wir mussten versuchen, so bald wie möglich abzusteigen. Am darauffolgenden Tag stiegen wir mit vollgepacktem Rucksack ab. Klaus war sehr schwach, schlug sich aber tapfer bis zum vorgeschobenen Basislager durch, wo man bereits auf uns wartete. Erst dort, nach einer Tasse Tee und der Gewissheit, dass wir jetzt in Sicherheit waren, umarmten wir uns dann ganz fest und beglückwünschten uns gegenseitig. Auch dieser Moment war sehr schön. Die Verantwortlichen der Agenturen warteten hier auf die Teilnehmer der verschiedenen Expeditionen, die am Vortag zum Gipfel aufgebrochen waren. Also waren sie ziemlich überrascht, als sie im Abstieg als die Ersten uns beide sahen. Uns, die wir den Gipfel ohne künstlichen Sauerstoff und ohne Hilfe von Hochträgern im Zweierteam bestiegen hatten. Sie wollten unsere Rucksäcke bis ins Basislager tragen. Doch das war etwas, das ich keinesfalls wollte – denn ich war der Ansicht, dass dieser unglaubliche Aufstieg erst im Basislager wirklich endet. Ich konnte es immer noch kaum glauben, wir hatten es wirklich geschafft. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
Im Basislager dachte ich nur noch an Eines: mich im Gletscherbach zu waschen. Ich wollte mich erfrischen und säubern, nach all den Tagen und Nächten am Berg. Der Offizier, der bei jeder Expedition zwingend im Basislager anwesend sein muss, wollte es mir verbieten, doch nichts und niemand hätte mich davon abhalten können: Es war mir zu wichtig, dieses Ritual durchzuführen und zum Abschluss noch mal so richtig in das Wasser einzutauchen, das vom schönsten Gipfel der Erde talwärts und dann weiter bis zum Meer fließt. Ich hatte meinen Berg bestiegen. Als zweite Italienerin nach der großartigen Nives Meroi, ohne künstlichen Sauerstoff und ohne Hochträger. Auch dieser Umstand erfüllte mich mit Stolz und Freude. Und ich konnte mir wenigstens teilweise selbst verzeihen, dass ich am Lhotse vom Sauerstoff Gebrauch gemacht hatte. Dort hatte ich nämlich am Gipfeltag eine Sauerstoffflasche verwendet. Nur für ganz kurze Zeit, da ich Erfrierungen an den Füßen unbedingt vermeiden wollte, doch eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigungen.
Am Lhotse 2010: Jeder Schritt während dieser Expedition war eine Suche nach Abenteuern. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur von den hohen Bergen gelesen, und jetzt war alles Wirklichkeit.
Im Couloir Richtung Lhotse-Gipfel (8.516 Meter).
Höhenbergsteigen bedeutet für mich ganz klar, auf künstlichen Sauerstoff zu verzichten. Aus diesem Grund war der K2 für mich der erste „richtige“ Achttausender. Diesem Aufstieg verdanke ich einiges in meinem Leben. Ja, dem K2 verdanke ich eigentlich fast alles. Diese Erfahrung hat mir ein neues Selbstbewusstsein, aber auch ein neues Selbstverständnis geschenkt. Und „sie“ hat mir die Möglichkeit geboten, mich selbst und die Dinge um mich herum neu wahrzunehmen. „Sie“ hat mir aber auch gezeigt, was ich wollte und was mir im Leben wirklich wichtig war. Ich wollte eine Bergsteigerin sein, wollte die hohen Berge unserer Erde erklimmen, wollte großartige Abenteuer erleben. Das war und ist mein Lebenstraum, den ich mithilfe des K2 verwirklichen konnte. Diesem Gipfelerfolg verdanke ich auch meine ersten richtigen Sponsorenverträge. Und ganz sicher all das, was nachher noch folgen sollte. Es ist also verständlich, dass es mich nicht erstaunte, „sie“, meine Göttin, ein weiteres Mal plötzlich im Zentrum meiner Existenz und meiner Gedanken vorzufinden.
Es geschah bei meiner Rückkehr vom Gasherbrum. Innerhalb weniger Tage war ich von der Freiheit der Berge in der Lockdown-Gefangenschaft der Covid-19-Pandemie gelandet. Plötzlich befanden wir uns alle inmitten eines ganz neuen Dramas. Ich habe diesen Lockdown anfangs nicht besonders gut aufgenommen, ich fühlte mich wie ein Tiger, der in einen Käfig gesperrt wird. Auch hatte ich den Vorfall an der Gletscherspalte noch nicht verarbeitet. Dieses Erlebnis hatte mir nach meinem Unfall am Nanga Parbat im Winter 2016 wieder gezeigt, dass ich in solchen lebensbedrohlichen Situationen genau weiß, was ich zu tun habe. Aber es hat mich auch erneut gelehrt, wie wichtig es in solchen Situationen ist, einen kühlen und funktionierenden Kopf zu bewahren. Und wie wichtig das gute Zusammenspiel zwischen Körper und Intuition ist.
Es war mein Kopf, der mir in der Coronazeit keine Ruhe und keinen Frieden ließ, und nichts davon wissen wollte, dass man im Moment eben einfach nichts machen konnte. Genau wie am Berg in einer Schlechtwetterphase, in der miese Laune und Eigensinn nichts nützen, und man einfach nur abwarten muss. Das ist leicht gesagt, fällt mir aber immer unendlich schwer. Und so versuchte ich, aus der Not eine Tugend zu machen, und nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist zu trainieren. Es gab nämlich nur zwei Möglichkeiten: entweder ich würde komplett vor die Hunde gehen oder versuchen, das Beste aus der Sache zu machen.
Nach einiger Recherche fiel meine Wahl auf einen Onlinekurs, in dem Meditation und Motivation gelehrt wurden. Er gefiel mir auf Anhieb, und so arbeitete ich täglich vier bis fünf Stunden an meiner mentalen Einstellung, und bot gleichzeitig zwei Mal wöchentlich live ein Krafttraining für meine Instagram-Follower an. Insgesamt wurde es dann doch zu einer sehr schönen Erfahrung für mich, die mir nicht nur half, diese schwierige Zeit durchzustehen, sondern auch eine intensivere Verbindung zu all den Menschen aufzubauen, die mir auf diesem Netzwerk folgen. Eine Erfahrung, die mir viel bedeutet und aus der ich auch viel lernen konnte. Ich war sehr dankbar, dass ich trotz dieser enormen Eingeschränktheit in der Lage war, für das Kollektiv etwas zu tun, und die Resonanz war einfach nur genial, sehr motivierend und erfüllend.
Was die Meditation betrifft, so war die Überraschung ebenfalls groß: Abgesehen vom unmittelbaren Nutzen brachte mir jede Sitzung auch einen neuen Gedanken, ja sogar immer wiederkehrende Eindrücke und Eingebungen. Als ich zum Beispiel meine drei größten Ziele aufschreiben sollte, kam ich sofort und irgendwie unerwartet auf den K2 im Winter. Und jeden Tag während meiner Meditation hatte ich Besuch. Besuch von der unermesslichen Kraft und Energie dieses Berges, die mir Gänsehaut auf meinen ganzen Körper zauberten und mich in Tränen ausbrechen ließen. Jeden Tag befand ich mich wieder und wieder am Gipfel des K2. Und als ob das nicht genügen würde, rief mich auch irgendwann mein Freund Andrea aus dem Tessin an, um mir zu sagen, dass er von mir geträumt hatte. Und zwar sah er mich auf dem Gipfel des K2. Auch Heidi, eine Südtirolerin, die so wie ich am Motivationskurs teilnahm, schrieb mir, dass sie mir alles Gute wünsche für die Verwirklichung dieses Traumes …
Die Zeit verstrich, und schweren Herzens beendete ich die Live-Sessions und auch meinen Online-Trainingskurs; ich war ziemlich enttäuscht, dass wir uns von nun an nicht mehr zwei Mal pro Woche online treffen würden, um gemeinsam zu lernen und zu trainieren. Doch ich wollte die mittlerweile wieder zaghaft zurückkehrende Freiheit nutzen, um mich auf meine neuen Lebensziele zu konzentrieren. Der harte Lockdown endete zwar mehr oder weniger, doch die Zufälle und Zeichen zeigten sich weiterhin. Während einer Yogastunde, die wir einem wichtigen Bereich unseres Lebens widmen sollten, dachte ich zum Beispiel sofort wieder an den K2, wobei mir Tränen in die Augen traten. Ich wusste es einfach: Dies ist das Zeichen. Ab diesem Zeitpunkt war mir alles klar. Ich komme, Göttin des K2!
Mit Beginn des Sommers startete ich dann meine Tour durch Italien. Ich fuhr mit dem Wohnmobil durchs ganze Land, um jeweils den höchsten Gipfel jeder Region zu besteigen, und fühlte mich dabei wie von einer positiven Energiewelle getragen. Es ging mir schlicht und einfach gut. Ich spürte, dass ich viel Kraft in mir hatte, und dass mir jede Person, die ich auf dieser Reise traf, etwas Positives mitgab. Viele Menschen folgten mir oder grüßten mich auf den verschiedenen Gipfeln Italiens. Darunter waren natürlich die berühmten, wie der Mont Blanc, der Gran Sasso oder der Monte Rosa, der Monviso und natürlich der Ortler. Aber auch die weniger bekannten, aber nicht minder faszinierenden Gipfel wie der Monte Saccarello, der Monte Cimone, die Punta La Marmora, der Monte Pollino, die Serra Dolcedorme und der Monte Cornacchia. Und viele weitere, die mir – wie überhaupt die gesamte Reise – für immer in Erinnerung und im Herzen bleiben.
Viel Freude bereitete mir auch der große Zuspruch vieler Menschen für mein Lockdown-Training. Es kam vor, dass ich irgendwo in Italien unterwegs war – ich hatte nie im Voraus angekündigt, wo ich am darauffolgenden Tag sein würde –, und schon von Weitem begrüßten mich die Menschen mit meinem Namen und bedankten sich dann für das Live-Training. Alles in mir und um mich herum erschien mir voller Licht, strahlend und leuchtend. Ganz Italien schien mir zuzulachen. Manchmal, wenn ich mit stimmungsvoller Musik von einem Ort zum anderen cruiste – also ohne bestimmtes Ziel herumfuhr –, die Landschaft genoss und an die herzlichen Begegnungen und Momente zurückdachte, kullerten mir Freudentränen über die Wangen, weil ich mich so sehr geliebt fühlte von allem, was mich umgab.
Die Erfahrungen dieser Reise durch Italien haben mir unendlich viel gegeben und mich vor allem gelehrt, dass es mir auch ganz für mich allein sehr gut ging. Eine Lehre, die in jener Zeit von äußerster Wichtigkeit für mich war.
Und immer wieder kehrten meine Gedanken zum K2 zurück. Ich hatte zwar noch keinen konkreten Plan gefasst, doch dieser Berg, mein