Der Ruf des weißen Raben - Sanna Seven Deers - E-Book

Der Ruf des weißen Raben E-Book

Sanna Seven Deers

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Beschreibung

Die Trommeln und Stimmen verstummen, als die wirbelnden Rauchschwaden aufsteigen. Myras Herz pocht beinahe schmerzhaft in ihrer Brust. Sie ahnt nicht, dass sie Zeugin eines Rituals ist, mit dem der Indianer Chad Blue Knife die Geister ruft. Es wird ihre Zukunft und alles, woran sie glaubt, verändern. Sie spürt, dass ihr Leben und das von Chad auf alle Zeiten untrennbar miteinander verwoben sind ...

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Das Buch

Die junge Großstädterin Myra begibt sich zurück ins Dorf ihrer Kindheit in den kanadischen Rocky Mountains und begegnet dort dem Indianer Chad Blue Knife. Zu genau diesem Zeitpunkt erwacht eine alte indianische Legende zum Leben: Ein Talisman, der magische Kräfte besitzt, ist in Gefahr, weil dunkle Mächte ihn in ihren Besitz bringen wollen. Myra wird durch unvorhergesehene Umstände in das geheimnisvolle Geschehen verwickelt. Es muss ihr und Chad gelingen, Vergangenheit und Zukunft zusammenzubringen, um die Gegenwart zu retten, bevor die Gegenspieler zu stark werden.

Sie taucht ein in eine Welt voller Magie und Mythologie und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, die vom urzeitlichen Eurasien bis in die unberührte Wildnis des heutigen West-Kanada führt. Myra spürt von Anfang an, dass eine besondere Verbindung zwischen ihr und Chad besteht. Ihre Liebe wird stärker, aber sie darf ihre wahren Gefühle nicht offenbaren. Sie muss ihre Aufgabe erfüllen. Nur dann kann ihre Liebe zu Chad eine Zukunft haben.

Die Autorin

Sanna Seven Deers ist 1974 in Hamburg geboren. Nach ihrer Heirat mit dem kanadischen Indianer David Seven Deers zog sie 1997

Sanna Seven Deers

Der Ruf des weißen Raben

Roman

Ullstein

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wieetwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oderÜbertragung können zivil- oder strafrechtlichverfolgt werden

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage August 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

Titelabbildung: © Artwork HildenDesign

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

(Landschaft: © LaiQuocAnh, Steg: © Wilhelm Dijkstra,

Tribal: © David Seven Deers)

Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-8437-0052-8

Anmerkung der Autorin

Das in der Geschichte immer wieder auftauchende Wort Geisterwelt ist eine wörtliche Übersetzung des im Englischen gebräuchlichen Begriffs spirit world, für den es im Deutschen keine gleichwertige Bedeutung gibt. Der Begriff spirit world entstammt der indianischen Kultur und wird in diesem Zusammenhang als Reich der Ahnen oder Reich der Geistwesen verstanden. Er soll in der folgenden Geschichte auf gleiche Weise verstanden werden.

Der Gottheit zu gehorchen, ist Freiheit.

Lucius Annaeus Seneca

To the Spirits

Begegnung

Wie ein Schleier umhüllte die Dämmerung das große Zeremonienhaus. Die mächtigen Zedern, die das aus massiven Holzplanken errichtete Gebäude umgaben, waren nur noch als dunkle Schatten zu erkennen, und die ersten Sterne zeigten sich am mondlosen Himmel. Stille legte sich über die Wildnis und auch über das nahe am Highway gelegene Zeremonienhaus der Elk Creek First Nation.

Im Inneren des Hauses hingegen herrschte große Anspannung. In der Mitte des Zeremonienplatzes, der das Zentrum des Gebäudes bildete, brannten in einigem Abstand zueinander zwei große Feuer unter runden Öffnungen im Dach, und auf den Sitzbänken aus breiten Zedernplanken, die den oval geformten Platz wie eine Tribüne umgaben, bereiteten sich die Mitglieder des Stammes auf eine wichtige Zeremonie vor.

Chad Blue Knife betrat den Zeremonienplatz durch einen der vier engen Gänge, die die Tribüne auf jeder Seite durchschnitten. Jeder dieser Gänge war einer Himmelsrichtung zugeordnet und mit einem aus Zedernholz geschnitzten sechzig Zentimeter großen, runden Tiersymbol versehen.

Chad ließ seine Finger sachte über den sorgfältig geschnitzten Raben gleiten, der den Gang schmückte, durch den er den Zeremonienplatz betrat. Er hatte für den heutigen Abend alle beruflichen Verpflichtungen beiseitegeschoben, um seine Familie bei dieser Zeremonie zu unterstützen. Es war Heather gewesen, seine Großtante, die ihn gebeten hatte, am heutigen Abend anwesend zu sein. Heather zählte zu den angesehensten Ältesten des Stammes, und ihre Bitte durfte man nicht ablehnen.

Chad Blue Knife strich sich eine lange schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und schüttelte unmerklich den Kopf, als er sich daran erinnerte, wie viel Zeit verstrichen war, seit er zum letzten Mal einer Zeremonie beigewohnt hatte. In den Tagen seiner Jugend hatte er an vielen Zeremonien teilgenommen, aber seit seinem Studium hatte er weniger Zeit im Kreise seiner Familie verbracht, als ihm lieb gewesen war. Jetzt, mit Anfang dreißig, war er endlich in der Lage, wieder ganz in der Gemeinschaft seines Stammes zu leben. Und so hatte er an diesem Abend nicht gezögert, dem Aufruf seiner Großtante zu folgen und an der geplanten Zeremonie teilzunehmen. Worum es dabei ging, lag für ihn und die anderen Stammesmitglieder noch im Verborgenen, aber auch er spürte, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein musste.

Chad beobachtete gespannt, wie sich die Ältesten in der Mitte des Zeremonienplatzes versammelten. Sofort breitete sich respektvolle Stille im Inneren des Hauses aus. Jeder wartete darauf, dass einer der Ältesten das Wort ergriff, und fragte sich im Stillen nach dem Grund für die Zeremonie. Eigentlich fanden Zeremonien dieser Art während der Wintermonate statt. Heute hingegen war Sommersonnenwende.

Chad richtete seinen Blick auf Joseph Rock Horse, einen Mann, den er schon seit seiner Kindheit kannte. Joseph war Anfang sechzig. Sein schulterlanges Haar war schon silbergrau, aber er war noch immer eine stattliche Erscheinung. An diesem Abend hatte er sich in eine schwarz-rote Decke gehüllt, die mit verschiedenen Tiermotiven verziert war. Er gehörte zu den Ältesten, und er würde an diesem Abend die Zeremonie leiten.

Endlich wandte Joseph Rock Horse sich in der wohlklingenden Sprache des Stammes an die versammelte Menge. »Wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um die Geistwesen um Rat zu bitten. Unser Volk steht vor einer schweren Aufgabe. Die Welt, in der unsere Kinder heute aufwachsen müssen, ist nicht mehr die Welt, in der unsere Ahnen Tausende von Jahren gelebt haben. Das Gleichgewicht ist gestört. Unserem Volk wurde alles genommen und die indianische Lebensweise beinahe vernichtet. Eisenbahn, Städte, moderne Wissenschaft – sie nennen es Fortschritt. Uns hat dieser Fortschritt Tränen und Tod gebracht. Nun wappnen sich die dunklen Mächte der Gegenwart erneut für einen Angriff. Zerstörung und Verwüstung drohen unserer Welt. Unsere Kinder werden weinen, sie werden aufschreien aus Verzweiflung. Ihnen wird nichts bleiben. Das müssen wir verhindern.«

Im Zeremonienhaus herrschte Stille. Allen stockte der Atem. Die Ältesten nahmen ihre Aufgabe sehr ernst, und ihre Worte zweifelte man nicht an, aber … So etwas hatte bisher noch niemand aus ihrem Munde gehört!

Joseph Rock Horse blickte finster in die Runde. »Es ist nicht nur die Natur, die von den dunklen Mächten zerstört zu werden droht. Wir selbst sind die Opfer. Seit Jahren verschwinden Angehörige unseres Volkes, ohne eine Spur zu hinterlassen, und keiner der Weißen kümmert sich darum. Vor ein paar Tagen ist nun auch die Tochter von Susie Standing Bear auf dem Weg nach Fort Duffey spurlos verschwunden. Die Freundin, die mit ihr unterwegs war, sagt aus, dass sie kurz an einer Raststätte angehalten hätten. Susies Tochter hätte die Toilette aufgesucht. Danach wurde sie nie wiedergesehen. Die Polizei rührt keinen Finger. Susie hat den Rat der Ältesten um Hilfe gebeten. Wir sind erschüttert, doch die Zeichen sind eindeutig. Alle Ältesten haben sie gesehen … Uns bleibt nichts anderes übrig, als dem Vorbild unserer Ahnen zu folgen und in heiliger Zeremonie unsere Bitte um Rat und Beistand an den Großen Geist zu übergeben, den Schöpfer aller Dinge.«

Er räusperte sich und fuhr dann fort: »Der Rat der Ältesten hat mich zum Sprecher für den heutigen Abend bestimmt. Und so hört den Beschluss und die Weisheit von allen Ältesten: Wir werden heute nicht nur den Großen Geist um seinen großzügigen Rat bitten, sondern auch all diejenigen, die diese Erde vor uns durchwandert haben.«

Ein Raunen durchzog die Stille.

Chad Blue Knife hörte, wie jemand neben ihm Ahnenzeremonie flüsterte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Diese Zeremonie war eine der ältesten und kraftvollsten. Sie hatte ihren Ursprung in längst vergangenen Zeiten, und ihr Ablauf war ein streng gehütetes Geheimnis. Nur wenige der Anwesenden hatten eine solche Zeremonie jemals erlebt.

Chad wusste, dass die Ältesten nicht über ihre Entscheidung diskutieren würden. Sie hatten einen Beschluss gefasst, und dieser würde ausgeführt werden.

Der Stamm würde im Reich der Toten um Beistand bitten …

Die achtundzwanzigjährige Myra Morgenstern strich sich energisch über die Stirn. Sie durfte nicht einschlafen! Es war schon sehr spät, die Nacht brach herein, und sie hatte noch eine weite Strecke zu fahren, aber sie wollte Boulder Landing unbedingt heute noch erreichen. Zu lange war sie fort gewesen, zu heftig hatten die Ereignisse des vergangenen Tages sie erschüttert. In dieser für sie sehr schweren Zeit gab es für Myra nur einen Gedanken: Sie musste in die Berge zurückkehren, wo sie ihre glückliche Kindheit verbracht hatte, um sich Klarheit über ihre Situation und über ihre Gefühle zu verschaffen!

Über zwei Jahre waren vergangen, seit Myra dem Dorf Boulder Landing im Westen von British Columbia, in das sie als Dreijährige mit ihren aus Deutschland eingewanderten Eltern gezogen war, zum letzten Mal einen Besuch abgestattet hatte. Vieles hatte sich seitdem verändert. Ihre Eltern waren aus Boulder Landing weggezogen. Myras Vater litt seit jeher an einem Lungenleiden, das er sich noch vor der Auswanderung nach Kanada als Arbeiter im Bergwerk in Goslar zugezogen hatte. Als er älter geworden war, hatte sich das Leiden verschlimmert, und in der Großstadt war die ärztliche Versorgung einfach besser. Schweren Herzens hatten Myras Eltern sich daher entschlossen, ihr kleines Holzhaus in der Wildnis der kanadischen Berge zu verkaufen und nach Vancouver zu ziehen.

Myra hatte sich vorgenommen, in der Nähe von Boulder Landing ein paar ruhige Tage zu verbringen und beim Bergsteigen ihre Gedanken zu ordnen.

Sie blickte angestrengt in die von den Scheinwerfern angestrahlte Nacht hinaus. Sogar die Straßen schienen anders zu sein, als sie es in Erinnerung hatte. Wieder rieb sie sich über die Stirn. Auf dem unbeleuchteten nächtlichen Highway zu fahren war anstrengender, als sie angenommen hatte. Vielleicht hätte sie doch lieber irgendwo einkehren und bis zum Morgen warten sollen. Sie kurbelte das Seitenfenster ihres alten Autos hinunter und ließ die kühle Abendluft herein. Sie atmete tief durch und lächelte. Heimatluft!

Plötzlich tauchte ein imposantes Holzgebäude neben dem Highway auf. Zu dieser späten Stunde schien es noch gut besucht zu sein, denn der Parkplatz war voller Autos. Myra konnte sich nicht erinnern, das Gebäude jemals zuvor gesehen zu haben. Es machte einen sehr gepflegten Eindruck, und sie beschloss, anzuhalten und zu sehen, ob sie dort vielleicht einen starken schwarzen Tee bekommen könnte.

Sie parkte ihren Wagen nahe den großen, massiven Eingangstoren, über denen Elk Creek First Nation Spiritual Centre geschrieben stand. Sie stieg aus, und durch die kühle Abendluft fühlte sie sich sofort munterer. Trotzdem musste sie ein Gähnen unterdrücken. Als sie die gläserne Eingangstür erreichte, entdeckte sie ihr Spiegelbild und sog entsetzt die Luft ein. So konnte sie nicht unter Leute gehen! Sie schob die Schultern zurück, richtete sich auf und strich sich das lange hellbraune Haar zurecht. Sie war nie eine klassische Schönheit gewesen, aber sie hatte eine schlanke Gestalt, ein hübsches ovales Gesicht und ein offenes, fröhliches Wesen. Entschlossen öffnete sie die große Eingangstür und betrat den hell erleuchteten Vorraum.

Sie hatte gehofft, einen Getränkestand oder etwas Ähnliches vorzufinden, doch zu ihrer Enttäuschung war der große Vorraum leer. Verwundert blickte Myra sich um. Wo waren die Gäste? Es standen doch so viele Autos auf dem Parkplatz. Unentschlossen sah sie sich um. Ihr Blick blieb an den mit indianischen Schnitzereien reichverzierten Pfählen hängen, die die Dachkonstruktion zu tragen schienen. Sie entdeckte Lachse, Bären, Wölfe und viele andere Tiere. Wie schön und wie ausdrucksstark die Schnitzereien waren! Sie konnte den Blick kaum davon losreißen.

Schließlich beschloss sie, die Toilette aufzusuchen, bevor sie weiterfuhr, und blickte sich suchend um. Sie entdeckte ein paar Türen, an denen jedoch keine Schilder angebracht waren. Vorsichtig drückte sie die Klinke der ersten Tür, einer massiven Zederntür, hinunter und öffnete sie einen kleinen Spalt.

Chad, der an diesem Abend zu den Tänzern gehören würde, wartete gespannt auf seinen Einsatz. Er beobachtete, wie die beiden Hüter der Feuer ihre Position neben den lodernden Flammen einnahmen. Wie immer handelte es sich bei den Hütern um einen Mann und um eine Frau, die – wie die beiden Feuer, die in der Mitte des Zeremonienplatzes brannten – die gegensätzlichen Kräfte aller Dinge verkörperten. Beide waren in einen Umhang aus weichen Zedernrindenfasern gehüllt, der ihnen fast bis zu den Knien reichte. Ihre langen schwarzen Haare trugen sie offen. Als Hüter der Feuer war es ihre Aufgabe, während der Zeremonie die Feuer zu schüren und ihnen ausgewählte Kräuter beizugeben. So wurde der Gegensatz der Feuer, nämlich weiblich und männlich, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, nicht nur dem unmittelbaren Betrachter durch die unterschiedlichen Farben, die die Kräuter den Flammen verliehen, erkenntlich gemacht, sondern auch den Geistwesen, denn die unterschiedlichen Kräuter verliehen dem Rauch der Feuer gegensätzliche Aromen, süß und herb. Der Rauch der Feuer würde den Ältesten helfen, die Geistwesen zu erreichen und ihre Bitte vorzutragen.

Die wohlriechenden Kräuter zeigten den Geistwesen nicht nur die Wichtigkeit der Zeremonie an, sie sorgten auch dafür, dass die richtigen Geistwesen angesprochen wurden. Denn die Anwesenheit von Geistwesen machte sich oft durch Gerüche bemerkbar, nicht durch sichtbare Formen. Unangenehme Gerüche wurden mit negativen Geistwesen in Verbindung gebracht, wohlriechende Gerüche mit positiven. Bei Zeremonien wiederum wurden die Aromen der Kräuter dazu benutzt, mit den richtigen Geistwesen in Verbindung zu treten.

Chad warf einen Blick über die aus dicken Zedernplanken gezimmerten Sitzbänke, wo die übrigen Stammesmitglieder ihre Plätze eingenommen hatten. Jedes Stammesmitglied durfte der heutigen Zeremonie als Zeuge beiwohnen, und so waren viele Familien anwesend. Zeugen spielten bei den Stammeszeremonien eine wichtige Rolle. Denn was vor Zeugen gesagt und getan wurde, war bindend, dem durfte nicht zuwidergehandelt werden. Es waren jedoch nur die Ältesten und einige auserwählte Tänzer, die auf dem Zeremonienplatz an der Zeremonie selbst teilnehmen würden.

Die obersten Tribünenreihen waren in Dunkelheit gehüllt. Nur die vorderen Reihen wurden vom Schein der Feuer erleuchtet. Ein gleichmäßiges Stampfen von Hunderten Füßen setzte ein, begleitet von einem lauten Klicken, das vom Aufeinanderschlagen unzähliger kleiner geschnitzter Zedernpaddeln herrührte, die jeder Zuschauer in der Hand hielt.

In der Mitte des Zeremonienplatzes stimmten die Ältesten ihren feierlichen Gesang an und begannen, in rhythmischem Takt auf ihre Trommeln aus Zedernholz und Elchhäuten zu schlagen. Joseph Rock Horse, der die heutige Zeremonie leitete, hielt statt einer Trommel ein großes Paddel in den Händen. Es war ein wichtiger Bestandteil der Zeremonie, denn laut Stammesglauben trat ein Mensch seine letzte Reise in das Reich der Toten in einem Kanu an, in dem sich seine engsten Freunde befanden. Das Paddel stand stellvertretend für diese letzte Reise und würde es Joseph Rock Horse, zusammen mit dem Rauch der Feuer und dem rhythmischen Trommeln, erleichtern, die Verbindung mit der Geisterwelt herzustellen.

Nun traten Chad Blue Knife und die anderen Tänzer auf den Zeremonienplatz. Es waren Männer und Frauen verschiedenen Alters, die aufgrund ihrer spirituellen Fähigkeiten ausgewählt worden waren. Sie alle hatten sich für diese feierliche Zeremonie mit den traditionellen, aus weichen Zedernrindenfasern angefertigten knielangen rotbraun schimmernden Umhängen geschmückt. Dazu trugen sie aus Zedernholz geschnitzte, mit langen Streifen aus Zedernrinde verzierte und in den traditionellen Farben Weiß, Rot und Schwarz bemalte Tiermasken. Chad fiel auf, dass eine der Frauen an diesem Abend eine besonders schön gearbeitete Maske trug. Sie stellte eines seiner Lieblingstiere dar, einen Bären.

Begleitet vom Rhythmus der Trommeln und der kleinen Paddel und vom Gesang der Ältesten, setzten sich die Tänzer in Bewegung. Gegen den Uhrzeigersinn zogen sie in wogenden Kreisen um die Ältesten und die beiden rot und grün lodernden Feuer herum und ahmten dabei die Bewegungen und Laute der Tiere nach, die ihre Masken darstellten. Bären, Otter, Lachse, Hirsche und viele andere, durch die Tänzer zum Leben erweckt, zogen langsam ihre Kreise um die hell glühenden Feuer.

Der farbige Rauch stieg nicht sofort durch die Öffnungen im Dach in den nächtlichen Himmel empor, sondern wirbelte durch das Zeremonienhaus, wand sich in Schwaden und schien während der gesamten Zeremonie wie ein lebendiges Wesen über den Köpfen der Tänzer zu schweben.

Der ruhige, gleichmäßige Takt und die monotonen Gesänge der Ältesten versetzten alle im Saal innerhalb kürzester Zeit in eine Art Bann, und schon bald konnte niemand mehr sagen, wie lange die Zeremonie bereits andauerte.

Chad Blue Knife, einen traditionellen Umhang aus Zedernrinde um seine breiten Schultern geschlungen und eine handgeschnitzte Wolfsmaske auf seinem markanten Gesicht, konzentrierte sich auf jeden seiner tänzerischen Schritte.

Wie die anderen Tänzer war auch er nicht mit der ganzen Zeremonie vertraut, er wusste aber, dass sie erst dann beendet sein würde, wenn die Ältesten ein Zeichen aus dem Reich der Toten erhalten hatten, dass man ihre Bitte erhört habe. Niemand vermochte zu sagen, wie lange sie auf eine Antwort würden warten müssen, und Chad hatte sich innerlich auf eine lange Nacht vorbereitet.

Hinter der Tür war es finster. Gedämpfte Stimmen, Trommelschläge und ein helles hölzernes Klopfen drangen an Myras Ohr. In der Luft lag der würzige Geruch eines offenen Holzfeuers, und dünne Rauchschwaden zogen über ihr hinweg. Von den Stimmen und den seltsamen Klängen wie in einen Bann gezogen, schlüpfte Myra durch den Türspalt und ertastete sich vorsichtig ihren Weg. Ihre Hand glitt über eine Erhebung an der Wand des Ganges, und ihr Herz machte einen Sprung. Die Erhebung war rund und glatt und hatte hier und da Vertiefungen. Erleichtert erkannte Myra, dass es sich um eine Schnitzerei handeln musste. Was sie darstellte, konnte Myra in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen.

Erst jetzt bemerkte sie, dass der dunkle Raum, in dem sie sich befand, in Wirklichkeit ein schmaler Gang zwischen tribünenartig aufgebauten Sitzreihen war, an deren Ende sich ein großer, vom Schein zweier Feuer erleuchteter offener Platz befand. Vorsichtig ging sie weiter. Der Gesang, das Trommeln und die hölzernen Klickgeräusche wurden lauter und lauter. Im tanzenden Licht von hohen Flammen konnte Myra die schattenhaften Gestalten von Tänzern erkennen, und sie spürte, dass viele Menschen in dem großen Raum waren … und noch mehr. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie bekam eine Gänsehaut.

Sie wusste sofort, dass ihre Anwesenheit hier fehl am Platz war.

Plötzlich hallte ein lauter Schrei, fast ein Wehklagen, über den Zeremonienplatz. Chad fuhr erschrocken zusammen. Die Trommeln und der Gesang der Ältesten verstummten, die Tänzer, jäh aus ihrem Bann gerissen, stießen gegeneinander, und auf den Tribünen stockte das Stampfen und Klicken.

Chad blickte sich verwirrt um. War ihre Bitte schon erhört worden?

Er sah zu den Ältesten hinüber und wusste sofort: Joseph Rock Horse war aus der Welt der Ahnen zurückgekehrt.

Irgendetwas hatte die Aufmerksamkeit der Ältesten auf sich gezogen. Chad folgte ihren Blicken und beobachtete, wie die Rauchschleier, die eben noch den Schritten der Tänzer gefolgt waren, nun in Richtung eines der Gänge zogen, plötzlich anzuhalten schienen und in einem letzten großen Wirbel zurück zur Mitte strömten, von wo aus sie nach oben stiegen und durch die Öffnungen im Dach in den Nachthimmel verschwanden.

In dem Augenblick, als das laute Wehklagen ertönte und die Trommeln und Stimmen verstummten, fühlte Myra, wie sich unzählige unsichtbare Augenpaare auf sie richteten.

Rauchschleier umhüllten sie.

Ihr Herz pochte wie wild, und ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus.

Rasch wandte sie sich um und hastete zurück in den Vorraum. Sie verließ das Gebäude, ohne sich noch einmal umzublicken, und lief zu ihrem Wagen. Sie konnte den Rauch noch immer deutlich vernehmen. Es war, als sei er Teil ihrer selbst geworden.

Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, zog die Tür hinter sich zu und atmete tief durch. Wo, um alles in der Welt, war sie da nur hineingeraten?

Die Ältesten flüsterten miteinander, und schließlich war es Joseph Rock Horse, der sich an die versammelte Menge wandte. Chad lauschte seinen Worten voller Ehrfurcht.

»Unsere Bitte um Rat und Beistand ist erhört worden. Die Ahnen sprachen von einer uralten Legende, und sie versicherten, dass wir auf Hilfe hoffen können.« Er machte eine kurze Pause. »Ich weiß, dass meine Worte vielen von euch zu ungenau sind. Doch mehr vermag ich nicht zu sagen. Seid versichert: Die Antwort, die wir erhalten haben, war lauter und sehr viel deutlicher, als wir erhofft hatten. Beistand wird kommen. Haltet eure Augen und Ohren offen – und eure Herzen. Nehmt die gesandte Hilfe an und unterstützt sie nach Kräften.« Dann fügte er wie zu sich selbst hinzu: »Es ist vielleicht die einzige Chance, die uns und unseren Mitmenschen bleibt … Möge der Große Geist uns beschützen.«

Chad lief ein Schauer über den Rücken, als ihm die Bedeutung dieser Worte deutlich wurde. Alles hing jetzt von ihnen ab, von den anderen Stammesmitgliedern – auch von ihm selbst.

Sie mussten auf ein Zeichen hoffen und ihm mutig Folge leisten. Sonst würde die Welt, so wie Chad sie kannte, unweigerlich zerbrechen.

KAPITEL1

Felssäulen

Myra stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz neben der Tankstelle ab und stieg aus. Sie streckte ihren müden Körper in der kühlen Morgenluft und atmete tief durch. Es dämmerte gerade. Die Stimmen der Nachtvögel waren verstummt, und der Himmel färbte sich rosarot. Es würde ein herrlicher Tag werden!

Myra hatte die Nacht im Auto verbracht, auf einem Rastplatz am Highway, und ihren Weg nach Boulder Landing fortgesetzt, nachdem sie aus ihrem kurzen und unruhigen Schlaf erwacht war. Jetzt befand sie sich an der einzigen Tankstelle im weiten Umkreis und wollte sich den lang ersehnten Tee und ein Frühstück besorgen.

Boulder Landing! Der Name klang wie Musik in Myras Ohren. Es war der Ort, an dem sie aufgewachsen war und mit dem sie all ihre Kindheitserinnerungen verband. Von dort aus würde sie zum Fuß des Thunder Mountain weiterfahren, wo sie schon als junges Mädchen so gern und oft gewandert war. Es war nur noch eine kurze Strecke, und Myra konnte es kaum erwarten, bis sie die wilde Schönheit der Berge und die reine, ungestörte Natur wieder um sich haben würde.

Es war die Natur, und es waren insbesondere die Berge ihrer Heimat, die Myras Herz, seit sie ein Kind war, wieder ruhig schlagen ließen, sobald etwas sie bedrückte. Und im Augenblick lag ihr eine sehr große Last auf dem Herzen. Ihr Freund Jerry hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber der hatte, ganz und gar unerwartet, nicht den Freudenschauer in ihr ausgelöst, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte. Ganz im Gegenteil. Der Antrag hatte Myra so sehr verunsichert, dass sie erst wieder ihrer Gefühle Herr werden musste, bevor sie Jerry die richtige Antwort geben konnte. Genau das versprach sie sich von dem Trip in ihre geliebten Berge.

Mit diesen Gedanken betrat Myra den kleinen Laden, der zu der Tankstelle gehörte. Erstaunlicherweise war sie nicht die einzige Kundin. Ein junger Indianer, vielleicht Anfang dreißig, mit langen schwarzen Haaren, die ihm bis weit über den Rücken fielen und die er zu einem Zopf geflochten hatte, lehnte an dem Tresen neben der Kasse und sprach mit dem älteren Tankwart. Beide Männer grüßten Myra höflich und setzten ihr Gespräch fort.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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