Der Russland-Reflex - Irina Scherbakowa - E-Book

Der Russland-Reflex E-Book

Irina Scherbakowa

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Beschreibung

Zwei Freunde und Weggefährten im Gespräch: Die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa und der renommierte deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel diskutieren über ihre Heimatländer, deren Beziehung in einer tiefen Krise steckt. Ausgang ungewiss. Schockiert schauen sie auf die erneute Instrumentalisierung von Geschichte und die Rückkehr rhetorischer Stilmittel aus sowjetischen Zeiten. Persönlich und selbstkritisch berichten sie von ihren Lebens- und Arbeitserfahrungen zwischen Kaltem Krieg, Glasnost und der Putin-Zeit, sprechen kenntnisreich und engagiert über aktuelle politische Tendenzen und den Ukraine-Konflikt. Dabei bekennen sie sich leidenschaftlich zum Geist der Aufklärung, der Pflicht zum Selberdenken und fordern vehement das Recht des freien Wortes - in beiden Ländern.

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Inhaltsverzeichnis
Ein Gespräch in Zeiten der Sprachlosigkeit
Biografische Prägungen
Ein besonderes Verhältnis
Begegnungen
Fragen an die Geschichte
Die Faszination des Anderen
Das Denken ändert die Richtung
Vom wilden Feld des russischen Denkens
Desillusionierung
Mensch und Macht
Zeitenwende
Geschichtsbild und Realität
Beziehungskrise
Das Ende des Imperiums
Was tun?
Neue Generationen
Anhang
Ausgewählte Literatur
Über die Autoren

Ein Gespräch in Zeiten der Sprachlosigkeit

Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine ist in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland eine Zeitenwende eingetreten. Das deutsch-russische Verhältnis, dessen Anfänge mehr als tausend Jahre zurückreichen und das spätestens seit der Zeit der Perestroika in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre durch verstärkte gegenseitige Annäherung, Öffnung, wachsendes Vertrauen, Austausch und Dialog auf vielen Ebenen geprägt war, ist an einem Tiefpunkt angelangt. Misstrauen, wiederentdeckte Vorurteile und Metaphern aus der Zeit des Kalten Krieges sind auf beiden Seiten plötzlich wieder präsent. Ein konstruktiver, von gegenseitigem Respekt geprägter Dialog scheint unter diesen Umständen kaum mehr möglich.

Was bedeutet diese Sprachlosigkeit zweier Länder, deren Beziehungen seit jeher zwischen Faszination und Nähe einerseits und Angst, Gewalt und Fremdheit andererseits changierten? Und ist es überhaupt richtig, von Sprachlosigkeit zu sprechen? Geht es nicht vielmehr darum, dass diejenigen, die sich auf beiden Seiten derzeit zu Wort melden – in der Politik, aber auch in den Medien –, überkommene Deutungsmuster benutzen, die mit den aktuellen politischen Entwicklungen nicht Schritt halten? Oder haben wir es eher mit veritabler Ratlosigkeit zu tun, angesichts eines Verhaltens Russlands gegenüber der Ukraine, das viele erst überraschte, dann schockierte und am Ende fassungslos zurückließ? Über die Annexion der Krim, den Krieg in der Ukraine und die anhaltenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen wird seit dem Frühjahr 2014 öffentlich und privat gesprochen, gerungen und gestritten. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen sind eine besondere Herausforderung für diejenigen, die ihr Berufs- und oft auch ihr Privatleben als Brückenbauer zwischen Ost und West dem Dialog zwischen Russland und Deutschland gewidmet haben.

Im Banne der Faszination des »Anderen« haben sich der führende deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel und die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa jahrzehntelang dafür eingesetzt, Geschichte, Kultur, Sprache und Alltagsleben beider Länder zu verstehen und ihre Erkenntnisse für die Öffentlichkeit in ihren Heimatländern zu »übersetzen«. Geprägt von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und seinen Auswirkungen auf ihre eigene Familie und Lebenswelt haben sich beide früh, schon während des Kalten Krieges, und abseits des Mainstreams in ihren Heimatländern für Aufklärung und eine Art des Dialogs eingesetzt, der reale und gedankliche Grenzen überschreitet. Ihre Recherchen, wissenschaftlichen Erkundungen und publizistischen Arbeiten haben beide im Laufe ihres Lebens immer tiefer in die historischen und politischen Dimensionen des deutsch-russischen Verhältnisses geführt.

Um zu verstehen und aufzuklären, sammeln und erforschen sie Dokumente der Vergangenheit, lassen Zeitzeugen zu Wort kommen, bringen als aufmerksame Beobachter von Städten, Landschaften und Menschen verdrängte Erinnerungen und überwucherte Geschichte(n) ans Licht.

Heute sind sie selbst Zeugen einer erneuten Instrumentalisierung von Geschichte in Russland. Sie erleben den Wiederaufbau von Mauern in den Köpfen und, mit Blick auf das deutsch-russische Verhältnis, eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in ihren Heimatländern. Im letzten Drittel ihrer beruflichen Laufbahn stehen zwei der maßgeblichen Brückenbauer zwischen Deutschland und Russland nun vor einem Scherbenhaufen.

»Der Russland-Reflex« skizziert Erkenntnisse und Thesen zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen, die Irina Scherbakowa und Karl Schlögel in einem langen Gespräch auf Einladung der Körber-Stiftung im Frühjahr 2015 in Berlin miteinander diskutiert haben. Die Autoren kennen und schätzen sich seit vielen Jahrzehnten. Irina Scherbakowa arbeitete lange Zeit als Literaturwissenschaftlerin und als Übersetzerin deutscher Literatur, bevor sie bei der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL die Koordination des jährlich ausgerichteten Geschichtswettbewerbs für Jugendliche übernahm. Ihre Forschungsgebiete und Publikationen umfassen Totalitarismus und Stalinismus, die Geschichte des Gulag sowie Fragen des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungspolitik in Russland. Karl Schlögel ist einer der führenden Osteuropa-Historiker und hatte von 1990 bis 2013 eine Professur für Osteuropäische Geschichte, zunächst an der Universität Konstanz, seit 1994 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sein umfangreiches publizistisches Werk, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde, ist den Wechselwirkungen zwischen Geschichte und Raum gewidmet.

»Der Russland-Reflex« skizziert den kenntnisreichen und leidenschaftlichen Gedankenaustausch zweier Experten und Freunde über die Beziehung zweier Länder, die in einer tiefen Krise steckt und deren Ausgang völlig ungewiss scheint. Das Buch ist in vielerlei Hinsicht sehr persönlich: Beide Autoren geben Einblicke in ihre biografischen Prägungen, in die Auseinandersetzung mit den Kriegserfahrungen der Generation ihrer Eltern und in ihre lebensprägende Beschäftigung mit Sprache, Geschichte, Kultur und Politik Deutschlands und der Sowjetunion bzw. Russlands. Die Analyse ihres eigenen Beitrags zur deutsch-russischen Verständigung fällt zuweilen schonungslos selbstkritisch aus: Beide, hoch renommiert und vielfach ausgezeichnet, scheuen sich nicht, auch eigene Irrtümer und Fehleinschätzungen zuzugeben.

Aber auch die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation in ihren Heimatländern stellen Irina Scherbakowa und Karl Schlögel auf den Prüfstand: Sie bekennen sich zur Pflicht zum Selberdenken und zum Geist der Aufklärung, der nichts verschweigt, sondern die Dinge beim Namen nennt – in Russland wie auch in Deutschland. Das gilt sowohl im Hinblick auf das historische Erbe des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen, Terror und Totalitarismus als auch für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Zu diesen gehört auch die wachsende Spaltung der deutschen Gesellschaft: Diejenigen, die offen Kritik an der Politik von Präsident Putin üben, und diejenigen, die um mehr Verständnis für den Wunsch Russlands nach größerer Akzeptanz und einem Dialog auf Augenhöhe werben, scheinen sich immer unversöhnlicher gegenüberzustehen. Dazu gehören aber auch die Auseinandersetzung mit dem offensichtlichen Scheitern der demokratischen, aufklärerischen Kräfte in Russland und eine Antwort auf die Frage, ob und wann dieses Scheitern hätte verhindert werden können, ja verhindert werden müssen.

Die Erkenntnis, dass es Zeit ist, sich auf eine neue Realität einzustellen, zu sagen, was gerade passiert, sich selbst ein Bild zu machen und althergebrachte Erklärungsmuster – wenn nötig – über Bord zu werfen und das deutsch-russische Verhältnis »neu zu denken«, steht im Zentrum des Gesprächs. Irina Scherbakowa baut dabei auf die Kraft einer sich gegen den Mainstream richtenden Kultur des intellektuellen Widerstandes und Karl Schlögel fordert das »Recht des freien Wortes«, die Herstellung und Aufrechterhaltung »freier, ungehinderter Kommunikation« in beiden Ländern. Ausgehend von ihren persönlichen und beruflichen Erfahrungen zwischen Kaltem Krieg, Glasnost, »Gorbimanie« und der Putin-Ära zeigen die beiden Brückenbauer – trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen im Zeichen der aktuellen Verwerfungen und Konfrontationen – damit eine konkrete Perspektive für die zukunftsweisende Ausgestaltung der deutsch-russischen Beziehungen auf.

Gabriele Woidelko, Körber-Stiftung im August 2015

Biografische Prägungen

Ein besonderes Verhältnis

Die Anfänge deutsch-russischer oder russisch-deutscher Beziehungen reichen weit in die Geschichte beider Völker zurück und sind über tausend Jahre alt. Die Beziehungen waren stets eng, aber bei Weitem nicht immer innig. Inwieweit ist das deutsch-russische Verhältnis für Sie ein besonderes?

Karl Schlögel: Für mich ist das deutsch-russische ein besonderes Verhältnis, jedoch nicht so sehr wegen einer tausendjährigen Beziehung, wobei man fragen müsste, ob es sich hier tatsächlich um deutsch-russische Beziehungen handelt, wenn Sie damit das Großfürstentum und die Kiewer Rus meinen, sondern für mich ist es deswegen ein besonderes, weil es den Lebenshorizont meiner Generation, die nach dem Krieg geboren und aufgewachsen ist, sehr stark bestimmt hat. Ich bin mit Russland nicht so sehr verbunden, weil früher einmal dynastische Verbindungen zwischen Württemberg oder Hessen-Darmstadt und dem Hause Romanow bestanden haben, sondern eben weil man als Nachgeborener im Schatten dieses Krieges aufgewachsen ist.

Beziehungen zwischen der germanischen Welt und der der Ostslawen bestehen seit über tausend Jahren. Sie reichen von ersten diplomatischen Kontakten zwischen den Frankenkönigen und der Kiewer Rus im 10. Jahrhundert, der Ehe zwischen Heinrich IV. und der Kiewer Großfürsten-Tochter Eupraxia 1089 über die Handelsbeziehungen der Hanse in Nowgorod, die Ordenskriege, den »deutschen Zaren« Peter III., einen Holsteiner Prinzen, den deutschen Einwanderern unter Katharina der Großen bis zu den beiden Weltkriegen, nicht zu vergessen den Vertrag von Rapallo und den Hitler-Stalin-Pakt und danach den »Kalten Krieg« bis zur Deutschen Einheit in den 1990er-Jahren.

Immer waren die deutsch-russischen Verhältnisse, sofern man diese moderne Bezeichnung auch für die jeweiligen Vorläuferstaaten oder die Sowjetunion verwenden mag, starken Höhen und Tiefen unterworfen.

Kriege sind ja die denkbar heftigste, intensivste, ja intimste Form des Erlebens von Begegnung überhaupt. Allerdings betrifft das möglicherweise die Generationen nach mir schon nicht mehr, auch wenn die Generation, die nach dem Krieg geboren ist, noch immer im Schatten dieses Großereignisses aufgewachsen ist. Es hängt also nicht so sehr an den dynastischen Beziehungen oder an einem abstrakten Wissen um die historischen Wechselbeziehungen beider Länder, meine Beschäftigung mit und meine Leidenschaft für Russland haben sich dadurch ergeben, dass man wusste, dass da etwas Ungeheuerliches passiert war. Man kann natürlich weiter fragen, warum sich das nur auf Russland beziehen soll. Warum man zuerst an Russland denkt, und nicht an Polen, das die Deutschen am 1. September 1939 angegriffen haben – nach ihrem Pakt mit Stalin über die Aufteilung Polens.

Irina Scherbakowa: Auch bei mir begann alles mit dem Zweiten Weltkrieg. Ich bin in einer Nachkriegsatmosphäre aufgewachsen, in der die Jungen bei uns auf dem Hof immer »Russen gegen Deutsche« spielten. Dieses Spiel gab es sehr lange, auf jeden Fall die ganzen 1960er-Jahre hindurch. Erst die Freunde meiner Tochter, die in den 1970er-Jahren geboren wurden, spielten das nicht mehr.

Auch im Fernsehen liefen damals häufig Kriegsfilme. In meiner Kindheit waren die Deutschen aber vor allem aufgrund der Kriegserfahrung meines Vaters ein Thema. Mein Vater war Kriegsinvalide, und der Krieg und die damit verbundenen Schrecken waren uns, wenn auch unbewusst, ständig präsent. Für uns Kinder war es vollkommen klar, dass »die Deutschen« ihm das angetan hatten. Bei uns spielten historische Orte der Eltern immer eine Rolle, wie z.B. Leningrad im Krieg oder Stalingrad, wo mein Vater gekämpft hatte, oder der Ural, wohin meine Großmutter und meine Mutter aus Moskau evakuiert worden waren. Wir Kinder kannten diese Orte nicht persönlich, aber in den Familienerzählungen waren uns diese immer gegenwärtig. In unserem Fall war das der Ort Saur-Mogila in der Nähe von Donezk, in dem mein Vater im Sommer 1943 schwer verwundet worden war. Ihm sind beinahe die Hände abgeschossen worden. Er war damals 19 Jahre alt und schon Leutnant und Kompaniechef, und obwohl er natürlich nicht dauernd über den Krieg erzählt hat, war dieser in unserer Familie täglich präsent. Ich bin damit groß geworden, dass jede schwere Arbeit, die ein Mann normalerweise im Hause irgendwie schafft, für meinen Vater nicht möglich war, und ich wusste, warum. Meine Kindheit war sehr von den Nachwirkungen des Krieges geprägt.

Karl Schlögel: Ich habe von meiner Familie her mit Russland überhaupt nichts zu tun. Ich komme aus einem schwäbischen, aus einem Allgäuer Dorf, fernab von großen historischen Ereignissen. Mit der Weltgeschichte kamen wir – von den Bauernkriegen abgesehen – erst durch den Deutsch-Französischen Krieg, den Ersten Weltkrieg und schließlich den Zweiten Weltkrieg in Berührung. Das kann man heute noch an den Kriegerdenkmälern auf den Friedhöfen ablesen. Meine erste Erfahrung mit dem Osten machte ich auch gar nicht mit Russland. Dass es überhaupt ein Osteuropa gibt, ein östliches Europa, das wurde mir zuerst durch die Flüchtlinge deutlich, die es »aus dem Osten«, dem Sudetenland, aus Schlesien und aus Ostpreußen, in unser Dorf verschlagen hatte. Diese Menschen fand ich wahnsinnig interessant, das waren Leute aus der Stadt im Unterschied zu uns Bauern. Da kam etwas ganz Neues in die Dörfer, was die alten Verhältnisse geradezu sprengte. Meine erste Reise ging dann auch schon sehr früh nach Osten, in die Tschechoslowakei.

Russland war präsent über das Reden vom Russlandfeldzug. Mein Vater war im Krieg gewesen, ist aber völlig unversehrt sogar aus Stalingrad herausgekommen, obwohl er vom 1. September 1939 bis April 1945 meistens an der Ostfront eingesetzt war. Er selbst hatte einfach wahnsinniges Glück, aber auch in unserem Dorf sahen wir sehr viele Prothesenträger. Dieses Bild war mir sehr vertraut, unser Postbote hatte zum Beispiel einen Arm aus Leder. Und es gab Veteranentreffen, zu denen sich die Kriegskameraden alle paar Jahre einfanden, um sich über ihre Erlebnisse auszutauschen. Das verband ich mit Krieg. Diese Veteranen haben, wenn ich mich recht erinnere, meist gar nicht groß über Schlachten und Derartiges gesprochen. Für sie war der Krieg das zentrale Ereignis ihres Lebens, über das sie sich immer wieder mit ihresgleichen austauschen mussten. Das ließ sie nicht los. Etwas, was für uns Jüngere sehr schwer zu verstehen war: Der Krieg war ihre Jugend gewesen, das können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Und diese Jugend war geprägt von Leben und Tod, von Kämpfen, Morden und Bränden und vom simplen Davonkommen. Diese indirekte Anwesenheit von Krieg und auch von Kriegsgefangenschaft spielte eine sehr wichtige Rolle für mein Interesse am östlichen Europa. Später hatte ich zum Beispiel an meinem Gymnasium, einer Benediktinerschule, zwei Lehrer, für Mathematik und für Latein, die in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen waren. Dort hatten sie leidlich Russisch gelernt und halfen uns, in der Abiturklasse eine Reise in die Sowjetunion zu organisieren, was in den 1960er-Jahren, noch dazu in Bayern, nicht gerade selbstverständlich war.

Irina Scherbakowa: Die Erinnerung an den Krieg war auch an vielen anderen Stellen in unserem Alltag präsent. Ich wusste, wer von den Freunden meines Vaters ebenfalls an der Front gewesen war und wer nicht, wer in Kriegsgefangenschaft gewesen war, obwohl sehr wenig über direkte Kriegserlebnisse gesprochen worden ist. Übrigens wusste ich ebenfalls, wer im Gulag gewesen war.

Mein Vater wollte eigentlich Marineoffizier werden. Er war am Tag des Kriegsbeginns in Leningrad in der Marinekadettenschule immatrikuliert, aber der Krieg hat seine Pläne durchkreuzt. Später wurde er Literaturwissenschaftler und sein Spezialgebiet war die Kriegsliteratur. Seine Freunde waren bekannte Dichter und Schriftsteller, die über den Krieg geschrieben haben. Diese sahen – wie auch mein Vater – ihre Hauptaufgabe darin, das wahre und nicht das glorreiche Bild dieses Krieges wiederzugeben. Mein Vater hasste Pathos und das verklärte Bild des Krieges, er hatte die Leningrader Blockade erlebt, er lag in den Schützengräben von Stalingrad, er wurde mehrere Male verwundet, hat aber seine Orden nie getragen. Er hat oft gesagt, dass so viele Menschen gefallen sind, ohne irgendwelche Orden zu bekommen.

1957 reiste er zum ersten Mal nach Deutschland, nach Ostdeutschland natürlich. Nach seiner Rückkehr erzählte er von dem komischen Gefühl, das er hatte, als er dort so viele Kriegsinvaliden sah, so viele gute Prothesen, die es bei uns nicht gab. Ich glaube, mein Vater hegte keinen Hass gegenüber den Deutschen, aber dieser Krieg hat ihn für immer geprägt. Natürlich gab es nach dem Krieg Hassgefühle gegenüber Deutschen in Russland, aber ich habe das niemals persönlich und konkret erlebt, und erstaunlicherweise sind diese sehr schnell verschwunden. Man muss aber betonen, dass ich nicht in Westrussland lebte, wo schreckliche Massaker an der Zivilbevölkerung stattgefunden hatten, die den Menschen dort sehr wohl in der Erinnerung geblieben waren.

Später hat mein Vater deutsche Literaten, die wie er Soldat gewesen waren, gefragt, was sie damals gefühlt, was sie erlebt haben. Er wollte wirklich verstehen, wie es auf der anderen Seite war. Bei einigen Gesprächen war ich dabei und habe gedolmetscht. Zu den bekanntesten zählten z.B. die Schriftsteller Franz Fühmann aus der DDR oder Heinrich Böll aus Westdeutschland. Böll war für damalige Leser in Russland einer der bekanntesten ausländischen Autoren – gerade wegen seiner Beschreibung Nachkriegsdeutschlands als ein ehemaliger Soldat. Und damals lasen viele Menschen in Russland Bücher über den Krieg. Die Literatur und vielleicht auch der Film waren die einzige Möglichkeit der Reflexion.

Heinrich Böll war einer der meistgelesenen westlichen Autoren in der Sowjetunion. Zwischen 1952 und 1979 wurden rund 90 Schriften des Literaturnobelpreisträgers ins Russische übersetzt und in einer Gesamtauflage von rund 2,5 Millionen Büchern verkauft. Böll war auch als einziger westdeutscher Autor in den sowjetischen Schulbüchern vertreten.

Franz Fühmann lebte als Essayist, Lyriker und Kinderbuchautor in der DDR. Als Anhänger des Sozialismus verhielt er sich zunehmend kritisch gegenüber der Entwicklung der DDR, von der er in seinen späten Jahren bitter enttäuscht war.