Der Samenbankraub - Gert Prokop - E-Book

Der Samenbankraub E-Book

Gert Prokop

4,9

Beschreibung

Gert Prokops Kriminalgeschichten um den Stardetektiv Timothy Truckle, der mit Hilfe seines Computers Napoleon und eines guten Tropfen "Old Finch" ungewöhnliche Kriminalfälle löst, spielen in einer von Bigbossen und der allmächtigen Geheimpolizei kontrollierten kapitalistischen Restwelt. Sieben außergewöhnlich rätselhafte Verbrechen stellen hier sieben phantastisch spannende Herausforderungen für den sympathischen, zwergenwüchsigen Detektiv dar. Stets sind die Geschichten ein bißchen skurril, arbeiten mit phantastischen Elementen, sind aber auch von bösem Realismus.

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Impressum

eISBN 978-3-360-50045-8

© 2013 (2003) Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin

Umschlagentwurf: Verlag

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

GERT PROKOP

und andere unglaubliche Kriminalgeschichten

DAS NEUE BERLIN

Zwei Stichlinge aus Illinois

Die Nachricht traf mich wie ein Schock. Gut, ich war noch mächtig vertrieft, als der Anruf kam, wir hatten die ganze Nacht hindurch diskutiert und getrunken, und ich hatte mehr Whisky geschluckt, als ich mir sonst zutraue, weil ich für meine Theorie, der zweite Mond des Transpluto sei eine Relaisstation Außerirdischer, nur Hohn erntete – dabei war ich der einzige unter den Anwesenden, der an der Umkreisung des Transpluto teilgenommen hatte –, doch was mich wirklich umwarf, war der Inhalt des Anrufs. Ich sollte so schnell wie möglich zum Flughafen kommen und mir ein Luftpostpaket aus Chicago abholen: Man befürchte, dass die Verpackung auf dem Transport beschädigt worden sei, und es handle sich um leichtverderblichen Inhalt – Fisch!

Haben Sie schon von jemandem gehört, der ein Paket aus den Staaten bekommen hat?

Zwei- oder dreimal im Jahr bekomme ich Briefe von drüben, und schon deshalb werde ich, obwohl alle wissen, dass es sich nur um Drucksachen handelt, Prospekte für Lyrik-Neuerscheinungen, die ich seit meiner Reise in die Alte Welt zugeschickt bekomme, von meinen Freunden und Verwandten neidisch angesehen – und mit gieriger Erwartung: Wem werde ich dieses Mal die seltenen Briefmarken geben? – Doch wer, um aller Himmel willen, konnte mir ein Paket schicken?

Noch nie in meinem Leben, abgesehen von zwei Alarmen im All, war ich so schnell angezogen; ich nahm mir nicht einmal die Zeit für eine Tasse Kaffee, sondern frühstückte im Speisewagen der Metro. –

Auf dem Flughafen betrachtete man mich mit einem Gemisch aus Ehrfurcht und Misstrauen und schickte mich zum Zoll. Der Zöllner verriet mir, dass Luftfrachtsendungen aus den Staaten gar nicht so selten sind; mit jeder der monatlichen Maschinen kommen etliche Dutzend. Ungewöhnlich sei nur, dass dieses Paket nicht an ein Forschungsinstitut adressiert war, sondern an eine Privatperson, denn das »Korrektorat für Ichthyologische Forschungen«, das vor meinem Namen stand, sei doch offensichtlich eine Fiktion.

Ich musste das Paket vor den Augen des Zöllners auspacken, nicht nur, weil alle Sendungen aus den Staaten verständlicherweise streng kontrolliert werden, sondern vor allem, weil es penetrant roch. In dem Transportbehälter aus Thermoplast steckte ein silberglänzender, schuppiger Kasten und in dem wiederum ein Karton aus meergrüner Folie mit eingeprägtem goldenem Dreizack und mit der Aufschrift: OLD NEPTUN’S TREASURY, in der linken unteren Ecke stand die Inhaltsangabe: »2 Stück Illinois-Stichlinge«.

Die Stichlinge sahen eher wie Hechte aus, wogen jeder etwa ein Kilo und stanken jetzt, da die schützenden Hüllen gefallen waren, derart, dass ich die Sendung beinahe in den Nihilator geworfen hätte. Ich hatte in der vergangenen Nacht wirklich zu viel getrunken, sonst hätte der Absender in meinen grauen Zellen Alarm auslösen müssen. Aber ich rief wenigstens im »Institut für Meereskunde« an und erkundigte mich, ob man dort vielleicht Interesse an leicht verwesten Illinois-Stichlingen habe. Der Ichthyologe, mit dem man mich verbunden hatte, geriet fast aus dem Häuschen und beschwor mich, ihm die Fische sofort zu bringen, es seien rare Kostbarkeiten und tatsächlich Stichlinge, die in einigen Seen um Chicago zu solcher Größe mutiert wären.

Erst als ich in der Metro den dritten Mokka trank, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: OLD NEPTUN’S TREASURY! Dass ich nicht gleich daran gedacht hatte, wie Timothy Truckle, mein verschollener Freund aus Chicago, seinerzeit die Fische behandelt hatte, die er von ebendieser Firma ins Haus geschickt bekam!

Die Ichthyologen, die mich gleich im Dutzend empfingen und bereit schienen, sich um die stinkenden Stichlinge zu raufen, guckten nicht schlecht, als ich jetzt darauf bestand, selbst erst einmal die beiden Tiere zu untersuchen, mir Pinzette und Skalpell geben ließ, Schwanz- und Bauchflossen präparierte und dann die Augen der Fische vorsichtig herauslöste. Auf den ersten Blick sahen sie wie ganz normale Augen aus, und sie bestanden eindeutig aus organischem Material, sonst hätten sie wohl auch nie die Ausfuhrkontrollen in den Staaten passieren können, doch ich war sicher, dass mir die Illinois-Stichlinge nur wegen dieser Augen zugeschickt worden waren: Sie waren absolut frisch.

Die Ichthyologen wollten mich nun natürlich erst recht nicht mit den Augen ziehen lassen, doch was blieb ihnen übrig.

Ich fuhr zur Uni und fragte herum; an der Fakultät für Bionik bekam ich die Bestätigung: Es war vor zwei Jahren gelungen, eine Art »lebender Kristalle« zu züchten, Hochpolymere aus organischen Substanzen, die wachsen und sich vermehren, bis man sie fixiert, und die man unter anderem wie anorganische Kristalle für holografische Aufzeichnungen benutzen kann. Es dauerte drei Tage, dann hatten sie herausbekommen, wie man die Informationen aus den künstlichen Fischaugen abrufen konnte, und ich bekam endlich zu sehen, was Tiny mir mitzuteilen hatte. Die Aufzeichnung begann mit einem persönlichen Communic:

Lieber Freund!

Dies ist der siebente Versuch, Ihnen Nachricht zukommen zu lassen, vor allem: den zweiten Teil meiner »Memoiren«. Dass Sie den ersten Teil erhalten und veröffentlicht haben, erfuhr ich schnell, inzwischen konnte ich es sogar lesen! Mit der Art, wie Sie die Storys bearbeitet haben, bin ich einverstanden, nur den Titel finde ich unangemessen, ich bitte Sie: »Wer stiehlt schon Unterschenkel?«! Also wählen Sie dieses Mal bitte einen seriöseren Titel. Ich hoffe doch, dass Sie auch diese Geschichten publizieren werden, denn ich bin »eitel, arrogant und versnobt« genug, anzunehmen, dass nicht nur Sie selbst erfahren wollen, was sich zwischen dem »Fall der Drossel« und meinem Verschwinden zugetragen hat.

Wenn Sie diese Aufzeichnungen gelesen haben, werden Sie wissen, warum ich Ihnen die Genehmigung zur Veröffentlichung erteilen durfte – und ahnen, wie es mir jetzt geht. Was Ihre Vermutung betrifft: Ich habe die Geschichten selbst geschrieben – genauer: meine Erlebnisse fixiert und jemand, dessen Namen ich noch nicht preisgeben darf, hat mir dann geholfen, sie in diese Form zu bringen –, auf Anraten, ja auf Anordnung meines Arztes. Er glaubte, ich könne auf diese Weise mit meinen Depressionen fertig werden, und er hat offensichtlich recht. Es hilft zwar nicht, das Geschehene zu vergessen, wohl aber, es zu verarbeiten, was heißt: damit leben zu können.

Dass Sie nach mir suchen ließen, erfuhr ich zu spät, so konnte ich Ihrem Bekannten nicht einmal die Nachricht zuspielen, dass ich und – auf gewisse Weise – auch Napoleon noch leben.

Ich hoffe, Sie haben die Flasche »Old Finch« noch nicht ausgetrunken. Ich bin fest entschlossen, Sie eines Tages zu besuchen. Wann, das steht leider nicht einmal in den Sternen, die ich jetzt so selten sehen kann.

Bitte, geben Sie sofort Nachricht, dass Sie meine Sendung erhalten haben. Der Weg von DRAUSSEN zu uns ist ja viel unkomplizierter als umgekehrt, da wir neuerdings die WORLDNEWS hier empfangen können. Ich höre sie jeden Tag um 11.00 p.m. (Chicagoer Ortszeit). Sie werden es sicher arrangieren können, dass man in den »Gemischten Nachrichten« mitteilt, ein gewisser Timothy Napoleon Truckle habe einen neuen Weltrekord im Tiefflug aufgestellt (die Einzelheiten überlasse ich Ihnen).

Herzlichst

Ihr nicht mehr ganz der alte, doch immer noch treu

verbundenerTiny

Die Nachricht habe ich natürlich längst abgesetzt – nicht sofort: Ich brauchte ein paar Tage, bis sich der Chef der WORLDNEWS sprechen und überzeugen ließ.

Und hier ist er nun, der zweite Teil der Geschichten von Timothy und Napoleon.

Ich habe mich wiederum darauf beschränkt, die Storys aus dem Amerikanischen zu übersetzen und sie nur soweit bearbeitet, wie es mir für das Verständnis der Leser, die die Alte Welt nicht aus eigener Anschauung kennen, unbedingt erforderlich schien. Ich hoffe, dass Tiny der Titel dieses Mal seriös genug ist. Und wenn es ihm nicht zusagt – soll er kommen und mich zur Rede stellen. Der »Old Finch« steht noch bereit. Und ein paar Dutzend anderer Flaschen.

Der Samenbankraub

1

Timothy Truckle saß vor dem Spiegel und wartete auf das Wunder, das die Gebrauchsanweisung des Dermacolor-Präparats versprach. Er blickte äußerst skeptisch, und er griff immer wieder zu seinem Glas und nippte an dem Calvados, der ihm nach langem Überlegen dem Anlass angemessen erschienen war; man wird schließlich nicht alle Tage blau, taubenblau, um es zu präzisieren, und mit Haut und – nein, die Haare würde er dann passend zu Haut und Anzug in einem rotbraunen Ton färben.

Es begann unter den Augen. Fünf bange Minuten lang befürchtete Timothy, das Pigment würde sich nur in den Augenringen sammeln und ihm zwei überdimensionale Veilchen bescheren, doch dann strahlte der blaue Ton langsam über das Gesicht, verlief sich gleichmäßig, wuchs auch aus den Achselhöhlen über Brust und Arme, legte sich auf Hände und Beine, fast ohne Schattierungen. Timothy trank seinem Spiegelbild zu.

»Sehr zum Wohl, Bluebottle1!«

Total verrückt, sich die Haut zu färben. Aber das war nun einmal der Dernier cri der Snobiety, und ein Mann vom Image eines Timothy Truckle durfte da nicht abseits stehen, zumal er sich an Oliver DuMont heranpirschen wollte. Und wenn Timothy schon eine Mode mitmachen musste, dann wenigstens als einer der Ersten. Ein Zwerg, so sagte er immer, ist bestenfalls komisch; aber ein eitler, arroganter, versnobter Zwerg, das ist schon wieder eine Attraktion.

Timothy steckte den Frack in den Colorator und ließ ihn nachtblau tönen, dann wählte er lange und sorgfältig, bis er den richtigen Färbekamm gefunden hatte, ein warmes, rötliches Umbra, so exakt abgestimmt, dass auch die bedeutendsten Maler der Alten wie der Neuen Welt nichts an seiner Farbzusammenstellung hätten aussetzen können. Er prostete dem blauen Zwerg im Spiegel vergnügt zu.

Timothy ging zum Lift 17 C-1. Er wollte sich unbedingt von Tom zur »Stardust«-Bar hinaufbringen lassen; er musste alle nur möglichen Tricks anwenden, wenn er DuMonts Aufmerksamkeit erregen und an seinen Tisch gebeten werden wollte, und er versprach sich einiges von dem Kontrast, den er mit dem baumlangen, ihn um fast einen Meter überragenden Neger bilden würde.

DuMont war in Schwierigkeiten. Er gab sich zwar ausgelassen und arglos und zeigte sich fast jeden Abend in der Öffentlichkeit, geradezu verdächtig oft für einen arglosen Bigboss, doch Timothy wusste, dass zwei von DuMonts Topmanagern in den letzten Wochen unvermittelt verstorben waren und dass man auf DuMont Mordanschläge verübt hatte. Was lag näher, als dass er sich nicht länger auf seine Privatpolizei verließ und den besten Detektiv der Staaten engagierte? Timothy musste es ihm nur noch beibringen. Er brauchte dringend einen Klienten vom Format DuMonts, vor allem wegen des damit verbundenen Prestiges; es war in den vergangenen Monaten entschieden zu still um den guten Timothy Truckle gewesen, und nichts schadet solch einem Geschäft mehr, als in Vergessenheit zu geraten. Man muss nicht nur erfolgreich, man muss auch »in« sein.

An der Zentralkreuzung wäre Timothy fast mit der Hauswache zusammengestoßen, die ihren Kontrollgang durch die 827. Etage machte. Die beiden Safemen starrten Timothy mit offenem Mund nach, wahrscheinlich hatten sie noch nichts von der brandneuen Mode gehört und überlegten, ob Timothy nicht am Ende eines der kleinen blauen Männchen war, die, wenn man dem Videomagazin SCIENCE glauben wollte, eher früher als später die Erde besetzen würden. Bevor die Safemen sich von ihrem Schreck erholt hatten, ging die Lifttür auf, und Timothy stieg ein. Mit dem Rücken zuerst. Er wollte die Überraschung auf Toms Gesicht genießen. Als Timothy jedoch den Kopf in den Nacken legte und sich langsam umdrehte, blickte er ins Leere. Dafür ertönte eine heiser piepsende Stimme neben seiner Schulter.

»Guten Abend, Mister Truckle.«

Statt eines baumlangen Negers bediente ein Liliputaner den Lift! Der Mann war noch anderthalb Kopf kleiner als Timothy.

»Ich bin Bud, der neue Liftboy«, stellte er sich mit devotem Lächeln vor. »Ich hoffe, Sie werden mit mir zufrieden sein, Mister Truckle.«

»Sie kennen mich?«, fragte Timothy verdattert.

»Wer kennt Sie nicht?«, gab der Liliputaner zurück. »Sie sind einer der berühmtesten Mieter des ›Nebraska‹ und einer der häufigsten und beliebtesten Gäste der ›Stardust‹-Bar, wie man mich instruierte.«

Timothy knurrte wütend. Man hatte ihm also die sorgsam geplante Show gestohlen. Zwei Zwerge, das war der Gipfel des Lächerlichen. Zu spät dachte er daran, umzusteigen, der Lift hielt schon in der 1112. Etage, der Liliputaner riss die Tür auf, und Timothy blieb nichts anderes übrig, als auszusteigen. Hoffentlich sah DuMont nicht gerade herüber!

DuMont war noch gar nicht gekommen. Die Westfront der Dachetage, die er für sich hatte reservieren lassen, war gähnend leer. Timothy ging zum Bartresen. Der Keeper erschrak derart über den taubenblauen Teint, dass Timothy ihn zweimal mahnen musste, den Barhocker hinunter und dann wieder in die Höhe zu fahren.

»Keine Angst, Melvin«, beteuerte Timothy, »ich bin weder krank noch ansteckend, das heißt, ansteckend vielleicht doch! Das ist die Mode von morgen.«

Der Barkeeper schüttelte entsetzt den Kopf. »Müssen Sie alles mitmachen, Tiny?«

»Ich muss, Melvin, ich muss!«

»Ein Mann mit Ihrem Können und Ihrem Ruf?«

Timothy bestellte sich einen kleinen »King George« und musterte die Gäste. Niemand, der ihn interessierte. Und hoffentlich niemand, der sich für ihn interessierte! Wenn er schon auf DuMont warten musste, dann wollte er wenigstens ungestört den Sonnenuntergang genießen. Die tiefstehende und nur noch kraftlos glimmende Scheibe färbte bereits die Gipfel der olivgrünen Wolkendecke apfelsinenrot; die Spitzen der Skyscraper, die als einzige durch die Wolken stachen, schienen zu glühen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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