Der sanfte Kuss des Todes - Laura Griffin - E-Book

Der sanfte Kuss des Todes E-Book

Laura Griffin

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Beschreibung

Fiona Glass ist Phantomzeichnerin - die beste. Aber die intensive Auseinandersetzung mit den Opfern und Tätern hat ihren Preis: Ausgebrannt will Fiona aussteigen. Mit Mühe kann sie der attraktive Polizist Jack Bowman davon überzeugen, noch einen letzten Fall zu übernehmen. Sie ist seine einzige Hoffnung, einen grausamen Psychopathen zu finden. Denn der wird mit jedem Tag skrupelloser - und hat nun Fiona im Visier ...

Ein packender romantischer Thriller der New-York-Times-Bestseller-Autorin Laura Griffin jetzt als eBook bei beTHRILLED. Mörderisch gute Unterhaltung.

"Der sanfte Kuss des Todes" ist ein Thriller so spannend, dass es fast wehtut. Genießen Sie es, aber verriegeln Sie Ihre Türen." - Romance Review Today



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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

Weitere Titel der Autorin

Der stumme Ruf der Nacht

Über dieses Buch

Fiona Glass ist Phantomzeichnerin – die beste. Aber die intensive Auseinandersetzung mit den Opfern und Tätern hat ihren Preis: Ausgebrannt will Fiona aussteigen. Mit Mühe kann sie der attraktive Polizist Jack Bowman davon überzeugen, noch einen letzten Fall zu übernehmen. Sie ist seine einzige Hoffnung, einen grausamen Psychopathen zu finden. Denn der wird mit jedem Tag skrupelloser – und hat nun Fiona im Visier ...

Über die Autorin

Laura Griffin arbeitete als Journalistin, bevor sie sich entschloss, spannende Thriller für Frauen zu schreiben. Inzwischen hat sie mehr als fünfundzwanzig Romane veröffentlicht, ist New-York-Times-Bestsellerautorin und ihre Bücher wurden in vierzehn verschiedene Sprachen übersetzt. Sie lebt in Austin und schreibt im Moment an einer neuen Thrillerserie.

Laura Griffin

Der sanfte Kuss des Todes

Aus dem Amerikanischem von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by Laura Griffin

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Thread of Fear«

Originalverlag: Pocket Star Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2010 by Blanvalet

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Andrea Stumpf/Gabriele Werbeck liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Khomulo Anna/shutterstock; photosoft/shutterstock; Milan M/shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0233-1

be-ebooks.de

lesejury.de

PROLOG

***** 23:25 #shelB betritt den Raum

#shelB: jmd da?

Justin5: wie gehts?

#shelB: nicht so toll

Justin5: hab auf dich gewartet

#shelB: wer ist noch da?

Justin5: nur wir beide

#shelB: wo ist Kylie aus NYC?

Justin5: keine ahnung warum hast du kein bild?

#shelB: kommt bald

Justin5: toll hörst dich sexy an hab ich recht?

#shelB: lol

Justin5: echt

#shelB: danke

Justin5: lassen dich deine eltern so lange aufbleiben?

#shelB: hab nur meine mum und der ist es egal

Justin5: wo ist dein dad?

Justin5: bist du noch da?

#shelB: er ist letztes jahr gestorben

Justin5: kein witz?

#shelB: ehrlich

Justin5: wie das?

#shelB: autounfall

Justin5: scheiße

#shelB: meine mum hat gesagt dass er eingeschlafen ist aber er war betrunken sie lügt mich dauernd an

Justin5: das ist echt komisch

#shelB: was?

Justin5: mein vater ist auch letztes jahr bei einem autounfall gestorben

#shelB: kann nicht sein

Justin5: wir haben so viel gemeinsam ich will dich echt kennenlernen

#shelB: ich dich auch

Justin5: wo wohnst du denn?

#shelB: mist meine mutter!

Justin5: bis später

***** 23.32 #shelB verlässt den Raum

KAPITEL 1

Hartsfield-Jackson Atlanta International Airport

Mittwoch, 16.05

Fiona Glass war geübt darin, auf Gesichter zu achten, aber dieses hier wäre ihr auch sonst aufgefallen.

Der Mann, der sie von der anderen Seite der Flughafenhalle aus beobachtete, schien aus lauter Gegensätzen zu bestehen, so wie die Geheimratsecken zu den jugendlich geröteten Wangen. Er hatte rotblonde Haare – genau wie Fiona –, und seine Nase war schon einmal gebrochen gewesen und mit Sommersprossen übersät.

Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine Augen. Sie waren braun und ernst und starrten sie unverwandt an.

Fiona verursachte einen kleinen Stau unter den Passagieren, die mit ihr von Bord gegangen waren, als sie vor dem Ankunftsgate stehen blieb.

»Entschuldigung«, murmelte sie und zog ihren schwarzen Trolley zur Seite, um den Weg freizumachen.

»Miss Glass?«

Sie blickte in die Augen, die gerade eben noch ein Loch in sie gebohrt hatten.

»Garrett Sullivan vom FBI«, sagte er.

Ein Special Agent des FBI. Das hätte sie eigentlich schon an seinem braunen Anzug und der dezenten Krawatte erkennen können. Fiona legte ihren Mantel über den Arm und schob den Riemen ihrer Aktentasche über die Schulter, damit sie ihm die Hand schütteln konnte.

»Ich wusste gar nicht, dass ich abgeholt werde«, sagte sie und zog ihre Hand zurück. »Ich hatte eigentlich vor, ein Taxi zu nehmen.«

Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. »Wir hatten Sorge, dass Sie uns verloren gehen.«

»Wir fahren doch zum Präsidium, oder nicht?«

»Es hat sich eine Änderung ergeben.« Er schnappte sich ihren Koffer, ohne sie zu fragen, und dirigierte sie zurück in den Menschenstrom. Er war nicht groß – vielleicht ein Meter fünfundsiebzig –, aber kräftig gebaut, wie ein ehemaliger Leistungssportler, der inzwischen sein Training schleifen ließ.

»Haben Sie Gepäck aufgegeben?«, fragte er sie über die Schulter.

»Nein.«

Da er offenbar nicht vorhatte, sie gleich auf den neuesten Stand zu bringen, folgte Fiona ihm einfach durch die Menge, die ausschließlich aus gehetzt aussehenden Geschäftsreisenden zu bestehen schien. Im Gehen strich sie sich über ihren französischen Zopf und zupfte ihr Revers zurecht. Sie mochte eigentlich keine Hosenanzüge, wäre aber nie auf die Idee gekommen, zu einem Treffen mit der Polizei und dem FBI, wo sie es fast nur mit Männern zu tun hatte, etwas anderes zu tragen. Solche Gelegenheiten verlangten nach langweiliger, knitterfreier Kleidung, von der sie daher stets eine Kombination in einer Tasche in ihrem Kofferraum verstaut hatte. Heute trug sie einen grauen Zweireiher, der darüber hinaus praktischerweise ihre Figur verbarg. Teuer. Spießig. Professionell.

Sie sah genau wie Sullivan aus.

»Wir fahren zu dem Haus«, erklärte ihr der Agent endlich. »Die Medien brauchen frisches Futter für die Fünfuhrnachrichten, daher wurde eine Pressekonferenz im Polizeipräsidium anberaumt, die in zwanzig Minuten beginnt. Es dürfte also im Moment vor dem Haus ruhig sein, und deshalb haben wir beschlossen, dass wir Sie am besten gleich dorthin bringen.«

»Gut.« Fiona atmete tief aus und versuchte sich auf die neue Situation einzustellen. Sie hatte eigentlich gehofft, dass man sie umfassend über den Fall informieren würde, bevor sie mit dem Kind redete. Es gefiel ihr nicht, nahezu unvorbereitet in ein solches Gespräch gehen zu müssen. Sie wusste von dem Kind nur, dass es »stark traumatisiert« war, was alles und nichts bedeuten konnte.

Sie gingen an dem Aufzug vorbei, der zum Parkplatz führte, und Fiona blieb stehen. »Müssen wir nicht hier ...«

»Wir gehen dort raus.«

Er führte sie ein Stück weiter zu einer Absperrung. Einer der Sicherheitsleute nickte Sullivan kurz zu, dann löste er das Absperrband und winkte sie durch. Wenig später stand Fiona neben einem weißen Ford Taurus, der im Halteverbot vor dem Flughafeneingang abgestellt war. Sullivan winkte einem Wachmann mit orangefarbener Weste zu und hielt Fiona die Autotür auf.

Sie ließ sich auf den Beifahrersitz sinken, noch immer verwirrt über die plötzlich geänderten Pläne und gleichzeitig froh, so zügig aus dem Flughafen geschleust worden zu sein. Fiona hasste Flughäfen. Sie hatten etwas Schizophrenes an sich – voll mit Leuten, die entweder komplett gestresst waren oder tödlich gelangweilt.

Sie verstaute ihre Aktentasche und den Mantel im Fußraum und legte den Sicherheitsgurt an. Es war warm in dem Taurus, sein Fahrer konnte also nicht allzu lange am Terminal gewartet haben. Aus irgendeinem Grund erleichterte sie das. Sullivan hob ihren Koffer in den Kofferraum, dann öffnete er die Fahrertür, und ein Schwall kalter Luft drang ins Wageninnere. Georgia war wirklich nicht für seine harten Winter bekannt, aber im Moment hatte eine Kältewelle den gesamten Süden erfasst. Selbst in Austin war für heute Nacht Schnee angesagt.

Fiona sah zu, wie Sullivan hinter dem Steuer Platz nahm. Sie schätzte ihn auf achtunddreißig, höchstens vierzig.

»Erzählen Sie mir von dem Fall«, forderte sie ihn auf.

Er drehte die Heizung höher und fädelte sich in den Verkehr ein.

»Shelby Sherwood. Zehn Jahre alt. Ist das letzte Mal Montagnachmittag von ihrem Bruder gesehen worden.«

»Sie ist von zu Hause entführt worden?«

»Ja. Ein Mann, der an der Haustür geklingelt hat, vermuten wir.«

Bislang hatte er nichts gesagt, was Fiona nicht schon aus den Nachrichten im Frühstücksfernsehen wusste. Normalerweise schaute sie keine Nachrichten, aber heute wollte sie die Wettervorhersage sehen, und dabei war sie an dieser Geschichte hängengeblieben. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch nicht einmal geahnt, dass sie nur wenige Stunden später ihre Überblicksveranstaltung zur abendländischen Kunst ausfallen lassen würde, um zum Flughafen zu eilen.

»Was ist mit dem Zeugen?«, fragte sie.

Sullivan tastete mit einer Hand nach einer Aktenmappe auf dem Rücksitz, während er mit der anderen das Auto über die Interstate 85 lenkte.

»Colter Sherwood. Sechs Jahre alt. War gerade aus der Schule gekommen und hatte sich im Wohnzimmer vor den Fernseher gesetzt, wo Power Rangers lief, als Shelby die Tür öffnete.« Fiona hielt die Luft an, als er seinen Blick von der Straße nahm und in der Mappe auf seinem Schoß herumblätterte. »Erste Klasse in der Green-Meadows-Grundschule. Dieselbe Schule, die auch seine Schwester besucht.«

Sullivan zog ein Blatt aus der Mappe und reichte es Fiona. Es war eine Farbkopie von Shelbys Schulfoto, das sie heute Morgen schon in den Nachrichten gesehen hatte. Shelby hatte schulterlange, glatte braune Haare und trug ein T-Shirt mit lila und rosa Streifen. Das Foto war merkwürdig, fand Fiona. Shelby zeigte nicht das sorglose Lächeln, wie es typisch für eine Zehnjährige war, sie sah aber auch nicht mit dem verdrossenen Gesichtsausdruck einer Frühpubertierenden in die Kamera. Ihr Lächeln wirkte gezwungen und verlegen. Fiona betrachtete die schmal zusammengepressten Lippen des Mädchens.

»Trägt sie eine Zahnspange?«

Überrascht blickte Sullivan sie an. »Woher wissen Sie das?«

»Das sieht man. Sie versucht, sie zu verbergen. Und dann noch die Schminke.«

Er richtete die Augen wieder auf die Straße. »Habe ich auch schon bemerkt. Bisschen früh für das Alter, oder?«

»Für eine Fünftklässlerin? Ja, finde ich auch. Insbesondere wenn diese fünfte Klasse zu einer Grundschule gehört, wie Sie sagen. Sie sollten sich schnellstens ein Foto von Shelby mit Spange besorgen und an die Öffentlichkeit bringen.«

»Wir sind schon dran. Nur hat Shelby offenbar nicht mehr vor einer Kamera gelächelt, seit sie die Spange trägt.«

»Von wann ist das Foto?«

»September, soweit ich weiß.«

In vier Monaten hatte sich ihr Aussehen vermutlich nicht sehr verändert, vorausgesetzt natürlich, sie hatte sich nicht die Haare schneiden oder färben lassen. Aber sie brauchten dennoch ein Foto, auf dem man die Spange sah.

Sullivan wechselte abrupt die Spur, was mit einem lauten Hupkonzert quittiert wurde. Fiona sah über ihre Schulter.

»Sind wir etwa zu spät dran?«

»Ich versuche nur, Sie in das Haus zu schaffen, solange die Presseleute abgelenkt sind«, sagte er. »Keiner von denen weiß, dass Sie hier sind, und so soll es auch bleiben.«

»Das wird schwierig werden, wenn wir heute Abend eine Zeichnung des Täters veröffentlichen.«

»Falls wir eine Zeichnung veröffentlichen. Kein Mensch weiß, ob der Bruder überhaupt etwas gesehen hat.«

Fiona blickte erstaunt von dem Foto auf. »Warum bin ich dann hier?«

»Der Sitzsack, auf dem er saß, stand direkt vor dem Fernseher, nicht einmal fünf Meter von der Haustür entfernt, aber er behauptet steif und fest, dass er den Mann nicht gesehen hat.«

»Und warum glauben Sie ihm nicht?«

»Weil das Kind völlig außer sich war, als die Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Shelby war verschwunden, und er wiederholte ständig nur, dass er den Mann nicht gesehen hätte. Das ist im Grunde alles, was er in den letzten zwei Tagen von sich gegeben hat. Jedenfalls haben wir nicht mehr aus ihm herausgebracht – weder seine Mutter noch die Polizei oder unsere Psychologin, die sich mit ihm unterhalten hat. Der Kleine hat eine Heidenangst, daher sind wir ziemlich sicher, dass er etwas gesehen hat. Und deshalb haben wir Sie kommen lassen.«

Fiona starrte auf das Schulfoto und schüttelte den Kopf.

»Glauben Sie etwa, dass Sie es nicht schaffen?«

Sie hob den Blick. Sullivan lächelte sie an.

»Ach, kommen Sie«, sagte er. »Angeblich wirken Sie bei traumatisierten Kindern Wunder. Kann man alles in Ihrer Akte nachlesen. Sie sind ein Star unter den Polizeizeichnern.«

Fiona presste die Lippen aufeinander und sah weg. »Das ist mein letzter Fall. Ich ziehe mich zurück.«

Schweigen breitete sich im Auto aus. Sie hoffte, er würde nicht weiter nachfragen, weil sie keine Lust hatte, ihm ihre Gründe dafür auseinanderzusetzen. Im Moment wollte sie nichts weiter, als ihren Auftrag ausführen und dann das nächste Flugzeug zurück nach Austin nehmen.

Sie sah zu ihm. Sullivan bedachte sie mit einem halb amüsierten, halb zweifelnden Blick.

»Sie wollen sich zurückziehen. Mit dreißig Jahren?«

»Neunundzwanzig.«

Er warf lachend den Kopf zurück, und Fiona straffte ihre Schultern. Sie erwartete nicht, dass er sie verstand. Aber sie schuldete ihm auch keine Erklärung.

»Wer ist zu Hause bei Colter?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

Er wurde wieder ernst. »Mutter und Großmutter.«

»Was ist mit dem Vater?«

»Tödlicher Autounfall unter Alkoholeinfluss vor ungefähr einem Jahr.«

»Okay.«

»Die Mutter hat das Haus seit Montagabend nicht mehr verlassen«, fuhr er fort. »Sie will da sein, falls der Entführer anruft. Sie glaubt, dass Shelby ihr Handy bei sich hat, was bis jetzt allerdings nicht bestätigt werden konnte.«

»Gehört die Mutter zum Kreis der Verdächtigen?«

Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Mütter sind stets verdächtig.«

»Sie wissen, was ich meine. Verhält sie sich merkwürdig? Irgendwelche Freunde, die auffällig sind?«

»Bislang nichts. Alles, was wir haben, weist auf eine Entführung durch einen Außenstehenden hin.«

Sullivan hatte also Hinweise, die er vor ihr zurückhielt. Das überraschte Fiona nicht. Ihr Job bestand darin, den Ermittlern Informationen zu beschaffen, in erster Linie in Form von Zeichnungen. Die Informationen flossen immer nur in eine Richtung. Bislang hatte sie fast ausschließlich mit Detectives zusammengearbeitet, die ihr immer nur das Nötigste mitteilten, und für ihre Arbeit brauchte sie nun mal nicht viel.

Ein paar gedämpfte Takte Vivaldi ertönten zu Fionas Füßen. Sie zog die Tasche unter ihrem Mantel hervor und kramte darin herum, bis sie ihr Handy gefunden hatte. Auf dem Display erschien wie schon dreimal zuvor an diesem Tag eine Nummer mit der Vorwahl von Texas. Das war bestimmt wieder dieser Detective. Er hatte jedes Mal eine kurze Nachricht hinterlassen und sie um Rückruf gebeten. Sie sollte es endlich hinter sich bringen.

»Fiona Glass«, sagte sie energisch.

»Guten Tag, Ma’am. Ich bin Jack Bowman von der Polizei in Graingerville.« Er hielt inne, als wollte er ihr Gelegenheit geben, etwas zu sagen, zum Beispiel eine Entschuldigung, dass sie nicht zurückgerufen hatte. Aber den Gefallen tat sie ihm nicht.

»Es ist gar nicht so leicht, Sie zu erreichen.«

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Bowman?« Fionas Inneres krampfte sich zusammen, sie hatte Angst vor dem, was jetzt mit Sicherheit kam. Es hatte einen Mord gegeben. Eine Entführung. Ein Vergewaltiger trieb sein Unwesen ...

»Nun ja, wir haben hier einen Mordfall und könnten Ihre Hilfe gebrauchen.« Er klang entspannt und sprach mit einem leichten texanischen Akzent. Aber Fiona konnte noch etwas anderes aus der Stimme heraushören, eine eiserne Entschlossenheit, die sie zu dem Schluss kommen ließ, dass der Mann sich nicht so leicht abschütteln lassen würde.

»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, Mr. Bowman, ich bin bereits mit einem anderen Fall beschäftigt.« Sie spürte, dass Sullivan sie bei diesen Worten ansah. »Sie werden sich jemand anderes suchen müssen.«

Schweigen. Die Absage fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. Sie hielt die Luft an und hoffte inständig, er würde ihr nichts von dem Opfer erzählen.

»Tja, das ist das Problem, Ma’am. Es gibt sonst niemanden.«

Sie räusperte sich. »Versuchen Sie es doch einmal bei Nathan Devereaux von der Polizei in Austin. Ich bin sicher, er kann Ihnen jemanden empfehlen und ...«

»Das habe ich schon. Er hat mir Sie empfohlen.«

Fiona packte das Handy fester. Sie hatte Nathan doch gesagt, dass sie aufhören wollte. Warum empfahl er sie dann weiter?

Sullivan ging plötzlich vom Gas und nahm die nächste Ausfahrt. Fiona sah aus dem Fenster. Sie schienen sich einer Schlafstadt zu nähern, wie es rings um die amerikanischen Großstädte so viele gab. Die Straße war gesäumt von Einkaufszentren, riesigen Supermärkten und dazwischen Weideland. An jedem Telefonmast und an jedem Stoppschild hingen gelbe Bänder und Shelby Sherwoods Foto unter dem fett gedruckten Wort »VERMISST!«.

»Ma’am?« Jack Bowmans Stimme riss sie aus der Betrachtung der Fotos. »Sind Sie noch dran?«

»Tut mir leid, Mr. Bowman. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.«

Sie klappte das Handy zu und schob es zurück in ihre Tasche. Mit zitternden Händen schloss sie den Reißverschluss. Sie legte die Hände flach auf ihre Oberschenkel und holte tief Luft. Es war wichtig, dass sie sich auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrierte. Das war ihr letzter Fall. Sie musste gute Arbeit leisten.

Wir haben hier einen Mordfall. Wie oft hatte sie diese Worte schon gehört? Viel zu oft für ihren Geschmack. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken. Sie wollte auch nicht darüber nachdenken, was Jack Bowman nicht gesagt hatte, denn das hatte sie von den Detectives, die sie aus allen Ecken von Texas und neuerdings aus dem ganzen Land anriefen, schon zu oft gehört. Wir haben hier eine junge Frau ... hieß es dann. Und diese Frau war vergewaltigt oder ermordet oder halb zu Tode geprügelt worden. Manchmal war ihr eigenes Kind Zeuge. Das Opfer ist stark traumatisiert, und wir haben gehört, Sie sind spezialisiert ...

Sullivan fuhr über eine Kreuzung und wechselte auf die linke Spur.

»Sind wir da?«, fragte sie.

»Ja.«

Fiona beugte sich vor und sah aus dem Fenster. Die Häuser in dieser Wohngegend sahen alle gleich aus – kleine einstöckige Ziegelhäuser mit riesigen angebauten Garagen. Am Anfang der Straße standen ein junger Magnolienbaum und ein Schild, auf dem Rolling Hills zu lesen war.

Fiona blickte zurück zu dem Einkaufszentrum, an dem sie gerade vorbeigefahren waren, und entdeckte einen kleinen Supermarkt.

»Können Sie bitte noch mal umkehren?«, fragte sie.

»Sicher. Warum?«

»Ich muss mich umziehen«, sagte sie. »Ich bin falsch angezogen.«

In Häusern, in denen ein Kind vermisst wird, herrscht eine besondere Spannung. Eltern, die auf ihren Sohn oder ihre Tochter warten, stellen sich die unvorstellbarsten Dinge vor, und man meint, ihre Verzweiflung in der Luft knistern zu hören. Diese Spannung bringt völlig Fremde dazu, Wälder zu durchkämmen, Felder abzusuchen und Flugblätter zu verteilen. Aber sie hält nicht ewig an, und je mehr Tage, Wochen und Monate ins Land ziehen, desto schwächer wird sie.

Fiona wusste, was passieren würde. Höchstwahrscheinlich wäre von der Spannung im Haus der Shelbys nichts mehr zu spüren, wenn sie in einem Jahr wiederkäme, sie wäre durch einen einzigen Telefonanruf verpufft.

Sie musterte das Haus, als sie die Einfahrt hochging. Der Betonstreifen, der zur Haustür führte, war mit Absperrband gesichert, und Klingelknopf und Türknauf hatten hoffnungsvolle Ermittler auf Fingerabdrücke hin untersucht. Von einem Garten konnte kaum die Rede sein, die Bewohner des Hauses hatten nur einen jungen Baum gepflanzt, um dessen schlanken grauen Stamm eine breite gelbe Schleife gebunden war.

Ein paar Reporter aus der zweiten Riege hielten die Stellung, während ihre Kollegen auf der Pressekonferenz in der Stadt waren. Sie warteten in ihren mehr oder weniger gemütlichen Transportern darauf, dass etwas geschah, aber zwei oder drei standen rauchend auf dem Bürgersteig herum und unterhielten sich. Sullivan ignorierte ihre fragenden Blicke, als er zusammen mit Fiona auf die Haustür zusteuerte. Sein gelassener Gang schien zu sagen, dass es hier nichts zu sehen und auch nichts Neues zu berichten gab.

»Wir erwarten noch eine Kollegin von CARD«, sagte Sullivan leise. »Es liegt in ihrer Verantwortung, die Zeichnung freizugeben, daher wird sie nach Ihrem Gespräch mit dem Jungen sicher mit Ihnen reden wollen.«

»Sie sind bei CARD?«

»Ja, man hat vier Leute für den Fall abgestellt.«

»Das ist gut«, sagte Fiona beeindruckt. Das Child Abduction Rapid Deployment Team des FBI war eine auf Kindesentführungen spezialisierte Eliteeinheit, und sie wunderte sich etwas, dass Sullivan ihr nicht schon früher gesagt hatte, dass er dazugehörte.

Sie gingen zum Hintereingang. Ein vergessener Adventskranz aus künstlichen Stechpalmenzweigen schmückte die Tür der Sherwoods. Sullivan klopfte leise an die Scheibe, während Fiona neben ihm auf dem Treppenabsatz stand und einen Blick in den Garten warf. Sie sah eine Ecke der Terrasse, vergilbtes Gras, eine blau-weiße Schaukel.

Mit eiskalten Fingern umklammerte sie den Griff ihrer Aktentasche. Sie hatte ihren Mantel zusammen mit dem Koffer, in dem sich ihr ordentlich zusammengelegter Hosenanzug befand, in dem Taurus gelassen. Statt des Hosenanzugs trug sie jetzt Jeans, Turnschuhe und das dunkelblaue Micky-Maus-Sweatshirt, das sie vor Jahren in Disneyland erstanden hatte. Darüber hinaus hatte sie ihren Zopf gelöst, so dass ihr die Haare offen über die Schultern fielen.

Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen, und eine schmale Frau stand auf der Schwelle, in der Hand hielt sie eine Zigarette. Ihr eingefallenes Gesicht wurde von braunen Haaren mit blonden Strähnchen umrahmt. Sie sah aus wie Shelby, nur ein paar Jahre älter. Fiona war überrascht, wie jung sie wirkte und dass sie selbst die Tür geöffnet hatte. Meistens wurden Leute in einer solchen Situation von irgendwelchen Verwandten abgeschirmt.

»Guten Tag, Mrs. Sherwood. Das ist Fiona Glass, die Polizeizeichnerin, von der ich Ihnen erzählt habe.« Sullivan trat einen Schritt beiseite, um Fiona Platz zu machen.

Die Frau nickte zur Begrüßung und warf ihr einen wachsamen, aber nicht unfreundlichen Blick zu. »Kommen Sie doch bitte herein«, sagte sie und machte die Tür ganz auf.

Fiona betrat eine Küche mit einer kleinen Essecke. Es roch nach Putzmittel, als hätte gerade jemand den Boden gewischt. Die Jalousien waren heruntergelassen, und eine Lampe über der Spüle verbreitete schwaches Licht. Diese Häuser waren oft in Dämmerlicht getaucht, so als scheuten ihre Bewohner die Helligkeit. Fiona war das schon öfter aufgefallen, und sie war überzeugt, dass es eine psychologische Erklärung dafür gab, die sie allerdings nicht kannte, aber sie war ja auch keine Psychologin.

Irgendwo im Haus sprang ein Staubsauger an. Shelbys Mutter lehnte sich gegen die Resopal-Arbeitsplatte. Sie trug Hüftjeans und ein langärmliges schwarzes T-Shirt. Ihre Füße steckten in beigefarbenen Wollstrümpfen.

»Wollen Sie was essen?«, fragte sie und deutete auf die vielen Kuchenformen und Schüsseln, die auf der Arbeitsplatte aufgereiht waren. »Das schaffen wir nie. Wir sind ja nur zu dritt, meine Mutter, Colter und ich.«

»Für mich nichts, danke«, sagte Sullivan. »Wie geht’s Colter heute?«

Die Frau nahm einen langen Zug von der Zigarette, dann klopfte sie mit nachdenklicher Miene die Asche in der Spüle ab. »Eigentlich unverändert. Er wollte heute Morgen endlich mal wieder seine Froot Loops, aber das war’s auch schon. Im Moment spielt er in Shelbys Zimmer. Ich hab ihm gesagt, dass Sie kommen.«

»Wenn Sie einverstanden sind«, sagte Fiona ruhig, »würde ich gerne unter vier Augen mit ihm sprechen. Damit erreiche ich oft mehr.«

Die junge Frau warf die Zigarettenkippe in die Spüle und bedachte Fiona mit einem langen Blick. Sie öffnete den Mund, hielt inne, sah zu Boden. Sie verschränkte die Arme und räusperte sich, dann richtete sie ihre glänzenden blauen Augen wieder auf Fiona. Erneut fiel Fiona die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Shelby und ihrer Mutter auf.

»Wir können natürlich die Tür offen lassen, wenn Ihnen das lieber ist, Mrs. Sherwood. Nur sollten wir möglichst nicht abgelenkt werden.«

»Nennen Sie mich doch Annie«, sagte die Frau und strich sich über die Wangen. »Bitte machen Sie, was Sie für das Beste halten.« Sie stieß sich von der Arbeitsplatte ab und ging mit schleppenden Schritten aus der Küche.

Sie folgten ihr durch das Haus, und als sie am Wohnbereich gleich neben der Haustür vorbeikamen, blieb Sullivan kurz stehen. Fiona sah eine königsblaue mehrsitzige Couch, einen Couchtisch aus Eiche und eine passende Kommode. Auf dem großen Fernseher auf der Kommode lief CNN, der Ton war heruntergedreht.

»Colter saß dort«, sagte Sullivan und deutete auf einen Sitzsack mit Jeansbezug, der neben dem Tisch stand.

»Wie war das Licht?«, fragte Fiona.

»Die Jalousien waren oben«, sagte Annie vom Flur aus. »Und die Deckenlampe war eingeschaltet.« Sie drückte auf den Lichtschalter, schlagartig erstrahlte der Raum in hellem Licht.

Fiona blickte von dem Sitzsack zur Haustür. Sullivan hatte recht. Der Junge musste etwas gesehen haben.

Annie führte sie nach hinten zu den Schlafzimmern, wo es noch dunkler war und nach abgestandenem Rauch roch. »Meine Mutter ist ständig am Putzen«, sagte sie, als sie sich dem Staubsaugergeräusch, das aus einem der Zimmer drang, näherten. »Sie ist Montagabend aus Albany gekommen.«

Annie blieb vor der ersten Tür stehen. »Colter, Schätzchen. Die Frau, die so schön zeichnen kann, ist da und will mit dir reden.«

Fiona trat neben sie und sah einen blonden Jungen im Schneidersitz auf dem Teppich sitzen. Er trug einen grün gemusterten Schlafanzug, und Fiona fragte sich, ob er schon bettfertig war oder ob er sich heute überhaupt nicht angezogen hatte. Er blickte nicht von seinem Spielzeug auf, eine größere Anlage aus Legosteinen, die wohl als Tummelplatz für seine vielen Dinosaurierfiguren dienen sollte.

Annie betrachtete ihren Sohn einen Moment lang, bevor sie sich wieder Fiona zuwandte. »Ja, dann lass ich Sie mit ihm wohl mal allein.«

Fiona nickte und betrat das Zimmer. Die Wände waren in einem Lilaton gestrichen, der zu dem Blümchenmuster der Bettdecke und der Kissen auf Shelbys Bett passte. Unter einem Fenster stand ein weißer Schreibtisch aus Korbweide, und Fiona entdeckte graue Flecke auf dem Fensterbrett, wo es jemand mit Fingerabdruckpulver bestäubt hatte. Neben dem Bett befand sich ein zweites Fensterbrett, auf dem die gleichen Flecken zu sehen waren. In dem Holz steckten in einem Abstand von etwa zwei Zentimetern messingfarbene Heftzwecken. Daran hingen aus buntem Stickgarn geknüpfte Armbänder mit hübschen Mustern. Sie waren unterschiedlich lang, und während Fiona sie einen Moment betrachtete, erinnerte sie sich daran, dass sie als Kind auch gerne solche Armbänder geknüpft hatte.

Sie setzte sich zu Colter auf den Teppich, aber weit genug von ihm entfernt, dass er sich nicht bedrängt fühlte. Er hatte immer noch nicht von seinen Dinosauriern aufgesehen oder in anderer Weise zu erkennen gegeben, dass er sie bemerkt hatte.

»Hallo, Colter«, sagte sie und setzte sich wie er in den Schneidersitz. »Ich heiße Fiona. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne ein bisschen bei dir bleiben.«

Colter sagte nichts, warf ihr jedoch einen verstohlenen Blick zu.

Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche auf und holte ein Holzbrett heraus. Eigentlich waren es vier Bretter, die durch Scharniere miteinander verbunden waren. Zusammengeklappt hatte es ungefähr die Größe eines normalen Blatts Papier und passte genau in ihre Tasche. Fiona klappte es auseinander und arretierte es an den Scharnieren, so dass es ein großes Zeichenbrett ergab. Ihr Großvater hatte es ihr im letzten Sommer gezimmert, und Fiona fand, dass es eine handwerkliche Meisterleistung war. An den Messingklammern, die zum Arretieren dienten, konnte man sogar noch Fotos oder andere Bilder befestigen. An einer Seite befand sich eine kleine Kuhle für einen Stift, und in einer Kerbe an der oberen Kante ließ sich eine Leuchte festklemmen.

Colter hatte immer noch nicht aufgesehen, aber seine Hände waren ruhig geworden.

Fiona holte eine Papprolle aus der Tasche, aus der sie einen Bogen schweres Aquarellpapier zog. Sie befestigte es an dem Brett und fischte einen Graphitstift und eine Packung Knetmasse heraus. Den Facial Identification Catalogue des FBI legte sie neben sich auf den Teppich. Sie verzichtete zwar lieber darauf, aber manchmal war er ganz praktisch, wenn kleine Kinder oder Leute, die des Englischen nicht ganz mächtig waren, Schwierigkeiten hatten, das Gesehene in Worte zu fassen. Ein Sechsjähriger kannte den Begriff »fliehendes Kinn« wahrscheinlich nicht, aber er erkannte es vermutlich auf einer Abbildung und konnte es ihr zeigen.

Fiona ging ihre Sammlung von kleinen Stofftieren durch und suchte einen hellgrünen Drachen mit einem lilafarbenen gezackten Kamm auf dem Rücken aus. Der Drache kam einem Dinosaurier am nächsten, und sie setzte ihn auf das Zeichenbrett. Sie zeichnete ihn schnell ab und blickte dabei immer wieder zu Colter. Wie gebannt starrte er auf das Blatt.

»Hast du einen Lieblingsdino?«, fragte sie ihn.

Er legte den Kopf auf die Seite und dachte über die Frage nach.

»Ich mag den Triceratops am liebsten«, sagte sie und zeichnete schnell einen. Er sah zwar eher wie ein Nashorn als ein Dinosaurier aus, aber Colters Aufmerksamkeit hatte sie damit gewonnen.

»Ich mag den Velociraptor«, murmelte er.

Fionas Herz setzte einen Schlag aus, aber sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und lächelte. »Welcher ist das gleich noch mal? Der, den du gerade in der Hand hältst?«

»Das ist ein Pachycephalosaurus.«

Wow. So viel zu eingeschränktem Sprachvermögen bei kleinen Kindern. Fiona sah sich die Dinosaurierfiguren noch einmal genauer an und bemerkte, dass sie in zwei Lager geteilt waren. Ihre Kenntnisse der prähistorischen Tierwelt waren ein wenig eingerostet, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er sie in Fleischfresser und Pflanzenfresser unterteilt hatte.

Colter sammelte ein paar der Dinosaurier ein und rutschte näher zu Fiona. »Da«, sagte er und legte sie neben ihr auf den Teppich. »Das sind die besten.«

Fiona zeichnete einen nach dem anderen ab und fragte Colter dabei über sie aus. Er wusste alles.

»Manchmal zeichne ich auch Menschen«, sagte sie, während sie einen T-Rex schraffierte. »Ich würde gerne den Mann oder die Frau zeichnen, die du am Montag nach der Schule an der Tür gesehen hast. Meinst du, du kannst mir dabei helfen?«

Colter hatte sich inzwischen ihr gegenüber hingesetzt. Er ließ den Kopf sinken.

Fiona tauschte die Dinosaurierzeichnung gegen ein frisches Blatt Papier aus. Dann zog sie die Knie an und lehnte das Zeichenbrett gegen ihre Oberschenkel, so dass er es nicht sehen konnte und davon abgelenkt war. »Willst du mir helfen?«

»Ich hab ihn nicht gesehen«, murmelte er.

Fiona versuchte, möglichst gelassen zu klingen. Sie wollte nicht, dass sich Colter unter Druck gesetzt fühlte, auch wenn das ganz offensichtlich so war. »Kein Problem«, sagte sie. »Erzähl mir einfach, was dir einfällt.«

Er schwieg.

»Erinnerst du dich, dass am Montag jemand an die Tür kam, Colter?«

Ein kleines Nicken.

»Und erinnerst du dich vielleicht an die Haarfarbe?« Wenn man nach einem Merkmal ohne Bezug zur Person fragte, war das weniger bedrohlich, und die Haarfarbe war ein Merkmal, das den meisten Zeugen als Erstes einfiel.

»Braun«, flüsterte er.

Braune Haare.

»Okay.« Sie beugte sich vor, damit sie ihn besser verstehen konnte. »Was hast du noch gesehen?«

»Er war groß.«

»Gut, das machst du ganz toll, Colter.« Aber sie fing noch nicht an zu zeichnen. Ein sitzendes Kind würde viele Leute als groß bezeichnen, noch dazu, wenn es Angst hatte. »Erinnerst du dich, wie er aussah?«

Das Schweigen dehnte sich aus, während Colter auf seinen Schoß starrte. Eine Träne fiel auf seine Schlafanzughose, und er rieb mit seinem kleinen, dicken Daumen daran herum. Fionas Brust zog sich zusammen.

»Er hat gesagt, dass ich nichts erzählen darf.«

»Mir darfst du es erzählen, Colter. Woran erinnerst du dich noch?«

»Shelby hat angefangen zu weinen.« Die Stimme des Jungen versagte, und er zog die Schultern zusammen.

»Schon gut.« Es zerriss ihr beinahe das Herz. »Lass dir Zeit.«

»Er hat mir ein Messer vors Gesicht gehalten!« Ein Schluchzer ließ den kleinen Jungen erzittern. »Er hat gesagt, dass ich niemandem was erzählen darf, sonst kommt er und schneidet mir die Zunge raus.«

KAPITEL 2

Jack war überrascht, wie jung sie war.

Er beobachtete Fiona Glass von der gegenüberliegenden Seite des abgedunkelten Raums aus und speicherte jedes Detail in seinem Kopf ab: gut ein Meter siebzig, normal gebaut, soweit man das bei dem Hosenanzug sagen konnte. Hellbraune Haare. Blasse Haut. Volle Lippen, die im bläulichen Licht des Diaprojektors rosa leuchteten.

Sie stand neben dem Rednerpult und zeigte Dias, und er hörte ihr zu, ohne groß auf die Worte zu achten. Sie sprach mit klarer, sicherer Stimme und ohne erkennbaren Akzent. Soweit er wusste, stammte sie aus Kalifornien, aber ihr geschäftsmäßiges Auftreten wollte nicht so recht zu seiner Vorstellung von einer Kunstdozentin aus der Heimat der Beach Boys passen.

Sie wandte sich ihren Zuhörern zu und ließ den Blick über die Studenten wandern, die auf ihren Stühlen lümmelten. Mit einem Laserpointer deutete sie auf eine bestimmte Stelle des Bildes, die sie ihrem begeisterten Tonfall nach zu urteilen besonders bemerkenswert fand. Jack wusste allerdings noch aus seiner eigenen Collegezeit, wie einschläfernd die Wärme und Dunkelheit in einem solchen Seminarraum mitunter auf die Zuhörer wirkten, insbesondere auf diejenigen, die bis tief in die Nacht beim Bier zusammengesessen hatten.

Sie ließ sich von dem fehlenden Interesse der Studenten jedoch nicht aus dem Konzept bringen und trug unverdrossen ihre Überlegungen zum Humanismus vor. Als sie ihren Blick das nächste Mal durch den Raum schweifen ließ, blieb er an ihm hängen. Sie geriet einen kurzen Moment ins Stocken, und er ahnte, dass sie sich fragte, warum ein Mann seines Alters in ihrem Seminar auftauchte und sich einen Vortrag über florentinische Malerei zu Gemüte führte.

Von draußen ertönte ein Klingeln, und der Raum erwachte zum Leben. Die Studenten standen auf, gähnten, streckten sich und schulterten ihre Rucksäcke, um sich zur nächsten Veranstaltung zu begeben.

Jack wartete gegen die Wand gelehnt neben der Tür, bis der letzte Student aus dem Raum schlurfte und er allein mit Fiona Glass war.

Sie hatte ihre Haare zu einem hübschen Zopf geflochten. Mit geübten Handgriffen verstaute sie das Diakarussell in einer Pappschachtel und schob sie in eine Aktentasche. Dann legte sie sich ihren Mantel über den Arm und kam auf ihn zu.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Kommt darauf an«, sagte er und musterte sie. Aus der Entfernung hatte sie wie eine Steueranwältin ausgesehen, aber von Nahem machte sie einen völlig anderen Eindruck. Das mattbraune Haar war eher von einem rötlichen Goldton, und was ihre angeblich durchschnittliche Figur anging, nun, ihr Hosenanzug lag an den genau richtigen Stellen eng an.

»Worauf denn?«, fragte sie ungeduldig, es war unverkennbar, dass es ihr nicht passte, von ihm so eingehend gemustert zu werden.

»Sind Sie Fiona Glass?«

»Ja.«

»Jack Bowman.« Er streckte die Hand aus. »Wir haben miteinander telefoniert.«

Sie blickte auf seine Hand, ohne sie zu ergreifen. Amüsiert lehnte er sich wieder gegen die Wand und verschränkte die Arme.

»Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt«, sagte sie kurz angebunden. »Ich übernehme im Moment keine neuen Fälle.«

»Davon war keine Rede«, erwiderte er. »Sie sagten, Sie wären mit einem anderen Fall beschäftigt, und nachdem ich gestern in den Nachrichten auf Fox News das Phantombild von Ihnen gesehen habe, nahm ich an, dass diese Sache abgeschlossen ist.«

Sie seufzte. »Mr. Bowman ...«

»Jack.«

Sie sah zur Decke. »Jack ...«

»Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee, und ich erzähle Ihnen von meinem Fall?«

»Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, Jack, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Sie werden sich jemand anders suchen müssen.«

Er betrachtete ihr Gesicht. Sie ärgerte sich über ihn – so viel war klar. Aber er konnte noch etwas anderes an ihrer Miene ablesen. Sie schien aus irgendeinem Grund Angst vor ihm zu haben.

Gut, das konnte man nachvollziehen. Ein nicht gerade kleinwüchsiger Mann lauerte ihr an ihrem Arbeitsplatz auf und bestand darauf, mit ihr zu reden, und immerhin verdiente sie sich ihr Geld damit, Mörder und Perverse zu zeichnen. Vielleicht machten Männer sie allgemein nervös. Er beschloss, es mit einer anderen Taktik zu probieren.

Jack zog aus der Gesäßtasche seiner Jeans eine Brieftasche. Er klappte sie auf, holte eine abgestoßene Visitenkarte heraus und reichte sie ihr. Seit er wieder in seine Heimatstadt gezogen war, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, eine Visitenkarte zu benutzen, weil die meisten Leute, mit denen er zu tun hatte, ihn zumindest vom Sehen kannten. Aber bei dieser Frau tat sie vielleicht ihren Dienst und beruhigte sie.

»Ich bin der Polizeichef eines Städtchens namens Graingerville, das ungefähr zwei Autostunden von hier entfernt liegt. Das sind meine Kontaktdaten. Mir ist klar, dass Sie viel zu tun haben, aber Nathan Devereaux, den ich schon ziemlich lange kenne, meinte, dass Sie mir helfen könnten. Ich halte große Stücke auf seine Meinung. Ich will niemand anderen.«

Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, als sie seine Karte studierte. Sie war ganz offensichtlich in einem Zwiespalt, und er beschloss, ihr erst einmal Gelegenheit zum Nachdenken zu lassen.

»Überlegen Sie sich die Sache bitte und rufen Sie mich an.«

Sie sah zu ihm auf, ihre braunen Augen wirkten verstört. Es war unübersehbar, dass sie mit sich rang.

»Dieser ... Mord, von dem Sie sprachen. Gibt es einen Zeugen?«

Bingo, er hatte sie.

Aber er wollte sie nicht gleich wieder verschrecken, indem er alle Karten auf den Tisch legte. »Wie es aussieht, ja. Eine Frau, die sich vor einiger Zeit in der Gewalt des Täters befand und überlebt hat.«

Sie sagte nichts. Dann holte sie tief Luft. »Gut, ich werde mir die Geschichte anhören. Aber ich verspreche nichts.«

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Sie hatte keine Ahnung, wie sehr er ihre Hilfe brauchte, er steckte mit seinen Ermittlungen in einer Sackgasse fest.

»Danke.« Er nickte.

Sie sah auf ihre Uhr. »Mein nächstes Seminar fängt in einer Dreiviertelstunde an. Wir können uns in ein Café setzen, und Sie erzählen mir von dem Fall.«

Das Java Stop gegenüber vom Campus war gesteckt voll mit Studenten, die auf der Suche nach Koffein und einem kostenlosen WLAN-Zugang waren und keine Lust hatten zu arbeiten. Fiona war ein regelmäßiger Gast zwischen ihren beiden Kunstgeschichteseminaren, die an drei Tagen in der Woche stattfanden. Sie fand, es war der richtige Ort, um einen Kaffee mit einem Mann zu trinken, den sie erst ein paar Minuten kannte.

»Wie lange unterrichten Sie schon hier am College?«, fragte Jack, als sie sich setzten.

Er musste sich schräg hinsetzen, weil seine Beine nicht unter den Zwergentisch passten. Die braune Lederjacke mit dem Fellkragen hatte er ausgezogen, so dass er jetzt in einem grauen Flanellhemd und Jeans vor ihr saß. Er trug seine braunen Haare sehr kurz geschnitten – fast militärisch kurz – und wirkte mit seinen abgetretenen Stiefeln inmitten der schicken skandinavischen Möbel ein wenig fehl am Platz.

»Das ist mein viertes Semester.« Fiona blies auf ihren Milchkaffee und stellte fest, dass die Blicke mehrerer Frauen auf Jack ruhten, als sie sich umsah. »Montags, mittwochs und freitags habe ich meine Überblicksveranstaltungen, und den Rest der Woche verbringe ich in meinem Atelier.« Das nahm sie sich zumindest immer vor. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen ganzen Tag ungestört gemalt hatte.

Jack umfasste einen Becher mit schwarzem Kaffee. Er hatte die Hände eines Farmers – kräftig, gebräunt, mit Schwielen. Wie ein Polizist sah er jedenfalls nicht aus. Er trug keinen Ehering, und sie fragte sich, ob er schon einmal verheiratet gewesen war.

Er beobachtete sie über den Rand des Kaffeebechers hinweg, während sie ihn musterte. Er hatte einen direkten, durchdringenden Blick. Viel entging ihm sicher nicht, dachte Fiona und trank einen Schluck Kaffee. Er war sengend heiß.

»Da bleibt bestimmt nicht viel Zeit für Aufträge von der Polizei.«

»Ich versuche jedenfalls, mich stärker auf meine Malerei zu konzentrieren«, sagte sie. »Ich habe in letzter Zeit ganz gut verkauft, und in Kürze habe ich eine Einzelausstellung in einer Galerie.«

Darauf erwiderte er nichts, sondern hob nur den Becher und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Fiona hatte ihn eingeladen, damit sie ihm zu nichts verpflichtet war. Wie erwartet, hatte ihn das irritiert. Er wirkte irgendwie altmodisch.

Jack sah sie an, und sie versuchte, ihre Gelassenheit zu behalten.

»Ich hoffe, die Frage ist nicht zu indiskret, aber warum möchte eine Frau mit Ihrer Reputation den Beruf wechseln?«

Die Frage war eindeutig zu indiskret, aber sie wollte nicht zickig erscheinen. Es schadete jedenfalls nicht, wenn sie sich etwas in Konversation übte, oft hatte sie nämlich nicht Gelegenheit, mit einem so attraktiven Mann Kaffee zu trinken.

»Ich habe sechs Jahre Malerei studiert. Mit der Arbeit als Polizeizeichnerin habe ich mir das Studium finanziert.«

Er runzelte die Stirn. »Und jetzt brauchen Sie das Geld nicht mehr, und der Job hat sich für Sie erledigt?«

Fiona starrte ihn an. So wie er es sagte, klang es, als sei sie nur hinter dem Geld her. Aber was sollte er auch von ihr denken, nachdem sie ihm fast nichts über sich erzählt hatte? Ihren Wunsch, die Malerei zu ihrem Beruf zu machen, konnte keiner nachvollziehen, am wenigsten ihre Kollegen bei der Polizei. Und über die emotionale Belastung, die ihre Arbeit darstellte, wollte sie sich bei ihm nicht auslassen, auch wenn er diesen Punkt vielleicht verstanden hätte. Aber dann hätte er sie möglicherweise für schwach gehalten.

Sie straffte die Schultern. »Ich dachte, wir wollten über Ihren Fall sprechen?«

Jack lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. Sie passte gut zu den breiten Schultern. Als Künstler entging einem so etwas einfach nicht. Genau wie sie sofort sein kantiges Gesicht und das Grübchen am Kinn bemerkt hatte. Den schönen Mund.

»Das Opfer, eine Frau, wurde am Dienstag gefunden.«

Fiona riss sich zusammen. »Ist sie schon identifiziert?«

»Bisher wissen wir nur, dass sie hispanischer Abstammung ist und laut Aussage des Rechtsmediziners sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie wurde sexuell missbraucht und erwürgt und dann auf einer Wiese am Stadtrand abgeladen. Es ist bislang keine Vermisstenanzeige eingegangen. Allerdings kann das manchmal auch dauern.«

»Kaum, wenn sie minderjährig ist«, warf Fiona ein. »Die meisten Eltern melden ein Kind sofort als vermisst.«

Er legte den Kopf schief. »Stimmt. Aber sie könnte von zu Hause weggelaufen oder illegal aus Mexiko über die Grenze gekommen sein. Wir wissen ja nicht einmal genau, wie alt sie war.«

»Na gut. Sie haben etwas von einem überlebenden Opfer erwähnt.«

Er sah auf seinen Kaffee und nickte. »Ebenfalls ein Teenager und mexikanischer Abstammung. Sie wurde über mehrere Tage gefangen gehalten und missbraucht. Man hat sie wiederholt geschlagen und gewürgt, bis sie schließlich fliehen konnte.«

Er hielt den Blick gesenkt, was Fiona für einen abgebrühten Polizisten ungewöhnlich fand. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig, vielleicht ein bisschen jünger. Die Polizeiarbeit ließ die Leute früher altern. Bei der Polizei von Los Angeles hatte sie Dreiundzwanzigjährige kennengelernt, die bereits mit mehr Gewalt in Kontakt gekommen waren als manch ein gestandener Sheriff auf dem flachen Land. Vielleicht gab es in Jack Bowmans kleiner Gemeinde ja nur selten einen Mord. Könnte man das nur auch vom Rest der Welt sagen!

»Sie glauben also, dass es ein Serientäter ist«, sagte sie. »Jemand, der hinter Mädchen im Teenageralter her ist.«

Er hob seine Augen. »Vielleicht. Bislang ist es nur ein Verdacht. Aber einer, den ich verdammt gerne aus dem Weg räumen würde.«

»Haben Sie die Daten durch ViCAP laufen lassen?«

»Keine Treffer.«

»Kein einziger?«, fragte sie überrascht. Die zentrale Datenbank des FBI war riesig.

»Doch, einer.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Aber der Fall liegt zwölf Jahre zurück.«

»Und?«

»Der Täter ist zu vierzig Jahren verurteilt worden. Er ist letztes Frühjahr in Huntsville gestorben.«

»Was sagt das FBI?«

Seine Kiefermuskeln spannten sich an. »Keine Ahnung.«

»Aber schalten die sich nicht automatisch ein, wenn es sich um einen Serientäter handelt?«

Jack lachte höhnisch. »Bislang haben wir nur eine Leiche bei uns im Leichenschauhaus liegen, für die sich kein Mensch interessiert. Da wird nicht laut nach einer groß angelegten Ermittlung gerufen.«

Und doch war der Polizeichef einer Kleinstadt eigens nach Austin gefahren, um eine Polizeizeichnerin für seinen Fall zu gewinnen. Fiona musste die Entschlossenheit bewundern, mit der Jack dem Opfer, das noch nicht einmal identifiziert war, Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte.

»Ihre Kollegen in San Antonio sind doch sicher bereit, Ihnen auszuhelfen«, sagte sie. »Die sind Ihnen doch sogar zur Amtshilfe verpflichtet, oder?«

Jack sah sie an, und sie spürte erneut den Sog, den diese graublauen Augen ausübten. »Sie sind nicht von hier, oder?«

Sie schluckte. »Ich bin in Kalifornien aufgewachsen.«

»Ich lebe gerade mal zwei Autostunden vom Rio Grande entfernt, Ms. Glass.«

»Fiona.«

Er nickte. »Fiona, gerne. Die Polizeibehörden in diesem Staat, speziell in meiner Gegend, haben alle Hände voll mit Drogenhandel, Bandenkriegen und illegaler Einwanderung zu tun. Von der üblichen Klientel an Methamphetaminsüchtigen und Pädophilen ganz zu schweigen. Da brauche ich mit meinem nicht identifizierten Opfer gar nicht erst zu kommen. Oder glauben Sie, die reißen sich darum, mir dabei zu helfen, irgendeinen Kerl aufzuspüren, der möglicherweise dafür und für eine länger zurückliegende Vergewaltigung verantwortlich ist?«

»Nein.«

Jack nickte. »Deshalb brauche ich Sie. Ich glaube, dass die beiden Verbrechen miteinander zu tun haben. Ich glaube, dass unser Täter sich in der Gegend auskennt und genau weiß, was er tut, ich kann es nur nicht beweisen.«

»Aber meine Zeichnung wäre doch gar kein Beweis, sie wäre nur ein Hilfsmittel.«

»Das ist mir klar, aber vielleicht würde dadurch etwas ins Rollen kommen.«

Fiona seufzte und Jack beugte sich vor. »Hören Sie, ich würde gern ein Bild von dem Kerl in Umlauf bringen, bevor es ihn wieder in den Fingern juckt und er noch ein Mädchen umbringt. Meine einzige Zeugin hat einen Albtraum durchgemacht. Wie ich gehört habe, können Sie gut mit Kindern und Vergewaltigungsopfern umgehen. Ich weiß natürlich, dass es andere Polizeizeichner gibt, aber ich will Sie.«

Fiona trank noch einen Schluck von ihrem Milchkaffee, der auf einmal bitter schmeckte. Sie schob ihn weg.

Wieder ein Tag, der heiter und sonnig begonnen und sich dann verfinstert hatte. Wieder ein Mord. Wieder ein Zeuge. Wieder eine Frau, die gezwungen wurde, von der Tat zu erzählen und damit die schrecklichsten Momente ihres Lebens noch einmal durchzumachen.»Werden Sie mir helfen?«

Sie sah auf und bemerkte den entschlossenen Zug um Jack Bowmans Mund. Dass man ihm nur schwer etwas abschlagen konnte, hatte sie schon bei dem Telefonat bemerkt. Dafür war er zu hartnäckig.

Aber es hatte nicht nur damit zu tun. Fionas Blick wanderte zu seiner Hand, die sich um den Kaffeebecher schloss, und sie fragte sich erneut, ob es eine Frau in seinem Leben gab. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre. Fiona fing nichts mit Polizisten an. Das hatte sie einmal getan, einmal zu viel. Sie sah weg.

Warum dachte sie überhaupt über diese Frage nach? Sie kannte diesen Mann doch kaum, und außerdem hatte sie beschlossen, ein neues Leben anzufangen. Dieses Mal würde sie es tatsächlich tun. Keine Gewalt mehr, keine Toten und Verbrechervisagen mehr, die sie bis in ihre Träume verfolgten. Wenn sie jetzt nicht den Absprung schaffte, dann könnte sie es für alle Zeiten vergessen.

»Fiona?«

»Lassen Sie mir etwas Zeit, um darüber nachzudenken«, sagte sie. »Ich rufe Sie an, wenn ich mich entschieden habe.«

Jack Bowmans Worte gingen ihr noch durch den Kopf, als sie die Tür zu ihrem Loft im Zentrum von Austin aufschloss. Sie warf ihre Tasche und den Mantel auf die Holzbank neben der Tür und streifte ihre bequemen, flachen Schuhe ab. Dann verriegelte sie die Tür und legte die Kette vor.

Endlich zu Hause.

Sie schlüpfte aus ihrer Anzugjacke, zog ihre Seidenbluse aus der Hose und durchquerte den Wohnbereich, um ihre Post auf das Sideboard zu legen, das die Küche von dem Rest des Lofts abteilte. Allein schon durch ihre Wohnung zu laufen besserte ihre Laune. Sie war eine Oase der Ruhe. Gleich nach ihrem Einzug hatte sie die Wände mattgrün gestrichen und naturfarbene Sisalteppiche auf den Fliesenboden gelegt, damit er nicht so kalt wirkte. Die sanften Farben wirkten beruhigend auf sie.

Sie öffnete die Kühlschranktür und atmete erleichtert auf, als sie sah, dass die Flasche Sauvignon Blanc noch zu einem Viertel voll war. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, an dem sie nach der zweistündigen Fakultätssitzung am Nachmittag auch noch drei Stunden in der Bibliothek verbracht hatte, um nach Dias für das Seminar am Montag zu suchen. Sie wollte nur noch abschalten und malen.

Fiona goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich auf einen der Barhocker, um ihre Post durchzusehen: die üblichen Werbeblättchen und Rechnungen und dann noch ein Brief von ihrem Großvater, der in der Nähe in Wimberley lebte. Seine Briefe waren sofort an der schönen Handschrift zu erkennen – er schrieb stets mit schwarzer Tinte – und an den feinen Bleistiftlinien, die er für die Adresse mit dem Lineal zog. Ihr Großvater war Bauingenieur gewesen und ein sehr bestimmender Mensch, aber sie liebte ihn inniglich, was sie vom Rest der Familie nicht sagen konnte. Obwohl sie fünfzig Jahre voneinander trennten, standen sie sich sehr nah. So wusste Fiona sofort, dass sie in dem Umschlag einen Zeitungsausschnitt aus den San Antonio Express-News finden würde, in dem es um das traurige Schicksal irgendeiner alleinstehenden Frau ging. Mehr nicht. Kein Brief, nicht einmal ein Gruß. Nur ein Artikel, der sie dazu veranlassen sollte, einen netten, jungen Mann zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Fiona seufzte und legte den Brief zur Seite. Da war noch ein schlichter weißer Umschlag, den jemand von Hand an »Glass« adressiert hatte. Auf der Rückseite stand ein Absender, den sie nicht kannte, irgendeine Adresse in Binford, Texas. Sie nahm ein Messer aus dem Messerblock und schlitzte den Umschlag auf.

Ein kleines, aus einem Spiralblock gerissenes Blatt Papier fiel heraus. Fiona nahm es und las die zittrigen Blockbuchstaben, die quer darübergeschrieben waren: MACH DICH BEREIT, DU SCHLAMPE. BALD GEHT ES DIR AN DEN KRAGEN.

Sie ließ das Blatt sinken. Dann nahm sie rasch den Umschlag und las den Absender noch einmal. »Binford«. Auf dem Poststempel stand auch Binford. Sie wusste nicht, ob es ein Gefängnis in Binford gab, aber das hieß nicht, dass der Brief nicht von einem Gefängnisinsassen stammte. Als sie noch in Los Angeles gelebt hatte, hatte sie auch Drohbriefe erhalten – allerdings unterschieden sie sich von diesem Brief. Sie waren ihr vom Bruder eines verurteilten Mörders geschickt worden und hatten schlagartig aufgehört, als sie nach Texas gezogen war. Seit fast zwei Jahren war sie nun nicht mehr mit solchen Briefen behelligt worden.

Sollte jetzt etwa alles wieder von vorne anfangen? Würde sie das nächste halbe Jahr wieder ständig über ihre Schulter blicken und bei jedem Gang zum Briefkasten Schweißausbrüche bekommen? Das könnte sie nicht mehr ertragen.

Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die sie längst auswendig kannte.

»Devereaux.«

»Hallo Nathan, ich bin’s, Fiona.«

»Ach, gerade habe ich von dir gesprochen.« Er klang fröhlich, das heißt, er war nicht im Dienst.

»Ich habe eine Frage. Weißt du, ob es in Binford ein Gefängnis gibt?«

»Binford?« Seine Stimme nahm sofort einen ernsten Klang an. »Du meinst Binford im Osten von Texas, oder? Nein, da gibt’s kein Gefängnis, es sei denn, du zählst die Ausnüchterungszelle im Büro des Sheriffs dazu. Warum?«

Sie zögerte, es ihm zu erzählen, wusste jedoch, dass es keinen Sinn hatte, einen Mann anzulügen, der seit zehn Jahren im Morddezernat arbeitete. »Ich habe einen Brief bekommen.«

»Einen Drohbrief?«

Sie kaute auf ihrer Lippe herum. »So könnte man es nennen.«

»Was steht drin?«

»Ich werde ihn dir zeigen.« Sie räusperte sich. Es fiel ihr schwer, jemanden um einen Gefallen zu bitten. Andererseits hatte er sie schon oft um irgendwelche Gefälligkeiten gebeten, seit sie freiberuflich für die Polizei von Austin arbeitete. »Wenn ich dir eine Liste der Fälle gebe, an denen ich in Austin beteiligt war, könntest du dann prüfen, ob eine Adresse in Binford dabei auftaucht?«

»Kein Problem. Ich bin morgen im Büro, komm doch einfach mit dem Brief vorbei. Wir untersuchen ihn auf Fingerabdrücke.«

Sie seufzte erleichtert auf. »Danke.«

»Und fass ihn nicht an. Steck ihn in eine Tüte und ...«

»Ich kenne das Prozedere, Nathan.«

»Noch etwas«, sagte er, und sie ahnte, was jetzt kam. »Ich habe gehört, du hast Jack Bowman in die Wüste geschickt.«

»Ich habe ihn nicht in die Wüste geschickt. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich den Fall nicht übernehmen will, und ihm auf dem Anrufbeantworter in seinem Büro eine Nachricht mit dem Namen und der Adresse von einem Kollegen aus Dallas hinterlassen.«

»Jack will dich. Er glaubt, dass du die Beste bist und weißt, wie sein Vergewaltigungsopfer zu nehmen ist.«

»Ich frage mich, wie er auf diese Idee kommt.«

Er lachte. »Tja, nun. Ich gebe einfach überall mit dir an. Dank deiner Hilfe konnten wir mehr Fälle lösen als alle anderen Teams zusammen.«

»Ich muss aufhören mit dieser Arbeit, Nathan. Ich brauche ...«

»Ich weiß, was du brauchst, und das ist sicher nicht noch mehr Zeit, die du mit dir allein verbringst. Ruf Bowman noch mal an. Hilf ihm bei diesem Fall.«

Langsam fing sie an, sich zu ärgern. Es nervte sie, wenn Männer ihre Entscheidungen hinterfragten, so als wüsste sie nicht selbst, was gut für sie war. Daran war schon mehr als eine ihrer Beziehungen gescheitert.

»Danke für das Kompliment, aber ich möchte dich bitten, mir keine Aufträge mehr zu vermitteln.« Oder gar Detectives.

Ein Piepsen zeigte an, dass jemand versuchte, sie zu erreichen, und Fiona nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch zu beenden. »Können wir morgen im Präsidium weiterreden? Da klopft gerade jemand an.«

»Klar, dann bis morgen.«

Sie nahm das andere Gespräch an, kam aber nicht einmal dazu, Hallo zu sagen.

»Was machst du?«, fragte ihre Schwester.

»Jetzt gerade?«

»Ja, jetzt gerade. In ebendieser Sekunde.«

Fiona blickte zu dem unberührten Glas. Der Wein war inzwischen wahrscheinlich warm. Abgesehen von dem Wein wartete an diesem Abend keine weitere Zerstreuung auf sie. »Nichts Besonderes«, sagte sie etwas zögernd.

»Super! Dann kannst du mich ja in den Continental Club begleiten.«

Fiona seufzte. Ein verrauchter, lauter Nachtclub, der gesteckt voll war mit irgendwelchen Möchtegern-Rockmusikern, war so ziemlich das Letzte, wonach ihr heute Abend der Sinn stand. Courtney wollte sie wahrscheinlich sowieso nur dabeihaben, damit sie nicht allein herumstand, bis sie den Typen rumgekriegt hatte, der diese Woche auf ihrem Schirm war.

Entweder das, oder ihr Auto war mal wieder kaputt, und sie brauchte einen Chauffeur.

»Fi? Bist du noch da?«

»Heute passt es mir nicht, Courtney. Ich muss Seminararbeiten korrigieren. Und dann wollte ich eigentlich malen.«

»Fiona! Du bist doch noch keine hundert! Mann, ständig erzählst du, dass dein Schreibtisch wartet oder dass du irgendeinen Scheiß pinseln musst oder ...«

»Nun mach mal langsam!«

»Ist doch wahr. Komm schon, ich lade dich auch auf einen Drink ein.«

Fiona nagte an ihrer Unterlippe. Irgendwie verlockte sie die Aussicht schon. Sie dachte an die zweiundvierzig Seminararbeiten über die Renaissance, die gelesen werden wollten. Wenn ihr noch einmal jemand eine Arbeit ablieferte, in der Dan Brown als Quelle zur italienischen Freskomalerei angegeben wurde, würde sie einen Schreikrampf kriegen.

Abgesehen davon war es Freitagabend, und ihr war einsam zumute. Der Kaffee heute Nachmittag war das einzige Date, das sie seit Monaten gehabt hatte. Sie lebte langsam das Leben einer Einsiedlerin.

»Okay, ich komm mit.«

Das Kreischen am anderen Ende zwang sie dazu, den Hörer von ihrem Ohr wegzuhalten. »Ich wusste doch, dass du mitkommst! Zieh dir was Schickes an, ja? Du musst heute Abend nicht als Mutter von Laura Bush auftreten.«

Fiona knirschte mit den Zähnen.

»Ach ja, mein Auto ist gerade in der Werkstatt, es wäre also nett, wenn du mich abholst.«

Jack fuhr mit dem Aufzug zu Fiona Glass’ schickem Loft hoch und fragte sich, was er hier eigentlich machte. Er hatte keine Zeit für solche Sperenzchen. Auf seinem Schreibtisch in Graingerville stapelten sich die Akten, eine Mitarbeiterin war im Mutterschaftsurlaub, und dann war da noch der ungelöste Mordfall. Und von alldem abgesehen, hatte er bereits einen ganzen Tag damit verschwendet, hierherzufahren und eine zickige Kunstlehrerin zu bequatschen.

Die Aufzugtüren glitten auf, und Jack sah sich um. Auf diesem Stockwerk befanden sich sechs Wohnungen, ihre lag ganz hinten links. Nathan hatte ihm ihre Adresse gegeben, als sie sich im County Line ein großes Steak genehmigt hatten. Mitten in ihrem Gespräch hatte Nathans Handy geklingelt, und sie war dran gewesen, hatte ihm von irgendeinem Brief erzählt, den sie bekommen hatte, und ihn gebeten, ihr keine Aufträge mehr zu vermitteln.

Aber das konnte ihn nicht davon abhalten, herzukommen.

Jack war es schon immer schwergefallen, ein Nein zu akzeptieren. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass er persönlich vorstellig werden sollte, wenn er von jemandem etwas wollte, höflich darum zu bitten und bei einem Nein nicht gleich aufzugeben, sondern noch einmal darum zu bitten. Nötigenfalls immer wieder. Das war das Credo der Familie Bowman und der Grund, warum seine Schwestern als Pfadfinderinnen mehr Kekse als alle anderen an den Mann gebracht hatten und warum ihr Sportverein immer genug Spenden zusammenbekommen hatte, um in den Frühjahrsferien Ausflüge nach South Padre bezahlen zu können. Die Bowmans konnten einer Kuh Milch verkaufen, und Jack war nicht bereit, ein Nein nach nur einem Versuch zu akzeptieren. Er blieb vor der Wohnung Nummer 4 A stehen und zauberte ein freundliches Lächeln auf seine Lippen.

Noch bevor er anklopfen konnte, wurde die Tür aufgerissen.

Fiona sprang einen Schritt zurück. »Was tun Sie denn hier?«

Sie hatte sich umgezogen. Und wie. Wahnsinn! Jack starrte mit offenem Mund auf die beiden hellen Rundungen, die zwischen den Falten eines lilafarbenen Stoffes hervorsahen. Es gelang ihm, seinen Blick von ihrem Dekolletee loszureißen, nur um im nächsten Moment an den glänzend roten Lippen hängenzubleiben. Eine Kirsche, die zwei Kugeln Vanilleeis krönte.

»Jack?«

Sie trat auf den Flur, und da bemerkte er die Stiefel.

Viele Frauen in Graingerville trugen Stiefel. Cowboystiefel. Das hier waren schwarze Schnürstiefel, die ihr bis zu den Knien reichten und dünne, zehn Zentimeter hohe Absätze hatten. Ein schwarzer Minirock schmiegte sich an ihre Hüften.

»Hallo? Sind Sie noch da?«

Sein Kopf zuckte nach oben. »Sie sehen ... schick aus, Frau Professor.«

Etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd schlüpfte sie in einen langen schwarzen Mantel mit hohem Kragen, drehte sich um und schloss die Tür ab.

Die Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern. Sie waren hellbraun mit einem rötlichen Stich oder rot mit einem Goldschimmer, ach egal, jedenfalls hinreißend.

Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Ich dachte, Sie wollten zurück nach Graingerville fahren.«

Jack räusperte sich. »Ich war schon auf dem Weg, da fiel mir ein, dass ich vergessen habe, Ihnen etwas zu sagen.«

Sie warf demonstrativ einen Blick auf ihre Uhr. »Ich bin spät dran, ich muss meine Schwester abholen ...«

»Wo steht Ihr Auto?«

»In der Tiefgarage.«

Er lächelte sie an. »Wie wär’s, wenn ich Sie zu Ihrem Auto bringe? Dann lass ich Sie in Ruhe, versprochen.«

Sie seufzte. Nicht zum ersten Mal.

»In Ordnung.« Sie steckte die Schlüssel in ihre Manteltasche und ging zum Aufzug. »Was haben Sie vergessen, mir zu sagen?«

»Ich habe vergessen, Ihnen von dem Mohn zu erzählen.«

»Von dem Mohn.« Sie blieb vor dem Aufzug stehen, drückte auf den Knopf und wandte ihm ihr verärgertes Gesicht zu. »Welcher Mohn?«

Die Aufzugtüren glitten auf, und er folgte ihr. Sie drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoss.

»In Graingerville gibt es den schönsten Mohn von ganz Texas. Direkt vor unserer Haustür. Aus dem ganzen Land kommen Maler und Fotografen zu uns. Wir haben sogar ein Mohnfest.«

Sie sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Das konnte man ihr kaum verdenken.

Sie hob die Augenbrauen. »Und warum wollten Sie mich das unbedingt wissen lassen?«

»Nathan hat mir erzählt, dass Sie Landschaften und Blumen malen.« Wow, die Frau hatte wirklich einen Wahnsinnsmund. Er fragte sich, ob sie vorhatte, heute Nacht jemanden mit diesen Lippen zu küssen. »Die schönsten Wiesen liegen allerdings etwas versteckt. Ich kann Ihnen eine Privattour anbieten. Sie könnten Ihr Malzeug mitbringen und vielleicht ein Bild für Ihre Ausstellung malen.«

Die Aufzugtüren gingen auf, und sie lief durch die Eingangshalle zu einem Seitenausgang. Ihre Absätze klapperten leise auf dem Marmorboden; das Geräusch erinnerte Jack daran, dass es schon eine halbe Ewigkeit her war, dass er sich das letzte Mal mit einer Frau verabredet hatte.

Er hielt ihr die Tür auf, und sie betraten den Durchgang zur Tiefgarage. Sie spürte einen kalten Luftzug. Jack sah sich um, als er neben ihr an den Autoreihen entlangging. Die sparten in dieser Garage für seinen Geschmack zu sehr an Beleuchtung und Überwachungskameras.

Sie blieb vor einem weißen Honda Civic stehen. Ein Hybridauto, nicht schlecht. »Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen mir irgendwelche Mohnwiesen zeigen, wenn ich mich damit einverstanden erkläre, Ihnen bei Ihrem Fall zu helfen?«

Er rieb sich das Kinn. »Ich hatte eigentlich nicht an einen Tausch gedacht. Aber das ist eine gute Idee. Natürlich bezahlen wir Sie für die Zeichnung. Ihr übliches Honorar.«

»Blüht Mohn nicht im Frühjahr?«

»Ja, und?«

Sie schüttelte den Kopf, aber er sah, dass sie sich ein Lächeln verkneifen musste. Dann zog sie ihren Schlüsselbund aus der Manteltasche. Eine Pfeife war daran befestigt.