Der stumme Ruf der Nacht - Laura Griffin - E-Book
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Der stumme Ruf der Nacht E-Book

Laura Griffin

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Beschreibung

Die scharfzüngige Courtney ist Schwierigkeiten gewohnt. Aber nie war sie in größerer Gefahr als jetzt, denn sie wird Zeugin eines brutalen Mordes. Die Lage scheint hoffnungslos und Courtney bleibt nur eine einzige Möglichkeit, um ihre Unschuld zu beweisen: Sie muss dem mürrischen, aber ziemlich attraktiven Polizisten Will vertrauen ...

Ein packender romantischer Thriller der New-York-Times-Bestseller-Autorin Laura Griffin jetzt als eBook bei beTHRILLED. Mörderisch gute Unterhaltung.

"Dieses Buch hat alles, was einen guten Thriller ausmacht: eine spannende Story, sympathische Charaktere und eine Romanze." - krimi-fan.de



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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Weitere Titel der Autorin

Der sanfte Kuss des Todes

Über dieses Buch

Die scharfzüngige Courtney ist Schwierigkeiten gewohnt. Aber nie war sie in größerer Gefahr als jetzt, denn sie wird Zeugin eines brutalen Mordes. Die Lage scheint hoffnungslos und Courtney bleibt nur eine einzige Möglichkeit, um ihre Unschuld zu beweisen: Sie muss dem mürrischen, aber ziemlich attraktiven Polizisten Will vertrauen ...

Über die Autorin

Laura Griffin arbeitete als Journalistin, bevor sie sich entschloss, spannende Thriller für Frauen zu schreiben. Inzwischen hat sie mehr als fünfundzwanzig Romane veröffentlicht, ist New-York-Times-Bestsellerautorin und ihre Bücher wurden in vierzehn verschiedene Sprachen übersetzt. Sie lebt in Austin und schreibt im Moment an einer neuen Thrillerserie.

Laura Griffin

Der stumme Ruf der Nacht

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2009 by Laura Griffin

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Whisper of Warning«

Originalverlag: Pocket Star Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2010 by Blanvalet

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Sven Koch liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © baxys /shutterstock; photosoft/shutterstock; Milan M/shutterstock; Rak ter samer/shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0234-8

be-ebooks.de

lesejury.de

Für meine Schwestern

Kapitel 1

Courtney Glass fuhr auf den Kiesparkplatz und verfluchte den Schwachkopf, der sich hier mit ihr verabredet hatte. Es war Mitte August. Draußen hatte es siebenunddreißig Grad. Da verbarrikadierte sich jeder halbwegs vernünftige Mensch in einem Gebäude mit Klimaanlage und trieb sich nicht auf einem gottverlassenen Wander- und Mountainbikepfad herum. Und das alles nur in der Hoffnung, nach dem Mittagessen schnell noch ein Schäferstündchen einzulegen?

Hielt er das etwa für romantisch? Oder für originell? Obwohl John David Alvin an einer der besten Universitäten Amerikas studiert hatte, war er manchmal einfach nur ein Idiot.

Courtney schnaubte wütend und klappte die Sonnenblende mit dem Schminkspiegel herunter. Idiot hin oder her – gut aussehen wollte sie auf jeden Fall. Gut aussehen war sowieso die beste Rache, vor allem wenn es um einen Ex ging.

Doch die Götter der Schönheit waren ihr heute nicht hold. Die hohe Luftfeuchtigkeit ließ ihr Haar langweilig herunterhängen, und ihr Make-up zerlief fast. Sie kramte in ihrer Handtasche in der Hoffnung auf eine rettende Idee, doch vergeblich. Also tupfte sie sich bloß mit einem Taschentuch die Stirn ab und fuhr sich ein paar Mal mit den Fingern durch ihr Haar. Dann begann sie, Lippenstift aufzutragen, hörte jedoch sofort wieder auf. Was für eine Rolle spielte es, welchen Eindruck sie auf David machte? Er war der Letzte, den sie momentan sehen wollte. Eigentlich hätte sie gar nicht kommen sollen. Doch seine ständigen Nachrichten gingen ihr auf die Nerven. Höchste Zeit, dass sie endlich einen Schlussstrich zogen.

Eine Bewegung im Rückspiegel erregte ihre Aufmerksamkeit. Er kam. Sie beobachtete, wie ein schwarzer Porsche Cayenne neben ihr parkte. Den roten Carrera hatte er wohl verkauft. Nach dem, was passiert war, überraschte sie das nicht. Plötzlich wurde sie nervös. Sie musterte das Innere ihres alten Buick, dessen verblichener Charme ein leeres Bankkonto verriet. Courtney war zwar ein richtiges Genie, wenn es um die unerkannten Möglichkeiten billiger Drogeriemarkt-Kosmetika ging, und auch als Schnäppchenjägerin in Secondhand-Läden war sie gut, aber bei diesem Wagen war jegliche Liebesmüh vergebens. Solange sie ihre Kreditkartenschulden nicht abbezahlt hatte, gab es keine Alternative zu dieser Karre mit der altersschwachen Klimaanlage. Sie stellte die Kühlung noch stärker ein und richtete den Luftstrom auf sich.

David saß in seinem Porsche und machte keinerlei Anstalten auszusteigen. Courtney spürte seinen Blick auf sich, als sie den Beifahrersitz freiräumte, erwiderte ihn aber nicht. Er hatte das Treffen gewollt. Also sollte er gefälligst zu ihr ins Auto steigen. Der Gedanke, in dieser Klapperkiste mit ihm zu reden, stimmte sie zwar nicht gerade glücklich. Aber sie dachte gar nicht daran, ihren Heimvorteil aufzugeben und zu ihm in den Porsche zu steigen.

Aus dem Augenwinkel gewahrte sie, wie er aus dem Wagen stieg und die Fäuste in die Seiten stemmte. Sie setzte eine entschlossene Miene auf. Mit ihm würde sie es zu jeder Tages- und Nachtzeit aufnehmen. Während sie auf ihn wartete, bildeten sich zwischen ihren Brüsten kleine Schweißperlen. Vor der Windschutzscheibe sah sie kleine Libellen im Sonnenschein tanzen.

Endlich ging die knarrende Tür des Buick auf, und David setzte sich auf den Beifahrersitz. Er trug ein gut gebügeltes weißes Hemd mit Monogramm auf der Manschette, eine rote Krawatte und – wie immer – eine schwarze Hose. Kaum hatte er die Tür geschlossen, war der Wagen von seinem Parfüm erfüllt.

Angewidert blickte ihn Courtney an und ließ das Fenster herunter.

»Und?«

»Was und?«, fauchte sie zurück. »Du hast mich angerufen.«

»Das hab ich sicher nicht getan.«

»Dann eben eine SMS geschrieben. Oder irgendwas.« Meine Güte, was für ein Arschloch. Allein von seinem Geruch wurde ihr übel.

Er sah sie wütend an. »Ich habe keine Zeit für diesen Mist. Das grenzt ja an Nötigung.«

»Nötigung?«

Plötzlich wurde eine der Hintertüren des Buick aufgerissen. Courtney fuhr herum und starrte in ein maskiertes Gesicht.

Der Mann zog eine Pistole aus der Hosentasche und hielt sie David an den Kopf. »Gib mir dein Handy.«

Mit einem Schlag blieb Courtney alle Luft weg. Sie starrte in die grauen Augen, die unter der Maske hervorblickten.

Er schlug David die Waffe ins Genick. »Mach schon, Arschloch.«

Courtney starrte auf ihren Ex-Freund. Seine Arroganz hatte sich in nackte Angst verwandelt, und er saß wie angewurzelt da. Mach schon. Sie versuchte, es ihm irgendwie telepathisch zu sagen, aber er bewegte sich kein bisschen. Endlich legte er eine Hand auf das Armaturenbrett und kramte mit der anderen in der Hosentasche.

Sie warf einen panischen Blick ins Freie. Kein Mensch. Das konnte doch nicht wahr sein. Es war helllichter Tag! Natürlich war es draußen heiß, aber irgendwer musste doch da sein ...

Jetzt richtete sich der Lauf auf sie, und ihr wurde flau im Magen.

»Deins auch.«

Sie glotzte auf den Mund, der diese Worte gesprochen hatte, und versuchte zu verstehen. Ihres auch. Ihr Handy. Er wollte ihr Handy. Wollte er auch Geld? Ihr Handy war in der Handtasche, und da war auch ihr Pfefferspray.

»Beeilung!«

David warf sein Handy in Richtung des Mannes, und es landete scheppernd auf der Hutablage. Der andere nahm es und steckte es in die Tasche seiner Trainingsjacke.

Danach wandte sich das Maskengesicht ihr zu. »Los, oder ich blas ihm die beschissene Birne weg.«

David wurde blass und blickte sie panisch an. »Beeilung, Courtney!«

Die Handtasche lag zu ihren Füßen. Auf dem Boden. Und darin war ihr Pfefferspray. Sie hob die Tasche auf ihren Schoß und tastete nach der Dose, fand sie in dem ganzen Krimskrams jedoch nicht. Ich kann jetzt noch nicht sterben. Ich muss noch so viel erledigen.

»Los!« Die Augen, die sie durch die Sehschlitze fixierten, wurden schmal.

Ihre tauben Finger schlossen sich um das Telefon und zogen es heraus. Sie hielt es ihm hin.

Die Zeit schien stillzustehen, als das Telefon in ihrer zitternden Hand lag. Er griff danach. Als sie die schwarzen engen Handschuhe heranschweben sah, wusste sie – mit plötzlicher Gewissheit – dass dies schlecht ausgehen würde.

Er packte sie am Handgelenk, und dabei fiel das Handy zu Boden. Ihre Hand ließ er dennoch nicht los.

»Hier ist mein Geld«, sagte David und zog seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche. »Nehmen Sie, was Sie wollen.«

Wie erstarrt verfolgte Courtney, wie die schwarz behandschuhte Hand ihr die Finger aufbog. Wollte er ihren Ring? Das billige Silberding aus Santa Fe?

»Ich habe Bargeld.« Davids Stimme überschlug sich. »Ich habe eine Rolex.«

Die Pistole klatschte in Courtneys Hand, und die dicken schwarzen Finger pressten sie um den Griff. Sie versuchte, ihren Arm zurückzureißen. Vergebens.

»Nein!«, schrie sie und zerrte an ihrem Arm, bis ihre Schulter schmerzte.

Davids und ihr Blick trafen sich.

Peng!

Sie zuckten beide gleichzeitig zusammen. In Davids Gesicht trat ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Auf dem weißen Hemd erschien ein roter Fleck, der sich immer weiter ausbreitete. Dann sank er zur Seite und prallte mit dem Kopf gegen das Fenster.

Courtney dröhnten die Ohren. Sie starrte auf die Waffe in ihrer Hand. Auch ein hohes schrilles Geräusch war zu hören. Aus ihrem eigenen Mund. Und wieder pressten die behandschuhten Finger ihre Hand zusammen. Mit aller Kraft fuhr sie herum und versuchte, sich loszumachen.

»Nein!« Mit ihrer freien Hand schlug sie mit aller Kraft gegen die Maske. Danach ging ein Zucken durch ihren Arm.

Peng!

Die Windschutzscheibe zerbarst in tausend Teile. Mit einem Schrei duckte sie sich in ihren Sitz. Dabei fiel ihr Blick auf die Handtasche zwischen der Tür und ihrem Bein. Und da war auch das Pfefferspray, das etwas aus der Tasche hervorlugte. Ihre rechte Hand wurde wieder zusammengedrückt, als der Mann die Finger um den Griff presste. Sie griff mit der Linken nach dem Spray. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihr Handgelenk. Langsam richtete sich der Lauf der Waffe gegen sie.

Mit dem Daumen ertastete sie den Sprühknopf. Sofort schoss ein heißer Strahl aus dem Spray hervor, genau in den hässlichen Mund in dem Loch in der Maske.

»Scheiße!«

Sie knallte vorne gegen das Lenkrad, als er ihren Arm plötzlich losließ. Das Wageninnere war von Flüchen und Stöhnen erfüllt, während sie hektisch nach dem Türgriff tastete. Mit einem Klacken öffnete sich die Tür, und sie fiel seitlich auf den Kies. Beim Blick zurück sah sie, dass Davids Körper gegen das Armaturenbrett gesunken war.

Da ging quietschend die Hintertür auf.

In Panik rappelte sie sich auf und rannte los.

Nathan Devereaux warf ein paar Münzen in den Snack-Automaten im Krankenhaus und überlegte, was er zu Mittag essen sollte. Seine Schicht hatte um zwei Uhr nachts begonnen, und außer Kaffee hatte er seit vierzehn Stunden nichts zu sich genommen.

»Willst du auch was?« Er sah sich nach seinem Partner um, der auf der anderen Seite des Wartezimmers stand. Der Typ kontrollierte doch tatsächlich durch die Jalousien den Verkehr auf dem North Lamar Boulevard. Entweder hatte er die Frage nicht gehört oder er war ein Idiot. Nathan kannte Will Hodges kaum achtundvierzig Stunden, aber er tippte auf Letzteres.

»Hodges!«

Der andere fuhr herum. »Ja?«

»Willst du auch was?«

»Nein.«

Ein Idiot also. Nathan fischte den Marsriegel aus dem Automatenschacht und schlenderte auf den Gang. Er wollte endlich die Polizeizeichnerin treffen, auf die sie warteten. Fast eine Stunde hockten sie nun schon hier, und die Tür von Raum 632 war weiter geschlossen. Das bedeutete, dass sie noch immer mit dem Zeugen am Phantombild arbeitete.

Nathan riss die Verpackung seiner Ersatzmahlzeit auf. An Tagen wie diesen spürte er sein Alter. Er war zwar noch keine vierzig, doch zehn Jahre im Morddezernat und das ständige Junk-Food hatten seiner Fitness nicht gerade gutgetan. Für sein Aussehen erntete er in Bars bisweilen zwar noch anerkennende Blicke, aber früher war er deutlich besser in Form gewesen.

Sein Partner kam auf ihn zu. Der Bursche sah aus, als könnte er sogar Autos herumwuchten. Wahrscheinlich trank er schon zum Frühstück Eiweiß-Shakes und ging sechsmal pro Woche ins Studio. Mindestens.

Na ja, maximal ein Jahr noch.

Nathan biss in den Schokoriegel und sah auf die Uhr.

»Wir sind fertig.«

Eine vertraute Stimme. Devereaux wandte sich um. Fiona Glass stand in der Tür. Mit ihrer abgewetzten Künstlermappe und einem Blatt Papier in der Hand. Sie trug einen leicht altmodischen, cremefarbenen Hosenanzug und hatte das rotblonde Haar streng zurückgekämmt.

Nathan ging zu ihr, um die Zeichnung zu holen, die sie ihm hinhielt. Schon beim ersten Blick krampfte sich ihm der Magen zusammen.

»Eine Profilzeichnung? Mehr hat sie nicht gesehen?«

»Sie sagt, er hat sie von hinten gepackt. Ganz gesehen hat sie ihn erst, als er abhaute.«

Nathan hörte die Anspannung in ihrer Stimme und sah auf. »Was ist los?«

Sie ließ den Blick durch das Wartezimmer schweifen, so also dürfe niemand anderes hören, was sie ihm sagen wollte. Als sie Hodges bemerkte, zögerte sie, und Nathan wusste, dass sie ihm noch nicht traute. Fiona war kein Mensch, der schnell Freundschaft schloss, und Hodges war erst vor einer Woche zur Polizei von Austin gekommen.

»Wo ist das Problem?«, drängte Nathan.

»Überall.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Zeichnung. »Wonach sieht es für dich aus?«

»Keine Ahnung. Ein Mann schwarzer Hautfarbe. Fünfundzwanzig Jahre alt. Keine besonderen Merkmale.«

»Und sein Ausdruck?«

Er starrte die Zeichnung an. Sie hatte sie in Kohle auf festem grauem Blatt Kunstpapier ausgeführt. Er konnte den Fixierer riechen, was bedeutete, dass die Zeugin das Bild für fertig hielt.

Nathan betrachtete das Gesicht eines Mannes, der kurz nach Mitternacht eine bekannte Richterin und deren Ehemann in der Garage überfallen hatte. »Sieht ziemlich gelangweilt aus«, meinte Nathan.

»Stimmt genau.«

Ihre Blicke trafen sich, und Nathan wusste, warum er so gern mit ihr zusammenarbeitete. Sie hatte das Auge einer Künstlerin, aber sie dachte wie ein Polizist.

»Er hat mit vorgehaltener Waffe zwei Menschen überfallen und einen davon erschossen«, sagte sie. »Da würde ich eher Aggression, Nervosität oder Panik erwarten. Eigentlich alles außer Langeweile.«

»Glaubst du, dass an der Sache was faul ist?«

»Auch die Perspektive stimmt irgendwie nicht«, fuhr sie fort, ohne auf seine Frage einzugehen. Nathan wusste nur zu gut warum. Die Zeugin war Stadtrichterin. Würde Nathan auch nur andeuten, dass das, was sie über den Mörder ihres Mannes ausgesagt hatte, nicht wahr wäre, gäbe es in der Presse einen riesigen Aufschrei.

»Die Perspektive. Du meinst, weil es nur ein Profilbild ist?«

»Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass man jemand bloß von einer Seite sieht, insbesondere nur von der rechten.«

Nathan runzelte die Stirn, als er sich wieder der Zeichnung zuwandte. »Also hätte es ein linkes Profil sein müssen?«

Sie zuckte die Achseln. »Muss nicht. Aber wahrscheinlicher wäre es.«

»Warum?«

»Banküberfälle.«

Nathan warf einen Blick auf Hodges. Er stand ruhig neben dem Fenster, aber er hörte offenbar aufmerksam zu. »Was heißt das?«

»Wenn ein Zeuge nur das Profil sieht, dann ist das für gewöhnlich der Fahrer des Fluchtautos«, stellte Hodges klar.

Wahnsinn, ein ganzer Satz! Nathan schaute Fiona an. Erneut fixierte sie seinen Partner. Diesmal durchaus beeindruckt, aber immer noch misstrauisch.

Sie wandte sich wieder an Nathan. »Also, nach dem, was sie gesagt hat, und vor allem nach dem, was sie nicht gesagt hat, hat deine Zeugin für mich ein Glaubwürdigkeitsproblem.«

Fantastisch! Das war genau, was er brauchte. Eine hoch angesehene Richterin mit Glaubwürdigkeitsproblem. Er freute sich schon auf die Schlagzeilen, wenn das publik wurde.

Er beschloss, den Advocatus diaboli zu spielen. »Wie steht es mit ihren Verletzungen? Sie behauptet, sie wurde niedergeschlagen, und hat auch eine Gehirnerschütterung, die das belegt.«

»Ich habe keine Ahnung, wer sie niedergeschlagen hat«, entgegnete Fiona. »Das kann genauso gut ein Bekannter gewesen sein.«

Nathans Schläfen begannen zu pochen. Er musste einen Mord aufklären, sich daneben mit Politik befassen und noch einen Grünschnabel ausbilden. Der Fall verhieß Ärger, so viel stand jetzt schon fest.

Fiona nahm einen großen braunen Briefumschlag aus ihrer Mappe, steckte die Zeichnung hinein und gab sie ihm. Zumindest vom Format her passte sie also in einen Aktenordner. Fiona achtete auf solche Einzelheiten.

»Ruf mich an, wenn du was brauchst.« Sie drehte sich zu Hodges um: »Willkommen in Austin. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.«

Als sie im Aufzug verschwand, wandte Nathan sich Hodges zu, der noch immer am anderen Ende des Zimmers stand.

»Alles mitbekommen?«

Er nickte kaum merklich.

»Und, stimmst du ihr zu?«

Wieder Nicken. Wohl einer von der schweigsamen Sorte.

Nathans Handy klingelte. »Devereaux.«

»Wir haben einen Notruf im Zilker Park.«

»Ich bin zur Vernehmung von Richterin Goodwin im Seton. Geben Sie’s Webb.«

»Der ist noch bei Gericht. Sie und Hodges übernehmen.«

Als ob der Tag noch nicht schlimm genug wäre. Nathan zog sein Notizbuch hervor und kritzelte ein paar Stichworte hinein, ehe er auflegte. Danach bestellte er telefonisch einen einfachen Streifenpolizisten her, falls die ehrenwerte Richterin auf die Idee kam, sich selbst aus dem Krankenhaus zu entlassen. Und schließlich informierte er seinen Partner.

»Im Zilker gab’s einen Schusswechsel.« Damit warf er den Rest seines Schokoriegels in den Mülleimer. »Ich fahre.«

Zehn Minuten später waren sie in ihrem Zivilfahrzeug auf dem Weg zum größten Park von Austin. Hodges hatte seit dem Krankenhaus noch kein Wort gesagt. Nathan musterte ihn wieder. Hodges’ kurzes Haar ließ ihn vermuten, dass sein Partner vor nicht allzu langer Zeit beim Militär gewesen war. Vielleicht sollte er sich doch etwas mehr Mühe geben.

»Hast du vorher schon in einem Morddezernat gearbeitet?«

»Drogenfahndung.«

»Okay, bei uns gibt es am Tatort drei Regeln: Nichts anfassen. Nichts anfassen. Und nichts anfassen.«

Hodges hielt den Blick auf die Fahrbahn geheftet.

»Aber du kannst deinen Arsch darauf wetten, dass so ein Trottel vom Dienst, der von nichts Ahnung hat, als Erster am Tatort ist. Das ist immer so. Erst recht an Tagen wie heute.«

Nathan bog in die Barton Springs Road ein, die eine vierspurige Schneise durch den Park schlug. Schon sah er den kleinen Stau vor ihnen, weil ein Streifenpolizist den Verkehr von dem Parkplatz für den parallel zum Town Lake verlaufenden Wander- und Mountainbike-Pfad ableitete. Nathan fuhr ein paar hundert Meter auf dem Seitenstreifen und zeigte dem Beamten an der Straßensperre seinen Ausweis. Er begann die Sperre beiseitezuräumen, aber Nathan fuhr einfach daran vorbei und sparte ihm die Mühe. Der schmale Zubringer wand sich weiter zum Wasser hinab und endete auf dem gekiesten, von dichtem Laubwerk umschlossenen Parkplatz.

Nathan ging hier manchmal joggen, daher kannte er die Umgebung ganz gut. Trotz der Hitze wären jetzt normalerweise Leute hier. Doch die einzigen Autos waren Polizeiwagen, ein Kleinbus der Spurensicherung und ein Krankenwagen. Fernsehteams waren noch keine zu sehen, aber die würden sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen. Nathan hielt neben dem Krankenwagen und winkte dem Sanitäter, den er flüchtig kannte.

Sie parkten und gingen zum bereits mit einem Band abgesperrten Tatort. Auf dem Kies innerhalb des markierten Bereichs standen ein tattriger blauer Buick und ein schwarzer Porsche Cayenne unter Bäumen. Beide waren mit der Front einem Dickicht aus Maulbeer- und Mesquite-Bäumen zugewandt. Die Türen des Cayennes waren geschlossen, beim Buick standen beide linken Türen offen, und dazwischen kniete ein Fotograf und knipste.

Nathan ging zu der mürrischen Polizistin, die neben den Absperrböcken an der südöstlichen Ecke des Tatorts postiert war. Den Trottel vom Dienst brauchte er nicht mehr zu suchen.

Er nickte. »Brenda.«

Sie nickte ebenfalls und beäugte dann Hodges skeptisch.

»Das ist Will Hodges«, sagte Nathan. »Er ist neu an Bord.«

»Der Name des Opfers ist John David Allen«, verkündete sie stolz. »Zweiundvierzig Jahre, wohnhaft in Sunset Cove 689.«

»Schon mal nach der Brieftasche gestöbert, was?«

Ihr stolzer Gesichtsausdruck war wie weggewischt. »Äh, nein. Ich habe nur –«

»Niemals das Opfer anfassen.«

»Hab ich doch nicht. Die Brieftasche lag einfach so am Boden. Ich hab den Ausweis durchs Fenster gesehen.«

Nathan nahm das Klemmbrett, das sie ihm hinhielt, und kritzelte Namen und Abzeichennummer auf das Tatortprotokoll, das nichts weiter war als ein eingerissenes Blatt Papier. Nachdem Hodges dasselbe getan hatte, schlüpften sie unter dem Absperrband durch.

John Alvin. Der Name sagte ihm etwas, aber Nathan wusste nicht was. Alvin. Alvin. Wo hatte er ihn bloß schon gehört?

Er trat hinter den Fotografen und inspizierte den Buick. Das durchglühte Auto stank nach Tod, und in seinem Inneren schwärmten bereits die Fliegen. Manchmal sehnte sich Nathan nach einem Job in Minnesota oder Vancouver. Irgendwo, wo die Insekten nicht schon nach zwölf Sekunden auf einer frischen Leiche auftauchten.

»Hey, Bart.« Nathan ging neben dem Fotografen in die Hocke, dessen Geruchsnerven scheinbar schon völlig abgestumpft waren. Jedenfalls knipste er unbeeindruckt von dem Gestank ein Bild nach dem anderen. Nathan brauchte noch knapp eine Minute, bis er sich an den Geruch gewöhnt hatte.

»Ein Schuss aus kurzer Entfernung«, mutmaßte Bart. »Etwa aus einem Meter, würde ich sagen.«

Nathan beugte den Kopf nach unten, um besser zu sehen. Wenigstens das Gesicht würde er so erkennen ...

John David Alvin. Ein Rechtsanwalt. Dem Mann war Nathan erst im Januar begegnet.

»Scheiße«, murmelte er und erhob sich. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Er ging um den Wagen und kontrollierte das Nummernschild.

»Es gibt eine Zeugin, Detective. Sie sagt, sie war mit dem Opfer im Auto, als es passiert ist.«

Aus dem unguten Gefühl wurde ein beschissenes. Er drehte sich zu dem Streifenpolizisten, der mit hochrotem Kopf in der Nachmittagssonne stand. Er war sehr blass und viel zu dick. Seine Uniform war unter den Achseln durchgeschwitzt.

»Im Auto drin?«, fragte Nathan.

»Ja. Sieht nach Raubüberfall aus.«

Der Streifenpolizist gestikulierte mit dem Kopf zu einem Polizeiwagen am östlichen Ende des Parkplatzes. Die hintere Tür stand offen, und auf der Rückbank saß eine Frau: barfuß, beide Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in den Händen vergraben.

»Mist.«

»Was ist?« Hodges stieß zu ihnen und folgte Nathans Blick zum Polizeiwagen. Die Zeugin, die auf ihre Vernehmung wartete, hatte langes schwarzes Haar mit leuchtend roten Strähnen. Sie war in sich zusammengesunken und schien sich die Schläfen zu massieren. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen.

Aber das war auch nicht nötig. Nathan brauchte nur diese kilometerlangen Beine zu sehen, um zu wissen, wer da saß.

»Oh, Mist«, wiederholte er viel zu geschockt, um sich einen neuen Fluch auszudenken.

»Wer ist das?«

Er blickte zu Hodges. »Du erinnerst dich doch an die Zeichnerin von vorhin?«

»Die im Hosenanzug? Aus dem Krankenhaus?«

»Genau.«

»Was ist mit ihr?«

»Halt dich fest, Mann«, erwiderte Nathan. »Jetzt lernst du ihre Schwester kennen.«

Kapitel 2

Schwärme von Fliegen schwirrten um den Buick.

Courtney gab sich alle Mühe, nicht darauf zu achten, aber sie konnte sich nicht von dem Anblick losreißen. Die Fliegen waren bei David. Und der war tot. Wäre sie nur ein bisschen stärker gewesen, ein bisschen schneller von Begriff, dann würde er noch leben. Und sie müsste dieses widerliche Summen unzähliger Fliegen nicht hören.

Endlich zwang sie sich, vom Auto wegzusehen. Ein Gefühl, eine Art Jucken zwischen den Schulterblättern sagte ihr, dass sie beobachtet wurde. Während ihr Blick über die Büsche glitt, fragte sie sich zum hundertsten Mal, was aus dem Mann mit der Skimaske geworden war. Wer war er? Und wo war er jetzt? Hatte er sich versteckt, um seine Wunden zu lecken? Oder war er hier irgendwo und beobachtete sie?

»Miss Glass?«

Sie warf den Kopf herum. War das nicht wieder dieser Cop, der Fette mit dem Bürstenschnitt. McCoy? Mahoney? Sie hatte ihm doch alles erzählt. Dennoch hatte er von ihr verlangt, dass sie blieb, weil auch andere mit ihr reden wollten.

Er schlug ein Notizbuch auf. »Ich bräuchte noch ein paar Angaben von Ihnen.«

Während er sprach, schaute sie auf seinen Mund. Er hatte fleischige, rosafarbene Lippen und sehr helle Haut. Er war klein und untersetzt. Genau wie der Kerl mit der Skimaske ...

»Ihr Name?«

Sie sah ihm in die Augen. Blaugrau. Aber nicht grau genug. Vermutlich war sie kurz vorm Durchdrehen, wenn sie nur einen Augenblick lang glaubte, dass dieser dicke kleine Bulle sie mit einer Waffe bedroht haben könnte.

»Madam?«

»Courtney Jane Glass.«

»Adresse?«

»925 Oak Trail, Apartment B.«

Fragen über Fragen prasselten auf sie ein, und sie beantwortete alle wie in Trance. Dabei wanderten ihre Augen zum Auto zurück, zu ihrem Auto. Eben stieg dort ein Mann mit weißem Overall und schwarzem Köfferchen ein. Wozu? Sie schauderte.

Mit besorgtem Blick suchte sie das Gelände ab. Hier standen so viele Bäume. So viele Verstecke. Er könnte überall sein. Er könnte sie beobachten. Bei dem Gedanken wurde ihr übel, und sie fragte sich, ob die Polizeiwagen kugelsichere Scheiben hatten. Auf einmal bemerkte sie, dass an einer Seite des Parkplatzes eine Gruppe Uniformierter versammelt war. Unter ihnen stand, mit dem Rücken zu ihr, auch ein Mann in Zivilkleidung und führte anscheinend ein hitziges Gespräch per Handy. Ein anderer Mann lehnte mit dem Rücken gegen den Kofferraum eines Polizeiautos. Auch er in Zivil. Und er trug eine Pistole an der Hüfte.

Er beobachtete sie.

»Miss Glass?«

Wieder lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Polizisten. Dessen graue Augen starrten sie an. Erneut erschauderte sie. »Verzeihung. Was ist?«

»Können Sie mir sagen, um wie viel Uhr Sie hierherkamen?«

Um wie viel Uhr sie hierhergekommen war?

»Ich weiß es nicht. Kurz vor halb vier vielleicht? Wir waren für drei Uhr dreißig verabredet.«

Wieder schweifte ihr Blick zu ihrem Auto. Nun stand eine Bahre davor, direkt neben der Beifahrertür.

»Miss Glass?«

»Was denn?« Mein Gott, was wollte der Kerl bloß? Musste das alles ausgerechnet jetzt sein? Sie brachte kaum einen klaren Gedanken zustande.

Der Beamte runzelte die Stirn. »Ich hätte da noch ein paar Fragen –«

»Zeit für eine Pause.« Einer der beiden Männer in Zivil, der mit der Pistole an der Hüfte, war zu ihnen geschlendert und gab dem Dicken nun einen Klaps auf die Schulter.

»Wer sind Sie?«, fragte der.

»Detective Hodges.« Er bot Courtney eine blaue Windjacke an. »Kalt?«

Auf einmal merkte sie, dass sie fror. Sie hatte ein dünnes grünes Sommerkleid an und zitterte am ganzen Leib.

»Es hat doch fast vierzig Grad«, empörte sich der Dicke.

Der Detective wandte sich an ihn. »Warum besorgen Sie uns nicht etwas Wasser? Die Sanitäter sollten welches haben.«

Offenbar war das ein Befehl, keine Bitte. Jedenfalls schlug der Uniformierte sein Notizbuch zu und stiefelte los.

Courtney nahm die mit grauem Fleece gefütterte Windjacke, auf der hinten in großen gelben Buchstaben APD – Austin Police Department – stand. Kaum war sie hineingeschlüpft, fühlte sie sich etwas besser. Ein wenig geschützter vor der Kälte und all den Männerblicken um sie herum.

Der Detective ging neben ihr in die Hocke. Jetzt waren sie auf Augenhöhe, doch statt sie anzusehen, blickte er hinaus auf den See. Er schwieg, und sie hörte die Zikaden zirpen.

Oder war das noch immer dieses unbarmherzige Sirren, das ihr seit den Schüssen in den Ohren klang?

»Ein Tic Tac?«

Ihre Blicke trafen sich. Tic Tac? »Nein, danke.«

Er schüttete ein paar Bonbons in seine große Hand und warf sie sich in den Mund.

»Kommen Sie hier manchmal zum Biken her?«

Diese Frage ließ sie wieder auf der Hut sein. »Nein.«

»Ist auch nicht so mein Ding, dieses Biken.«

Der Typ war nicht aus Austin. Die Stadt wimmelte zwar nur so von Nachwuchs-Lance-Armstrongs, die von sich sagten, dass sie gern »radelten« oder sich fürs »Radfahren« begeisterten. Aber wer sich hier »Biker« nannte, der fuhr eine Harley.

Sie sagte nichts. Die Vernehmung würde schon weitergehen. Oder vielleicht gehörte das auch zur Vernehmung. Vielleicht wollte er die Informationen so aus ihr rauslocken. Biken Sie hier? Gehen Sie joggen? Haben Sie Ihren Ex-Freund erschossen?

Courtney schauderte.

»Sie stehen unter Schock.«

»Wie?« Als sie ihm in die Augen blickte, fühlte sie sich etwas beruhigt. Er hatte braune Augen, ein warmes Gelbbraun. Und selbst wenn es nicht diese Farbe gewesen wäre, so hatte er doch eine ganz andere Figur als ihr Angreifer.

»Ein Schock. Bringt den ganzen Körper durcheinander. Herzschlag, Temperatur, alles.«

Sie wandte den Blick ab. Der Detective war nicht hier, um zu plaudern. Er wollte etwas von ihr. Antworten vermutlich, und zwar auf eine ganze Liste von Fragen.

Mit einer kleinen Bewegung zog er etwas aus seiner Tasche. Ein sauber gefaltetes weißes Taschentuch. Damit deutete er auf ihre aufgeschlagenen Knie.

Sie nahm es. Der einzige Mann, den sie kannte und der Taschentücher dabeihatte, war ihr Großvater. Und der war einundachtzig.

Sie tupfte ihre Schürfwunden ab und wischte den Staub und die Kieselsteine weg. Auch ihre Arme waren aufgeschürft, und vermutlich hatte sie sich sogar im Gesicht verletzt, als sie auf der Flucht vor der grässlichen Skimaske in das Dickicht gerannt war. Sie war gelaufen, bis ihr Herz raste, und war dabei über Ranken und Wurzeln gestolpert. Sie hatte nicht gewagt, einen Blick zurückzuwerfen, bis sie bei einer Notrufsäule angekommen war.

Ihre Wunden mussten gesäubert werden. Sie hatte ein kleines Desinfektionsmittel in der Handtasche, aber die war noch im Buick. Zusammen mit David.

Sie erhob sich und steckte das Taschentuch in ihre Tasche. Sie hielt das nicht mehr aus. Sie konnte nicht eine Sekunde länger hierbleiben.

»Ich muss nach Hause.«

Auch der Detective stand auf, und erst jetzt fiel ihr auf, wie groß und breit er war. Mit ihren einsfünfundsiebzig fand sie sich selbst eigentlich recht groß, aber um ihn anzusehen, musste sie richtig nach oben schauen. Sie straffte die Schultern und versuchte, nicht beeindruckt zu sein.

»Kann ich gehen?«

Er gab keine Antwort. Er ließ den Blick über sie streifen, und sie merkte, wie er ihre nackten Füße, die dreckigen Knie und das schnelle Heben und Senken ihres Brustkorbs registrierte.

»Sind wir jetzt fertig?«, fragte sie, um eine möglichst ruhige Stimme bemüht.

Keine Reaktion.

Warum antwortete er nicht? Sie hatte ihre Rechte. Verdammt, sie hatte alle möglichen Rechte! Sie konnten sie ja nicht für immer festhalten. Wut und Enttäuschung stiegen in ihr auf, doch sie schluckte beides runter. Sie würde nicht die Fassung verlieren. Zumindest nicht hier vor diesen Cops. Das blasse Sommersprossengesicht kam mit mürrischer Miene zu ihnen zurückgetrottet. Er bot ihr eine Flasche Wasser an.

»Danke, ich bin okay.« Eigentlich fühlte sie sich völlig ausgedörrt, aber ihr Durst war nichts im Vergleich zu dem Bedürfnis, von hier wegzukommen.

Der Cop warf dem Detective einen Blick zu und wandte sich an Courtney. »Madam. Wegen einem offiziellen Protokoll müssten wir Sie jetzt aufs Revier bringen.«

Ein offizielles Protokoll.

»Gibt es eine Alternative?«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Heißt das, Sie kommen nicht mit?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gefragt, ob es eine Alternative gibt.«

»Wenn Sie möchten, erledigen wir das hier vor Ort«, sagte der Detective knapp.

Der Gedanke, die nächsten Stunden auf einem Polizeirevier zu verbringen, ließ in ihrem Kopf die Alarmglocken schrillen. Aber hier hielt sie es nicht länger aus. Sie fühlte sich fix und fertig und benötigte dringend etwas Ruhe, um wieder zu sich zu kommen.

»Okay.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber jemand muss mich mitnehmen, weil mein Auto beschlagnahmt ist.«

Ihr Auto war ein Tatort. Sie warf einen Blick hinüber und sah, dass Männer in Overalls Davids Körper in einen schwarzen Sack auf der Bahre hievten. Sie legten ihm die Arme eng an den Körper, und ein Mann griff nach dem Reißverschluss ...

»Oh.«

Eine Hand packte sie am Ellenbogen, als sie rückwärts wankte. Alles verschwamm vor ihren Augen.

»Es ist alles in Ordnung.« Der Detective blickte sie mit gerunzelter Stirn an. Seine Finger schlossen sich um ihren Arm, und er stützte sie.

Sie stieß ihn weg und suchte Halt an der Autotür. »Entschuldigung.« Was zum Teufel war das? Sie war noch nie in ihrem Leben ohnmächtig geworden.

»Vielleicht wollen Sie sich setzen?«

»Nein.«

»Ich glaube, Sie sollten einen Schluck trinken.«

»Mir geht’s gut.« Zumindest wenn sie nicht zu ihrem Wagen blickte.

»Sind Sie sicher?«

»Gehen wir endlich«, verlangte sie. »Ich will es hinter mich bringen.«

Will brachte die Zeugin ins Verhörzimmer 2 und machte sich auf die Suche nach einem Snack-Automaten. Er nahm einen längeren Weg als nötig und nutzte einen freien Schreibtisch, um seine Anrufe und E-Mails zu checken. Er wollte sie erst ein bisschen schmoren lassen. Und ehe er und Devereaux mit der Vernehmung anfingen, benötigte er noch ein paar Informationen.

Nachdem er einige Minuten durch die erste Etage gestreift war, fand er einen Pausenraum, in dem ein Automat stand. Er kaufte zwei Coca Cola: eine für sich und eine für Courtney Glass. Er war zwar überzeugt, dass sie Diet Coke trank, aber ihr Körper brauchte dringend etwas Zucker. Außerdem hatte er gelernt, keiner Frau ein Diätgetränk anzubieten, wenn sie nicht explizit danach verlangte.

Mit den zwei Dosen in der Hand stieg er in den Aufzug, fuhr nach oben und schlängelte sich durch ein Labyrinth aus Büroparzellen und Gängen in seine Abteilung. Dabei bemerkte er, dass ein Detective gegen den Türrahmen gelehnt vor dem Büro seines Lieutenant stand. Will näherte sich so leise wie möglich.

»Ja, weil er noch Eierschalen hinter den Ohren hat.«

Er erkannte Devereaux’ Stimme im Inneren des Büros.

»Er ist neunundzwanzig.« Das kam vom Lieutenant. »Außerdem ist er Kriegsveteran.«

»Es ist mir scheißegal, was er ist. Erfahrungen bei einem Mordfall hat er jedenfalls keine.«

Will blieb vor dem Türrahmen stehen und überraschte dabei den Detective, Webb, den er gestern erst kennen gelernt hatte. Rasch versuchte er, die Mienen der Männer im Büro zu deuten. Sein Partner schien genervt, der Lieutenant ziemlich gestresst und Webb eher amüsiert.

»Die Zeugin ist auf Zwei«, berichtete Will. »McElroy steht an der Tür.

Lieutenant Cernak räusperte sich. »Jemand muss die Aussage des Mädchens aufnehmen. Übernehmen Sie das.«

»Okay. Aber warum ich?«

»Sie scheint Sie zu mögen. Außerdem wird Devereaux abgezogen.«

Will warf seinem Partner einen kurzen Blick zu. Der biss sich auf die Lippen und sah zur Seite.

»Sie hat nach einem Anwalt verlangt«, fuhr Cernak fort. »Sieht so aus, als möchte sie schnell nach Hause. Sie müssen sie zum Reden bringen, und das protokollieren Sie dann bis ins kleinste Detail.«

»Ja, Sir.«

Devereaux verschränkte die Arme vor der Brust. »Vermassle das bloß nicht.«

Will knirschte mit den Zähnen.

»Von mir aus flirten Sie mit ihr«, sagte der Lieutenant. »Tun Sie alles, was Sie müssen, um Ihr Vertrauen zu gewinnen.«

»Sollte ich nicht vorher erfahren, was los ist?«, fragte Will.

Cernak sah Devereaux an.

»Ihre Story ist ziemlich fragwürdig«, sagte der Lieutenant. »Die Schmauchspur-Analyse, der Notruf. Und bislang haben wir keinen Beweis, dass jemand mit einer Skimaske im Auto war.«

»Glauben Sie, dass sie lügt?«

Bei der Frage schien Devereaux zusammenzuzucken. Offenbar befand er sich in einem Interessenkonflikt, der nach Wills Vermutung etwas mit der Polizeizeichnerin zu tun hatte.

»Ich sage nur, dass es einige Ungereimtheiten gibt.« Cernak strich mit einer fleischigen Hand über seinen Kopf, als ob es da noch etwas zu kämmen gäbe. »Das Opfer ist ein bekannter Staranwalt. Mit einer Frau aus dem Geldadel. Während die Schwester der Zeugin für uns zeichnet.«

Will versuchte, diese Informationen einzuordnen. Handelte es sich um eine Dreiecksgeschichte? Oder war es das bittere Ende einer Affäre? Das Szenario eines zufälligen Raubüberfalls war so jedenfalls nicht zu halten. Aber daran hatte er sowieso nicht geglaubt.

Cernak erhob sich, was so viel hieß wie Ende der Durchsage. »Noch Fragen?«

Aber sicher! »Nein, Sir.«

»Bringen Sie sie zum Reden.« Er sah auf die Uhr. »Und zwar schnell. Möglichst bevor die Presse Wind davon bekommt und das Telefon ohne Unterlass klingelt.«

McElroy stand mit verschränkten Armen vor der Tür und sah alles andere als glücklich aus. Er hatte einen beschissenen Nachmittag hinter sich, und ein Abend voll Papierkram lag vor ihm. Dabei kam heute Fußball im Fernsehen.

Will gab ihm eine Cola.

»Sie gehört dir.« Mit diesen Worten trabte McElroy davon.

Will betrat das Verhörzimmer und sah augenblicklich, welche Veränderung in ihr vorgegangen war. Das war nicht mehr die völlig aufgelöste, verstörte Frau, die er am Tatort erlebt hatte. Vor ihm, auf einem Plastikstuhl am Besprechungstisch, saß eine andere, viel selbstbewusstere Courtney Glass. Sie hatte ihre attraktiven Beine übereinandergeschlagen und feilte sich mit einer Feile aus Sandpapier die Fingernägel. Es dauerte einen Moment, bis sie von ihrer Beschäftigung aufsah.

»Vielen Dank, Madam, dass Sie so viel Geduld hatten.«

Beim Wort »Madam« zog sie die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts. Ihr dunkles Haar fiel jetzt weich und glänzte, und ihre Lippen, die im Park noch blutleer gewirkt hatten, waren nun voll und rot. Sie war nicht eigentlich schön, wirkte durch ihre Art aber sehr beeindruckend.

Er öffnete die zweite Cola-Dose und stellte sie vor sie. Die Dose hatte die gleiche Farbe wie die Strähnen in ihrem Haar.

»Sie gestatten?« Er nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie. Sie wirkte überrascht, als hätte sie erwartet, dass er ihr drohen, sie anbrüllen und mit Fragen überhäufen würde.

Während sie einen Schluck nahm, beobachtete sie ihn aufmerksam. Das verwischte Make-up unter ihren Augen war verschwunden. Zu ihren Füßen sah er den Rucksack, den er für sie aus dem Kofferraum ihres Autos geholt hatte, und sogleich wusste er warum. Er selbst hatte ihn durchsucht und außer einem iPod und einem blaugestreiften Bikini eine Menge Schminksachen darin gefunden. Die strassbesetzten Flip-Flops, die ebenfalls im Rucksack gewesen waren, trug sie nun.

»Noch einmal vielen Dank für Ihre Geduld, Madam.« Er holte ein kleines Aufnahmegerät hervor und stellte es auf den Tisch. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das Gespräch aufzeichne. Meine Handschrift ist fürchterlich.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schaltete er das Gerät an.

Sie setzte die Cola-Dose ab und betrachtete den Rekorder. Er merkte, dass das Gerät sie beunruhigte, aber sie zuckte nur die Achseln. »Ganz wie Sie wollen.«

Er nannte das Datum, die Uhrzeit und ihre beiden Namen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren glänzenden roten Nägeln zu.

»Fangen wir mal ganz von vorne an.« Er rückte seinen Stuhl näher heran, worauf sie sich ein wenig zurücklehnte. »Um wie viel Uhr sind Sie heute Nachmittag im Park angekommen?«

»Drei Uhr dreißig.«

»Und warum fuhren Sie dahin?«

»David hatte mir eine SMS geschickt – eigentlich mehrere SMS –, um mich dort mit ihm zu treffen.«

»John David Allen.«

»Ja.« Sie schnaubte kurz. »Hören Sie, ich habe das alles schon einem Polizisten namens Marconi erzählt. Sprechen Sie eigentlich nicht miteinander?«

Er ignorierte die Frage. »Sie sind also um drei Uhr dreißig im Park gewesen. Was ist dann passiert?«

Sie legte die Nagelfeile auf den Tisch, holte tief Luft und richtete den Blick auf einen Punkt knapp über seiner Schulter. Unter der Ecke war dort eine Videokamera montiert.

»Ich habe«, sagte sie, »ein, zwei Minuten gewartet, bis er kam.«

»In dem Porsche Cayenne.«

»Ja.«

»Trafen Sie sich öfter dort?«

Zorn blitzte in ihren Augen. »Nein.«

»Haben Sie sich vielleicht schon einmal vorher dort getroffen. Vielleicht nachts?«

»Ich habe ihn überhaupt nicht mehr gesehen, seit wir uns vor sechs Monaten getrennt haben«, fauchte sie.

»Und warum haben Sie sich getrennt?«

Sie blickte auf den Rekorder. »Ich hatte herausbekommen, dass er verheiratet war.«

»Sie haben das nicht gewusst, als Sie sich kennen gelernt haben?«

Sie verschränkte die Arme. »Nein.«

Will musterte sie einen Moment lang genau, um zu sehen, ob sie sich wand. Sie schien verärgert, war aber kühl.

»Mr. Alvin hat Sie also getäuscht? Darüber dass er verheiratet war?«

Höhnisch entgegnete sie: »Er war ein notorischer Lügner. Er sagte, er heißt David und sei wegen eines Falles aus Dallas hier. Ich kannte nicht einmal seinen richtigen Vornamen! Ich hatte auch keine Ahnung, dass er in Austin lebt, bis ich seinen Namen und seine Kanzlei im Internet gefunden habe.«

Will sah sie lange an. Er hatte ein Gespür dafür, wenn Menschen logen. Das hatte er in Afghanistan gelernt, wo die Fähigkeit, Lügen aufzudecken, ebenso überlebenswichtig war wie das Schießen.

Und die Frau vor ihm schien die Wahrheit zu sagen, zumindest jetzt. Er beschloss, das Thema zu wechseln.

»Erinnern Sie sich daran, ob er seinen Motor laufen ließ?«

»Den Porsche?« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Warum?«

»Die Schlüssel steckten noch. Na, egal. Wo waren wir stehen geblieben? Er parkte neben Ihnen?«

»Er stieg in mein Auto. Und beinahe im selben Moment sprang dieser Typ auf den Rücksitz. Er trug eine Skimaske. Ich ...« Sie räusperte sich. »Ich hatte Todesangst.«

Die Angst in ihren Augen schien echt. Sie hatte olivgrüne Augen, und ihre Haut war hell, aber sonnengebräunt und voller Sommersprossen, so als wäre sie den ganzen Sommer im Freien gewesen. Er vermutete, dass ihre eigentliche Haarfarbe ein rötliches Braun war.

»Sind Sie sicher, dass der Zeitpunkt stimmt?«, fragte er.

»Was soll das heißen?«

»Na ja, dass der Mann gleich zu ihnen ins Auto kam. Sind Sie sicher, dass nicht erst ein paar Minuten vergingen?«

Das war ein Punkt, an dem ihre Geschichte nicht mit einer Zeugenaussage übereinstimmte. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren ging, hatte gesehen, dass in dem Buick ein Paar stritt, ehe Schüsse zu hören waren. Zu diesem Zeitpunkt, behauptete die Spaziergängerin, sei sie dreißig bis vierzig Meter entfernt gewesen.

Doch noch wollte Will diese Aussage nicht ansprechen. »Könnten Sie mir den Täter beschreiben?«

Sie atmete tief durch. »Schwarze Skimaske. Dunkelblauer Trainingsanzug. Schwarze Lederhandschuhe.«

Sie klopfte mit der Nagelfeile auf den Tisch. Wenn Zeugen sich an die Angreifer erinnerten, wurden sie meistens nervös.

Oder wenn sie nicht die Wahrheit sprachen.

»Wie war seine Statur? Groß? Klein?«

»Er war untersetzt«, sagte sie bestimmt.

»Wie untersetzt?«

»Na, untersetzt eben.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Nicht wie Sie oder so. Ein bisschen schwabbelig halt. Er hatte einen Bierbauch.«

»Und wie groß war er?«, fragte er wohl wissend, dass sie ihn zu beeinflussen versuchte.

»Kleiner als ich. Vielleicht einen Meter siebzig. Aber ich bin nicht ganz sicher.«

»Herkunft?«

»Ein Weißer, europäisch-stämmig. Und er hatte graue Augen. Die konnte ich durch die Maske sehen.«

»Okay. Und was ist dann passiert?«

Wieder holte sie tief Luft. »Er sagte, ›Gib mir dein Handy‹, aber David war wie erstarrt. Der Typ wiederholte es, und David gab ihm das Telefon. Danach richtete er die Waffe auf mich und sagte, ›Deins auch‹.«

Will nickte.

»Mir fiel ein, dass ich Pfefferspray in der Handtasche hatte. Das versuchte ich zu finden, als ich nach meinem Handy tastete.« Sie schluckte und sah zu Boden. Will wartete.

»Auf einmal hat er David einfach erschossen. Einfach so. Aus dem Nichts. Er hatte ihm gerade das Telefon gegeben und wollte die Brieftasche herausziehen.«

»Vielleicht hat er gedacht, David wollte nach einer Waffe greifen«, vermutete Will.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Wieder trommelte sie mit der Nagelfeile ein Stakkato auf das Resopal.

»Und dann?«

Sie schluckte. Sah zu Boden. Dann schien sie das Trommeln zu bemerken und hielt ihre Hand ruhig. »Was danach geschah, weiß ich nicht mehr genau. Wirklich. Meine nächste Erinnerung ist, dass wir irgendwie um die Waffe gerungen haben.«

»Sie haben versucht, ihm die Waffe zu entreißen?« Will beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Dieser Teil der Geschichte kam ihm seltsam vor. Wenn Frauen sich zwischen Kampf oder Flucht entscheiden mussten, wählten sie in der Regel die Flucht, es sei denn, ein Kind war im Spiel. Und nach ihrer Beschreibung wog der Angreifer gut dreißig Kilo mehr als sie. Mindestens.

»Ich ... ich weiß wirklich nicht, wie das passiert ist. Ich hatte einfach Panik, nachdem er David erschossen hatte. Ich dachte, ich bin die Nächste.«

»Zeigen Sie’s mir.«

»Was?« Sie riss die Augen auf.

»Zeigen Sie mir, wie Sie mit ihm gekämpft haben.« Will wollte herausfinden, wie es zum positiven Ergebnis bei der Schmauchspur-Analyse gekommen war, der sie noch am Tatort zugestimmt hatte.

Sie rückte von ihm weg, so als fürchtete sie sich. »Ich kann mich wirklich nicht genau erinnern. Ich weiß nur ...«

»Versuchen Sie’s einfach.« Er drehte seinen Stuhl um und platzierte sich hinter ihr. »Tun Sie so, als säße ich auf dem Rücksitz. War er Rechts- oder Linkshänder?«

Sie wandte sich zu ihm um, und ihre Augen verrieten ihm, wie unwohl sie sich fühlte. Sie biss sich auf die Lippe und starrte einen Moment regungslos auf seine Brust.

»Rechtshänder, glaube ich. Er hielt die Pistole rechts.«

»Können Sie sich an die Waffe erinnern?«

»Eigentlich nicht. Sie war schwarz.«

»Informieren Sie uns unbedingt, wenn Ihnen was einfällt. Eine Beschreibung der Waffe würde uns sehr helfen.« Will tat so, als hielte er eine Waffe in der Hand und richtete sie auf einen imaginären Nebenmann. »Okay, und jetzt zeigen Sie mir, was passiert ist.«

Nach kurzem Zögern streckte sie den Arm aus und legte ihre Hand um seine. Seine Finger waren weich und kühl.

»Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, so war es.« Sie umklammerte seine Hand und versuchte, sie nach unten zu drücken. Er hielt dagegen. Sie zuckte zusammen, und er entdeckte lila Striemen auf ihrem Handgelenk.

»Dann fiel noch ein Schuss. Und ich zog das Pfefferspray raus und zielte auf sein Gesicht.« Sie machte es mit der linken Hand vor.

»Wo war seine zweite Hand?«

Sie zog die Brauen nach oben. »Wie?«

»Seine Linke? Wo war die, als Sie um die Waffe kämpften?«

»Keine Ahnung. Die Windschutzscheibe zersprang, ich sprayte in sein Gesicht, und er ließ mich los. Ich dachte nur ›Raus aus dem Auto!‹.«

Sie ließ die Hände sinken und rückte ihren Stuhl ein wenig zur Seite. Dann stieß sie hörbar Atem aus und verschränkte die Arme vor der Brust.

Will rutschte mit seinem Stuhl wieder so herum, dass er ihr gegenübersaß. Seine Knie berührten beinahe ihre. Er machte eine Kopfbewegung zu den Abschürfungen darauf.

»Und die stammen von ...?«

»Vom Kies. Ich bekam die Tür auf und fiel hinaus auf den Parkplatz. Er fluchte und stöhnte. Dann hörte ich, wie die Hintertür aufging, und bin losgerannt.«

»Zur Notrufsäule.«

»Ja. Ich rannte ins Gebüsch. Ich stolperte über die Ranken und was weiß ich und hab meine Schuhe verloren. Aber es war sowieso leichter, ohne zu laufen, und so rannte ich, bis ich den Notruf entdeckte.«

»Sind Sie direkt dorthin gelaufen? Oder haben Sie zwischendrin angehalten, vielleicht um Ihre Schuhe zu suchen?«

Sie schürzte die Lippen. »Hinter mir war ein bewaffneter Verrückter. Meine Schuhe waren mir so was von egal.«

Er nickte und lehnte sich zurück. Sie schien erleichtert, dass er ihr mehr Raum ließ.

»Und was geschah dann?«

»Ich rief die Polizei. Und erzählte, was passiert war. Danach wartete ich dort, bis ich das Blaulicht hörte.«

»Haben Sie daran gedacht, zum Auto zurückzugehen? Um zu sehen, ob Sie David erste Hilfe leisten können?« Das war ein plumper Versuch, aber er wollte sehen, wie sie reagierte.

»Er war tot.« Ihre Stimme zitterte, aber sie sah ihm unverwandt in die Augen. »Das war mir klar. Und ich wusste auch nicht, wo der Typ mit der Skimaske war. Also wartete ich lieber auf die Polizei. Ich habe mich sogar versteckt. In einem Baumdickicht.«

»Sie haben sich versteckt.«

»Ja, verdammt noch mal! Ich hab mich versteckt. Ich hatte Angst um mein Leben, verstehen Sie das nicht? Laufen Sie mal vor einem bewaffneten Psychopathen davon, der hinter Ihnen her ist! Ich wollte aus der Schusslinie sein.«

Will schaute sie genau an. Falls ihre Geschichte stimmte, hatte sie das Nächstliegende getan. Aber nur wenn sie stimmte.

»Was passierte als Nächstes?«

»Als ich die Polizeisirenen laut hörte und annahm, dass viele Polizisten da waren, bin ich zurück zu meinem Auto.«

Sie griff nach ihrer Cola und nahm einen großen Schluck. Als sie trank, bemerkte er zahlreiche Kratzer auf ihrem schlanken Hals. Auch ihre Arme waren zerschunden. Das unterstrich zumindest einen Teil des Gesagten. Dennoch wies die Geschichte sehr viele Lücken auf.

Sie stellte die Dose wieder auf dem Tisch ab.

Er stand auf und schaltete das Aufnahmegerät ab. »Okay, ich glaube, das genügt.«

Sie riss die Brauen nach oben. »Das ist alles?«

»Einstweilen ja.«

»Kann ich jetzt gehen?«

»Wir brauchen nur noch ein paar Unterschriften, dann dürfen Sie nach Hause.« Er half ihr, ihren Stuhl zurückzuschieben. Die Windjacke mit dem Austin-Police-Department-Aufdruck hing über der Lehne, und er nahm sich vor, in der Jackentasche nach dem blutigen Taschentuch zu suchen.

Erleichtert, aber auch verwirrt wandte sie sich an ihn. »Okay, danke.«

»Ach, eins noch.« Er griff hinter sie, um ihr die Tür zu öffnen.

»Das wäre?«

»Planen Sie erst mal keine größere Reise.«

Courtney fuhr mit der Hand hinter das Abflussrohr, das von der Regenrinne herunterführte, und ertastete die magnetische Dose mit ihrem Ersatzschlüssel. Sie öffnete die Tür auf ihrer Seite des kleinen Zweifamilienhauses und trat in den Windfang. Das erste Mal seit Stunden schien sie wieder Atem zu schöpfen.

Sie spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel, als sie aus den Flip-Flops schlüpfte und den Rucksack zu Boden fallen ließ. Sie ging ins Wohnzimmer. Alles hier war so vertraut – der Duft der Wandelröschen vorm Fenster, der weiche Teppich unter den Füßen, das Summen des Fernsehers der Nachbarn auf der anderen Seite.

Während der ganzen Busfahrt nach Hause hatte sich Courtney nach einem Glas eiskalten Wassers gesehnt, aber jetzt wollte sie nur noch duschen. Sie ging ins Badezimmer, knöpfte auf dem Weg das Kleid auf und ließ es schon im Flur fallen. Bis heute war es ihr Lieblingssommerkleid gewesen – leicht und luftig, mit einem lockeren, wippenden Rock. Jetzt hätte sie es am liebsten verbrannt. Sie stellte die Mischbatterie auf heiß und trat vor den Spiegel, während sich der Raum langsam mit Dampf füllte.

Sie sah schrecklich aus. Die Schnellreparatur ihres Make-ups vor der Vernehmung hatte beinahe nichts gebracht. Hals und Arme waren von unzähligen kleinen Kratzern übersät, ihre Augen waren blutunterlaufen. Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und stieg in die Dusche. Das heiße Wasser prasselte herab, und sie angelte nach einem rauen Luffaschwamm. Damit rieb sie jeden Quadratzentimeter ihres Körpers ab, vielleicht um das Erlebte abzuwaschen – vergeblich. Nachdem sie sich zweimal das Haar gewaschen und es mit Feuchtigkeitsspülung behandelt hatte, stieg sie aus der Dusche und nahm ein frisches Handtuch aus dem Badezimmerschrank. Darin eingewickelt ging sie ins Schlafzimmer.

Dort war es dunkel. Sie ließ sich auf der Kante des Doppelbetts nieder und starrte den Kleiderschrank an.

David war tot.

Egal an was sie dachte, um sich abzulenken, der Ausdruck auf seinem Gesicht ging ihr nicht aus dem Sinn. Überraschung. Nur einen Moment lang, ehe er vornübergekippt war.

Courtney schauderte.

Die Anspannung, die sich in der Dusche ein wenig gelöst hatte, kehrte zurück. Ihr Nacken verkrampfte sich. Sie griff hinter sich und knipste die Nachttischlampe an. Danach öffnete sie die oberste Schublade des Nachttischchens.

Leer.

Einen Moment lang starrte sie in diese Leere. Dann griff sie in die Schublade und tastete sich durch, fand aber nichts außer einer alten Schachtel Streichhölzer und einer Packung Sandelholz-Räucherstäbchen. Courtney erhob sich und ging zum Schrank und kramte in ein paar Handtaschen, bis sie ein Pfefferspray fand. Die Dose fühlte sich beruhigend kühl an.

Irgendwer hatte versucht, sie zu töten. Sie wusste nicht warum. Aber etwas sagte ihr, dass das kein Raubüberfall war.

Sie stellte das Spray auf das Nachttischchen und knipste das Licht aus. Sie ließ sich auf die weichen Kissen sinken. Sie versuchte, den Kopf klar zu bekommen, doch ihre Nerven schienen zum Zerreißen gespannt. Sie fühlte sich erschöpft, wusste aber, dass sie garantiert nicht einschlafen würde. Und schließlich war da noch Fiona. Ihre Schwester würde sicher bald anrufen, wahrscheinlich sogar vorbeikommen, sobald sie erfuhr, was passiert war. Daran wollte sie gar nicht denken.

Sie stand wieder auf und zog eine Kommodenschublade auf. Im Dunkeln ertastete sie ein paar Kleidungsstücke – einen Slip, ein T-Shirt, eine Yoga-Hose. Sie schlüpfte in die bequemsten Sachen, die sie hatte, und ging in die Küche. Schon beim Gedanken an Essen wurde ihr übel, aber ihr Körper brauchte ein bisschen Nahrung.

Sie öffnete den Kühlschrank. Diet Coke, Frischkäse, ein Töpfchen mit Bio-Nudelsalat. Als sie eine Packung mit dünn geschnittenem Schinken sah, entschied sie sich für ein Sandwich. Sie legte alles, was sie dazu brauchte, auf ein Brett und machte sich an die Arbeit.

David war tot. Er war ein Lügner und Betrüger gewesen, aber jetzt – jetzt war er tot.

Seine Frau tat Courtney leid. Anfangs war das allerdings anders gewesen. Nachdem sie herausgefunden hatte, dass David verheiratet war, war sie richtig sauer auf ihn. Höflich ausgedrückt. Eigentlich hatte sie ihn gehasst.

Deswegen auch die Sache mit dem Porsche Carrera. Aber es war wirklich nicht besonders clever gewesen, Davids Wagen zu demolieren. Aber immerhin hatte sie danach ernst gemacht mit ihren Vorsätzen und das Rauchen, das Feiern und die Männer aufgegeben.

Das mit dem Rauchen und dem Feiern war ihr überraschend leicht gefallen. Nur das Aufgeben der Männer gestaltete sich seltsam schwierig. Gerade heute. Oder was für eine Erklärung gab es, dass sie sich auf einmal von einem Mann angezogen fühlte, der so gar nicht ihr Typ war? Sie stand eher auf extravagante Männer. Männer, die gut aussahen oder einen gewissen Stil hatten, am besten beides natürlich. Und mit Ausnahme von David, der zwar auch gut aussah und Stil hatte, nur leider eben kein Herz, waren es immer auch kreative Typen gewesen, Musiker, Schriftsteller oder Künstler.

Kerle vom Militär waren sonst nicht so ihr Fall.

Courtney nahm zwei Scheiben Brot aus der Plastiktüte und entdeckte an einer Stelle einen kleinen Schimmelfleck. Sie seufzte. Weil sie in diesem Monat viele Überstunden gemacht hatte, um ein wenig von den Kreditkartenschulden runterzukommen, war sie kaum zum Einkaufen gekommen. Wieder steckte sie ihren Kopf in den Kühlschrank.

Ich blas ihm die beschissene Birne weg.

Gänsehaut überlief sie, als ihr der verzerrte Mund wieder einfiel, der beim Bellen der Befehle auch noch Speichel versprüht hatte.

Ihr Blick fiel auf einen Sechserpack abgelaufenen Joghurt. Und dahinter lag ein verschrumpelter Salat. Sie öffnete die Tür unter der Spüle und holte den Mülleimer hervor.

Weg mit den Joghurts. Und mit der abgelaufenen Mayonnaise und der als Salat-Dressing getarnten Lebensmittelvergiftung. Weg mit den ein Jahr alten Aufback-Brötchen. Weg die Margarine und der chinesische Senf, den sie letztes Weihnachten für die Frühlingsrollen gekauft hatte.

Tapfer kämpfte sie sich durch den Kühlschrank. Nach der Wegwerforgie betrachtete sie das Ergebnis.

Gewonnen hatten ein paar Diet Cokes und ein Glas Peperoni.

Courtney nahm sich eine Cola und ging ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf die Couch fallen und stierte geistesabwesend auf den toten Fernsehschirm.

Da klingelte es an der Tür. Mit einem Satz sprang sie auf.

Wer konnte das sein? Es war beinahe neun Uhr. Fiona sicher nicht. Ihre Schwester parkte immer in der Auffahrt und kam zur Hintertür herein.

Auf Zehenspitzen schlich sie zur Eingangstür und spähte durch den Spion.

Amy Harris.

Courtney entspannte sich. Mein Gott, sie war wirklich völlig von der Rolle. Sie sperrte auf und öffnete die Tür.

»Hi«, sagte sie.

Draußen stand nicht nur Amy, sondern auch ihr Sohn Devon. Der achtjährige Junge mit einem Basketball-T-Shirt sah höchst unglücklich aus. Sofort wusste Courtney, warum ihre Nachbarn vorbeigekommen waren.

»Tut mir leid, wenn wir stören«, entschuldigte sich Amy. »Aber könntest du uns vielleicht einen Gefallen tun?«

»Lass raten«, erwiderte Courtney. »Ist etwa wieder mal ein Haarschnitt fällig?«

Devon starrte finster auf seine Basketball-Schuhe. Er hasste Haarschneiden, aber zugeben wollte er es nicht.

»Würde es dir was ausmachen?« Bei dieser Frage verwuschelte Amy das Haar ihres Sohnes. »Es ist schon so ausgewachsen, aber ich komm einfach nicht rechtzeitig aus der Arbeit, um mit ihm zum Friseur zu gehen.«

Courtney trat einen Schritt zur Seite, um die beiden reinzulassen. Das war nicht das erste Mal. Normalerweise störte es sie, wenn Freunde sie um einen kostenlosen Haarschnitt baten, aber jetzt war es ihr egal. Sie wollte lieber nicht allein sein, und Haarschneiden würde sie auf andere Gedanken bringen.

Amy ging mit Devon in die Küche. Dort zog Courtney einen der vier Esszimmerstühle unter dem Tisch hervor und holte ein Sitzkissen, das sie für solche Gelegenheiten parat hielt, aus dem obersten Regal des Besenschranks. Mit einem gezielten Wurf landete es auf dem Stuhl.

»Rauf mit dir.«

Devon gehorchte mit Märtyrermiene.

»Ist das wirklich okay für dich? Es täte mir leid, wenn wir dich stören.«

»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, sagte Courtney, obwohl es das meist nicht war. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie auf Partys oder bei Freunden plump gefragt wurde, ob sie zufällig vielleicht ihre Schere dabeihätte. Sie fand das respektlos – als würde sie einen Arzt fragen, ob sie schnell untersuchen könnte, solange das Kotelett auf dem Grill lag.

Aber bei Amy war es anders. Sie hatte einen netten Jungen und vermutlich noch weniger Geld als Courtney.

»Wenn’s euch beiden recht ist, geh ich wieder rüber. Ich habe gerade was auf dem Herd stehen.«

Courtney winkte ab. »Wir zwei kommen schon klar.«