Wer den Tod ruft - Laura Griffin - E-Book

Wer den Tod ruft E-Book

Laura Griffin

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Elaina McCord sucht einen Mörder. Doch er hat sie längst gefunden …

FBI-Profilerin Elaina McCord ist entsetzt von der Brutalität der Morde an jungen Frauen, die sie in Texas aufklären soll. Als ihr dämmert, dass dies die Taten eines immer brillanter werdenden, seit Jahren aktiven Serienkillers sein könnten, steht sie mit ihrem Verdacht allein da. Lediglich der attraktive Kriminalreporter Troy verspricht ihr Unterstützung. Er beschäftigt Elaina mehr, als gut für sie ist – denn der Killer hat sie bereits ins Visier genommen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 405

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Laura Griffin

Wer den Tod ruft

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Herbert Fell

Buch

Elaina McCord ist schön, klug und ehrgeizig. Sie träumt von einer Karriere als Profilerin beim FBI und stürzt sich nach ihrem Examen hochmotiviert in die Ermittlungen zu ihrem ersten Fall: In der Nähe eines idyllischen Badeortes in Texas ereignet sich eine schreckliche Mordserie. Ein Serienkiller tötet blutjunge Frauen, die er erst unter Drogen setzt und dann brutal hinrichtet. Ihre Leichen versteckt er im abgelegenen Marschland. Elaina entwirft ein präzises Täterprofil – doch als sie ihren Verdacht äußert, dass es sich um die Taten eines seit Jahren aktiven Killers handelt, will ihr niemand glauben. Die örtliche Polizeibehörde hat nur ein müdes Lächeln für sie übrig – Elaina steht mit ihrer Theorie ganz allein da.

Überraschend erhält sie Unterstützung von Troy Stockton, einem attraktiven Kriminalschriftsteller. Obwohl ihm sein Ruf als Frauenheld vorauseilt, fühlt Elaina sich zu ihm hingezogen. Die beiden kommen sich gefährlich nahe. Doch kann sie Troy wirklich vertrauen? Und wird er ihr helfen können, wenn es brenzlig wird? Denn der Mörder, den Elaina jagt, hat den Spieß umgedreht und seine schöne Jägerin ins Visier genommen …

Autorin

Laura Griffin arbeitete als Journalistin, bevor sie sich entschloss, spannende Thriller für Frauen zu schreiben. Ihre Artikel sind in vielen Zeitungen und Zeitschriften erschienen, und sie gewann den »Booksellers Best Award 2008«. Sie lebt in Austin, Texas.

Weitere Romane der Autorin bei Blanvalet sind in Vorbereitung.

Außerdem lieferbar:

Der sanfte Kuss des Todes (37410) · Der stumme Ruf der Nacht (37539) · Wo niemand dich findet (37790)

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010unter dem Titel »Unspeakable« bei Pocket Books,A Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe September 2012 bei Blanvalet,einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2010 Laura GriffinCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010by Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, MünchenUmschlagmotiv: © Johannes Frick, Neusäß/Augsburg,unter Verwendung von Motiven von plainpicture/Millennium/Christine MathieuRedaktion: Ingola LammersDF · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-08300-7

www.blanvalet.de

Prolog

Laguna-Madre-Nationalpark26° 13.767 Nord, 097° 19.935 West13.05 Uhr Central Standard Time

Jamie Ingram hatte genau siebenundzwanzig Minuten.

Schwierig, aber machbar. Vorausgesetzt, es kam nichts dazwischen. Sie packte Fernglas, Batterien, Insektenspray und eine Extraflasche Wasser zusammen, warf die Schlüssel in den Rucksack und zog ihn zu.

»Das Ding ist kaputt, Alter.«

Jamie sah durch die Windschutzscheibe. Da stand er, der König der Zauderer, und starrte wie ein Ölgötze auf den Kompass.

Sie stieg aus ihrem Jeep und knallte die Tür zu. »Nicht über die Motorhaube halten. Das ist nicht gut für den Magneten.«

Noah zuckte mit den Achseln und gab ihr den Kompass zurück. Sie schulterte den Rucksack und marschierte los. Nach einer dreiviertel Meile in Richtung Süden mussten sie den Wanderweg in Richtung Osten verlassen und sich durchs Gebüsch schlagen. VORSICHT ALLIGATOREN stand auf einem Schild, auf dem sich drei pechschwarze Krähen niedergelassen hatten.

Ein süßlicher Duft stieg ihr in die Nase. Sie drehte sich um. »Kommst du?«

Noah machte einen Lungenzug und schüttelte den Kopf. Durch die Wildnis zu stapfen war nicht sein Ding. Das wusste sie.

Aber er hatte ihre Aufregung über das Posting im Internet mitgekriegt. Diese Sache versprach Spannung pur.

»Des einen Freud, des anderen Leid«, sagte sie.

Er schlug die Motorhaube zu und trottete zu ihr hinüber. »Es ist brütend heiß. Warum also gerade jetzt?«

Weil sie um zwei wieder auf der Insel sein musste. Da begann ihre Schicht – was ihm egal war.

»Niemand zwingt dich mitzukommen.«

Er gab ihr den Joint, sie nahm einen Zug, während er sein T-Shirt abstreifte. Ein Blick auf seinen braungebrannten, muskulösen Körper genügte, und sie wusste wieder, warum sie es mit diesem Surfer aushielt. Er verstaute das Hemd in seinen Cargoshorts und band seine blonden Dreadlocks mit einem Band zusammen.

»Okay, packen wir’s«, sagte er und nahm sich wieder den Joint.

Riesige Mimosen säumten den schmalen Weg. Jamie ging voran, er trapste hinter ihr her. Jede Klette und jeden Dorn quittierte er mit einem abfälligen Brummeln. Er hätte eben auch Wanderstiefel anziehen sollen. Aber außer Badelatschen besaß er wohl nichts. Da war sie sich ziemlich sicher.

Der Boden wurde weich, nachdem sie den Wanderweg Richtung Osten verlassen hatten. Kleine Wasserflächen schimmerten durch das dünner werdende Gestrüpp. Ihr fiel die Warnung vor den Alligatoren ein.

»Wir sind in der Nähe der Küste«, sagte sie. »Da stimmt was nicht.«

Folge dem gelben Weg aus Ziegelstein, riet die ausgedruckte Internetseite in Anspielung auf den Film Der Zauberer von Oz. Doch das einzig Gelbe, was Jamie gesehen hatte, waren die Wildblumen am Wegrand. Ob die gemeint waren? Manchmal irritierten einen diese ausgefuchsten Hinweise mehr, als dass sie weiterhalfen.

»Du hast dich also verlaufen?«

Sie gab Noah keine Antwort. Stattdessen befragte sie ihr GPS-Gerät: Nach etwa zwanzig Metern wurden die Mimosen von Rohrkolben abgelöst, dahinter lag ein endloser Sumpf. Ein Lüftchen kam auf und wehte ihr einen üblen Geruch in die Nase. Über ihnen segelte ein großer brauner Vogel, der bei den Bäumen zu einem Sturzflug ansetzte. Ein zweiter folgte ihm.

Es waren Bussarde.

»Da muss etwas Totes liegen«, sagte sie und bahnte sich einen Weg durch das kniehohe Gras. Moskitos schwirrten um ihr Gesicht, die sie verjagte. Dann ein Rascheln im Schilf und ein Flügelschlag. Könnte es sein, dass …?

Sie ging einen Schritt näher ran. Das Schilfrohr gab nach, und ein Schwarm Fliegen stieg hoch.

Sie blieb stehen. Das Blut gefror ihr in den Adern.

»Hey, was ist los?«

Es schnürte ihr die Kehle zu, der Magen rebellierte.

»Jamie? Nun sag schon. Was ist los?«

»Da liegt ein Mädchen.«

1

Lito Island, Texas26° 14.895 Nord, 097° 11.280 West24 Stunden später

Auf der Wache war es ruhig. Verdächtig ruhig.

Elaina McCord fuhr auf den leeren Parkplatz und stellte ihren Wagen in der Nähe des Eingangs ab. Das schwache Lüftchen, das sie beim Aussteigen umwehte, ließ sie aufatmen. Für einen Augenblick blieb sie neben ihrem Ford Taurus stehen, um sich zu sammeln.

Das Nackenhaar band sie zu einem Knoten zusammen. Der Hosenanzug aus Polyester, den sie in einem Schnäppchenmarkt gekauft hatte, verbarg zwar den Pistolenhalfter, ließ aber keine Luft durch. Sie hätte sich etwas aus Seide spendieren sollen, aber als sie ihr Arbeitsoutfit zusammenstellte, hatte sie von Washington oder New York geträumt. Nie hatte sie auch nur den kleinsten Gedanken daran verschwendet, einmal in veiner Stadt wie Brownsville, Texas, zu landen. Das Büro dort war eine Klitsche. Sie fühlte sich vollkommen fehl am Platz.

Heute allerdings zum ersten Mal nicht.

Denn Polizeichef Matt Breck von Lito Island hatte in Brownsville um bundesstaatliche Unterstützung in einer Mordserie gebeten. Wahrscheinlich erwartete er zwei altgediente Beamte mit Bürstenhaarschnitt, die in dunklen Anzügen steckten.

Stattdessen bekam er eine blutige Anfängerin in einem Donna-Karan-Imitat.

Sie rückte das Revers zurecht, sammelte sich innerlich, sperrte den Wagen ab und stieg ein halbes Dutzend Holzstufen hoch, wo ihr ein Schild verriet, was sie schon wusste.

Hier war niemand.

BIN BALD ZURÜCK. Die Zeiger der Pappuhr hatte jemand auf halb elf gestellt. Elaina sah zur Sonne hoch, die direkt über ihr stand und auf sie niederbrannte. Dann spähte sie durch die getönte Glastür. Alle Büros lagen im Dunkeln. Als ob das Polizeirevier dichtgemacht hätte.

Doch wo konnte man sich erlauben, ein Polizeirevier stillzulegen?

An welches Fleckchen Erde hatte das Schicksal sie da verschlagen?

Verärgert sah Elaina sich um. Hinter dem klitzekleinen Parkplatz verlief, umsäumt von hohen Palmbäumen, der Highway 106, den sie hier auch gern Lito Highway nannten, war er doch der einzige auf der Insel. Auf den ersten beiden Meilen drängten sich Motels, Restaurants und Surfshops dicht aneinander. Die restlichen zwanzig Meilen – ja, was war mit denen? Auf der Landkarte schien der Highway sich südlich der Stadt im Lito Island Nationalpark zu verlieren. Gras, Wasser und Sumpfland. Sumpfland – so weit das Auge reichte.

Oder war es eine Flussmündung? Wen interessierte das schon?

Eine verwitterte Holzterrasse umgab das vor sich hin dösende Polizeirevier. Elaina schlich vorsichtig nach hinten, sie wollte sich mit ihren niedrigen Absätzen nicht in den welligen Latten verheddern. Wie ein Spiegel reflektierte das weiße Haus aus Lehmziegeln die Sonne. Hinter dem Gebäude lag Laguna Madre, die Bucht, die Lito vom Festland trennte. Auf dem Wasser entstand plötzlich Unruhe.

Ein Boot fuhr auf die Küste zu. Entweder war das Revier sein Ziel oder die Anlegestelle daneben, die den vielversprechenden Namen Marina von Lito Island trug.

Das Boot kam näher. Elaina erkannte an seinem Bug ein offizielles Logo. Sie zählte vier Passagiere. Als sie an den fünften Passagier dachte, zog sich ihr Magen zusammen. Denn der lag auf dem Bootsboden. Davon war sie überzeugt.

Das Boot jagte am Polizeidock vorbei und beschrieb einen weiten Bogen, bevor es in den Yachthafen einfuhr. Das Kielwasser spritzte so hoch, dass ihre Schuhe nass wurden.

Als sie durch den dicken Teppich aus Büffelgras watete, der das Revier vom Hafen trennte, patschte es ganz ordentlich zwischen ihren Zehen. Der Parkplatz des Yachthafens war mit Pick-ups und SUVs voll gestellt, aber auch zwei Wagen der Polizei und einer der örtlichen Feuerwehr waren darunter.

Elaina spazierte um ein Gebäude aus Wellblech, vorbei an einem Mann mit lederner Haut, der eine Krabbenfalle schleppte, und an zwei Teenagern, die Eimer mit Fischköder trugen. Neben einem brummenden Colaautomaten stand ein Mann, der eine Zigarette rauchte und sie musterte. Ein anderer mit Bart und beginnender Glatze, ließ sich durch ihren Anblick vom Abhacken eines Fischskopfs abbringen. Elaina ignorierte die neugierigen Blicke und richtete ihren Blick auf das Ende des Landungsstegs.

Dort raunzte der Bootskapitän – Polizeichef Breck? – einen Mann in Khakiuniform an. Der sprang vom Boot und band es mit einem Palstekknoten fest.

Zwei Männer in Uniform beugten sich gleichzeitig nach unten und hoben etwas vom Bootsboden auf. Sie hievten ein langes schwarzes Bündel auf den Landungssteg und legten es in der prallen Sonne ab. Als Letzter verließ der Kapitän das Boot.

Elaina fasste sich ein Herz. »Polizeichef Breck?«

Der Mann drehte sich sofort um, und ebenso schnell fixierte er sie mit Misstrauen. »Was wollen Sie?«

Sie blieb vor ihm stehen und blickte in seine verschlossenen braunen Augen.

»Zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentar«, sagte er schroff.

»Wie bitte?«

»Sie sind doch von der Presse?« Er sah flüchtig an ihr hinab, blieb an ihren nassen Hosenaufschlägen hängen und blickte wieder zurück in ihr Gesicht. »Oder sind Sie vom Fernsehen? Egal, im Moment kein Kommentar, also …«

»Ich bin vom FBI.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Special Agent Elaina McCord.«

Er zog die Augenbrauen so hoch, dass sie beinahe unter seiner Polizeimütze verschwanden.

»Sie haben doch heute Morgen in Brownsville angerufen und uns um Unterstützung gebeten.«

Verdutzt starrte er auf ihre ausgestreckte Hand.

Elaina zog die Hand zurück, während er sie noch einmal gründlich musterte. Sie blickte wieder auf den Leichensack. Daneben stand ein weißhaariger Mann in Straßenkleidung. Der Rechtsmediziner?

»Warum warten Sie nicht da drüben?« Breck zeigte auf das Gebäude. »Jemand wird sich bald um Sie kümmern.«

Elaina biss die Zähne zusammen und machte ein paar Schritte in die gewünschte Richtung. Sicher wäre es unklug, es sich gleich bei ihrem ersten Mordfall mit dem Polizeichef zu verderben. Sie verschränkte die Arme, während Breck ihr den Rücken zuwandte und mit seinen Officern sprach.

Rauch wehte zu ihr rüber. Neben dem Colaautomaten stand noch immer der Mann mit der Zigarette. Er lehnte lässig am Türrahmen. Sein durchdringender Blick jagte ihr eine Gänsehaut ein.

Sie sah weg.

Der Bärtige warf Innereien ins Wasser, um die sich die Seemöwen kabbelten. Ein riesiger brauner Pelikan kam angeflogen, schnappte ihnen die Beute weg und verschlang sie auf dem Kai.

Elaina sah sich um und machte sich im Kopf Notizen. Die Teenager waren verschwunden, der Krabbenfänger war noch da. Er starrte gebannt auf den Leichensack. Sie merkte sich sein Gesicht und hielt nach weiteren Schaulustigen Ausschau. Manche Täter liebten es nämlich, sich dort herumzutreiben, wo sie die Folgen ihrer Verbrechen beobachten konnten. Elaina zählte im Augenblick neun Zuschauer, inklusive eines braungebrannten Mannes, Mitte zwanzig, mit blonden Dreadlocks. Er trug kein Hemd und hatte den Arm um die Schultern einer jungen Frau gelegt. Auf beide schien das, was ihnen geboten wurde, eine makabre Faszination auszuüben.

Elaina sah auf die Uhr und stieß insgeheim einen Fluch aus. Breck und seine Männer standen immer noch mit zusammengesteckten Köpfen auf dem Pier. Die Minuten vergingen, eine nach der anderen, die Sonne schien weiter gnadenlos, und Elainas Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Ein großer brauner Vogel war auf dem Pier gelandet und wackelte auf seinen spindeldürren Beinen zu dem Leichensack, um ihn zu untersuchen. Mit seinem sichelförmigen Schnabel stach er auf das Plastik ein.

Elaina rannte an den Männern vorbei und wedelte mit den Armen. »Scht! Scht!«, schrie sie und verjagte den Vogel.

»Wo verdammt bleiben die Beamten, die die Leiche abtransportieren?«

Breck sah sie schräg an. »Wer?«

»Die Leiche verschmort hier drin und mit ihr vielleicht wichtige Beweise.«

Breck stemmte die Hände in die Hüften. »Wir warten auf unseren Krankenwagen. Der ist am Strand von einem Unfall aufgehalten worden.«

Elaina atmete tief durch. Sie spürte, dass gut ein Dutzend Augenpaare sie durchbohrten. Sie richtete die Schultern auf und versuchte sich zu beruhigen.

»Wann wird er hier sein?«, fragte sie.

»Wenn er hier sein wird. Stimmt’s, Maynard?« Abrupt wandte sich Chief Breck einem seiner Beamten zu.

»Yes, Sir.«

»Bring Miss McCord ins Revier, damit sie etwas abkühlt.«

Sie ließen sie mehr als vier Stunden warten.

An Elaina war Brecks Rüffel abgeprallt. Stattdessen hatte sie Handy und Aktentasche aus ihrem Wagen geholt, ihre Papiere im Konferenzraum ausgebreitet und sie gewissenhaft durchgearbeitet, als wäre sie heute Morgen mit dem sehnlichen Wunsch aufgewacht, den Freitagnachmittag im Polizeirevier eines Provinznestes zu verbringen. Um halb sechs war sie dennoch mit ihrer Geduld am Ende. Sie war müde und hatte Hunger. Die stickige Luft quälte sie. Es gab nämlich keine Klimaanlage, sondern nur einen tragbaren Ventilator, der dieselbe warme Luft immer wieder aufs Neue zirkulieren ließ. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach einem Snackautomaten machen, als Officer Maynard in der Tür stand.

»Miss McCord? Der Chef möchte Sie sprechen.«

Endlich ließ sich Ihre Majestät zu einer Audienz herab. Elaina sammelte ihre Sachen zusammen und verstaute sie in ihrer Aktentasche.

»Folgen Sie mir, Ma’am.«

Maynard war kleiner als sie, vielleicht ein Meter fünfundsiebzig. Aber er war athletisch gebaut und hatte eine stramme Körperhaltung, was sie an die Marines erinnerte, denen sie während ihrer halbjährigen Ausbildung im Trainingslager des FBI in der Marinebasis in Quantico begegnet war. Er führte sie durch das holzgetäfelte Revier; eine Frau, Anfang sechzig, saß an einem Metalltisch und telefonierte. Vor ihr stapelte sich ein bedrohlich hoher Berg von Notizzetteln.

Maynard öffnete die Tür zu Brecks Allerheiligstem. Im Büro roch es ein wenig nach Zigarren, der Meister selbst saß hinter einem Schreibtisch aus Holzimitat in einem gepolsterten Ledersessel. In einem Halbkreis um den Schreibtisch saßen Leute auf Plastikstühlen, die sie vom Yachthafen her kannte, mit Ausnahme eines glatzköpfigen Mannes, der in der Hand einen Cowboyhut hielt. Der Stern an seiner Brust verriet, dass er ein Texas Ranger war.

»Ich bin Doktor Frank Cisernos«, sagte der weißhaarige Mann vom Dock im Aufstehen, »der Rechtsmediziner von diesem County.«

Elaina gab ihm die Hand und stellte sich vor. Niemand sonst aus der Runde stand auf, um sie zu begrüßen. Ein Latino-Officer lächelte ihr zu.

Maynard setzte sich auf einen der beiden leeren Stühle und bot Elaina den anderen an. Sie stellte ihre Aktentasche darauf ab und blieb stehen. Ihre Finger vergrub sie unter den Achselhöhlen, damit niemand sah, dass sie zitterte.

»Sie wollen uns also helfen.« Breck beugte sich nach vorne. »Scarborough hat mir gesagt, dass Sie frisch von der Akademie kommen.«

Beinahe wäre sie zusammengezuckt. »Ich habe vorigen Herbst meinen Abschluss gemacht.« Was ihr Vorgesetzter wohl noch alles ausgeplaudert hat? Er hatte nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung ihr gegenüber gemacht. Aber dann hatte er sie doch als Profilerin hierher geschickt. Vielleicht würde er bald in der Tür stehen.

Vielleicht, um zu sehen, wie sie auf die Nase fällt.

Sie räusperte sich. »Ich stehe Ihnen als Profilerin zur Verfügung. Außerdem kann ich als FBI-Agentin jedem Labor Feuer unterm Hintern machen.« Sie blickte zu dem Texas Ranger, der das auch konnte, und erkannte, dass ihre Aktien rapide im Sinken waren.

»Eine Profilerin, das hat uns gefehlt.« Chief Breck lehnte sich zurück. »Sie klären uns über den großen Unbekannten auf, den wir jagen müssen?«

Alle Augen richteten sich auf Elaina.

»Ich habe bisher nur ein paar Informationen«, sagte sie. »Ich brauche Fotos vom Tatort, und ich möchte bei der Obduktion dabei sein. Kommt jemand vom staatlichen Kriminallabor?«

Cisernos antwortete mit einem leichten Nicken.

»Wissen wir, wer das Opfer ist?«, fragte sie.

»Noch nicht genau«, sagte Breck. »Seit einer halben Stunde rufen bei mir pausenlos Eltern an, deren Töchter nicht ans Handy gehen. Alle machen sich Sorgen.«

»Sie sagten ›noch nicht genau‹. Sie tappen also nicht mehr ganz im Dunkeln?«, fragte Elaina.

»Sicher ist nur, dass sie eine Weiße ist mit langem dunklem Haar.« Brecks Blick fiel auf Elainas langes dunkles Haar. »Sie sah fürchterlich aus. Wir wissen nicht einmal, wie alt sie ist. Aber heute Nachmittag haben wir eine Meldung bekommen über einen verlassenen Audi bei einer Sliprampe im Norden der Stadt. Der Wagen steht dort seit zwei Tagen. Er ist angemeldet auf Valerie Monroe, siebenundzwanzig Jahre alt, aus Houston. Im Wagen fanden wir ihre Brieftasche mit Führerschein, einen Studentenausweis von der medizinischen Fakultät und die Versicherungskarte. Der Wagen wurde beschlagnahmt, aber eindeutig ist noch nichts.«

»Ich habe die Information, dass die Leiche heute Morgen im Sumpf von ein paar Fischern gefunden worden ist.« Elaina sah zu dem Rechtsmediziner. »Wie bei Gina Calvert im März soll man ihr die Eingeweide entfernt haben.«

»Gina Calvert wurde am fünfzehnten März gefunden«, sagte Cisernos. »Meiner Einschätzung nach hatte sie drei, mindestens zwei Tage da gelegen. Die neue Leiche ungefähr drei Tage.«

»Ginas Leiche ist auch im Nationalpark entdeckt worden.«

Elainas Selbstsicherheit kehrte allmählich zurück. Sie hatte sich mit dem Fall vor Monaten genau beschäftigt. »Man hatte ihr Ketaminhydrochlorid injiziert. Auch ihren Wagen hat man mit allen Papieren an einer Sliprampe gefunden.«

Breck kreuzte die Arme über der Brust. »Scheint, dass Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben, Miss McCord. Nun klären Sie uns über unseren Täter auf. Wen sollen wir suchen?«

In Elaina schrillten die Alarmglocken. Klug wäre es zu schweigen, bis sie alle Fakten zusammenhatte. Aber ihr Gesicht glühte, und von allen im Raum schlug ihr Misstrauen entgegen. »Der Täter ist wahrscheinlich ein Weißer, Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Er ist intelligent, überschätzt aber sich und seine Fähigkeiten. Er ist höchstwahrscheinlich attraktiv, vielleicht sogar charmant, ein Stratege, wenn er sich an Frauen heranmacht. Sein ausgeklügelter Modus Operandi verrät, dass er kontrolliert vorgeht und seine Impulse beherrschen kann. Ich vermute, er lebt auf der Insel, ist unausgelastet, er besitzt ein Boot oder hat kein Problem, eines zu bekommen. Er jagt und fischt gern, er liebt Gewehre. Und vielleicht auch das Militär und die Polizei.«

Die erstaunten Blicke ihrer Zuhörerschaft hinderten sie nicht daran weiterzusprechen. »Keinerlei Anzeichen von sexueller Gewalt, zumindest keine offenkundigen.«

Brecks Augenbrauen wölbten sich. »Keine offenkundigen?«

Elaina verlagerte ein wenig ihr Gewicht. »Auch wenn niemand vergewaltigt wurde, glaube ich, dass es sich um Sexualverbrechen handelt. Das, was der Täter mit dem Messer anstellt, ist eine Art Penetration. Diese Täter haben oft Schwierigkeiten mit ihrer Erektion. So schaffen sie sich auf andere Weise Abhilfe.«

Breck tauschte mit dem Ranger bedeutungsvolle Blicke aus, und Elaina stürzte sich immer tiefer in ein Meer von vagen Vermutungen. So blieb keine Zeit für Zwischenfragen.

»Er kidnappt die Frauen und injiziert ihnen die Chemikalie. Die Opfer können sich nicht mehr wehren. Dann schneidet er mit einem gezackten Jagdmesser ihre Bauchdecke auf. Er hinterlässt keine Spuren, was für ein genau geplantes Vorgehen spricht.«

»Einen Augenblick, bitte.« Breck hob die Hand. »Wir haben zwei Opfer. Sie tun aber so, als hätten wir’s mit einem Serienkiller zu tun.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Es könnte aber auch ein Trittbrettfahrer sein. Ein ganz normaler Mord, den der Täter aber so in Szene setzt wie das Verbrechen im März, um uns in die Irre zu führen.«

Elaina schüttelte den Kopf. »Und welche dieser Details sind der Öffentlichkeit bekannt gewesen?«

Breck fühlte sich plötzlich unsicher, und Elaina wusste, dass es ein taktischer Fehler gewesen war, ihn vor den Leuten bloßzustellen.

Aber er erholte sich schnell. »Wir wissen noch nicht, ob er Spuren im Audi hinterlassen hat. Der Wagen kann voller Fingerabdrücke sein.«

»In Gina Calverts Wagen waren keine. Und auch in dem verlassenen Mustang, den man nach der Ermordung von Mary Beth Cooper gefunden hatte, nicht.«

Im Büro wurde es mucksmäuschenstill. Der Namen versetzte Breck in Erstaunen.

»Mary Beth Cooper«, sagte er noch einmal.

Elaina nickte.

»Aber das ist neun Jahre her.«

Sie nickte wieder.

Brecks Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ein Typ hat das Verbrechen gestanden. Er sitzt seit Jahren in Huntsville.«

Wieder nickte sie.

»Und jetzt wollen Sie mir weismachen, man hätte damals den Falschen eingelocht? Er wurde von einem ordentlichen Gericht verurteilt. Jemand hat ein Buch darüber geschrieben, verdammt noch mal.«

»Er hat mehrere Morde gestanden«, sagte Elaina. »Bei einigen Opfern wurde auch eindeutiges DNA-Material von ihm gefunden. Aber den Mary-Beth-Fall sollten wir uns noch einmal ansehen. Es gibt Ähnlichkeiten mit unserem Fall.« Elaina hielt es für möglich, dass Mary Beth Cooper das erste Opfer des gesuchten Täters war.

»Traumatischer Erstickungstod war die Todesursache«, sagte Cisernos.

Elaina sah zu dem Rechtsmediziner.

»Strangulation mit der Hand«, fügte er hinzu. »Ich habe selbst die Obduktion durchgeführt.«

»Und wie Sie in Ihrem Bericht ausführen«, sagte sie, »hatte das Mädchen bei seinem Tod Ketamin im Blutkreislauf. Und jemand hat nach ihrem Tod mit einem gezackten Messer auf sie eingestochen.«

Es wurde wieder still. Elaina suchte in den Gesichtern nach Unterstützung. Breck hielt die Arme verschränkt, er schien stinksauer zu sein. Cisernos zog die Stirn in Falten, und die Polizisten fühlten sich anscheinend unwohl, mit Ausnahme des Latino-Officers, der scheinbar von ihr fasziniert war. Er saß gespannt am vorderen Stuhlrand, er wollte mehr von ihr hören.

»So weit, so gut.« Chief Breck stand auf und streckte ihr nun doch die Hand entgegen. »Wir sind froh, dass Sie heute zu uns kommen konnten, Miss McCord. Ich denke, wir kriegen das alleine hin.«

Nach ihrem grandiosen Auftritt vor Breck hatte Elaina das dringende Bedürfnis, sich zu betrinken. Während sie durch die Stadt fuhr, wanderte ihr Blick unwillkürlich zu den vielen Bars, in denen sie zu gerne eine doppelte gefrorene Margarita mit Salz bestellt hätte.

Stattdessen fuhr sie in Richtung Brücke. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie die Besprechung noch einmal Revue passieren ließ.

Das war ihr erster Mordfall, ihr erstes Täterprofil, und sie hatte es total verpatzt. Ausgeschlossen, dass man sie zur Autopsie morgen früh dazubat. Daran hatte Breck keinen Zweifel gelassen. Eine Weiterarbeit an dem Fall wäre, wenn überhaupt, nur von Brownsville aus möglich. Falls Scarborough den Fall nicht einem erfahreneren Kollegen übertragen würde.

Elaina zog bei der nächsten roten Ampel ihre Jacke aus. Die Gehwege waren voller Touristen. Frauen in Shorts und Bikinioberteilen flanierten die Straßen auf und ab. Sonnenverbrannte Teenager marschierten mit dem Skimboard unterm Arm nach Hause. Ein Schild warb mit freien Zimmern im Sandhill Inn. Dort hatte Gina Calvert die letzten Tage ihres kurzen Lebens gewohnt.

Bei Grün bog Elaina nach links in die Causeway Road ein, die zurück aufs Festland führte. Laguna Madre glitzerte in der Abendsonne. In der Bucht konnte sie Katamarane und Mondfische erkennen, die sie voller Wehmut betrachtete. Sie erinnerte sich an ihre letzte Fahrt mit einem Segelboot. Eine Ewigkeit war das her, damals auf dem Michigansee. Obwohl ein eisiger Wind geweht hatte, war sie die ganze Fahrt über gut gelaunt gewesen. Ihr Dad hatte sich nämlich den ganzen Tag für sie frei genommen.

Ihr Handy läutete.

»McCord.«

Kurzes Schweigen. »Haben Sie den Zigarettenstummel eingesammelt?«

»Mit wem spreche ich?«

»Hundert Pro haben Sie ihn eingetütet und beschriftet.« Es war eine tiefe Männerstimme mit texanischem Akzent. »Hab ich recht?«

Elaina fiel der Mann am Colaautomaten wieder ein. Irgendwie war er ihr bekannt vorgekommen. Irgendetwas an ihm hatte ihr Unterbewusstsein den ganzen Nachmittag nicht zur Ruhe kommen lassen.

»Mit wem spreche ich?«

»Mit Troy Stockton. Elaina McCord, ich habe Sie in der Marina gesehen. Hat mich stark beeindruckt.«

»Woher haben Sie diese Nummer?«

»Ich habe eine Menge Nummern. Stimmt es, dass Sie uns schon verlassen?«

Elainas Schultern verspannten sich, sie sah in den Rückspiegel.

»Ich bin enttäuscht«, sagte er. »Nie hätte ich Sie für einen Drückeberger gehalten.«

Elaina checkte die Wagen hinter ihr: mehrere SUVs, ein Cabrio mit jungen Frauen und irgendein Lieferwagen. »Hören Sie. Entweder Sie sagen mir jetzt, woher Sie diese Nummer haben, oder …«

Klick.

Elaina sah auf das Display. In der Anrufliste stand leider bloß »Anrufer unbekannt«. Sie schleuderte ihr Handy auf den Beifahrersitz.

Stockton. Troy Stockton. Der Name kam ihr bekannt vor, seine Stimme überhaupt nicht.

Ein Knall.

Das Lenkrad riss nach rechts aus, und der Wagen machte einige Sätze über zwei Fahrspuren hinweg. Bremsen quietschten, es wurde wild gehupt. Elaina versuchte, das Steuer wieder unter Kontrolle zu bekommen, als ihr Wagen von der Straße abhob.

2

Cinco Chavez war auf der Suche nach Troy. Und er suchte ihn in der Kaschemme, in der er jedes Wochenende zu finden war. Das Dockhouse war wie immer brechend voll. Cinco arbeitete sich durch das Gewühl neben der Bar und entdeckte Troy im Billardraum, umgeben von lächelnden Frauen und halb betrunkenen Arbeitern von der Bohrinsel, die hofften, hier ein paar schnelle Dollar zu machen.

»Troy, was geht ab?« Cinco sicherte sich einen Hocker neben drei Blondinen mit tief ausgeschnittenen Tops.

Troy sah vom Billardtisch hoch. »Nicht viel.« Er versetzte dem Spielball einen Stoß und versenkte zwei Halbe.

Dem großen Kerl, der an der Wand lehnte, schien das gar nicht zu gefallen.

Troy kreidete seinen Queue und ging um den Tisch herum für den nächsten Stoß.

Cinco saß ruhig auf seinem Hocker und hörte seinem knurrenden Magen zu. Breck hatte ihn heute sehr früh angerufen. So war er bisher nur zu einem Morgenkaffee gekommen.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte Cinco.

Troy sah nicht auf zu ihm. »Nee.« Er versetzte dem Spielball einen Stoß und wartete, bis der letzte Halbe in einem Seitenloch verschwand.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!