Wo niemand dich findet - Laura Griffin - E-Book

Wo niemand dich findet E-Book

Laura Griffin

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Beschreibung

Prickelnde Leidenschaft und atemberaubende Spannung

Privatdetektivin Alexandra Lovell hat sich auf die Suche nach verschwundenen Menschen spezialisiert - und manchmal hilft sie Frauen in Not dabei, unterzutauchen. Eine davon ist Melanie, die Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann hat. Doch bevor Alex ihr helfen kann, verschwindet die junge Frau spurlos ... Alex bittet den zunächst skeptischen Cop Nathan um Hilfe. Während Nathan und Alex die vielen Puzzleteile um Melanies Verschwinden langsam zu einem düsteren Ganzen zusammenfügen, knistert es gewaltig zwischen ihnen. Und je näher sie der Wahrheit kommen, desto gefährlicher wird es für Alex ...

"Romantische Spannung auf höchstem Niveau!" Allison Brennan, New York Times-Bestseller-Autorin

"Die perfekte Kombination aus Forensik, Spannung, Romantik und Action machen diese Krimiserie zu einem echten Highlight." Publishers Weekly

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!



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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

1

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Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Prickelnde Leidenschaft und atemberaubende Spannung

Privatdetektivin Alexandra Lovell hat sich auf die Suche nach verschwundenen Menschen spezialisiert – und manchmal hilft sie Frauen in Not dabei, unterzutauchen. Eine davon ist Melanie, die Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann hat. Doch bevor Alex ihr helfen kann, verschwindet die junge Frau spurlos ... Alex bittet den zunächst skeptischen Cop Nathan um Hilfe. Während Nathan und Alex die vielen Puzzleteile um Melanies Verschwinden langsam zu einem düsteren Ganzen zusammenfügen, knistert es gewaltig zwischen ihnen. Und je näher sie der Wahrheit kommen, desto gefährlicher wird es für Alex ...

Laura Griffin

Wo niemand dich findet

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Für Doug

1

Melanie rumpelte auf einer Schotterpiste dahin und suchte den Horizont nach nicht vorhandenen Orientierungspunkten ab. Es dämmerte bereits, und der Nieselregen bildete einen feinen Schleier auf der Windschutzscheibe. Hier war sie doch richtig? Oder war sie schon wieder vorbeigefahren? Nein. Nach der kleinen Brücke ging es links ab ...

Da entdeckte sie die gelbliche Funzel über der Haustür. Sie seufzte. Endlich! Endlich Sex und mexikanisches Essen! Seit Joes Anruf und seiner Nachricht, dass er heute Abend frei hätte, hatte sie sich darauf gefreut. Und zwar in dieser Reihenfolge.

Als sie auf das Haus zurollte, wankte und schwankte ihr Chevrolet Blazer bedenklich, seine altersschwachen Stoßdämpfer ächzten bei jeder Bodenwelle. Doch schließlich kam sie hinter Joes Honda zum Stehen. Auf einmal bemerkte sie, dass im Haus alle Fenster dunkel waren. Vielleicht war das Spiel schon zu Ende? Voll Vorfreude packte sie die Tüte mit dem Essen und stieß die Wagentür auf. Der Duft warmer Tortilla-Chips vermischte sich mit der feuchten Kühle der Frühlingsnacht. Noch im Sitzen blickte Melanie wieder zum Haus ...

Und erstarrte.

Ihre Nackenhaare sträubten sich, und aus der Erinnerung sprach eine Stimme zu ihr, erst schwach wie ein Echo, dann eindringlicher wie ein beharrliches Flüstern. Durch den Nieselregen stierte sie zum Haus. Das Flüstern wurde dringender.

Weg! Weg! Weg!

Endlich reagierte sie. Wie vom Blitz getroffen ließ sie die Essenstüte fallen und schlug die Autotür zu. Sie startete den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein, um die Auffahrt im selben Moment rückwärts zurückzurasen. Auf der Schotterpiste schlug sie denselben Weg ein, den sie gekommen war. Nur dass ihr diesmal die sanften Bodenwellen alle Knochen durchrüttelten, während sie mit pochendem Herzen in Richtung Highway donnerte.

Er war da.

Wie konnte sie da so sicher sein? Sie wusste es einfach. Irgendetwas an dem Haus hatte es ihr verraten. Was, das konnte sie auch später herausfinden. Jetzt musste sie erst mal den Blazer in der Straßenmitte halten. Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Handy und drückte Joes Nummer.

Nur die Mailbox.

Tränen schossen ihr in die Augen. Sie erreichte den Highway und trat auf die Bremse. Gerade noch rechtzeitig. Nur wenige Zentimeter vor ihr raste ein Sportwagen vorbei.

Verdammt noch mal, denk nach! Was würde Alex jetzt tun? Während sie mit quietschenden Reifen auf den Highway fuhr, zermarterte sie sich den Kopf. Sie hatte doch einen Plan. Sie hatte einen Plan.

Wie war der doch gleich?

Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Ihre Notfallausrüstung lag auf dem Rücksitz. Sie konnte sofort aufbrechen, ohne einen einzigen Zwischenstopp. Sie könnte in ihr Notquartier.

Aber was war mit Joe? Sie ging etwas vom Gas. Sie musste umkehren.

Im Rückspiegel blitzten zwei Scheinwerfer auf. Ihre linke, rationale Hirnhälfte registrierte die Höhe des Wagens, seine Form und den Abstand zu ihr. Die andere reagierte mit Panik.

Sie drückte das Gaspedal durch. Ihr Puls schoss in die Höhe, als der Wagen hinter ihr ebenfalls beschleunigte. Der Tachometer zeigte schon über einhundertzwanzig, doch die Lichter im Rückspiegel wollten einfach nicht verschwinden. Mit beiden Händen hielt sie das Lenkrad umklammert. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Er konnte sie nicht gefunden haben. Nicht jetzt.

Warum hatte sie nicht auf Alex gehört?

Die Straße machte eine Kurve. Sie riss das Lenkrad herum und kämpfte, um nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Doch sie merkte, wie sie ins Schleudern geriet. Ihr Magen zog sich zusammen, als die Reifen die Haftung verloren und über den Asphalt rutschten. Bremsen quietschten – oder war es ihr Schreien? –, und dichtes Buschwerk raste auf sie zu. Ein metallisches Kreischen. Sie prallte mit dem Gesicht gegen das Lenkrad.

Und dann – nichts. Nichts außer ihrem gepressten Atmen und dem monotonen Tropfen des Regens über ihr. Kein Airbag. Sie hielt sich den Unterleib und versuchte eine Bestandsaufnahme. Blut, warmes, dickflüssiges Blut sickerte aus ihrem Mund.

Er kommt.

Dieser Gedanke erweckte sie wieder zum Leben. Sie rüttelte an der Autotür, die plötzlich das doppelte Gewicht zu haben schien. Der Wagen stand also schief, sie lag in einem Graben. Mit der Schulter warf sie sich gegen die Tür und stemmte sie auf. Zweige schlugen ihr ins Gesicht, als sie sich aus dem Auto kämpfte.

Die einzige Lichtquelle war ein von Blattwerk halb verdeckter Scheinwerfer. Regen rann ihr über das Gesicht. Sie zwinkerte in die Dunkelheit und versuchte sich zu orientieren.

Sie hörte ein tiefes Grummeln, ähnlich einem Donnergrollen in der Ferne. Doch das war es nicht. Irgendwo hinter ihr brummte ein Dieselmotor. Starr vor Schreck hörte sie, wie das Brummen erstarb und eine Tür zugeschlagen wurde. Er war hier. Der Albtraum, den sie sich schon oft bis ins schrecklichste Detail ausgemalt hatte, wurde Wirklichkeit.

Wild gegen die Ranken und Äste schlagend und mit rasendem Herzen rannte sie durch das Gestrüpp. Kein Auto. Kein Telefon. Ohne Notfallausrüstung. Wie ein Tier auf der Flucht.

Sie hörte einen sirrenden Ton, der immer näher kam. Reifen auf Asphalt. Sie stolperte weiter, in Richtung des Geräusches. Genau in dem Augenblick, in dem sie aus dem Gestrüpp stürzte, sauste ein Auto vorbei.

»Hilfe!«, schrie sie und winkte den kleiner werdenden Rücklichtern hinterher.

Wie ein Keulenschlag traf sie die Erkenntnis, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie sprang zurück ins Gebüsch, doch es war zu spät. Nun war er direkt hinter ihr. Und ganz nah? So nah sogar, dass sie sein Schnaufen und Grunzen hören konnte.

Lauft!, befahl sie ihren willenlosen Beinen. Sie unterdrückte ein Schluchzen, als er näher und näher kam. Und dann, Klatsch!, lag sie auf dem Boden. Etwas hielt ihre Beine umklammert. Sie bekam keine Luft, konnte nicht atmen. Sie kratzte und schlug um sich und trat mit den Beinen. Als ihr Absatz auf etwas Weiches traf, hörte sie ein Stöhnen. Sie riss sich los und krabbelte in Richtung Straße. Noch ein Auto – sie hörte es kommen und sah die Sicherheit verheißenden Lichter. Nur noch ein paar Meter ... Sie hatte es fast geschafft, spürte fast schon den Asphalt. Kies stach ihr in die Hände.

»Hilfe! Anhalten!«

Eine Hand packte sie am Knöchel und zerrte sie wieder zu sich.

Zwei Tage später

Alex Lovell trank den letzten Schluck lauwarmen Kaffee, griff nach der Kamera und sah auf die Uhr. Wieder zu spät!

Zum Glück schlief die heutige Zielperson auch gern etwas länger. Weniger geschickt war dagegen, dass er in der Wohnung seiner Freundin in Universitätsnähe lebte. Dadurch wurde die Parkplatzsuche zu einer echten Herausforderung. Für alle Fälle nahm Alex auch noch das grellorange Verkehrshütchen mit, das in einer Ecke ihres Büros stand und ihr schon mehrfach bei kleineren Verkehrssünden gute Dienste geleistet hatte.

Draußen hatte ein Wolkenbruch den Morgenverkehr beinahe zum Erliegen gebracht. Während Alex hastig die Bürotür verschloss, warf sie einen Blick über die Schulter. Die Autos krochen im Schneckentempo über die Lavaca Street. Wie kam sie jetzt bloß am schnellsten zur University of Texas?

Ehe sie sich die Frage beantworten konnte, senkte sich ein Schatten über sie.

»Tschuldigung, bitte.«

Sie betrachtete kurz das Spiegelbild des Mannes, den sie in der Glastür sah, ehe sie antwortete. Er trug Stiefel, Jeans und eine Art Westernjacke. Seine ohnehin stattlichen ein Meter fünfundachtzig hatte er mit einem Cowboyhut noch mal deutlich verlängert. Meinte der Kerl das etwa ernst?

»Ich glaube, ich habe mich verlaufen«, sagte er mit schnarrender Stimme.

Sie drehte sich um. »Die Viehzüchtervereinigung ist zwei Blocks weiter drüben.«

Er lächelte dünn, und die Falten um seinen Mund vertieften sich. »Ich suche Lovell Solutions.«

Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Buchstaben, die in die Glastür sandgestrahlt waren. »Offenbar hat Ihre Suche ein Ende.«

»Sind Sie Alexandra Lovell?«

»Ja.« Doch wenn sie ihr Gefühl nicht trog, hatte er das bereits gewusst.

»Ich würde gerne was mit Ihnen besprechen. Es dauert auch nicht lang«, fügte er hinzu, als sie auf die Uhr blickte.

»Wie heißen Sie?«

»Bill Scoffield.«

»Und Ihr Beruf?«

»Ich bin Anwalt.«

Sie beäugte ihn skeptisch.

Unter seinem Hemdkragen lugten Büschel weißen Brusthaars hervor, und über der Gürtelschnalle wölbte sich ein kleines Bäuchlein. Sie schätzte ihn auf fünfundfünfzig. Ihr Blick fiel auf seine Stiefel aus glänzendem schwarzen Straußenleder. Sie lebte schon lange genug in Texas, um zu wissen, wie wirklich teure Stiefel aussahen.

Alex dachte kurz daran, was sie in diesem Monat verdient hatte. »Also gut, fünf Minuten«, meinte sie mit erneutem Blick auf die Uhr.

Sie stellte das Verkehrshütchen vor die Tür auf den Gehweg und sperrte wieder auf. »Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, übernehme ich solange auch Ihre SIG.«

Man hätte meinen können, sie hätte ihn gebeten, ihr seinen Penis auszuhändigen. Seine grauen Augen verengten sich zu Schlitzen, als er die Pistole aus dem Holster unter der Jacke holte und ihr mit dem Griff voran reichte.

Sie führte ihn in den klimatisierten Empfangsraum. Allerdings ohne Empfangsdame. Alex blickte auf die Tür zu ihrem unaufgeräumten Arbeitszimmer. Zum Glück geschlossen. Während ihr Besucher den Hut abnahm, trat sie hinter den kürzlich geräumten Schreibtisch ihrer Assistentin.

»Sie sind aber vorsichtig«, meinte er mit Blick auf die unter der Decke montierte Überwachungskamera.

Sie zuckte die Achseln. »Wir leben in gefährlichen Zeiten.« Ihr letzter bewaffneter Besucher hatte ihr einen Aufenthalt im Krankenhaus beschert.

Alex deutete auf einen Plastikstuhl. »Nehmen Sie doch Platz.« Sie legte seine Pistole hinter sich auf einen Aktenschrank und setzte sich auf einen Drehstuhl. »Was führt Sie zu mir, Mr. Scoffield?«

Er legte seinen Hut mit dem Hutrand nach oben auf den kleinen Kühlschrank neben sich. »Ich komme im Auftrag eines Kunden. James Bess. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Sie vor einigen Monaten von seiner ihm bedauerlicherweise entfremdeten Tochter engagiert wurden.«

»Ich kenne niemanden mit Namen Bess.«

»Melanie Bess? Verheiratete Coghan?«

»Noch nie von ihr gehört.«

»So ein Pech! Denn Melanie steht eine Stange Geld zu, und ich soll dafür sorgen, dass sie es bekommt.« Er beobachtete aufmerksam, ob das Wort »Geld« bei Alex eine besondere Reaktion hervorrief. Doch im Moment war sie mehr daran interessiert zu erfahren, was der Mann wirklich wollte.

Sie wippte auf ihrem Stuhl. »Wo, sagten Sie, kommen Sie her?«

»Aus Midland«, entgegnete er. »Bin heute früh losgefahren.«

»Ganz schön lange Fahrt. Vielleicht hätten Sie erst mal anrufen sollen.«

Einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke. Dann zog er ein Foto aus der Jackentasche und schob es ihr über den Tisch zu. »Kennen Sie Melanie?«

Das Bild zeigte eine lachende junge Frau in einem Cheerleader-Kostüm. Mit lockigem Haar, munteren braunen Augen und Wangengrübchen. Sie sah fast aus wie Alex zu Highschool-Zeiten, nur dass die andere blond war, einen großen Busen hatte und nicht so verschlossen wirkte.

»Hübsch«, sagte Alex. »An sie würde ich mich garantiert erinnern.«

»Hören Sie, Miss Lovell.« Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Ich muss Melanie dringend finden. Ihr Vater ist kürzlich verstorben. Sie hat einen schönen Batzen Geld geerbt, und das könnte sie bestimmt gut brauchen.«

»Haben Sie’s mal mit dem Internet versucht?« Alex legte den Kopf zur Seite. »Google liefert einem erstaunliche Ergebnisse, wenn man weiß, wonach man sucht.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. Ohne eine Miene zu verziehen, sah sie ihm zu, wie er sich erhob und das Foto zurück in die Jackentasche steckte. Anschließend stemmte er die Hände in die Hüften und fragte: »Wie gut sind Sie darin, jemanden aufzuspüren?«

»Wenn Sie es sich leisten können, finde ich jeden.«

»Wie viel würde es kosten, Melanie Bess zu finden?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin gerade recht ausgebucht. Es dauert ein paar Tage, ehe ich mich an die Arbeit machen kann.«

»Es würde nicht zu Ihrem Schaden sein.« Er zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie ihr.

Sie erhob sich und schob die Karte in die Gesäßtasche ihrer Jeans. »Ich überleg’s mir.«

Er ergriff seinen Hut, und sie folgte ihm zur Tür. Als sie beide auf dem Bürgersteig standen, gab sie ihm die Pistole zurück, und er schob sie in den Holster.

»Denken Sie über mein Angebot nach.« Damit tippte er an seinen Hut und ging.

Im Seitenspiegel ihres Wagens beobachtete Alex, wie er in östlicher Richtung zur Congress Avenue fuhr und abbog. Sie nahm ihr Telefon und tippte eine kurze Nachricht, die sie als wichtig kennzeichnete. Danach drückte sie auf Senden.

Alex’ Auto war ein fünf Jahre alter Saturn. Er verbrauchte zwar wenig Benzin und musste selten in die Werkstatt, aber für eine Beschattung war er denkbar ungeeignet.

Obwohl sie einen batteriebetriebenen Ventilator mitgebracht hatte, wartete Alex einen schweißtreibenden Vormittag lang auf dem Fahrersitz auf jemanden, der nie auftauchte. Um Mittag war sie drauf und dran, die Segel zu streichen. Doch die Versicherung der Zielperson war ihr bester Mandant und bezahlte viel Geld, damit sie ihr mit der Kamera überallhin folgte.

Also blieb Alex im Wagen sitzen und schwitzte. In der Zeit zwischen unzähligen Müsliriegeln und einem kleinen Abstecher zu einer Tankstelle, als sie eine höchst notwendige Pause einlegen musste, telefonierte sie, um eine Spur von Melanie Bess aufzutun.

Am Abend hatte sie tatsächlich eine.

Nun war Alex wieder hellwach. Sie konnte kaum glauben, dass Melanies falsche Identität, auf die sie Monate hingearbeitet hatte, aufgeflogen war. Melanie hatte ihren Job aufgegeben, alles gekündigt und war aus der Wohnung in Orlando ausgezogen, die sie erst vor sechs Monaten im Namen eines Großunternehmens gemietet hatte. Und sie hatte die Todsünde aller Frauen begangen, die vor ihren Männern weggelaufen waren.

Sie war zurückgekommen.

Als Alex ihren Wagen über den schlaglochübersäten Kiesweg manövrierte, verursachte ihr diese Neuigkeit ein flaues Gefühl im Magen. Alle Mühe war umsonst gewesen, weil ihre Mandantin genau an den Ort zurückgekehrt war, den sie unbedingt verlassen wollte.

Alex passierte einen von Wind und Wetter gezeichneten hölzernen Wegweiser zum Wohnmobilstellplatz »Shady Shores« und überquerte eine kleine Brücke, ehe sie an einer knorrigen Eiche rechts abbog. Nach einem weiteren halben Kilometer auf einer von Krüppelholz und Gestrüpp gesäumten Strecke hatte sie ihr Ziel erreicht: Moccasin Road Nummer 15. Die Hausnummer stand auf dem Briefkasten.

Alex betrachtete die kleine Holzhütte mit einem mulmigen Gefühl. Sie war so klein. Und dunkel. Die Furcht, die schon seit Stunden an ihr nagte, wurde akuter.

Alex taxierte die Häuschen und Wohnmobile um sie herum. Einige waren mit Brettern vernagelt, andere hatte man einfach aufgegeben. Seegrundstücke in Austin waren meist teuer, aber das hier schien eine Ausnahme. Sie warf einen Blick auf die rußigen Schlote, die sich über den Baumwipfeln in den Himmel reckten. Die Nähe zu einem Kraftwerk war vermutlich Gift für die Grundstückspreise.

Alex parkte vor der Hütte und stieg ungelenk aus dem Auto. Sie lockerte ihre steif gewordenen Beine und besah sich das von Unkraut überwucherte Gelände. Keine Autos, kein Lärm. Der Ort schien verlassen. Vielleicht war er es auch, und Melanie hatte nur eine falsche Adresse angegeben.

Aber vielleicht traute ihr Alex zu viel Chuzpe zu.

Sechs Monate. Nach nur sechs Monaten war sie nach Austin zurückgekehrt. Was hatte sie sich dabei gedacht? Der ganze Aufwand, die ganze Mühe ... umsonst. Wut stieg in Alex auf. Damit kam sie besser zurecht als mit der beständig nagenden Angst.

Ein Windhauch fuhr durch die Äste der Bäume, die über die Hütte ragten. Alex schauderte und rieb sich die Arme, als sie über den ungepflegten Rasen zur Tür schritt. Das Mückengitter quietschte beim Öffnen. Es gab keine Klingel, daher klopfte sie an die Tür.

Stille. Alex ließ das Mückengitter wieder zufallen und ging um die Hütte herum. Sie kam zu einer windschiefen hölzernen Veranda. Sie stieg die Stufen zum Hintereingang hinauf und drehte am Türknauf. Nicht abgesperrt.

»Hallo?«

Sie lauschte gespannt, hörte jedoch nur die Motorboote in der Ferne dahinrauschen. Eine Vorahnung beschlich sie, als sie die Schwelle überschritt.

Die Küche war winzig. Darin gab es einen Kühlschrank, der noch aus den Fünfzigerjahren stammen musste, einen Gasherd und einen Resopaltisch. Alex ging zu dem Tisch in der Mitte des Raums, und mit spitzen Fingern hob sie die Bierdose hoch, die darauf stand. Halb voll, aber schon warm. Im Wohnzimmer befanden sich ein abgewetztes Sofa, das neben der Eingangstür an die Wand gerückt war, und ihm gegenüber ein erstaunlich neuer Flachbildschirmfernseher. Auf dem Couchtisch verstreut lagen einige Zeitschriften: People, Cosmopolitan und eine Fernsehzeitschrift. Alex setzte die Bierdose ab und blätterte die Magazine durch. Die Ausgaben waren neu und hatten keine Adressaufkleber.

Sie steckte den Kopf ins Schlafzimmer, das fast ganz von einem Doppelbett mit grüner Tagesdecke ausgefüllt war. Der übrige Platz reichte kaum, um darum herumzugehen. Auf dem Nachttisch stand eine leere Wasserflasche. Alex trat in das winzige Bad und zog den Duschvorhang zurück. Auf dem Wannenrand sah sie eine Shampooflasche und einen pinkfarbenen Rasierer, auf dem Waschbecken stand nichts.

Zurück in der Küche, entdeckte sie ein Stückchen weißes Plastik auf dem Boden. Der Ohrstöpsel eines Kopfhörers. Ein einzelner. Sie hob ihn auf. Er sah aus, als gehörte er zu einem iPod.

Nun bemerkte Alex das rote Blinken auf dem Küchentisch. Auf dem Anrufbeantworter waren zwei Nachrichten. Nach einem langen Piepton erklang eine Frauenstimme, aber nicht die von Melanie.

Hi, ich bin’s. Ruf doch mal zurück. Ein weiterer Piepton folgte, anschließend waren Wählgeräusche zu hören.

Alex ging zur Hintertür und spähte ins Freie. Die Büsche und Bäume bildeten einen dunklen, lilafarbenen Hintergrund, durch den hie und da ein wenig helle Seefläche blitzte. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine flüchtige Bewegung auf dem Wasser wahr und trat auf die Veranda. Nichts. Vielleicht eine Luftspiegelung in der Dämmerung, die sie getäuscht hatte.

Sie zog die Tür hinter sich zu und nestelte ihr Telefon aus der Tasche. Beim Hinuntergehen wählte sie erneut Melanies Nummer. Zum fünften Mal am heutigen Tag hörte sie die Ansage der Computerstimme.

»Ich bin’s«, sagte Alex. »Wir müssen unbedingt miteinander reden. Es ist wirklich dringend, ich ...«

Alex hielt inne und starrte auf den Schuhabdruck auf der Treppenstufe. Das war kein Schmutz. War das ... Blut? Sie ging in die Hocke und beleuchtete den Abdruck mit dem Display ihres Telefons.

Blut. Getrocknetes Blut. Schon etwas älter, aber definitiv Blut. Ihr Blick wanderte die Stufen hinauf und zurück zur Tür. Noch mehr Tröpfchen und eine kleine Schliere.

Sie schnellte empor, wobei ihr leicht schwindlig wurde, und verfolgte die Spur mit den Augen von der Tür in Richtung See. Mit bleischweren Beinen trottete sie den kleinen Lehmpfad entlang durch das Gras und kämpfte sich durch das Unterholz, bis sie am schlammigen Seeufer stand. Dort blickte sie auf die Seefläche hinaus und zu den Lichtern der Häuser, die am anderen Ufer blinkten. Ein Anflug von Schuld, bitter wie das Versagen, schnürte ihr den Hals zu.

Alex zuckte erschreckt zusammen, als ihr Telefon klingelte. Doch der Anruf brach gleich wieder ab.

Sie sollte die Polizei rufen. Oder einen Krankenwagen. Aber sie brachte es nicht fertig. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

Das Foto schoss ihr durch den Kopf – eine junge Frau mit Locken und Wangengrübchen. Melanie. Alex hielt ihr Handy umklammert und fluchte.

Auf einmal hörte sie ein knackendes Geräusch. War da gerade ein Zweig gebrochen? Sie wirbelte herum. Hinter den Fenstern der Hütte loderte es grellorange auf.

Feuer.

Da riss sie eine ohrenbetäubende Explosion zu Boden.

2

Neugierige Blicke folgten Nathan Devereaux, als er das Smokin’ Pig betrat. Ohne sie zu beachten, ging er an den Tresen und zog die Brieftasche heraus.

Janelle stieß einen Pfiff aus. »Oh, là, là. Hast du eine Dampfwalze geknutscht?«

»Ist ’ne lange Geschichte.«

Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Glaub’s mir, dir kämen die Tränen.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Ist meine Bestellung fertig?«

Sie verzog den Mund und musterte ihn. Dann goss sie ihm einen Dewar’s Whisky ein, schob ihm das Glas zu und schlenderte in die Küche.

Nathan wandte sich dem Baseball-Spiel zu, das auf einem Fernsehschirm hinter der Bar lief. Hoffentlich tat der Whisky bald seine Wirkung. Doch als Janelle zurückkam, fühlte er sich genauso mies wie zuvor.

Sie stellte eine wunderbar duftende Tüte mit gegrillten Spareribs neben ihn auf den Tresen. »Hamamelis«, sagte sie. »Ein paar Tropfen davon auf einen warmen Waschlappen geben und direkt auf das Auge legen. Wenn das nicht hilft, kannst du’s auch mal mit Alfalfa-Kapseln versuchen.«

»Alfalfa-Kapseln.«

»Oder mit Arnikasalbe.«

Er hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach, doch er nickte zustimmend. »Danke«, sagte er und reichte ihr einen Zwanzig-Dollar-Schein. »Stimmt so.«

Einige Minuten später saß er wieder im Auto und fuhr nach Hause. Endlich ging dieser Scheißtag zu Ende. Begonnen hatte das Elend um sieben Uhr vierzig, als er den Rechtsmedizinern zusehen musste, wie sie eine aufgeschwemmte Wasserleiche aus dem Lake Austin zogen. Den krönenden Abschluss hatte der Tag vor gut fünfunddreißig Minuten gefunden, als er zwei Sechzehnjährige wegen Mordes festgenommen hatte.

Nathan fuhr den Wagen in die Garage – langsamer als sonst, weil seine Sicht etwas eingeschränkt war – und betrat das Haus durch die Hintertür. Er stellte das Abendessen in der Küche auf die Anrichte, merkte aber, dass er noch immer zu genervt war, um zu essen. Der Whisky hatte nichts genützt, und er wusste, dass die einzige echte Ablenkung draußen auf ihn wartete. Er stellte die Spareribs in den Kühlschrank und ging zum Umziehen ins Schlafzimmer.

Zweihundert Wiederholungen später lag er schweißgetränkt und erschöpft, aber mit merklich besserer Laune auf seiner Hantelbank. Er hätte diesem kleinen Idioten auch eine mitgeben können. Die Gelegenheit dazu war da gewesen, er war provoziert worden. Aber sein Partner war dazwischengetreten und hatte Nathan daran gehindert, dem durchgeknallten kleinen Gangster, der nicht einmal halb so alt war wie er, einen alles andere als karriereförderlichen Schwinger zu verpassen. Statt dem Bürschchen den rechten Haken heimzuzahlen, hatte er ihm also nur Handschellen angelegt und ihn aufs Präsidium geschleift.

Bei dem Gedanken daran krampfte sich Nathans Magen fast genauso zusammen wie sein Bizeps. Am Tatort, einer belebten Straßenecke, hatte es ein richtiges Blutbad gegeben. Drei Opfer waren zu beklagen, alle noch im Schulalter. Die Mutter eines der Kinder hatte alles mit angesehen, und ihre Schreie klangen noch in seinen Ohren.

Was für Arschlöcher! Schnaufend wuchtete Nathan die Hantelstange in die Höhe. Und noch mal. Und noch mal. Was für verdammte Arschlöcher!

»Sehr beeindruckend.«

Nathan beugte die Ellenbogen etwas nach hinten und legte die Hantelstange in ihre Halterung. Eine Frau stand in der Garagentür. Er richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus den Augen.

Nein, er hatte keine Halluzinationen. Vor einem rauschenden Regenvorhang stand tatsächlich Alex Lovell. Hier in seiner Garage. Das nasse dunkle Haar klebte ihr am Kopf.

Sie trat näher, eine Hand in die Hüfte gestemmt. »Aber wenn man genauer hinschaut, siehst du doch etwas lädiert aus.«

Seit Monaten war er Alex nicht mehr so nahe gewesen. Er bemerkte den Kratzer an ihrem Kinn, die schmutzigen Arme, die Grasflecken auf der Jeans.

Er blickte in ihre hellbraunen Augen. »Hast du in letzter Zeit mal in einen Spiegel geschaut?«

»Nö.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Schlimmer als bei dir kann’s aber kaum sein. Mal wieder ein Geständnis aus jemandem rausgeprügelt?«

Ihr Sarkasmus war ein bisschen zu treffend, als dass er ihm nicht unangenehm gewesen wäre. Er hob das Handtuch vom Boden auf und trocknete sich das Gesicht.

»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fragte er.

»Hm.« Sie neigte den Kopf ein wenig. Die Frage kränkte sie offensichtlich.

Er hatte ganz vergessen, wie klein sie war. Von seinem Platz auf der Bank blickte er geradewegs auf ihren Busen. Er hatte ihn vorher nie wirklich wahrgenommen, aber in diesem nassen T-Shirt ...

»Pass auf, dass dir nicht die Augen rausfallen. Eins scheint eh schon nicht mehr ganz in Ordnung. Aber im Ernst, ich muss mit dir reden.« Zum ersten Mal ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Doch nicht der schwarze Ford Mustang, Baujahr 1966, sondern die andere Hälfte der Garage schien sie zu interessieren. Offenbar machte sie sich nichts aus Autos.

Mit dem Handtuch um den Hals erhob er sich. Allmählich gewann er die Fassung zurück. Alex Lovell war bei ihm zu Hause. Sein Puls ging schneller, aber das lag womöglich am Training.

Ihre Blicke begegneten sich kurz, ehe sie einen Schritt zur Seite trat. »Was ist denn in den Regalen da drüben?«

»Das musst du meine Exfrau fragen.«

Sie wandte ihm den Rücken zu und schritt die Wand ab. Manche Männer hatten Bohrmaschinen und Werkbänke in der Garage. Aber bei Nathan standen dort seit Jahren lauter Weihnachtsmänner. Und Kränze. Und Kisten über Kisten voller Christbaumschmuck.

Alex betrachtete die vielen leeren Regalfächer. »Deine Ex-Frau hat wohl viel gelesen?«

»Sie hat einen Weihnachtstick. Die halbe Garage war voll mit dem Zeug. Als sie ausgezogen ist, hat sie aber das meiste davon mitgenommen.«

»Klingt ja fast, als ob du’s vermissen würdest.«

»Lass uns reingehen und ein Bier trinken.« Und mach nicht so ein Gesicht. Je länger er sie ansah, desto unguter wurde das Gefühl in der Magengrube. Alex steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten, und wenn sie mit ihm darüber reden wollte, mussten sie wirklich unangenehm sein.

Er hielt ihr die Tür auf, und als sie an ihm vorbei ins Haus ging, fiel sein Blick wieder auf ihr nasses T-Shirt. Er hätte sie schon vor Monaten anrufen sollen. Und das war nicht das Einzige, was er versäumt hatte.

Sie kamen in die Küche.

»Riecht nach Hamburgern«, meinte sie.

»Spareribs«, verbesserte er. »Hast du Hunger?«

»Nein.« Sie zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor und ließ sich mit einem Seufzer darauffallen. Als sie sich die dreckverschmierten Arme abrieb, wurde sie von einem Zittern geschüttelt.

Nathan zog eine Schublade auf und warf ihr ein Geschirrtuch zu. »Hier.«

»Danke.«

Sie fuhr sich mit dem Tuch über das Gesicht und den Nacken. Dabei entdeckte er über ihrer Oberlippe die kleine, halbmondförmige Narbe. Sie musste sieben Monate alt sein.

»Ich brauche deine Hilfe.«

Er zwang sich, ihr nicht auf den Mund, sondern in die Augen zu blicken. »Wobei denn?«

Sie senkte den Blick auf ihre schlammverkrusteten Joggingschuhe. »Das fällt mir schwerer, als ich dachte.« Dann hob sie mit einem Ruck den Kopf. »Könnte ich vielleicht was zu trinken haben, bitte? Eine Cola oder so?«

Er öffnete den Kühlschrank und zog zwei Flaschen Budweiser heraus, obwohl sie ihm bei ihrem ersten Treffen erzählt hatte, dass sie kein Bier mochte. Er drehte die Verschlüsse auf und reichte ihr eins der Biere.

»Danke.« Nach einem großen Schluck stellte sie die Flasche auf den Tisch. Dabei überkam sie erneut ein Zittern.

Nathans Magen verkrampfte sich. Die Alex, die er kannte, war nicht so leicht zu erschüttern. Doch jetzt zitterte sie nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Als sie einen weiteren Schluck trank, glitt sein Blick über ihren schlanken Hals und das dreckbespritzte T-Shirt hinab. An dem Loch in ihrer Jeans blieb er hängen.

»Du blutest ja!« Er zog das Handtuch vom Hals, feuchtete es unter dem Wasserhahn an und kniete sich vor sie auf den Boden.

»Das ist nicht schlimm.«

Aber er schob ihr bereits die Jeans nach oben. Dabei fand er einen Knöchelholster mit einer SIG P228. Eigentlich sollte ihn die Pistole nicht weiter überraschen, aber es war so. Ihr blasser Unterschenkel war blutverschmiert, und sie zuckte zurück, als er den Stoff weiter nach oben schob und eine tiefe Schürfwunde auf dem Knie freilegte.

»Was ist denn da passiert?« Er tupfte das Blut ab.

»Ich bin hingefallen. Vorhin. Das ist nur ein Kratzer – autsch!«

Mit vorwurfsvollem Blick zog er einen großen Holzsplitter aus der Wunde. Ein Schwall Blut strömte aus der Abschürfung, und er presste das Handtuch dagegen.

»Halt das mal.« Er nahm ihre Hand und legte sie auf das Handtuch. »Ich hol was zum Verbinden.« Er hatte zwar nicht viel Verbandszeug im Haus, aber im Badezimmerschrank fand er Gaze und Wasserstoffperoxid zum Desinfizieren.

Wieder kniete er sich vor sie. »Halt still.«

»Mann, das tut weh!« Sie klammerte sich an seine Schulter, während das Desinfektionsmittel auf der Wunde Blasen warf. Er goss noch etwas davon darauf und packte ihren Fuß, der nach vorne in Richtung seines Magens schnellte.

»Brrr, Pferdchen! Nicht so wild.«

Sie verstärkte den Griff auf seine Schulter und stieß eine Schimpfkanonade aus.

Allmählich hörte die Blutung auf. Sie trank einen Schluck, ohne auf ihn oder das Knie zu blicken. Als ihre Flasche leer war, war auch die Wunde mit Gaze und Tape verbunden.

Er setzte sich auf die Fersen und sah sie an. »Was hast du gesagt? Du brauchst meine Hilfe?«

»Das weiß ich jetzt nicht mehr.« Sie kippelte mit dem Stuhl leicht nach hinten. »Du bist ja ein Sadist!«

Er sah sie erleichtert an. Zum Glück war das Feuer in ihre Augen zurückgekehrt.

»Komm schon. Raus mit der Sprache, Alex.«

Sie zog sich mit einem Ruck das Hosenbein herunter, ehe sie tief Luft holte und ihn ansah.

»Ich muss einen Mord anzeigen.«

Er kniete vor ihr und hatte den Blick nach oben gewandt, doch aus seiner Miene wurde sie nicht schlau. Wahrscheinlich wegen der scheußlichen lila Schwellung um sein Auge. Er rieb sich den Nasenrücken und verzog das Gesicht.

»Alex ...«

Er hielt inne und ging zur Küchenzeile. Er lehnte sich dagegen, fuhr mit beiden Händen durch sein verstrubbeltes dunkles Haar und betrachtete sie so lange, bis sie sich am liebsten verkrochen hätte.

»Du solltest lieber mit einem Anwalt sprechen«, meinte er schließlich.

Einem Anwalt? Was zum ...! »Ich hab doch niemand umgebracht!«, stieß sie hervor.

Aber sie merkte, dass er ihr nicht glaubte.

»Ich glaube, eine Bekannte von mir wurde ermordet.« Die Worte machten sie schwindlig. »Eine Mandantin.«

»Was heißt, du glaubst, dass sie ermordet wurde?«

»Nein, ich weiß es. Jedenfalls glaube ich ...«

»Wo ist sie?«

»Wie?«

»Deine Mandantin. Wo ist die Leiche?«

»Das weiß ich nicht. Das ist ja das Seltsame. Ich hab nach ihr gesucht ...«

»Wenn du nicht weißt, wo sie ist, wie kannst du da sicher sein, dass sie tot ist?«

»Weil ich sie nicht finde. Nirgends. Sie reagiert weder auf Anrufe noch auf SMS.«

Er ließ die vor der Brust verschränkten Arme fallen, und sein Gesicht nahm einen entspannteren Ausdruck an. »Vielleicht hat sie die Stadt verlassen.«

»Das hatte sie. Aber sie ist zurückgekommen.« Alex wandte den Blick zur Decke, um nicht auch das letzte bisschen Ruhe zu verlieren, das sie für dieses Gespräch dringend brauchte.

»Sie hat die Stadt schon vor Monaten verlassen«, erklärte sie. »Ich hab ihr dabei geholfen abzutauchen. Du weißt schon – von der Bildfläche verschwinden.«

Sie beobachtete seine Reaktion. Manche ihrer Mittel und Wege gingen über das gesetzlich Erlaubte hinaus, und sein Stirnrunzeln sagte ihr, dass er das wusste.

»Machst du das oft?«

»Was?«

»Leute verschwinden lassen.«

Sie zuckte die Achseln. »Tja, das ist eine Art Marktlücke. Manchmal wollen Leute noch mal von vorne anfangen. Aus verschiedenen Gründen. Ich zeige ihnen, wie sie’s anstellen müssen. Ich glaube, ich kann das ganz gut.«

Aber nicht gut genug. Diesmal jedenfalls nicht. Alex starrte auf ihre verdreckten Schuhe. Meine Güte, wie fertig sie aussah. Vielleicht hätte sie doch nicht herkommen sollen.

»Aber wenn du ihr gezeigt hast, wie sie verschwinden kann – woher weißt du dann, dass sie wirklich tot ist?«

Alex stand auf und ging zum Spülbecken. Sie drückte auf den Seifenspender und wusch sich Hände und Arme. Anschließend drängte sie ihn ein wenig zur Seite, um eine Schublade aufzuziehen.

»Ich hab Melanie im Oktober getroffen.« Sie trocknete sich mit einem frischen Geschirrtuch ab und kämmte sich das Haar mit den Fingern. »Sie kam nach einem Streit mit ihrem Mann zu mir. Er hatte sie fürchterlich verprügelt.«

»Du hättest die Polizei rufen sollen.«

»Das wollte ich auch, aber sie nicht.« Alex warf das Geschirrtuch auf die Arbeitsplatte. »Ich hab angefangen, alles für ihr Verschwinden vorzubereiten. Das hat ein paar Tage gedauert. Sie hat mir eine Anzahlung gegeben und gesagt, dass wir den Rest später klären würden. Sobald sie einen Job hätte. Ich hab ihr empfohlen, es mit Kellnern zu versuchen.«

»Warum?«

»Man kriegt sein Geld meist bar, in Form von Trinkgeld. Wenn man jemanden findet, der einen schwarzarbeiten lässt, klappt das ganz gut. Anfangs standen wir noch eine Weile in Verbindung, aber dann hab ich nichts mehr von ihr gehört. Heute habe ich ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass sie ihre Tarnung selbst kaputtgemacht hat.«

»Wie das?«

Alex stieß einen Stoßseufzer aus. »Auf jede erdenkliche Weise. Sie hat ihren Job als Kellnerin aufgegeben und in einer Art Klinik angefangen, fast die gleiche Arbeit, die sie hier hatte.«

»Was das Auffinden viel leichter macht«, bemerkte Nathan.

»Genau. Und ich habe herausgefunden, dass sie nach Austin geflogen ist. In den letzten zwei Monaten war sie ein paar Mal für ein verlängertes Wochenende hier. Schließlich ist sie sogar hierher zurückgezogen. Quasi direkt zu ihrem Arschloch von Ehemann.«

»Sie ist wieder zu ihm gezogen?«

»Nein«, sagte Alex verächtlich. »Aber das macht auch keinen Unterschied. Sobald ich wusste, dass sie wieder in der Stadt war, hatte ich sie innerhalb von zehn Minuten gefunden. Bei ihm ging’s vermutlich noch schneller. Ich bin hingefahren ...«

»Jetzt sag bloß, du bist zu diesem Kerl?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Aber ich bin in ihr Haus ...«

»Du bist eingebrochen?«

»Und als ich da war, brach Feuer aus.«

»Feuer? Was zum Teufel hast du denn gemacht?«

»Ich hab gar nichts gemacht! Irgendwer hat es abgefackelt! Absichtlich. Es kann nicht anders sein. Ich bin sicher, dass ein Verbrechen passiert ist. Außerdem sind auf der Veranda hinterm Haus Blutspuren.«

»Was hat denn die Feuerwehr gesagt?«

Sie sah zu Boden.

»Alex? Du hast das doch gemeldet, oder? Erzähl mir nicht, dass du dich einfach aus dem Staub gemacht hast.«

Beschämt schloss sie die Augen. Sie war weggelaufen wie ein Teenager, aus Angst, erwischt zu werden. Sie hatte Mist gebaut. Doch das konnte sie jetzt nicht mehr ändern und ungeschehen machen.

Sie schlug die Augen wieder auf. Nathan. Wenn sie ihm ihre plötzliche Panik nur verständlich machen könnte! Doch zugleich wollte sie, dass er seine gute Meinung von ihr behielt. Nach den Ereignissen im vergangenen Herbst hatte er sie für klug und vielleicht sogar für mutig gehalten, da war sie sicher. Heute war sie jedoch weder das eine noch das andere gewesen.

»Ich hatte Angst«, sagte sie. »Irgendwas war da unheimlich. Als ob dort jemand herumschlich. Und als das Feuer ausbrach, bekam ich Angst. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also bin ich zu dir gekommen.«

Seine Miene hellte sich etwas auf. Vielleicht hatte er eben erst begriffen, dass sie wusste, wo er wohnte. Dass sie sich schon vor der heutigen Katastrophe mit ihm beschäftigt hatte.

Na, wenn schon. Sie war sowieso noch nie besonders gut darin gewesen, die Schüchterne zu spielen.

»Ich muss zu dieser Hütte zurück«, erklärte sie. »Ich bin überzeugt, dass Melanie dort umgekommen ist. Es wäre schön, wenn du mitkommst und dich um die Sache kümmerst.«

Er seufzte, so als spürte er, dass »die Sache« um einiges komplizierter war, als sie ihn glauben machen wollte.

Er sollte recht behalten. Und da ahnte er nicht einmal einen Bruchteil dessen, was auf ihn zukam.

»Du hältst besser an«, sagte Alex und starrte durch die Windschutzscheibe. Laut dem Blechschild, das den Wasserstand anzeigte, stand die Brücke schon drei Zentimeter unter Wasser. Doch Nathan machte keine Anstalten, langsamer zu fahren.

Sie funkelte ihn von der Seite an. »He, das Letzte, was ich brauche, ist ein schlechtes Gewissen wegen deines Wagens, wenn der hier absäuft.«

Doch er hielt völlig unbekümmert und mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Brücke zu, sodass beim Überqueren das Wasser zu beiden Seiten des Mustangs wegspritzte. Danach fuhr er rechts ran, um einen kastenförmigen Löschzug ohne Martinshorn passieren zu lassen. Es war schon der zweite Feuerwehrwagen, der ihnen entgegenkam, seit sie den Highway verlassen hatten.

Ab jetzt musste Alex ihm den Weg nicht mehr beschreiben. Mitten auf der Straße hatte sich eine Traube von Menschen gebildet. Sie wandten sich um und blinzelten in Nathans Scheinwerfer, traten aber nicht zur Seite. Er steuerte eine etwas höher gelegene Wiese gegenüber dem Wohnmobilstellplatz »Shady Shores« an und stellte den Wagen ab.

»Du wartest hier.«

»Aber ...«

»Wir können uns später umschauen. Ich muss erst sehen, wer hier ist.«

Ehe sie antworten konnte, stieg er aus und schlug die Autotür zu. Als er aus dem Scheinwerferkegel verschwand, verschränkte Alex die Arme vor der Brust und seufzte. Schon wieder warten. Als ob sie nicht oft genug dazu verdonnert wäre.

Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Sie empfand es als Ironie des Schicksals, dass sie einen so großen Teil ihres Berufslebens nur darauf wartete, dass etwas passierte.

In ihrem Privatleben war es genau andersherum, und das gefiel ihr. Wenn sie etwas sah, das sie haben wollte, wappnete sie sich kurz gegen einen möglichen Fehlschlag und ging geradewegs auf ihr Ziel los. Bloß nicht untätig herumhängen und hoffen, dass ein Kerl anrief.

Aber warum hatte sie Nathan dann nicht angerufen? Sie war hier und da zufällig mit ihm zusammengetroffen, seit sie sich vergangenen Herbst begegnet waren. Sie hatten sogar ein paar gemeinsame Bekannte, sodass sich ihre Wege immer wieder mal kreuzten. Aber sie hatten die Bekanntschaft nicht vertieft, sondern sie auf der beruflichen Ebene belassen. Vielleicht war sie nach dem, was heute passiert war, einfach schockiert gewesen, aber im Moment stand das Berufliche bei ihren Gefühlen für ihn nicht im Vordergrund.

Sie entdeckte ihn neben einem roten Kastenwagen, wo er mit einem Feuerwehrmann sprach. Vermutlich benutzte er seinen Status als Polizist, um Informationen einzuholen, an die man als einfache Bürgerin wie sie gar nicht herankam. Die Gesetzeshüter hielten letztlich alle zusammen, und Alex war klar, dass sie niemals zu diesem exklusiven Club gehören würde. Sie arbeitete an den Grenzen des Erlaubten, aber das war ihr lieber so. Es ließ ihr mehr Spielraum, die Regeln zu ihren Gunsten auszulegen.

Alex fühlte sich in ihren feuchten Jeans unwohl. In Nathans Wagen war es heiß wie in einer Sauna. Sie beschloss, sich zumindest hier umzusehen, und untersuchte das Handschuhfach: Versicherungsnachweis, Taschenlampe, Patronen, Feuerzeug. Hm ... rauchte er etwa? Unwahrscheinlich. Das gehörte wohl eher zur Pfadfinderausstattung, ganz nach dem Motto »Allzeit bereit«.

Ihr Handy klingelte, und sie zog es hastig aus der Tasche. Kurz keimte in ihr die Hoffnung, es könnte Melanie sein, doch die Nummer auf dem Display war ihr unbekannt.

»Alex hier.« Sie wartete einige Sekunden. »Hallo?«

Aufgelegt. Sie starrte kurz auf das Display und merkte, wie sich ihr Puls beschleunigte. War sie es tatsächlich? Meldete sich Melanie endlich, nachdem sie ein gutes Dutzend Anrufe und SMS mit der dringenden Bitte um Rückruf erhalten hatte?

Alex klickte auf den Internet-Browser und gab die Nummer in die Suchmaschine ein. Keine Treffer. Sie wählte die Nummer und ließ es gut zwanzig Mal klingeln, ehe sie auflegte.

Die Schaulustigen hatten sich inzwischen verlaufen, doch Alex konnte Nathan nirgends entdecken. Sie sah, wie der rote Kastenwagen mit den letzten Feuerwehrmännern davonfuhr. Daraufhin nahm sie die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus dem Wagen. Während sie den Lichtkegel der Taschenlampe über die regendurchtränkte Schlammwiese hin und her schwenkte, lief sie über die Straße, bis sie an das gelbe Polizei-Absperrband kam. Von der Hütte war nicht mehr übrig als ein qualmender Trümmerhaufen. Aus der Asche stieg kräuselnder Rauch auf und tanzte im Strahl der Taschenlampe.

»He!«

Sie fuhr zusammen und wirbelte herum. »Verdammt, hast du mich erschreckt!«

»Ich hab doch gesagt, du sollst im Auto bleiben.«

»Was hast du rausgefunden?«, fragte sie.

Er nahm ihr die Taschenlampe aus der Hand und schaltete sie aus. Richtig. Sie mussten wirklich niemanden auf sich aufmerksam machen.

»Ich hab mit dem Feuerwehrhauptmann gesprochen.«

»Und?«

Die Dunkelheit, die sie umgab, schärfte ihre Sinne. Es roch wie bei einem Lagerfeuer in den Sommerferien. Und Nathan roch nach seiner feuchten Lederjacke, unter der er seine Pistole verbarg.

»Sie waren ziemlich schnell vor Ort«, sagte er mit leiser Stimme. Doch selbst wenn er flüsterte, blieb sein leichter Südstaaten-Akzent unverkennbar. »Es gab keine Opfer.«

»Hm. Das ist ganz sicher?«

»Sie hatten mehrere Hunde dabei. Keine Leichen unterm Bett, wenn du das denkst.«

Ja, genau daran hatte sie gedacht. Sie war erleichtert. Doch dann fiel ihr der blutige Fußabdruck ein, der so aussah, als sei jemand weggegangen.

»Ein Hund hat Brandbeschleuniger gewittert. Außerdem war in der Küche eine Gasflasche. Die ist explodiert, als das Feuer sie erreichte. Laut Zeugenaussagen muss alles ziemlich schnell gegangen sein. Mehrere Leute vom Campingplatz haben den Knall gehört, ehe sie das Feuer bemerkt hatten.« Er legte eine Pause ein. »Und kurz danach sahen sie, wie ein weißer Saturn mit hoher Geschwindigkeit wegfuhr.«

Im letzten Satz schwang unverhohlene Missbilligung mit.

»Ich glaube, in der Küche stand ein Gasherd«, sagte Alex, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Ich habe in der Hütte aber keinen besonderen Geruch bemerkt. Weder Gas noch sonst was ... Fauliges. Bei der Explosion stand ich direkt hinter der Hütte.«

Nathan reagierte nicht auf diese Nachricht, doch Alex spürte, dass er darüber alles andere als begeistert war.

»Kann ein Gasherd einfach so in die Luft gehen?«, fragte sie.

»Ich glaube nicht«, sagte er mit gepresster Stimme. »Nicht ohne dass jemand ihn manipuliert hat.«

Alex schluckte. Sie ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Scheinbar waren sie allein, aber sie hätte es nicht beschworen.

Wenn die Nachbarn sie gesehen hatten, vielleicht dann auch jemand anderes? Und hatte dieser Jemand vielleicht sogar ihre Autonummer notiert?

»Zeig mal, wo du das Blut gesehen hast«, sagte Nathan.

Sie nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und führte ihn zum hinteren Teil des Grundstücks. Dort leuchtete sie hinter das Absperrband.

»Hier war eine Veranda«, meinte sie, doch davon war nicht mehr übrig als ein Haufen verbranntes Holz. Eine geschwärzte Planke lag in der Mitte. Die verkohlte Holzoberfläche war rau und schuppig wie die Haut eines Alligators. »So viel zum Thema Fußabdruck.«

»Erinnerst du dich an was Spezielles?«, fragte er. »War’s eher eine Männer- oder eine Frauengröße?«

»Ich weiß es nicht. Es war nur der vordere Teil.« Sie ging ein paar Schritte in Richtung See. »Wie wäre es, wenn wir hier etwas Luminol verwenden? Vielleicht ist jemand mit Blut an den Füßen vom Haus weggelaufen.«

»Da müssten wir schon ziemlichen Dusel haben, nach all dem Regen«, entgegnete er. »Vom Löschwasser ganz zu schweigen.«

Zorn stieg in Alex auf. »Irgendwas müssen wir aber machen. Hier ist ein Mord passiert. Möchtest du denn gar nicht nach Beweisen suchen?«

Er ging auf sie zu, bis er nur noch ein großer schwarzer Schatten an ihrer Seite war.

»Du machst dir um deine Mandantin Sorgen. Das verstehe ich. Aber du weißt nicht mit Sicherheit, ob sie in diesem Moment nicht in einer Bar sitzt und mit ihren Freundinnen einen draufmacht.«

»Sie hat keine Freundinnen. Das ist eins ihrer Probleme.«

Er seufzte. Alex versuchte, ihren Zorn zu zügeln. »Also, hier stimmt was nicht«, beharrte sie. »Ich war da und habe Blut gesehen. Und aus irgendeinem Grund hat jemand die Hütte abgefackelt. Ich bin kein Mordermittler, aber trotzdem kann ich zwei und zwei zusammenzählen. Und dabei kommt raus, dass wir einen Mordtatort vor uns haben.«

»Soll ich dir die Grundregel für die Untersuchung eines Mordfalls verraten? Sie ist ganz einfach: Schau dir die Leiche an.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie ...«

»Ja, ich weiß, sie wird vermisst. Wenn du wirklich glaubst, dass dem Mädchen was passiert ist, dann geh zur Polizei und gib eine Vermisstenanzeige auf. Mach die Sache amtlich, und gib am besten gleich mit an, dass du den Ehemann in Verdacht hast.«

»Das geht nicht«, antwortete Alex leise.

»Und warum nicht?«

»Weil der selbst bei der Polizei ist.«

3

Mit großen Augen sah Nathan Alex an. Er meinte, seinen Ohren nicht zu trauen. Doch er wusste, dass ihn diese Hoffnung trog. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Sie drehte sich um und trottete langsam in Richtung Auto. Die Taschenlampe, die sie immer noch in der Hand hielt, schwang wie ein leuchtendes Pendel an ihrer Seite. Nathan folgte ihr. Was sie ihm nun verraten würde, wollte sie lieber nicht hier im Freien sagen. Er glitt auf den Fahrersitz und wartete auf ihre Erklärung, aber sie saß einfach da und zupfte am Riss in ihrer Jeans herum.

»Jetzt sag schon, wer ist es?«

»Craig Coghan.«

Craig Coghan. Nathan hätte beinahe laut aufgelacht, so absurd kam ihm das vor. »Glaubst du allen Ernstes, dass Craig Coghan seine Frau umgebracht hat?«

»Ich weiß es.«

»Alex ... Ich kenne Craig.«

»Ja, und? Glaubst du, nur weil du jemanden kennst, kann er seine Frau nicht schlagen? Wach auf, Nathan!«

»Das sage ich doch gar nicht! Ich meine nur ... Scheiße, Craig ist fast ein Freund von mir, ja? Und er ist ein guter Polizist. Deswegen fällt es mir schwer zu glauben, dass er ...«

»Er ist kein guter Polizist, ganz im Gegenteil«, behauptete sie. »Und als Ehemann ist er ein Scheißkerl. Außerdem brauchst du nicht so tun, als wüsste ich nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Meine Mandantin war übel zugerichtet. Ich habe Fotos. Und ich habe ihre Geschichte überprüft.«

»Und?«

»Sie ist glaubwürdig, also hör auf, nach Ausflüchten zu suchen. Melanie hatte vor ihrem Mann so große Angst, dass sie trotz seiner Drohungen in einen anderen Bundesstaat gezogen ist – nur um von ihm wegzukommen! Craig Coghan ist gefährlich. Da ist es mir völlig egal, mit wem er befreundet ist.«

Nathan schwirrte der Kopf. Coghan! Nathan kannte den Mann. Sie hatten vor Jahren in derselben Basketball-Liga gespielt und waren schon unzählige Male zusammen Bier trinken gewesen.

»Deswegen brauche ich deine Hilfe.«

Er wandte sich Alex zu, die in dem dunklen Wagen neben ihm saß. Ihre Anspannung war regelrecht spürbar.

»Ich kann aber nicht einfach in Austin ins Polizeipräsidium marschieren und Fragen stellen«, sagte er mit fester Stimme. »Erst brauche ich Beweise. Und die muss ich mir besorgen, ohne dass jemand was mitbekommt. Erst wenn ich belastbares Material gefunden habe, kann ich mich an jemanden wenden. Aber am besten an eine andere Dienststelle. Vielleicht ans FBI. Oder an die Staatsanwaltschaft. An irgendwen, der nicht in Austin bei der Polizei ist.«

Nathan schüttelte den Kopf. Ihr stand ein harter Kampf bevor. Und nicht nur, weil der Mann Polizist war. Es gab keine Leiche. Coghan war Drogenfahnder, aber jeder Polizist, der auch nur ein bisschen was auf dem Kasten hatte, kannte genug Möglichkeiten, eine Leiche verschwinden zu lassen. Und Beweise ebenfalls. Außerdem hatte er sich garantiert ein Alibi verschafft.

»Wann hast du zum letzten Mal von Melanie gehört?«, fragte er.

»Das ist Monate her. Aber laut einer Fluggesellschaft ist sie vor fünf Wochen von Florida nach Austin geflogen. Und den Rückflug hat sie nicht angetreten. Das sind die Rahmendaten.«

Ein verdammt großer Rahmen.

Nathan riss sich von Alex’ schemenhaftem Umriss los und starrte durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit.

»Hilfst du mir?«, bat sie ihn mit leicht flehender Stimme. »Unauffällig? So, dass niemand etwas bemerkt?«

»Das wird schwierig«, entgegnete er. Und meinte unmöglich. Wie konnte er in einer Mordsache ermitteln, ohne dass seine Abteilung das mitbekam? Außerdem sprach sie über einen Fall, für den eigentlich die Interne Ermittlung zuständig war. Nathan hasste diese heimlichen Schnüffler. Um keinen Preis der Welt wollte er so werden wie sie.

»Das ist sehr wichtig für mich«, drängte Alex. »Melanie hat mich um Hilfe gebeten, und jetzt fühle ich mich für sie verantwortlich. Ich möchte es nicht vermasseln. Nicht noch einmal. Wenn du das also nicht unauffällig erledigen kannst, wäre mir lieber, du unternimmst gar nichts.«

Der Unterton in ihrer Stimme ließ ihn aufmerken.

»Und, machst du’s?«

»Ja«, sagte er. Im selben Augenblick begriff er, dass er ihr ein Versprechen gegeben hatte, das er kaum halten konnte.

Alex fielen die Augen zu, als Nathan durch Austin zu seinem Haus in Northwest Hills zurückfuhr. Sie lehnte den Kopf gegen das Seitenfenster und blickte nach draußen, wo die Lichter an unzähligen Haustüren vorbeizogen. Melanie hatte in einem ähnlichen Viertel gelebt, nur auf der anderen Seite der Stadt. Sie hatte Arbeit gehabt und war verheiratet gewesen, und ihr Haus war wie alle anderen der Jahreszeit entsprechend geschmückt gewesen. Wer als Außenstehender ihr Leben betrachtet hatte, musste glauben, sie sei glücklich gewesen.

»Müde?«, erkundigte sich Nathan.

»Irgendwie ja.« Erschöpft schloss sie die Augen und seufzte. Wenn sie nur ins Bett gehen könnte und morgen die Augen aufschlagen würde und wüsste, dass Melanie in Florida in Sicherheit war – dort, wo sie sein sollte. Und dass der heutige Tag nur ein böser Traum gewesen war.

»Die Wirkung des Adrenalins lässt nach«, meinte Nathan. »Ich fürchte, du bist am Zusammenklappen.«

Alex riss die Augen auf, ihr Körper straffte sich. Sie durfte jetzt nicht zusammenklappen. Noch nicht. Sie hatte heute Abend noch was zu erledigen. Sie musste einen Zeitplan aufstellen – Melanies Zeitplan –, und dazu musste sie hellwach sein. Ihr Kopf musste präzise arbeiten. Vielleicht sollte sie nach Hause fahren und sich eine Kanne Kaffee machen.

Alex blickte zu Nathan hinüber. Anscheinend hatte es ihn nicht gestört, dass sie ihn von zu Hause weggeholt hatte, um einen mutmaßlichen Tatort zu besichtigen.

»Deine Arbeitszeiten sind wohl ziemlich mörderisch, oder?«, fragte sie.

»Ach, ich bin’s gewöhnt. Da denk ich eigentlich gar nicht dran.«

Er sah gut aus. Klares Profil, männliche Gesichtszüge. Und von der Seite sah sie auch sein blaues Auge nicht. Ihr gefiel, dass sein Haar bis an den Jackenkragen reichte. Sie verspürte das Verlangen, mit den Fingern durchzufahren.

»Was ist?«, fragte er mit einem kurzen Blick zu ihr.

»Nichts.«

Bei einem Blick in den Seitenspiegel fiel ihr auf, dass schon seit zehn Minuten dasselbe Scheinwerferpaar drei Autos hinter ihnen war. Die Scheinwerfer lagen tiefer als bei einem Pick-up, sie waren rechteckig und standen weit auseinander. Vermutlich eine Limousine. Amerikanisches Fabrikat.

»Wie hast du sie denn gefunden?«

»Äh, was?«

»Melanie Coghan«, sagte er. »Du hast gesagt, nachdem du herausgefunden hattest, dass sie in Austin war, hat es nur zehn Minuten gedauert, sie zu finden. Wie hast du das geschafft?«

Die Limousine hinter ihnen bog links ab, und Alex schenkte Nathan wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit. »Ich hatte ja ihre Handynummer, damit war es ein Kinderspiel«, erklärte sie.

»Ich dachte, sie ist nicht rangegangen.«

»Ist sie auch nicht.« Alex strich ihr T-Shirt glatt. Sie sah wirklich fürchterlich aus. Sie hoffte, dass sie wenigstens nicht auch noch schlecht roch. Immerhin hatte sie sich heute Abend ja schon im Schlamm gewälzt. Bei Nathan vermischte sich der Geruch der Lederjacke mit dem Duft eines frisch geduschten Mannes, und diese Kombination gefiel ihr. Seit er sich vor dem Losfahren frisch gemacht hatte, war sie sich dieses Geruchs bewusst, und er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

»Okay, ich geb’s auf«, sagte er. »Was hab ich übersehen?«

»Ich habe bei Domino’s Pizza angerufen. Nein, eigentlich habe ich bei Domino’s, Pizza Hut und einem weiteren Pizzaservice angerufen, aber bei Domino’s war sie in der Kartei.«

»Sie hat Pizza bestellt ...?«

Alex drehte sich so, dass sie ihn ansehen konnte. »Die sortieren ihre Kunden nach der Telefonnummer. Damit ist es ein Kinderspiel. Ich nannte Melanies Telefonnummer, gab eine Bestellung auf, und sie baten mich, die Adresse Moccasin Road zu bestätigen. Danach habe ich die Bestellung storniert und bin losgefahren, um Melanie zu suchen.«

Nathan bog in die Straße ein, in der er wohnte. Alex’ Wagen stand vor seinem Haus. Sie war fast zu müde, um noch nach Hause zu fahren. Sie musste sich unbedingt ausruhen.

»Das ist gut«, meinte Nathan. »Auf die Idee wäre ich nicht gekommen.«

Sie zuckte die Achseln. »Die Leute geben einem immer über alles Auskunft. Man muss nur die richtigen Fragen stellen.« Nathan parkte in der Auffahrt, und Alex stieß die Tür auf. »Nur hätte es bei Melanie nicht so einfach sein dürfen.« Sie stieg aus und schlug die Tür zu. »Das bringt mich wirklich auf die Palme.«

Nathan ging um den Wagen herum zu ihr. Er sah auf den Saturn, der hinter ihr am Straßenrand stand, dann trafen sich ihre Blicke.

»Du hast ihr also geraten, möglichst unauffällig zu sein, als du sie nach Florida verfrachtet hast«, sagte er. »Und jetzt ärgerst du dich, dass sie sich nicht daran gehalten hat.«

»Genau.« Mit einem Seufzer vergrub Alex beide Hände in den Gesäßtaschen ihrer Jeans und blickte zu Boden. »Ich schätze, ich hab’s ihr nicht so gut eingeschärft, wie es nötig gewesen wäre. Sie hätte auf keinen Fall zurückkommen dürfen. Und als sie trotzdem kam, war sie auch noch unvorsichtig und hat alle meine Warnungen in den Wind geschlagen.«

»Das ist ihre Schuld, nicht deine. Deswegen brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen.«

Sie blickte zu ihm auf. Es war zu dunkel, als dass sie seinen Gesichtsausdruck erkennen konnte, aber der warme Klang seiner Stimme mit dem weichen Südstaatenakzent beruhigte sie. Er kam aus Louisiana, und in der Dunkelheit ließen sie seine Worte an das träge dahinfließende Wasser der Bayous denken.

Er sah ihr in die Augen, und sie durchfuhr ein Schauer. Als er die Hand an ihre Wange legte und mit dem Daumen sanft über die Narbe über ihrem Mund strich, stockte ihr der Atem.

»Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen«, sagte er, »wie es dir ergangen ist.«

Mit »die ganze Zeit« meinte er seit letztem Herbst. Seit ein Auftragskiller in ihr Büro eingebrochen war und versucht hatte, eine Information aus ihr herauszuprügeln. Gleich nach dem Vorfall hatte sie Nathan angerufen, doch hinterher hatten sie sich etwas aus den Augen verloren.

Sie senkte den Blick. »Ach, ganz gut«, antwortete sie.

Er ließ die Hand sinken. »Ich hätte dich anrufen sollen.«

»Kein Problem.« Warum nur hatte sie nun so ein flaues Gefühl im Magen? Sie löste sich von ihm und fischte den Autoschlüssel aus der Hosentasche. »Also, dann ... Und vielen Dank für deine Hilfe heute Abend.«

Er blieb stehen, den Blick auf sie geheftet.

»Ich ruf dich morgen an«, sagte sie. »Vielleicht hast du bis dahin ja schon was rausgefunden.«

Sie tat einen weiteren Schritt rückwärts, ehe sie sich umdrehte und auf ihr Auto zuging. Es war ruhig in der Straße. Keine Autos, keine Fußgänger, nicht einmal ein bellender Hund.

»Pass auf dich auf«, rief er ihr nach.

Sie blickte zu ihm zurück und winkte. »Mach ich.«

Sophie Barrett nahm das, was in ihrem Horoskop stand, nicht immer für bare Münze. Aber sie musste zugeben, dass es an manchen Tagen verdammt genau zutraf.

Das Glück kommt zu Ihnen, wenn Sie es am wenigsten erwarten. Als Sophie die Lavaca Street in Downtown Austin erreichte, konnte sie kaum glauben, dass sie ihre strahlend blauen Augen nicht trogen. Nein, direkt vor ihrem Ziel war ein Parkplatz frei. Trotz Rushhour und Verkehrschaos musste sie keine drei Blocks von der nächsten Parkgarage im Nieselregen hierherlaufen. Ihre Frisur und die silbernen Riemchenpumps hatten eine echte Chance, das Bewerbungsgespräch unversehrt zu erreichen.

Sophie rollte langsam an der Parklücke vorbei und parkte mit viel Geschick rückwärts ein. Sie war seit jeher eine gute Autofahrerin und steuerte ihr SUV wie ein kleines Coupé.

Lovell Solutions. Sie las den Schriftzug, der in das Glas eingraviert war, dann begutachtete sie sich im Rückspiegel. Ihre Lippen waren makellos. Damit musste sie nicht riskieren, sich direkt vor einer Glastür im Auto zu schminken. Vermutlich war Alex Lovell drinnen, und Sophie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie sei dämlich. Blond sein hatte Vorteile. Aber es gab definitiv auch ein paar Nachteile. Sophie rückte ihren Push-up-BH zurecht, strich sich die Satinbluse glatt und stieg aus dem Wagen. Noch ein paar Münzen in die Parkuhr, und schon eilte sie zum Eingang.

Es muss einfach klappen