Dein ist der Tod - Laura Griffin - E-Book

Dein ist der Tod E-Book

Laura Griffin

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Beschreibung

Manche Sünden kann man nicht vergeben ...

Mia Voss ist DNA-Expertin und arbeitet seit Jahren mit der Polizei zusammen. Doch dann wird sie plötzlich entführt - am gleichen Tag, an dem vor genau einundzwanzig Jahren ihre Schwester vergewaltigt und umgebracht wurde. Mia gelingt in einem unbeobachteten Moment die Flucht. Ihren Peiniger, der mit ihrem Auto und all ihren Habseligkeiten davonrast, kann sie jedoch nicht stellen.

Als wenig später ihr Neffe spurlos verschwindet und sie erpresst wird, wird Mia klar, dass es sich nicht um einen Zufall handeln kann. Zusammen mit dem attraktiven Detective Ric Santos nimmt Mia die Ermittlungen auf. Ein sadistischer Psychopath scheint es auf sie abgesehen zu haben, und die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, hängt mit einem alten, ungelösten Fall zusammen. Nur sie kann die Wahrheit aufdecken, doch dazu muss sie Ric ihre dunkelsten Geheimnisse anvertrauen - und ihr Leben ...

"Düster, fantasievoll, sexy! Sie MÜSSEN Laura Griffin lesen." Cindy Gerard, New York Times-Bestseller-Autorin

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Manche Sünden kann man nicht vergeben ...

Mia Voss ist DNA-Expertin und arbeitet seit Jahren mit der Polizei zusammen. Doch dann wird sie plötzlich entführt – am gleichen Tag, an dem vor genau einundzwanzig Jahren ihre Schwester vergewaltigt und umgebracht wurde. Mia gelingt in einem unbeobachteten Moment die Flucht. Ihren Peiniger, der mit ihrem Auto und all ihren Habseligkeiten davonrast, kann sie jedoch nicht stellen.

Als wenig später ihr Neffe spurlos verschwindet und sie erpresst wird, wird Mia klar, dass es sich nicht um einen Zufall handeln kann. Zusammen mit dem attraktiven Detective Ric Santos nimmt Mia die Ermittlungen auf. Ein sadistischer Psychopath scheint es auf sie abgesehen zu haben, und die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, hängt mit einem alten, ungelösten Fall zusammen. Nur sie kann die Wahrheit aufdecken, doch dazu muss sie Ric ihre dunkelsten Geheimnisse anvertrauen – und ihr Leben ...

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung!

Laura Griffin

Dein ist der Tod

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Für Abby

1. Kapitel

Mia Voss benötigte dringend etwas Balsam für ihre Seele. Sehr dringend.

Normalerweise hätte sie der Versuchung widerstanden. Aber an diesem Tag war überhaupt nichts normal gewesen. Es fing schon damit an, dass heute der siebte Januar war. Und am Ende war sie zum ersten Mal in ihrem Berufsleben ernsthaft getadelt worden.

Als sie in den kleinen Supermarktparkplatz bog und ihren Jeep Wrangler zu einem freien Platz in der Nähe des Eingangs steuerte, wurde ihr allein beim Gedanken daran wieder heiß. Stocksteif hatte sie im Büro ihres Chefs gestanden und in das Rattengesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch gestarrt, der sie mit Kritik überzog. Vollkommen überrumpelt war sie gewesen, ohne ein Wort der Verteidigung hatte sie alles über sich ergehen lassen. Erst jetzt, sechs Stunden danach, fielen ihr die passenden Antworten ein – und eine besser als die andere!

Gleich nach dem Eintreten wurde Mia geradezu magisch von den Tiefkühlregalen angezogen. Wann, wenn nicht heute, sollte sie sich einen fetten Becher sahniges Eis gönnen? Dies war der erste Donnerstagabend seit Monaten, an dem sie nicht im Labor festsaß. Der erste Donnerstagabend seit Jahren, an dem sie sich mit nichts anderem beschäftigen musste als mit einem rührseligen Frauenfilm, einer kuscheligen Decke und einem supersahnigen Ben-&-Jerry’s-Eis. Heute Abend war Tränendrüsenzeit. Voll Vorfreude auf die dicken Sahnekaramellstückchen zog Mia die Tür des Tiefkühlers auf und nahm sich einen Becher New York Super Fudge Chunk. Nach kurzem Zögern packte sie noch einen Becher Chunky Monkey mit Bananen und Walnussstückchen dazu. Wenn schon, denn schon, dachte sie trotzig. Diese Einstellung hatte sie zwar schon mehr als einmal in die Bredouille gebracht, aber das hielt sie nicht davon ab.

»Doktor Voss.«

Erschrocken wirbelte sie herum.

Ein breitschultriger Mann in braunem Mantel stand hinter ihr. Als er sich bückte und nach dem Eisbecher griff, der ihr aus der Hand gefallen war und nun den Gang entlangkullerte, sah sie, dass er auf dem Hinterkopf kahl wurde. Er richtete sich wieder auf und gab ihr das Eis. »Lecker, was?«

»Äh, ja. Danke schön.« Angestrengt kramte sie in ihrem Gedächtnis, um ihn irgendwo einzuordnen. Er war Polizist, so viel wusste sie. Aber sie hatte ihn schon länger nicht mehr gesehen, und ein Name zu dem Gesicht wollte ihr partout nicht einfallen.

»Aber nicht ganz so lecker wie Schokominz.« Sein verschmitztes Lächeln ließ ihn großväterlich aussehen. »Das mag meine Frau am liebsten.«

Sie warf einen Blick in seinen Einkaufswagen: zwei Becher Schokominz und ein Sixpack Bier.

Als sein Blick auf Mias fellgefütterte Hausschuhe fiel, hob sich eine seiner buschigen grauen Augenbrauen. »Na, auf dem Weg zu einer Pyjamaparty?«

Mia hatte sich für den Abstecher zum Supermarkt ihr Satinnachthemd nur in die Jeans gestopft, eine alte Strickjacke übergeworfen und war einfach in ein Paar Latschen geschlüpft. Sie sah aus wie einer Anstalt entsprungen – und an einem Tag wie heute musste sie dann natürlich einem Polizisten begegnen, der sie kannte. Tja, was tat man nicht alles für seinen guten Ruf. Der Tag mauserte sich zu einem echten Wendepunkt in ihrem Leben.

Mia rang sich ein Lächeln ab. »Eher zum Fernsehabend.« Sie sah auf die Uhr und tat einen Schritt in Richtung Kasse.

»Der Film fängt auch gleich an, ich muss also ...«

»Lassen Sie sich nicht aufhalten.« Er nickte. »Auf Wiedersehen, Frau Doktor.«

Als sie ihre Sachen bezahlte, beobachtete Mia ihn im Spiegel über der Kasse. Er legte ein paar Tiefkühlgerichte in seinen Wagen und marschierte dann in den Gang mit Knabberzeug.

Erst als sie aus dem Parkplatz fuhr, erinnerte sie sich an seinen Namen. Frank Hannigan. Ein Polizist aus San Marcos. Warum war ihr das nicht gleich eingefallen?

Da spürte sie etwas Hartes im Nacken.

»An der nächsten Kreuzung links.«

Mia wirbelte herum. Ihre Brust zog sich zusammen. Auf der Rückbank saß ein Mann. Die Pistole in seiner Hand war direkt auf ihre Nase gerichtet.

»Schauen Sie nach vorne auf die Straße!«

Sie drehte den Kopf wieder nach vorne – gerade rechtzeitig, um einen Telefonmast auf sich zukommen zu sehen. Sie riss den Wagen kurz vor dem Randstein nach links und konnte ihn auf der Straße halten.

Oh mein Gott, mein Gott, mein Gott. Krampfhaft umklammerte sie das Lenkrad und linste in den Rückspiegel. Ihr Blick blieb an der Pistolenmündung hängen. Die Waffe war groß und bedrohlich und direkt auf ihren Kopf gerichtet.

»Links abbiegen.«

Der Befehl lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Waffe ab, und Mia konzentrierte sich wieder auf den Mann. Sie zwang sich, ihn so gut wie möglich zu beschreiben. Ein schwarzer Kapuzenpulli, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Mund und Nase von einem dunkelblauen Halstuch verdeckt. Über den Augen eine dunkle Sonnenbrille. Das Einzige, was sie von dem Maskierten sehen konnte, war ein dünner Streifen Haut zwischen Tuch und Sonnenbrille.

Wieder stieß er ihr den Pistolenlauf in den Nacken. »Schau auf die Straße.«

Mit rasendem Herzen folgte sie seinem Befehl. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Weil sie plötzlich merkte, dass sie den Atem anhielt, konzentrierte sie sich auf das Einatmen. Mit einer Hand ließ sie das Lenkrad los, um zu schalten. Dann bog sie links ab.

Wohin fahren wir? Was will der Kerl?

In ihren Gedanken jagte ein Schreckensszenario das nächste, während sie suchend umherblickte und auf einen Streifenwagen, ein Feuerwehrauto, irgendwas hoffte. Doch sie waren in einer Universitätsstadt, und wenn hier etwas passierte, dann viel näher am Universitätsgelände.

Welche Möglichkeiten hatte sie? Ihre Stirn war von kaltem Schweiß bedeckt. Ihr Mund fühlte sich trocken an.

Der Motor heulte auf. Sie hatte das Schalten vergessen. Mit feuchter Hand griff sie zum Schaltknüppel und legte den dritten Gang ein.

Denk nach. Panisch schossen ihre Blicke umher, doch die Straßen waren verwaist. Das nächste offene Geschäft war ein Fast-Food-Restaurant zwei Blocks hinter ihnen.

»Nach rechts zur CenTex Bank. Zum Drive-in-Automaten.«

Innerlich stieß Mia einen Stoßseufzer aus. Er wollte Geld. Tränen der Erleichterung traten ihr in die Augen. Doch sobald sie begriff, dass es nicht wirklich etwas bedeutete, kehrte die Panik zurück. Er könnte sie trotzdem erschießen und am Straßenrand liegen lassen. Gerade sie wusste, wie verdammt wenig ein Menschenleben manchmal wert war. Eine Handvoll Geldscheine. Eine Tüte Crack. Ein Paar Sneakers.

Sie könnte tot sein, noch ehe der Geldautomat die Scheine ausgegeben hatte.

Der kalte harte Pistolenlauf drückte fest gegen ihre Wange. Sie hielt den Atem an und sah in den Spiegel. Sie erinnerte sich an das Phantombild des Una-Bombers, eines Mannes mit Kapuzenshirt und Sonnenbrille, der jahrelang auf der FBI-Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher stand. Als forensische Wissenschaftlerin an einem der führenden kriminaltechnischen Labore der Welt hatte Mia Verbindungen zu allen möglichen Zweigen der Polizeikräfte – doch in diesem Augenblick nützten sie ihr gar nichts. In diesem Augenblick gab es nur sie und diesen Mann in ihrem Auto, und er richtete eine Pistole auf ihren Kopf.

Bleib ruhig. Denk nach.

Sie steuerte den Jeep neben den Geldautomaten, wobei sie um ein Haar mit der linken Autoseite die gelbe Betonsäule gestreift hätte. Zu spät fiel ihr ein, dass sie gerade eine Fluchtmöglichkeit verpasst hatte.

Mia schloss die Augen und schluckte. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken. Was auch passieren mochte, Mia musste das durchstehen. Einen weiteren Schicksalsschlag durfte sie ihrer Mutter nicht zumuten.

Nicht an einem siebten Januar.

Mit neuer Entschlossenheit wandte sie ihm das Gesicht zu. Oder war es nur das Adrenalin, das in ihr zirkulierte? »Wie viel wollen Sie?« Sie ließ das Fenster herunter, während sie mit der anderen Hand in der Handtasche nach dem Geldbeutel kramte.

»Fünftausend.«

»Fünftausend?« Sie drehte sich um und starrte ihn an. Insgesamt hatte sie zwar schon so viel Geld, aber das war irgendwo angelegt. Auf dem Girokonto dürften eher nur um die fünfhundert sein. Doch in ihrer Situation wollte sie nichts weniger als diesen Typen verärgern.

Sie schluckte. »Ich glaube, mein Limit sind dreihundert.« Sie versuchte, ruhig zu wirken, aber ihre Stimme klang wacklig und schrill. Sie beugte sich zu ihm und drehte die Schulter dabei so, dass die Überwachungskamera des Geldautomaten das Wageninnere erfassen konnte. Vermutlich würde der Mann nicht im Sichtfeld sein, aber vielleicht kam wenigstens die Pistole ins Bild. »Aber ich könnte öfter abheben.«

Wieder presste er den Pistolenlauf hart gegen ihre Wange. Morgen würde sie vermutlich einen blauen Fleck haben. Wenn sie morgen überhaupt erlebte.

Sie drehte sich zum Automaten, um mit zitternden Fingern erst die Geheimzahl, dann die Summe einzugeben. Mehr als dreihundert würde sie nicht abheben können. Aber vielleicht funktionierte es zweimal hintereinander? Welche Rechnungen waren überhaupt schon abgebucht? Mia reichte ihm den ersten Packen Zwanzig-Dollar-Noten und biss sich auf die Lippe, während sie auf die zweite Auszahlung wartete.

Vorgang abgebrochen.

Das Blut stockte ihr in den Adern. Sekunden verstrichen, während Mia auf die Reaktion des Mannes wartete. Obwohl ihr der Schweiß über den Rücken lief, bildete ihr Atem in der frostigen Winterluft kleine Wölkchen vor den leuchtenden Automatenbuchstaben.

Das war’s, dachte sie. Jetzt ist es aus.

Zitternd streckte sie die Hand aus und nahm die Quittung aus dem Schlitz.

Hier könnte sie einen Fluchtversuch wagen. Allerdings nur, wenn links und rechts vom Wagen keine Betonsäulen stünden.

Oder sie könnte irgendwohin fahren, wo mehr Menschen waren. Am nächsten lag der Walmart drei Blocks von hier, aber würde sie es so weit schaffen, ohne dass er ihr eine Kugel in den Kopf jagte oder zumindest das Lenkrad entwand?

»Zum Highway zurück.« In dem Befehl schwang Verärgerung mit, aber er klang nicht so enttäuscht, wie Mia befürchtet hatte.

Sie legte den ersten Gang ein und steuerte den Jeep zurück zum Highway. Beim Schalten sah sie die vertraute Mardi-Gras-Glasperlenkette, die vom Rückspiegel herunterbaumelte. Ihr Anblick flößte ihr wieder etwas Zuversicht ein. Immerhin waren sie in ihrem Auto, und sie saß am Steuer. Also konnte sie noch etwas unternehmen.

»Wie wär’s mit der Sun Bank?«, krächzte sie mehr, als sie fragte. Die Bank lag hinter dem Walmart. Vielleicht konnte sie ihn überraschen, indem sie dort auf den Parkplatz fuhr, aus dem Wagen sprang und weglief?

»Hier links abbiegen.«

Mia krallte sich wieder an das Lenkrad. Im Rückspiegel trafen sich ihre Blicke. Sie konnte ihm zwar nicht in die Augen sehen, aber sie begriff, was er vorhatte – sie hörte es am Klang der Stimme, sah es an der Körpersprache und spürte es an der vollkommenen Ruhe, mit der er die Pistole hielt.

Links bedeutete auf den Highway, hinaus aus der Stadt. Es bedeutete, dass er sie töten würde.

2. Kapitel

Mit jedem Stoppschild und jedem Briefkasten, an dem sie vorbeifuhr, wuchs Mias Panik. Immer weiter raus aus der Stadt. Immer weiter weg von den Fluchtmöglichkeiten. Was konnte sie überhaupt tun? Ihre schweißfeuchten Hände krampften sich um das Lenkrad, während ihre Gedanken fieberhaft nach einem Ausweg suchten. Ihre Freundin Alex hätte eine Waffe in der Handtasche. Und Elaina würde den Kerl mit ihren Karatetricks unschädlich machen. Aber Mia besaß nicht einmal eine Pistole, die sie in ihre Handtasche hätte stecken können. Von Karatekenntnissen ganz zu schweigen.

»An der nächsten Kreuzung rechts.«

Je näher sie dem Straßenschild kamen, desto mehr schnürte ihr Angst die Kehle zu. Old Mill Road. Außer einer alten aufgelassenen Baumwollfabrik war dort hinten nichts mehr.

Im Rückspiegel blitzten Autoscheinwerfer auf. Auf einmal merkte sie, dass sie nur noch stoßweise atmete und ihr Puls raste. Die Zeit lief ihr davon. Als die Straße zu einer in einer Senke befindlichen Brücke abfiel, nahm Mia den Fuß vom Gas und blickte verstohlen in den Rückspiegel.

Komm schon, komm schon.

»He, Gas geben!« Er stieß ihr die Pistolenmündung in den Nacken.

Einundzwanzig, zweiundzwanzig ...

»Schneller!«

Jäh riss Mia das Lenkrad erst nach rechts, dann nach links und trat voll auf die Bremse. Schleudernd kam der Jeep zum Stehen. Mia beugte sich nach vorne, löste dabei mit der Rechten den Sicherheitsgurt und tastete gleichzeitig mit der Linken nach dem Türöffner.

Der Schuss knallte laut wie ein Donnerschlag neben ihrem Kopf. Sie meinte sogar die Schallwellen zu spüren, als sie die Tür aufstieß und sich hinaus auf die Straße stürzte. Noch im Fallen riss sie den Kopf herum und sah zwei grell blendende Scheinwerfer auf sich zukommen.

Sie rappelte sich auf und rannte von der Straße weg. Im Zurückblicken sah sie, wie der Angreifer aus dem Fond ihres Wagens kam. Er hatte seine Sonnenbrille verloren, sein Gesicht war zu einer wutentbrannten Grimasse verzerrt.

Mia wandte sich um und floh. Plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen und fiel auf die Knie. Eiskaltes Wasser umspülte ihre Füße und Unterschenkel. Sie war in einen Graben gefallen. Vorsichtig richtete sie sich auf und stieg aus dem eisigen Wasser, sorgsam darauf bedacht, in Deckung zu bleiben und dem Angreifer kein Ziel zu bieten. Doch als der Wagen, der hinter ihnen gewesen war, mit quietschenden Reifen zum Stehen kam, warf sie einen panischen Blick auf die Straße. Die Scheinwerfer tauchten den quer auf der Straße stehenden Jeep in ein grelles Licht.

Auch eine dunkle Silhouette kam in ihr Blickfeld. Also folgte er ihr! Von panischem Schrecken gepackt, sprang sie auf und rannte tiefer ins Unterholz.

»He, Sie da!«, rief eine Stimme. »Bleiben Sie stehen!«

Es war die Stimme des Helfers, der angehalten hatte. Sie drehte sich nicht um. Die Rufe waren an ihren Angreifer gerichtet.

»Lassen Sie die Waffe ...«

Peng!

Die folgende Stille war fürchterlich.

Übelkeit überkam sie, doch sie hörte nicht auf zu laufen. Plötzlich stach etwas in ihren rechten Oberschenkel. Kurz versuchte sie, das Hindernis wegzudrücken, dann begriff sie, dass vor ihr Stacheldraht war. Entsetzt ging sie auf die Knie und robbte vorsichtig unter dem Zaun durch. Ihre alte Strickjacke verfing sich an den Stacheln. Hinter ihr raschelte es im Gebüsch. Mein Gott, konnte er sie etwa sehen? Mias Herz raste mittlerweile, und sie riss ihre Arme aus den Jackenärmeln und rappelte sich wieder auf.

Peng!

Sie spürte einen stechenden Schmerz im Oberarm knapp über dem Ellbogen. Ich bin getroffen! Sie kämpfte sich weiter vorwärts durch das Gebüsch, von einem einzigen Gedanken angetrieben: Ich werde heute Nacht nicht sterben. Nein, nein, nicht heute. Sie schob die Äste beiseite und zwang sich, schneller zu laufen. Der Hügel wurde steiler, der Anstieg schwieriger. Sie stolperte, fiel aber nicht, sondern rannte weiter, bis ihre Schenkel brannten und ihre Kehle sich von der eisigen Luft trocken anfühlte.

Und dann hörte sie eine ferne Sirene. Sie blieb stehen und lauschte. Mit angehaltenem Atem duckte sie sich tief in das Gebüsch und spähte durch das Gesträuch auf die beiden Autos auf dem Highway. Da standen sie, beide mit offenen Türen und hell strahlenden Scheinwerfern.

Wo war der Schütze?

Als die Lichter des Jeeps ausgingen, kannte sie die Antwort. Eine Tür wurde zugeschlagen, mit einem Knurren sprang der Motor an. Mia erhob sich und sah mit offenem Mund, wie der Jeep einen Satz nach vorne machte, wendete und – noch immer ohne Licht – immer schneller den Highway entlangraste, bis er von der Nacht verschluckt wurde.

Mias Hände waren voller Blut. Sie verschränkte die Finger und presste sie zusammen, um nicht länger unkontrolliert zu zittern.

»Sie sollten das nähen lassen.«

Sie sah die Notärztin an, die ihre Wunde säuberte. Sie hatte kurze braune Haare und eine nüchterne, geschäftsmäßige Art, die Mia an ihre Schwester erinnerte.

»Ich hab den Eindruck, dass ich noch ein Weilchen hier sein werde«, sagte Mia, als ein weiterer Zivilbeamter zu ihr kam, um sie zu befragen. Detective Macon. Vorname Jonah, wie der mit dem Wal. Es dürfte nicht schwer sein, sich das zu merken. Der Mann war selbst ein muskelbepackter Riese. Er hatte schon einen halben Notizblock mit ihren Aussagen gefüllt. Dennoch sah er aus, als wollte er mehr.

»’tschuldigung.« Er nickte. »Nur ein paar Fragen noch.«

Mia holte tief Luft und wappnete sich.

»Zum Supermarkt.« Er blätterte in seinem Notizblock. »Sie sagten, dass Sie ungefähr um neun Uhr fünfundfünfzig dort angekommen sind.«

»So in etwa.«

»Und Sie haben was zu essen gekauft?«

»Eiscreme«, antwortete sie. »Ich war auf dem Heimweg und wollte mir einen Film ansehen.«

»Und Frank Hannigan betrat den Laden, als Sie gingen?«

Mias Blick huschte zu dem Gewimmel von Polizisten und Leuten von der Spurensicherung, die um Franks Leiche standen. Ihr schnürte sich die Kehle zusammen.

Lassen Sie sich nicht aufhalten. Auf Wiedersehen, Frau Doktor.

Das Schuldgefühl legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals. Was, wenn sie sich nur etwas mehr Zeit zum Plaudern genommen hätte? Hätte das etwas geändert? Wäre Frank Hannigan dann zu Hause bei seiner Frau und läge nicht mit einem Loch in der Brust auf dem Asphalt?

»Madam?«

Sie sah den Beamten an. »Er war schon da. Er muss gleich nach mir gegangen sein.« Sie presste die Lippen aufeinander, damit sie nicht zitterten. Sie trug nur ein Nachthemd, Jeans und nasse Hausschuhe. Ihre Strickjacke hing irgendwo da draußen am Stacheldrahtzaun.

»Okay. Aber Sie haben Hannigan erst wieder gesehen, als Sie auf dem Highway nach Westen fuhren, korrekt?«

Mia sah auf ihre Hände. Sie waren voller Blut. Als sie neben ihm auf der Straße kniete, hatte sie versucht, den Blutfluss zu stoppen, und beide Hände verzweifelt auf die Wunde gepresst. Aber es war einfach zu viel gewesen, das da durch sein Hemd, seine Jacke drang und langsam und warm und klebrig zwischen ihren Finger durchfloss. Und dieses Gurgeln ...

»Madam?«

»Was?«

»Sie haben ihn nicht gesehen, als Sie bei der Bank waren?«

»Nein.« Bei der Erinnerung an den Geldautomaten, an die Waffe in ihrem Nacken, überfiel sie eine neue Welle der Angst. »Vielleicht hat er mich auf der Straße gesehen, als ich zur Bank gefahren oder von ihr gekommen bin. Ich bin wohl etwas, äh, unkoordiniert gefahren. Sie sagten, er hat die Polizei verständigt?«

»Der Anruf kam um zehn Uhr siebzehn rein. Er sagte, dass er Sie bei der Bank gesehen hat und Sie vermutlich mit einer Waffe bedroht werden.«

Mia presste die Hände aneinander. Auch ihr Magen krampfte sich zusammen.

»Okay, und als der Wagen anhielt und Hannigan ausstieg, hat er mit Ihrem Angreifer gesprochen, sagten Sie?«

»Mit ihm gesprochen, kann man nicht sagen. Er rief: ›He, Sie da!‹ So als wollte er ihn ablenken und ihn von seinem Plan abbringen.«

Ihn davon abhalten, mich umzubringen.

Wieder blickte sie auf ihre Hände und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken.

»Oho, Kopf zwischen die Beine.« Die Notärztin drückte Mias Kopf nach vorne, und Mia starrte einen Riss in der Fahrbahndecke an, bis die Übelkeit wieder verschwand. Schritte näherten sich.

»Wie geht’s ihr?«

Sobald Mia die vertraute Stimme hörte, schloss sie die Augen. Ric Santos. Sie hatte geahnt, dass er auftauchen würde. Und gehofft, dass sie bis dahin weg war.

»Wir sind so gut wie fertig«, antwortete Macon.

Abgetragene Turnschuhe und der zerschlissene Saum einer Jeans kamen in ihr Blickfeld. »Cara mia?«

»Was?«

Er ging in die Hocke und legte eine Hand auf ihr Knie. Noch nie vorher war er mit der Hand auch nur in die Nähe ihres Knies gekommen, und unter anderen Umständen wäre sie vermutlich vor Entzücken erschaudert. Aber jetzt konnte sie schon froh sein, wenn sie ihm nicht auf die Schuhe kotzte.

»Wie geht’s deinem Arm?«

»Gut.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. Was ein Fehler war. Mit nur einem durchdringenden Blick aus seinen schwarzbraunen Augen erkannte er, dass sie log. Ihr Arm schmerzte höllisch. Schlimmer als jeder Schmerz zuvor. Trotzdem konnte sie sich glücklich schätzen, dass nicht sie hier auf der Straße im überfrierenden Regen lag und ein Spurensicherungstrupp um sie herumschwärmte.

Sie richtete sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ric erhob sich ebenfalls. Als sie sich Macon zuwandte, fühlte Mia seinen Blick auf sich ruhen – noch deutlicher als sonst. »Gibt’s noch was? Ich würde nämlich wirklich gern nach Hause.«

»Man sollte das wirklich mit ein paar Stichen nähen«, warf die Notärztin ein und wickelte eine letzte Lage Verband um die Wunde an Mias Oberarm. »Andernfalls gibt es eine hässliche Narbe. Wir können Sie auf dem Weg zurück in die Stadt ins Krankenhaus bringen.«

Mia atmete tief durch. Das Letzte, was sie momentan wollte, war, in irgendeiner Notaufnahme rumzusitzen. Schon der Gedanke daran ließ sie schaudern. »Es geht schon.«

Mit vorwurfsvollem Blick packte die Frau das Verbandmaterial zusammen.

»Ich würd hinfahren«, sagte Ric. »Da kriegst du auch was gegen die Schmerzen.«

Mia richtete den Blick wieder auf Ric. Sie hatte ihn seit Monaten nicht gesehen – zuletzt im Sommer, als sie gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten. Aber es dauerte nur Sekunden, bis ihr seine Gestalt wieder ganz vertraut war: die schlanke breitschultrige Figur, das dunkle, leicht strubbelige Haar, das etwas länger war, als sie es in Erinnerung hatte. Er trug seine abgewetzte Lederjacke und Jeans, was sie vermuten ließ, dass er heute Nacht dienstfrei gehabt hatte. War er im Bett gewesen, als der Anruf kam? Mit einer Frau?

Sie konnte kaum glauben, dass ihr in diesem Augenblick ein derartiger Gedanke in den Kopf kam, aber Ric Santos eilte ein gewisser Ruf voraus, und bei seinem Anblick konnte Mia nicht anders, als sich daran zu erinnern.

»Mir geht’s gut. Ist ja nur eine Fleischwunde.« Sie wandte sich an Macon. »War’s das, Detective?«

Macon sah Mia an, dann Ric und schließlich wieder Mia. »Ganz kurz noch. Wir bräuchten eine Aufstellung der Sachen, die mit Ihrem Wagen gestohlen wurden.«

»Welche Sachen?«

»Na, Kreditkarten, Schlüssel, Handy«, erläuterte Macon. »Alles, was er noch verwenden könnte.«

Mia starrte ihn mit großen Augen an. Ein skrupelloser Mörder hatte nicht nur ihren Wagen, sondern auch ihre Hausschlüssel! Er konnte einfach in ihr Haus spazieren, ihre Kreditkarten benutzen. Wieder wurde ihr übel. Ein Zittern erschütterte ihren ganzen Körper.

»Wenn die Handtasche im Wagen war, dann kennt er jetzt auch die Adresse.« Ric zog seine Jacke aus und hielt sie Mia hin.

Sie beäugte sie misstrauisch. War das ein Friedensangebot? Seine Art, sich dafür zu entschuldigen, dass er nett gewesen war, als er etwas von ihr gebraucht hatte, und danach einfach abgetaucht war? Ohne ihn anzublicken, nahm sie die Jacke, schlüpfte in die warmen Ärmel und wandte sich an Macon.

»Meine Hausschlüssel sind am Schlüsselbund«, stellte sie fest. »Außerdem fehlen meine Handtasche und mein Geldbeutel.«

»Gibt es jemand, zu dem du kannst?«, fragte Ric. »Eine Freundin oder einen Verwandten vielleicht, bei dem du nach dem Krankenhaus übernachten kannst?«

Nun sah ihn Mia doch an.

»Du solltest deinen Arm untersuchen lassen«, ergänzte er mit einem herausfordernden Blick aus seinen dunklen Augen, der Mia reizte.

Doch sie wusste nur zu gut, was es bedeutete, auf eine Herausforderung von Ric einzugehen, und dazu fehlte ihr heute die Kraft. »Ich ruf jemanden an.« Sie sah auf die Uhr. »Es ist aber schon ziemlich spät ...«

»Tu das«, unterbrach Ric. »Du kannst heute nicht zu Hause übernachten.«

Jonah saß in dem vollgestellten Supermarktbüro und versuchte anhand der verschwommenen, schlecht ausgeleuchteten Bilder der Überwachungskamera, Anhaltspunkte zur Identität des Mannes zu finden. Die gute Nachricht war, dass an der südöstlichen Ecke des Gebäudes eine Außenkamera angebracht war, die Bilder vom Parkplatz eingefangen hatte, als Mia zu dem Laden gefahren war. Die schlechte Nachricht war, dass der Angreifer von Westen in den Jeep eingestiegen war und sich damit – absichtlich oder aus Zufall, das wusste nur er – vor der Kamera verborgen gehalten hatte. Trotz der Videoaufzeichnung wussten sie momentan also nur, dass sie nach einem weißen Mann mittlerer Größe suchten, der einen gestohlenen Jeep fuhr.

»Ich sehe nur einen Schatten«, sagte Ric beim Zurückspulen des Films auf dem Computer, ehe sie sich ihn zum x-ten Mal ansehen konnten.

Jonah hatte keine Ahnung, was Ric damit bezwecken wollte, aber deswegen eine Diskussion anzuzetteln war sinnlos. Wenn Ric sich erst einmal in eine Sache verbissen hatte, glich er einem Pitbull, der nicht mehr losließ. Und heute hatte Ric schon die Witterung aufgenommen, als sie am Tatort angekommen waren.

Beziehungsweise seit sie am Tatort angekommen waren und er das Opfer im Notarztwagen erkannt hatte.

»Irgendwas stimmt da nicht«, knurrte Ric nun.

Jonah nahm einen weiteren Schluck von dem schalen Kaffee. Der Supermarktleiter hatte seit zwei Stunden beständig ihre Becher nachgefüllt, doch da er und Ric heute den ganzen Tag eine Observierung durchgeführt hatten, waren sie schon längst über den Punkt hinaus, an dem Koffein noch irgendeine Wirkung hatte.

Jonah schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben, und versuchte sich zu konzentrieren. Die Miene seines Partners verriet eine Gespanntheit, die jede Erschöpfung überwand.

»Du meinst, wegen der Kameraperspektive?«

»Wegen des Wagens. Ein zweitüriger Jeep.« Ric drückte erneut auf die Play-Taste und betrachtete das körnige Bild mit der Person, die sich dem Auto näherte und – für die Kamera nicht einsehbar –, nur wenige Minuten ehe Mia aus dem Laden kam, durch die Fahrertür hineinkletterte. »Schau dir den Parkplatz an. Da stehen ein großer Explorer, ein neuer Tahoe und sogar ein Lexus. Das sind alles Viertürer, und jeder von ihnen ist mehr wert als dieser kleine Jeep.«

»Vielleicht waren sie abgeschlossen?«, meinte Jonah.

»Nicht alle. Sieh dir das Video an. Verdammt, der Typ mit dem Lexus hat sogar die Schlüssel stecken lassen, als er zum Zigarettenholen reingerannt ist.«

Jonah rieb sich die Augen. »Vielleicht hat er sie gesehen, als sie gekommen ist, und sie hat ihm gefallen, und er hat sich deswegen für sie entschieden, obwohl er dazu auf den Rücksitz klettern musste.«

Ric funkelte ihn an. Das war eine Version, die ihm überhaupt nicht gefiel, und Jonah verstand auch, warum. Erstens hieß das, Mia war von ihrem Angreifer gezielt ausgewählt worden. Und zweitens hatte er nicht vorgehabt, sie draußen in der Old Mill Road einfach rauszuschmeißen und sich mit einem galanten Nicken von ihr zu verabschieden.

Der Mann hatte sich dem Jeep von der südöstlichen Parkplatzecke genähert. Das hieß, er konnte von der anderen Straßenseite aus jedem beliebigen Laden gekommen sein – der Reinigung, der Zoohandlung, der Bäckerei. Keiner von denen hatte eine Überwachungskamera. Und natürlich hätte er von überall sonst kommen können. Einfach ein Typ auf der Durchreise auf der Suche nach einem leichten Opfer.

Ric fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und lehnte sich zurück. Der Plastikstuhl ächzte. »Ich hasse diesen Fall, obwohl er noch nicht mal drei Stunden alt ist.«

Jonah teilte seine Gefühle. Jeder Fall, bei dem es um einen getöteten Polizisten ging – auch um einen pensionierten Polizisten – war ein gottverfluchtes Elend. Manche Beamten waren sogar abergläubisch und fürchteten sich fast davor, so als könnte sich das Pech des Opfers in irgendeiner Weise auf sie übertragen.

»Hey Leute, seid ihr denn noch immer da?« Jonah drehte sich langsam um, aber diese Frage erforderte nun wirklich kein schnelles Handeln. In der Tür stand Vince Moore. In der Hand hielt er einen vermutlich einen Tag alten Hotdog, und auf seinem Hemd hing etwas, das aussah wie heruntergetropftes Gurken-Relish.

»Wir haben was am Tatort gefunden«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Zwei leere Patronenhülsen. Eine im Straßengraben, die andere auf dem Seitenstreifen. Soll ich sie nach Austin schicken?«

»Das staatliche Labor ist überlastet«, entgegnete Ric. »Schick’s an das Delphi Center.«

Jonah warf seinem Partner einen Blick zu. Das Delphi Center war ein Privatlabor, was sich auch mit teuer übersetzen ließ. Aber in einem Fall wie diesem duldete Ric sicher keinen Aufschub – nicht wenn ein ehemaliger Polizeibeamter aus San Marcos in der Leichenhalle lag.

»He, arbeitet die Kleine nicht im Delphi Center?« Grinsend wandte sich Moore an Ric.

»Welche Kleine?«

»Na, die von heute Abend. Die mit den scharfen Kurven.« Mit der freien Hand vollführte er eine Bewegung.

»Sie ist DNA-Analytikerin«, knurrte Ric und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

»Was ist denn los mit dir? Hast du mit ihr etwa ein Ding am laufen?«

Ric sah ihn an.

»Ich hab gesehen, wie ihr euch unterhalten habt«, sagte Moore. »So wie sie dich angeguckt hat, dachte ich, dass ihr ...«

»Da ist nichts.« Ric tippte die Maus an und startete die Aufzeichnung ein weiteres Mal.

»Du hast ihr also deine Jacke geliehen, aber du hast nichts mit ihr. Macht’s dir was aus, wenn ich da mal bei ihr nachfrage?«

»Zisch ab.«

Ein Grinsen machte sich auf Moores Gesicht bereit, während er das Hotdog-Papier zusammenknüllte und auf den Mülleimer neben Jonahs Füßen zielte. Daneben.

»Na, dann bis später.«

Auch nachdem er weg war, starrte Ric weiter auf den Bildschirm, so als würde etwas ganz Neues darauf erscheinen.

»Du, der macht das glatt«, meinte Jonah.

Ric sah zu ihm hinüber. Dabei zuckte er ganz kurz mit der Wange. Dann starrte er zur offenen Tür hinaus. »Woher weiß der überhaupt, wo sie arbeitet?«

»Jeder aus unserem Dezernat weiß, wo sie arbeitet«, erwiderte Jonah. »Letztes Jahr hat sie doch dieses Seminar gehalten. Du weißt schon, über den genetischen Fingerabdruck.«

Jonah konnte sehen, wie es Ric dämmerte. Mit rotblondem Pferdeschwanz und gestärktem weißen Laborkittel war Dr. Voss auf die Bühne getreten – und bis zum Ende des Vortrags von allen anwesenden Männern im Saal mindestens zehn Mal mit den Augen verschlungen worden.

Ric rieb sich über den Nasenrücken. »Scheiße. Ich hab das Gefühl, dieser Fall wird wirklich eine harte Nuss.«

Jonah sah auf dem Bildschirm, wie Mia in den Wagen stieg und noch nicht wusste, dass sie bald einen Polizisten sterben sehen und gezwungen sein würde, um ihr Leben zu rennen.

»Ja«, seufzte Jonah. »Das Gefühl hab ich auch.«

Kopfschüttelnd ließ Ric den Wagen vor dem hell erleuchteten Bungalow ausrollen. Das hätte er sich auch denken können. Wenn sich Mia etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sich gutes Zureden eigentlich sparen – selbst wenn man ihr den besten Rat der Welt gab.

Auf dem betonierten Weg zum Haus überprüfte er noch einmal die Hausnummer. Sugarberry Lane Nr. 55. Die Adresse klang wie aus einem Roman, und genauso sah es auch aus. Im Vorgarten stand eine riesige, alles überwölbende Eiche. Ordentlich gestutzte Bodendecker säumten den Bürgersteig. Und das Haus selbst war ein Musterbeispiel der niedlichen Dreißiger-Jahre-Architektur, das Leute mit zu viel freier Zeit gerne selbst herrichteten. Es hatte eine weiße Holzverschalung, schwarze Fensterläden und eine breite vordere Veranda, auf der sich momentan gebrauchte Umzugskisten türmten.

Skeptisch beäugte Ric die Kartons und klingelte. Offenbar war sie eben erst eingezogen. Oder vielleicht schon vor Monaten. Er wusste es nicht, nachdem er sie seit dem Sommer nicht mehr gesehen hatte. Vor vier Monaten hatte er zuletzt dem Drang nachgegeben und sie angerufen. Nicht dass er sie vermisst hätte, er hatte kaum die Zeit dazu gehabt. Außer ein paarmal spätnachts, als er von der Arbeit in seine leere Wohnung gefahren war.

Er hörte Schritte, dann ging das Licht hinter dem Spion aus, und sie sah ihn an. Das Schloss bewegte sich, und die Tür ging auf.

»Es ist Viertel nach drei«, sagte sie mit einer Hand in die Hüfte gestemmt.

Sie hatte dieses rosa Seidenteilchen aus- und eine Flanellschlafanzughose und ein eng anliegendes T-Shirt angezogen. Er musste sich zwingen, ihr in die Augen zu sehen.

»Wollte nur mal vorbeifahren. Dein Haus leuchtet übrigens wie ein Fußballstadion.«

Sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen, und er streifte auf der Fußmatte seine Schuhe ab und kam herein. Sie schien geradewegs aus der Dusche zu kommen und hatte ihren Ellbogen mit einem sauberen weißen Verband versorgt.

»Riecht’s da nach Kaffee?«

Sie schob sich eine feuchte Locke hinters Ohr. »Kommt drauf an. Ist das ein offizieller Besuch, oder kommst du als Freund?«

Freund. Aus dieser Perspektive hatte er sie eigentlich noch nie betrachtet. »Von beidem etwas, schätze ich. Wie bist du vom Krankenhaus nach Hause gekommen?«

»Sophie hat mich abgeholt.«

»Und wer ist Sophie?«

»Du kennst sie.« Sie strich an ihm vorbei und ging mit auf den Boden patschenden Füßen durch den Gang. »Sie arbeitet im Delphi Center. Du hast sie schon hundertmal gesehen.«

»Die vom Empfang«, sagte er. »Die mit der tollen ...«

»Exakt.« Über die Schulter warf sie ihm einen wütenden Blick zu.

»Stimme, wollte ich sagen.« Er folgte ihr in die mit Kartons vollgestellte Küche. »Ich hab gehört, sie arbeitet nebenbei als Sängerin in einem Nachtclub in Austin.«

Als Mia sich nach vorn beugte, um ihm eine Kaffeetasse aus dem Regal zu holen, verrutschte ihr T-Shirt ein wenig und gab einen Streifen samtiger Haut frei.

»Zucker?«

»Danke, schwarz.«

Sie goss ihm eine Tasse ein, während er mit verschränkten Armen an der Küchentheke lehnte. »Ich dachte, du wolltest bei jemandem bleiben, bis dein Schloss ausgetauscht wird.«

Mia reichte ihm den Kaffee und goss dann noch etwas in ihre Tasse, die auf einem Klapptischchen neben dem Fenster stand. Sie spielte auf Zeit.

»Ich hab einen 24-Stunden-Schlüsseldienst angerufen.«

»War bestimmt nicht billig.«

Sie zuckte die Achseln. »Sophie hat einen Freund zu Besuch. Da wollte ich nicht stören.«

Er musterte sie aufmerksam. Sie hatte also keinen Freund. Womöglich nicht einmal einen netten Exfreund, der ihr seine Couch anbot. Ric hätte sie auch zu sich eingeladen, zweifelte aber ein wenig an seinen Fähigkeiten, aus ihrem geschwächten Zustand keinen Vorteil zu ziehen.

Wobei sie eigentlich keinen geschwächten Eindruck machte. Er musterte sie über den Rand der Kaffeetasse. Sie sah hellwach aus, voller Energie und schien ganz in ihrer Küchenarbeit aufzugehen, die irgendwas mit ungefähr einhundert Gewürzdöschen zu tun hatte. Die Ablehnung, die er zuvor gespürt hatte, schien verschwunden, aber seine lange Erfahrung mit Frauen sagte ihm, dass sie nicht wirklich weg war, sondern nur etwas tiefer unter der Oberfläche lauerte.

»Sortierst du die Gewürze alphabetisch?«, fragte er.

»Ja und?«

»Es ist immerhin nach drei Uhr nachts.«

Ein Anflug von Traurigkeit huschte über ihr Gesicht, und sie senkte den Blick. »Ich konnte nicht schlafen.«

Das Gefühl kannte Ric. Manchmal kam er völlig zerschlagen von einem Tatort nach Hause und konnte einfach nicht abschalten. Bei manchen Verbrechen war das so.

Bei Verbrechen, deren Opfer er kannte, war das immer so.

»Ist es dein Fall?«, erkundigte sie sich, und das Mitgefühl in ihren blauen Augen beunruhigte ihn.

»Ja.«

»Musstest du es seiner Frau sagen?«

»Seine Frau ist tot.«

Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch. »Tot?«

»Ist ungefähr vor einem Jahr gestorben. An Krebs, glaub ich.«

Mia biss sich auf die Lippe und drehte sich zum Waschbecken. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er, wie sie den Wasserhahn aufdrehte und das Wasser anstarrte. »Was ist los?«

»Nichts, es ist nur ...« Plötzlich musste sie sich ganz dringend die Hände waschen. »Ich dachte, er wollte für sie Eis kaufen. Aber stattdessen ist er zurück in ein leeres Haus gefahren. Ach, wie einsam.«

Ein eigenartiger Kommentar von einer Frau, die allein lebte. Sie nahm ein Geschirrtuch von der Küchenzeile und fuhr sich damit über die Augen. »Entschuldige.«

»Ist schon okay.« Wie sie so dastand, wusste Ric, dass er mit seinen Fragen bis morgen warten sollte. Sie war augenscheinlich nicht in der Verfassung dafür. Andererseits tat es Mordermittlungen nicht gut, wenn sie liegen blieben. Er brauchte die Antworten so bald wie möglich. Er stellte den Kaffeebecher auf den Küchentisch und zog einen Stuhl hervor. »Setz dich, bitte.«

»Aha.« Sie holte tief Luft und nahm Platz. Es kam ihm so vor, als wäre sie fast froh über die Ablenkung. »Jetzt kommt also die Fragestunde. Willst du das nicht aufnehmen?«

»Ich hab ein ziemlich gutes Gedächtnis.«

Er nahm einen Holzstuhl und stellte ihn ihr gegenüber, dann nahm er ebenfalls Platz. So nah, dass sich ihre Knie beinahe berührten. Er deutete mit dem Finger auf ihren Oberschenkel, wo sich auf dem Flanellstoff ein kleiner Blutfleck abzeichnete. »Was ist denn das?«

»Ach, nichts. Bei der Flucht bin ich irgendwie an einem Stacheldraht hängen geblieben.«

»Wann hast du dich das letzte Mal gegen Tetanus impfen lassen?«

Sie sah ihn mitleidig an. »Ich arbeite in einem forensischen Labor. Ich bin gegen alles geimpft.«

Ric lehnte sich zurück, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

»Also, was wolltest du fragen? Ich bin nämlich ziemlich durcheinander, und diese Gewürze da sind gerade meine kleinen Therapeuten.«

»Hat dich der Täter eigentlich nach deiner Geheimzahl gefragt?«

Mia sah ihn einen Moment lang schweigend an. Ric konnte die Rädchen in ihrem Kopf beinahe rattern hören. »Nein.«

»Glaubst du, dass er die Zahlen sehen konnte, als du deine PIN eingegeben hast?«

»Keine Ahnung. Aber ich hab ziemlich schnell getippt. Warum?«

»Es ist ungewöhnlich, nichts weiter. Man könnte annehmen, dass er sie wissen wollte.«

»Ich hab nicht allzu viel auf dem Konto.« Sie räusperte sich. »Meine Bank lässt mich maximal dreihundert abheben, also hat er vielleicht gedacht, dass ich pleite bin.«

»Und, bist du’s?«

Sie lachte. »Das ist doch etwas persönlich.«

»Nur zur Hintergrundinfo.«

»Ja und nein.« Sie ließ die Augen im Raum umherschweifen. »Ich hab grad mein ganzes Erspartes für das Haus hier ausgegeben, also hab ich Vermögen, aber kein Geld. Meine Oma hätte gesagt, ich bin ein armes reiches Mädchen.«

»Es ist aber toll. Wann bist du eingezogen?«

»Vor ungefähr zwei Monaten. Ich bin noch am Einrichten.«

Nun sah Ric die Küche mit anderen Augen. Sie hatte bereits ein paar persönliche Zeichen gesetzt – etwa der Kalender einer Umweltschutzorganisation an der Wand neben dem Kühlschrank und der Flatscreen-Fernseher im Speisezimmer, in dem die momentan tonlosen CNN-Nachrichten liefen. Die Blümchentapete und die Spitzenvorhänge waren aber bestimmt nicht von Mia.

Er erinnerte sich an einen der Gründe, warum er sie nicht mehr angerufen hatte. Sie war eindeutig in der Nestbauphase, und von solchen Frauen hielt sich Ric fern.

Ihre Blicke trafen sich. »Seit vier Stunden wird deine Kreditkarte überwacht. Bislang hat sich aber nichts getan. Nach solchen Überfällen versuchen die Täter ihr Glück oft an jedem erreichbaren Geldautomaten.«

»Wenn er die PIN-Nummer kennt«, entgegnete Mia. »Und man davon ausgeht, dass er dämlich ist.«

»Nicht unbedingt dämlich, aber verzweifelt. Außerdem ist deine Bankkarte zugleich Kreditkarte. Deswegen könnte er versuchen, was zu kaufen. Benzin, Bier, was weiß ich. Bisher ebenfalls Fehlanzeige.«

»Ich kann vermutlich froh sein, dass er nur an meine Kohle wollte.«

Aufmerksam registrierte Ric ihre Körperhaltung. Sie wirkte angespannt und hielt die Arme vor dem Bauch verschränkt, so als machte sie das Gespräch mit ihm nervös.

Oder vielleicht lag es daran, dass sie im Schlafanzug vor ihm saß. Wieder trafen sich ihre Blicke. Eine Art Spannung entstand zwischen ihnen, und er wusste, dass er richtiglag. Jedes Mal, wenn er in ihre Nähe kam, spürte er dieses Kribbeln. Er konnte sie nicht ansehen, ohne sich zu fragen, wie sie im Bett war.

»Glaubst du, dass er nicht mehr wollte?«, fragte er in geschäftsmäßigem Ton. »Nur die dreihundert Dollar?«

Auf ihrer Stirn zeichnete sich eine Falte ab. »Du etwa nicht?«

Er hörte an ihrer Stimme, dass sie es ebenfalls nicht glaubte. Nun musste er nur erfahren, warum. Woraus hatte sie diesen Schluss gezogen? Was hatte ihr verraten, dass die ganze Sache mehr war als ein Raubüberfall? Er musste etwas übersehen haben.

Sie schluckte und senkte den Blick. Eine Locke fiel ihr ins Gesicht. »Ich glaube es auch nicht. Na ja, es klingt zwar komisch, aber ich weiß nicht, ob’s ihm ums Geld ging. Es schien fast, als wär ihm das egal. Fünftausend oder dreihundert, das machte für ihn eigentlich keinen Unterschied.« Sie rubbelte über den Blutfleck auf der Flanellhose. »Und wenn er nichts anders wollte, warum hat er mich dann nicht einfach in der Stadt rausgeschmissen und meinen Jeep genommen? Warum ließ er mich den weiten Weg zur Old Mill Road rausfahren?« Ihr Blick suchte seinen, die dunklen und nun ganz ernsten Augen sahen ihn an. »Ich glaube, ihm ging’s nicht wirklich ums Geld. Er wollte mich umbringen.«

Die Worte schienen im Raum zu stehen, während Ric sie ansah. Er trug die Verantwortung für zwei Opfer: einen ermordeten Polizisten und eine junge Frau, die nur um Haaresbreite dem Tod entgangen war. Höchste Zeit, das Persönliche beiseitezuschieben und sich mit ganzer Kraft dem Fall zu widmen und ihn möglichst schnell zu lösen. Am besten, ehe Frank Hannigan unter der Erde war.

Er erhob sich. »Vielen Dank. Wir bleiben in Verbindung.«

Erstaunt über die brüsken Worte blitzte sie ihn an. »Das war’s schon?«

»Einstweilen ja. Wenn wir deinen Jeep finden, melden wir uns natürlich.«

Auch sie erhob sich, und Ric konnte beinahe spüren, wie sie sich verschloss. »Gut. Ich hol nur schnell deine Jacke.«

Sie ging an ihm vorbei in den Gang. Er folgte ihr, bis sie in den Schlafzimmerbereich abbog, und wartete in der Nähe der Eingangstür. Die Alarmanlage sah neu aus. Mia hatte nicht einmal die Zeit gefunden, die Montagespuren an der Wand zu beseitigen und nachzustreichen.

Sie kehrte mit der Jacke in der Hand zurück. »Hier, bitte. Leider hab ich vielleicht das Futter blutig gemacht. Beim Reinschlüpfen waren meine Hände voll Blut.«

Müde und erschöpft stand sie vor ihm. Und ein bisschen traurig. Ric nahm ihr die Jacke ab und war sich bewusst, dass er ihr heute Abend auch mehr hätte bieten können – zumindest etwas Trost –, stattdessen hatte er sie enttäuscht.

Gewöhn dich dran, Mädchen.

Ganz als hätte sie ihn verstanden, richtete sie sich auf, öffnete die Tür und trat zur Seite.

»Schalte die Alarmanlage ein.« Er schritt hinaus in die kalte Nachtluft und blickte erst nach links und rechts die Straße entlang, ehe er sich noch einmal zu ihr umdrehte. »Und versuch ein bisschen zu schlafen.«

3. Kapitel

Mia achtete nicht auf die am Himmel kreisenden Truthahngeier, als Sophie auf den Parkplatz des Delphi Center fuhr und eine Lücke in der Nähe des Eingangs ansteuerte. Sie waren früh dran, und früh bedeutete freie Parkplatzwahl. Und es bedeutete, dass Mia einen voraussichtlich harten Arbeitstag nach nur zwei Stunden Schlaf begann.

»Sieht aus, als hätten wir einen Neuzugang«, meinte Sophie auf dem Weg über den Parkplatz.

Mia verweigerte weiterhin den Blick nach oben. Sie wollte weder an die über ihnen kreisenden Aasfresser denken noch daran, dass ihr Arbeitsplatz inmitten eines Areals lag, in dem die Verwesung menschlicher Leichen erforscht wurde – einer Body Farm, wie sie es nannten.

»Willst du heute wirklich arbeiten?« Sophie bedachte sie mit einem besorgten Blick, als sie die weißen Marmorstufen zum Eingang und zu Sophies Empfangstresen hinaufstiegen.

»Mir ist alles lieber, als zu Hause zu bleiben, da würde ich wahrscheinlich durchdrehen.« Während sie zwischen zwei griechischen Säulen durchgingen, knöpfte Mia ihren Wollmantel auf.

»Na, wie du meinst. Ich an deiner Stelle würde mich aber krankmelden oder Urlaub beantragen, mir vielleicht ein paar Filme anschauen und zur Pediküre gehen.«

Verwundert sah Mia sie an.

»Ich sag doch nur, dass du gestresst bist. Und da sollte man die heilende Wirkung einer guten Fußpflege nicht unterschätzen.«

»Danke, aber ich bin wirklich lieber hier«, meinte Mia.

Sophie zog ihren Werksausweis aus der Tasche und öffnete die Eingangstür. Beim Eintreten begrüßte sie Ralph, der Wachmann, mit einem Nicken.

Mia nahm den Schal ab und blieb einen Moment stehen. Sie war gerne so früh in der Eingangshalle. Dann strahlte die Morgensonne durch die Glasfront und warf lange Schatten auf den hellen Marmorboden. Alles war ruhig und still, kaum ein Mensch war da. Und die wenigen Anwesenden sprachen mit gedämpften Stimmen, so als wären sie in einer Kirche. Viele empfanden ihre Arbeitsstelle auch als eine Art geweihten Ort, als Heiligen Gral von Wissenschaft und Technik, dessen höchstes Ziel nicht Erlösung, sondern Gerechtigkeit war. Oder Erlösung durch Gerechtigkeit, wenn man so wollte. Mia jedenfalls sah es so, und sie wusste, dass einige Kolleginnen und Kollegen dasselbe empfanden. Ob alle, wusste sie allerdings nicht. Manche sahen es wohl auch nur als Job.

Mia verschob den eigentlich lebenswichtigen Besuch in der Cafeteria und ging zunächst in die Personalabteilung, um mit dem Personalleiter zu sprechen. Dann besorgte sie sich eine Extradosis Koffein und fuhr mit dem Aufzug in den fünften Stock. Das Delphi Center war ein Elfenbeinturm, und die DNA-Analytiker und forensischen Molekularbiologen arbeiteten ganz oben.

Mia schritt langsam den verglasten Gang entlang, der auf beiden Seiten fantastische Ausblicke bot – auf der einen lag die geschwungene texanische Hügellandschaft, auf der anderen die besten Genlabore der Welt. Der kurze Weg beruhigte sie, ließ sie neue Zuversicht schöpfen. Sie würde das alles schon durchstehen. Hier war sie am richtigen Ort. Das Delphi Center hatte sie ausgesucht, und sie hatte sich das Delphi Center ausgesucht.

In ihrem Arbeitszimmer schlüpfte sie in den Laborkittel und fühlte sich augenblicklich besser. Sie schaltete den Laptop auf dem Schreibtisch ein und sah die Notizen durch, die sie sich gestern Nachmittag gemacht hatte, ehe sie ihr Boss zu sich zitiert hatte. Wegen einer sehr dringenden Angelegenheit.

Aktenzeichen 56 – 6229 – 12 – 16. Eingebender Beamter Detective Jim Kubcek vom Polizeipräsidium Houston. Seit die Polizei in Houston ihr Genlabor wegen grob fahrlässigem Umgang mit Beweismitteln schließen musste, erhielt das Delphi Center ständig Beweismaterial aus der größten texanischen Stadt. Der von einem Fernsehreporter aufgedeckte Skandal hatte sich über Tausende Fälle erstreckt und unter anderem dazu geführt, dass ein Mann, der wegen einer Vergewaltigung im Gefängnis saß, die er gar nicht begangen hatte, wieder freigelassen wurde. Nach Mias Meinung war die Affäre nicht nur für den fälschlich inhaftierten Mann und das Vergewaltigungsopfer tragisch, sondern schadete auch dem gesamten Justizsystem in Houston. Wenn eine Stadt erst einmal das Vertrauen in Polizei und Justiz verloren hatte, konnte es Jahrzehnte dauern, bis es wiederhergestellt war.

Mia konzentrierte sich ganz auf die vorliegende Aufgabe. Aktenzeichen 56 – 6229 – 12 – 16 war ein Sexualmord, bei dem das Opfer erdrosselt worden war. Die Sache war ihr schon in den frühen Morgenstunden durch den Kopf gegangen, als sie voll innerer Unruhe alle möglichen Szenarien durchgespielt hatte.

Sie griff zum Telefon und wählte Kubceks Nummer.

»Ich habe die Fingernagelproben untersucht«, eröffnete sie das Gespräch ohne Umschweife. Kubcek quasselte ihr schon seit drei Wochen jeden Tag die Mailbox voll. Was kein Wunder war, da ihm bei einem neunzehnjährigen Opfer Öffentlichkeit und Staatsanwaltschaft im Nacken saßen.

»Irgendwas Neues?«

In der Frage schwang Hoffnung mit, der dringende Wunsch, sie habe angerufen, um ihm eine zumindest in Ansätzen gute Nachricht zu überbringen.

»Leider nein. Alle Hautzellen, die wir finden konnten, stammen vom Opfer.«

Schweigen. Er wollte ihr nicht glauben. Der Mörder hatte ein Kondom benutzt, und Kubcek hatte alles auf die Fingernägel gesetzt.

»Wie steht’s mit den Blutspuren?«

»Sind ebenfalls von ihr.« Mia blätterte in ihren handgeschriebenen Notizen, einschließlich jenen, die sie während des Telefonats mit den Leuten von der Beweismittelabteilung ein paar Etagen unter ihr angefertigt hatte. »Allerdings haben Sie mir das Elektrokabel nicht geschickt, mit dem das Opfer erdrosselt wurde. Das würde ich mir auch gern ansehen.«

Kubcek seufzte. »Hm, das dürfte nichts bringen.« Erneutes Schweigen. Weder er noch sie wollten auf seine Worte eingehen. »Laut Überwachungskamera im Haus des Opfers trug der Täter beim Betreten und Verlassen der Wohnung Handschuhe. Wir haben das ganze Kabel nach Fingerabdrücken untersucht, weil er, während er bei ihr war, vielleicht mal auf die Toilette gegangen sein könnte und die Handschuhe ausgezogen hat. Fehlanzeige.«

»Ich würd’s mir trotzdem gern mal ansehen«, erwiderte Mia. »Kann ich es morgen haben?«

»Eigentlich haben Sie’s schon.«

»Ich?«

»Einer von euren Leuten. Ich hab’s eurem Spezialisten für solche Sachen geschickt. Clover oder so ähnlich.«

»Don Clovis?«

»Genau der. Clovis heißt er. Die Mutter des Opfers hat ihr beim Umzug in die Wohnung geholfen, und die kannte das Kabel nicht. Es könnte sein, dass der Täter es mitgebracht hat, vielleicht unterm Mantel. Clovis sollte für uns untersuchen, ob irgendwas auffällig ist.«

Wie die meisten Fachleute am Delphi Center hatte Clovis Zugriff auf eine erstaunliche Anzahl an Datenbanken – ein Meer an Informationen zu allen möglichen Kabeln, Seilen, Kunstfasern, Klebebändern, Autolacken. Damit konnten die Fahnder des Delphi Center die Herkunft von allen erdenklichen Beweismaterialien ermitteln.

»Haben Sie was dagegen, wenn ich ihn anrufe und bitte, dass er’s mir gibt?«

»Hey, ich ruf sogar für Sie bei ihm an«, sagte Kubcek. »Aber glauben Sie wirklich, dass das was bringt?«

Mia spürte, dass jemand hinter ihr stand, und drehte sich um. In der Tür stand ihr Boss.

»Hm, das weiß ich erst, wenn ich’s gesehen habe. Sagen Sie Clovis, er soll’s mir raufschicken, sobald er fertig ist.«

Harvey Snyder war Leiter der gentechnischen Abteilung des Delphi Center. Glücklicherweise überließ er die wirkliche Arbeit seinen Untergebenen, weswegen Mia kaum etwas mit ihm zu tun hatte. Weniger glücklich war, dass er einen sehr elegant verfassten Lebenslauf und ausgezeichnete Verbindungen hatte, und das hieß, er würde seinen weich gepolsterten Chefsessel nicht so bald verlassen.

»Ich nehme an, Sie waren schon in der Personalabteilung und haben sich um einen neuen Werksausweis bemüht.« Das war mehr Feststellung denn Frage, und Mia spürte, wie ihr die Galle hochkam.

Snyder trat in ihr Arbeitszimmer und sah sich um. Er war einer jener kleinen schmalen Männer, die ihre geringe Körpergröße durch forsches Auftreten und Autoritätsgebärden wettmachen wollten. Gestern an seinem Schreibtisch war er Mia wie ein Wiesel vorgekommen. Doch so wie er sich heute vor ihr aufbaute, erinnerte er sie eher an ein Erdmännchen.

»Auf dem Weg nach oben war ich dort«, entgegnete Mia freundlich. »Es hieß, der neue ist heute Abend fertig.«

Unverwandt sah sie ihm in die Augen. Wenn er gekommen war, um sie erneut anzuschnauzen, weil sie ihren Ausweis verlegt hatte, würde die Sache anders ausgehen. Nach dem, was letzte Nacht passiert war, brachte sie ein Anschiss ihres Bosses heute bestimmt nicht an den Rand der Tränen.

»Wie ich höre, hatten Sie gestern einen ereignisreichen Abend.« Nun klang er selbstgefällig.

Mia seufzte innerlich. Sie hatte nicht gewollt, dass in der Arbeit über letzte Nacht gesprochen wurde, aber das ließ sich natürlich nicht vermeiden. Ihr Name hatte zwar nicht in der Zeitung gestanden – ein Wunder, an dem Ric Santos vermutlich nicht ganz unbeteiligt gewesen war –, aber das Polizeiwesen und alles, was damit zu tun hatte, war eine eng vernetzte Gemeinschaft, in der sich Klatsch und Tratsch in Windeseile verbreiteten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Arbeitskollegen die Identität der ungenannten »Mitarbeiterin des Delphi Center« kannten, die Zeuge des gestrigen Mordes gewesen war.

»Ist es wirklich in Ordnung, wenn Sie heute hier sind?«, fragte Snyder. »Sie können sich gerne einen Tag freinehmen, wenn Sie sich nicht hundert Prozent auf dem Damm fühlen. Ich möchte nicht, dass Ihre Arbeit darunter leidet.«

Soso. Insgeheim wünschst du dir doch, dass meine Arbeit leidet, denn dann hättest du einen Vorwand, mich loszuwerden. Doch so wie die Dinge standen, gab es nichts an Mias Leistung auszusetzen, und nur deswegen hatte er ihren einzigen kleinen Fehler in zwei Jahren beim Delphi Center dermaßen aufgeblasen: Sie hatte ihren Werksausweis diese Woche im Fitnessstudio verloren. Deswegen hatte Snyder ihre »unbotmäßige Nachlässigkeit in Sicherheitsfragen« zum Anlass genommen, auf ihr rumzuhacken.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Hundertprozentig.« In der Hoffnung, er würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen, nahm sie ihre Laborbrille und setzte sie auf.

Doch er stützte beide Hände auf ihren Schreibtisch. »Sie bekommen übrigens gleich ein Päckchen von der Beweismittelabteilung. Eigentlich sogar drei Päckchen, alle vom Präsidium San Marcos.«

»Okay.«

»Es geht um einen Mord. Die Bezirksstaatsanwältin hat mich am Mittwoch angerufen und ausdrücklich darum gebeten, Sie mit der Sache zu betrauen. Ich hab ihr gesagt, wie viel Sie derzeit zu tun haben« – so als wäre Mias langsames Arbeiten der Grund für die Verzögerungen der Gentests im ganzen Land –, »aber sie hat darauf bestanden. Vielleicht weibliche Solidarität.«

Mia biss sich auf die Lippe. Am Mittwoch. Also hockte er seit zwei Tagen auf dieser Information, wahrscheinlich nur um der Bezirksstaatsanwältin zu zeigen, dass er sich nicht herumkommandieren ließ. Serviceorientierung? Zum Teufel damit. Und zum Teufel auch mit den Ermittlern, die auf die Ergebnisse warteten und die Familie des Opfers vertrösten mussten.

»Ich mach mich sofort daran«, sagte Mia und hoffte erneut, dass er den Hinweis begriff.

»Gut.« Er nickte kurz. »Tun Sie das.«

Ric fand sie in der Besenkammer, die sie Arbeitszimmer nannte: ein fensterloser Raum gleich neben dem riesigen Genlabor des Delphi Center. Mia behauptete, gern hier zu arbeiten, weil es dunkel war und sie oft verschiedene Lichtquellen benutzte. Ric hegte jedoch auch den Verdacht, dass sie einen Hang zum Einsiedlerischen hatte.

Das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, eine Laborbrille auf der Nase und Gummihandschuhe an den Händen, stand sie an ihrem Arbeitstisch. Ein heller Deckenstrahler war auf die Arbeitsfläche gerichtet, wo sie mit einem Elektrokabel hantierte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das Kabel, während sie es hin und her bog.

»Übst du Knoten für die Segelprüfung?«

Sie fuhr zusammen und legte sich eine Hand auf die linke Brust. »Mein Gott, erschreck mich doch nicht so!«

»Entschuldigung.« Eigentlich hätte er sich denken können, dass sie heute etwas schreckhaft war. »Ich bring dir nur den Nachmittagskaffee.«

Sie beäugte ihn skeptisch. »Wer hat dich überhaupt raufgelassen?«

»Sophie.« Er stellte den Kaffeebecher auf ihren Schreibtisch. »Ich hab gesagt, dass ich bei dir vorbeischauen wollte, und sie hat mir einen Besucherausweis gegeben.«

Mia warf einen Blick auf den geclippten VIP-Ausweis an Rics Hemd. Er sah beinahe manierlich aus und wirkte halbwegs ausgeschlafen. Sie dagegen musste den Eindruck erwecken, als hätte sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen.

»Du siehst müde aus.«

»Danke sehr.«

»Was ist das denn?« Er nickte in Richtung Tisch.

»Mit dem Kabel wurde jemand erdrosselt. Der Mörder trug Handschuhe, aber ...« Sie biss sich auf die Lippe und drehte das Kabel noch ein Stück weiter. »Hm, ich denk mir das so: Falls das Opfer Widerstand geleistet hat, was wahrscheinlich ist, weil ihr ein Fingernagel abgebrochen ist, dann musste er sie irgendwie festhalten.« Mia beschrieb die Szene mit ihrer freien Hand. »Und das heißt, dass er beim Zuziehen der Schlinge vermutlich ...« Sie verstummte, als sie ein Kabelende anhob und so tat, als klemmte sie es sich zwischen die Zähne. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. »Ah, da ist es. Wusst ich’s doch!«

»Was?« Er kam näher, sah aber nur ein braunes Elektrokabel. Konnte sie etwa Speichel darauf entdecken?

»Bissspuren. Siehst du?« Sie hielt ihm das Kabel vor die Nase – und nun sah er sie: kleine Abdrücke im Plastik, ein paar Zentimeter auseinander.

»Und daraus kriegst du dein Genmaterial?«

»Ich kann’s jedenfalls versuchen.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie mit sich zufrieden war, es sich aber nicht allzu sehr anmerken lassen wollte. »Ich werde gleich damit anfangen. Das heißt, wenn du mir gesagt hast, was du wirklich willst.«

Ihr Lächeln verschwand, und er fragte sich, welche Nachrichten sie sich von ihm erhoffte. Dass man ihren Jeep gefunden hatte. Dass man den Angreifer gefunden hatte. In nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte Ric schon jemanden geschnappt. Das alles wollte er ihr sagen.

»Leider nichts Neues in deinem Fall«, sagte er stattdessen. Sie drehte sich um und steckte das Kabel in einen Beweisbeutel aus Papier.

Er griff nach der Arbeitsleuchte und stellte sie so ein, dass sie auf ihr Gesicht schien. Dann legte er eine Hand unter ihr Kinn und hob es leicht an. Auf ihrer rechten Wange war ein leichter blauer Fleck. »Was ist denn das da?«

Sie sah ihm nicht in die Augen. »Da hat er die Pistole hingedrückt.«

Die Pistole hingedrückt. Verdammt, wie konnte er das nur übersehen? Er hatte sie seit dem Überfall schon zweimal getroffen, und trotzdem war es ihm nicht aufgefallen.

»Wie geht’s deinem Arm?«

»Tut weh«, erwiderte sie. »Ich hab mittags ein Ibuprofen genommen.«

Er ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück. Um sie nicht noch einmal zu berühren, stopfte er beide Hände in die Hosentaschen.

»Also, wenn es nichts Neues gibt, warum bist du dann hier?«

Bildete er sich das nur ein, oder schwang da noch etwas anderes mit? Er war seit vergangenem Sommer nicht mehr bei ihr gewesen. Offenbar hatte sie sich das gemerkt.

»Ich bin hier, um – Zitat – euch etwas Dampf zu machen«, sagte er. »Rachel schickt mich.«

Rachel war die Bezirksstaatsanwältin von Hays County und leitete die Untersuchungen von Rics Mordfall. Eigentlich zwei Fälle. Der erste war von Anfang an seiner gewesen. Den zweiten hatte er übernommen.

»Ich hab das erst heute Morgen erfahren.« Sie zog die Handschuhe aus, nahm die Laborbrille ab und warf beides in einen speziellen Müllbehälter für zur Vernichtung bestimmte Materialien. »Dein Fall ist der nächste auf meiner Liste.«

Sie führte ihn durch eine Glastür, deren Scheibe eine sandgestrahlte Doppelhelix zierte. Das große Genlabor des Delphi Center war zweistöckig und hatte die Fläche eines halben Fußballfeldes.

»Ich hab das Beweismaterial eben erst bekommen«, bemerkte sie über die Schulter.

Er folgte ihr an mehreren Industrieabzugshauben vorbei zu einem begehbaren Kühlschrank, wo die Beweisbeutel säuberlich in einem Regal lagen. An der gegenüberliegenden Wand war eine ganze Regalreihe voller Beweismittel, die von Vergewaltigungen stammten – Tausende davon, die alle noch zu bearbeiten waren. Sie steckten in Schachteln von der Größe einer Videokassette, und um sie alle abzuarbeiten, bedurfte es ganzer Heerscharen von Mias, die damit jahrelang rund um die Uhr beschäftigt wären. Mia selbst schien sich davon aber nicht entmutigen zu lassen. Jedenfalls ließ sie es sich nicht anmerken.

Sie las die Etiketten auf mehreren Schachteln und nannte dann eine Nummer.

»Da ist es ja«, sagte sie. »Wir glauben, dass ein Zusammenhang mit einer anderen tödlichen Vergewaltigung, die letzte Woche reinkam, besteht.«

Sie nahm drei Beutel und trug sie zu einem leeren Tisch. Ric betrachtete das makellose Labor. An den Wänden standen Glasschränke voller Becher, Reagenzgläser und weiterer, ihm unbekannter Gerätschaften. Auf der anderen Seite des Raums arbeiteten mehrere Männer in weißen Laborkitteln vor Mikroskopen, die vermutlich mehr kosteten als Rics Jahresgehalt. Das Delphi Center finanzierte sich durch seine saftigen Gebühren und durch private Gönner. Daher konnte es sich auch das Beste an technischer Ausstattung und Personal leisten. Es hieß, Delphi war genauso gut wie das FBI-Zentrum in Quantico. Mia behauptete sogar, es sei besser.