Wer den Tod ruft - Laura Griffin - E-Book

Wer den Tod ruft E-Book

Laura Griffin

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Beschreibung

Wenn aus der Jägerin die Gejagte wird ...

Die FBI-Profilerin Elaina McCord ermittelt in ihrem ersten Fall: In einem idyllischen Badeort in Texas werden mehrere Leichen blutjunger Frauen gefunden. Ein Killer setzt sie erst unter Drogen und richtet sie dann auf brutalste Weise hin. Elaina entwirft ein präzises Täterprofil, welches auf einen seit Jahren aktiven Serienmörder passt - aber die örtliche Polizei ignoriert ihre Theorie. Lediglich der attraktive Krimiautor Troy Stockton glaubt der jungen Profilerin und verspricht ihr Unterstützung. Obwohl ihm sein Ruf als Frauenheld vorauseilt, fühlt Elaina sich zu Troy hingezogen und die beiden kommen sich gefährlich nahe. Aber kann sie ihm wirklich vertrauen?

"Ein spannender Thriller mit einem sexy Helden und einer sympathischen Protagonistin." RT Book Reviews

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Wenn aus der Jägerin die Gejagte wird ...

Die FBI-Profilerin Elaina McCord ermittelt in ihrem ersten Fall: In einem idyllischen Badeort in Texas werden mehrere Leichen blutjunger Frauen gefunden. Ein Killer setzt sie erst unter Drogen und richtet sie dann auf brutalste Weise hin. Elaina entwirft ein präzises Täterprofil, welches auf einen seit Jahren aktiven Serienmörder passt – aber die örtliche Polizei ignoriert ihre Theorie. Lediglich der attraktive Krimiautor Troy Stockton glaubt der jungen Profilerin und verspricht ihr Unterstützung. Obwohl ihm sein Ruf als Frauenheld vorauseilt, fühlt Elaina sich zu Troy hingezogen und die beiden kommen sich gefährlich nahe. Aber kann sie ihm wirklich vertrauen?

Laura Griffin

Wer den Tod ruft

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Prolog

Laguna-Madre-Nationalpark26° 13.767 Nord, 097° 19.935 West13.05 Uhr Central Standard Time

Jamie Ingram hatte genau siebenundzwanzig Minuten.

Schwierig, aber machbar. Vorausgesetzt, es kam nichts dazwischen. Sie packte Fernglas, Batterien, Insektenspray und eine Extraflasche Wasser zusammen, warf die Schlüssel in den Rucksack und zog ihn zu.

»Das Ding ist kaputt, Alter.«

Jamie sah durch die Windschutzscheibe. Da stand er, der König der Zauderer, und starrte wie ein Ölgötze auf den Kompass.

Sie stieg aus ihrem Jeep und knallte die Tür zu. »Nicht über die Motorhaube halten. Das ist nicht gut für den Magneten.«

Noah zuckte mit den Achseln und gab ihr den Kompass zurück. Sie schulterte den Rucksack und marschierte los. Nach einer Dreiviertelmeile in Richtung Süden mussten sie den Wanderweg in Richtung Osten verlassen und sich durchs Gebüsch schlagen. VORSICHT ALLIGATOREN stand auf einem Schild, auf dem sich drei pechschwarze Krähen niedergelassen hatten.

Ein süßlicher Duft stieg ihr in die Nase. Sie drehte sich um. »Kommst du?«

Noah machte einen Lungenzug und schüttelte den Kopf. Durch die Wildnis zu stapfen war nicht sein Ding. Das wusste sie.

Aber er hatte ihre Aufregung über das Posting im Internet mitgekriegt. Diese Sache versprach Spannung pur.

»Des einen Freud, des anderen Leid«, sagte sie.

Er schlug die Motorhaube zu und trottete zu ihr hinüber. »Es ist brütend heiß. Warum also gerade jetzt?«

Weil sie um zwei wieder auf der Insel sein musste. Da begann ihre Schicht – was ihm egal war.

»Niemand zwingt dich mitzukommen.«

Er gab ihr den Joint, sie nahm einen Zug, während er sein T-Shirt abstreifte. Ein Blick auf seinen braun gebrannten, muskulösen Körper genügte, und sie wusste wieder, warum sie es mit diesem Surfer aushielt. Er verstaute das Hemd in seinen Cargoshorts und band seine blonden Dreadlocks mit einem Band zusammen.

»Okay, packen wir’s«, sagte er und nahm sich wieder den Joint.

Riesige Mimosen säumten den schmalen Weg. Jamie ging voran, er trapste hinter ihr her. Jede Klette und jeden Dorn quittierte er mit einem abfälligen Brummeln. Er hätte eben auch Wanderstiefel anziehen sollen. Aber außer Badelatschen besaß er wohl nichts. Da war sie sich ziemlich sicher.

Der Boden wurde weich, nachdem sie den Wanderweg Richtung Osten verlassen hatten. Kleine Wasserflächen schimmerten durch das dünner werdende Gestrüpp. Ihr fiel die Warnung vor den Alligatoren ein.

»Wir sind in der Nähe der Küste«, sagte sie. »Da stimmt was nicht.«

Folge dem gelben Weg aus Ziegelstein, riet die ausgedruckte Internetseite in Anspielung auf den Film Der Zauberer von Oz. Doch das einzig Gelbe, was Jamie gesehen hatte, waren die Wildblumen am Wegrand. Ob die gemeint waren? Manchmal irritierten einen diese ausgefuchsten Hinweise mehr, als dass sie weiterhalfen.

»Du hast dich also verlaufen?«

Sie gab Noah keine Antwort. Stattdessen befragte sie ihr GPS-Gerät: Nach etwa zwanzig Metern wurden die Mimosen von Rohrkolben abgelöst, dahinter lag ein endloser Sumpf. Ein Lüftchen kam auf und wehte ihr einen üblen Geruch in die Nase. Über ihnen segelte ein großer brauner Vogel, der bei den Bäumen zu einem Sturzflug ansetzte. Ein zweiter folgte ihm.

Es waren Bussarde.

»Da muss etwas Totes liegen«, sagte sie und bahnte sich einen Weg durch das kniehohe Gras. Moskitos schwirrten um ihr Gesicht, die sie verjagte. Dann ein Rascheln im Schilf und ein Flügelschlag. Könnte es sein, dass ...?

Sie ging einen Schritt näher ran. Das Schilfrohr gab nach, und ein Schwarm Fliegen stieg hoch.

Sie blieb stehen. Das Blut gefror ihr in den Adern.

»Hey, was ist los?«

Es schnürte ihr die Kehle zu, der Magen rebellierte.

»Jamie? Nun sag schon. Was ist los?«

»Da liegt ein Mädchen.«

Kapitel 1

Lito Island, Texas26° 14.895 Nord, 097° 11.280 West24 Stunden später

Auf der Wache war es ruhig. Verdächtig ruhig.

Elaina McCord fuhr auf den leeren Parkplatz und stellte ihren Wagen in der Nähe des Eingangs ab. Das schwache Lüftchen, das sie beim Aussteigen umwehte, ließ sie aufatmen. Für einen Augenblick blieb sie neben ihrem Ford Taurus stehen, um sich zu sammeln.

Das Nackenhaar band sie zu einem Knoten zusammen. Der Hosenanzug aus Polyester, den sie in einem Schnäppchenmarkt gekauft hatte, verbarg zwar den Pistolenhalfter, ließ aber keine Luft durch. Sie hätte sich etwas aus Seide spendieren sollen, aber als sie ihr Arbeitsoutfit zusammenstellte, hatte sie von Washington oder New York geträumt. Nie hatte sie auch nur den kleinsten Gedanken daran verschwendet, einmal in einer Stadt wie Brownsville, Texas, zu landen. Das Büro dort war eine Klitsche. Sie fühlte sich vollkommen fehl am Platz.

Heute allerdings zum ersten Mal nicht.

Denn Polizeichef Matt Breck von Lito Island hatte in Brownsville um bundesstaatliche Unterstützung in einer Mordserie gebeten. Wahrscheinlich erwartete er zwei altgediente Beamte mit Bürstenhaarschnitt, die in dunklen Anzügen steckten.

Stattdessen bekam er eine blutige Anfängerin in einem Donna-Karan-Imitat.

Sie rückte das Revers zurecht, sammelte sich innerlich, sperrte den Wagen ab und stieg ein halbes Dutzend Holzstufen hoch, wo ihr ein Schild verriet, was sie schon wusste.

Hier war niemand.

BIN BALD ZURÜCK. Die Zeiger der Pappuhr hatte jemand auf halb elf gestellt. Elaina sah zur Sonne hoch, die direkt über ihr stand und auf sie niederbrannte. Dann spähte sie durch die getönte Glastür. Alle Büros lagen im Dunkeln. Als ob das Polizeirevier dichtgemacht hätte.

Doch wo konnte man sich erlauben, ein Polizeirevier stillzulegen?

An welches Fleckchen Erde hatte das Schicksal sie da verschlagen?

Verärgert sah Elaina sich um. Hinter dem klitzekleinen Parkplatz verlief, umsäumt von hohen Palmbäumen, der Highway 106, den sie hier auch gern Lito Highway nannten, war er doch der einzige auf der Insel. Auf den ersten beiden Meilen drängten sich Motels, Restaurants und Surfshops dicht aneinander. Die restlichen zwanzig Meilen – ja, was war mit denen? Auf der Landkarte schien der Highway sich südlich der Stadt im Lito Island Nationalpark zu verlieren. Gras, Wasser und Sumpfland. Sumpfland – so weit das Auge reichte.

Oder war es eine Flussmündung? Wen interessierte das schon?

Eine verwitterte Holzterrasse umgab das vor sich hin dösende Polizeirevier. Elaina schlich vorsichtig nach hinten, sie wollte sich mit ihren niedrigen Absätzen nicht in den welligen Latten verheddern. Wie ein Spiegel reflektierte das weiße Haus aus Lehmziegeln die Sonne. Hinter dem Gebäude lag Laguna Madre, die Bucht, die Lito vom Festland trennte. Auf dem Wasser entstand plötzlich Unruhe.

Ein Boot fuhr auf die Küste zu. Entweder war das Revier sein Ziel oder die Anlegestelle daneben, die den vielversprechenden Namen Marina von Lito Island trug.

Das Boot kam näher. Elaina erkannte an seinem Bug ein offizielles Logo. Sie zählte vier Passagiere. Als sie an den fünften Passagier dachte, zog sich ihr Magen zusammen. Denn der lag auf dem Bootsboden. Davon war sie überzeugt.

Das Boot jagte am Polizeidock vorbei und beschrieb einen weiten Bogen, bevor es in den Yachthafen einfuhr. Das Kielwasser spritzte so hoch, dass ihre Schuhe nass wurden.

Als sie durch den dicken Teppich aus Büffelgras watete, der das Revier vom Hafen trennte, patschte es ganz ordentlich zwischen ihren Zehen. Der Parkplatz des Yachthafens war mit Pick-ups und SUVs vollgestellt, aber auch zwei Wagen der Polizei und einer der örtlichen Feuerwehr waren darunter.

Elaina spazierte um ein Gebäude aus Wellblech, vorbei an einem Mann mit lederner Haut, der eine Krabbenfalle schleppte, und an zwei Teenagern, die Eimer mit Fischköder trugen. Neben einem brummenden Colaautomaten stand ein Mann, der eine Zigarette rauchte und sie musterte. Ein anderer mit Bart und beginnender Glatze ließ sich durch ihren Anblick vom Abhacken eines Fischkopfs abbringen. Elaina ignorierte die neugierigen Blicke und richtete ihren Blick auf das Ende des Landungsstegs.

Dort raunzte der Bootskapitän – Polizeichef Breck? – einen Mann in Kakiuniform an. Der sprang vom Boot und band es mit einem Palstekknoten fest.

Zwei Männer in Uniform beugten sich gleichzeitig nach unten und hoben etwas vom Bootsboden auf. Sie hievten ein langes schwarzes Bündel auf den Landungssteg und legten es in der prallen Sonne ab. Als Letzter verließ der Kapitän das Boot.

Elaina fasste sich ein Herz. »Polizeichef Breck?«

Der Mann drehte sich sofort um, und ebenso schnell fixierte er sie mit Misstrauen. »Was wollen Sie?«

Sie blieb vor ihm stehen und blickte in seine verschlossenen braunen Augen.

»Zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentar«, sagte er schroff.

»Wie bitte?«

»Sie sind doch von der Presse?« Er sah flüchtig an ihr hinab, blieb an ihren nassen Hosenaufschlägen hängen und blickte wieder zurück in ihr Gesicht. »Oder sind Sie vom Fernsehen? Egal, im Moment kein Kommentar, also ...«

»Ich bin vom FBI.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Special Agent Elaina McCord.«

Er zog die Augenbrauen so hoch, dass sie beinahe unter seiner Polizeimütze verschwanden.

»Sie haben doch heute Morgen in Brownsville angerufen und uns um Unterstützung gebeten.«

Verdutzt starrte er auf ihre ausgestreckte Hand.

Elaina zog die Hand zurück, während er sie noch einmal gründlich musterte. Sie blickte wieder auf den Leichensack. Daneben stand ein weißhaariger Mann in Straßenkleidung. Der Rechtsmediziner?

»Warum warten Sie nicht da drüben?« Breck zeigte auf das Gebäude. »Jemand wird sich bald um Sie kümmern.«

Elaina biss die Zähne zusammen und machte ein paar Schritte in die gewünschte Richtung. Sicher wäre es unklug, es sich gleich bei ihrem ersten Mordfall mit dem Polizeichef zu verderben. Sie verschränkte die Arme, während Breck ihr den Rücken zuwandte und mit seinen Officern sprach.

Rauch wehte zu ihr rüber. Neben dem Colaautomaten stand noch immer der Mann mit der Zigarette. Er lehnte lässig am Türrahmen. Sein durchdringender Blick jagte ihr eine Gänsehaut ein.

Sie sah weg.

Der Bärtige warf Innereien ins Wasser, um die sich die Seemöwen kabbelten. Ein riesiger brauner Pelikan kam angeflogen, schnappte ihnen die Beute weg und verschlang sie auf dem Kai.

Elaina sah sich um und machte sich im Kopf Notizen. Die Teenager waren verschwunden, der Krabbenfänger war noch da. Er starrte gebannt auf den Leichensack. Sie merkte sich sein Gesicht und hielt nach weiteren Schaulustigen Ausschau. Manche Täter liebten es nämlich, sich dort herumzutreiben, wo sie die Folgen ihrer Verbrechen beobachten konnten. Elaina zählte im Augenblick neun Zuschauer inklusive eines braun gebrannten Mannes Mitte zwanzig mit blonden Dreadlocks. Er trug kein Hemd und hatte den Arm um die Schultern einer jungen Frau gelegt. Auf beide schien das, was ihnen geboten wurde, eine makabre Faszination auszuüben.

Elaina sah auf die Uhr und stieß insgeheim einen Fluch aus. Breck und seine Männer standen immer noch mit zusammengesteckten Köpfen auf dem Pier. Die Minuten vergingen, eine nach der anderen, die Sonne schien weiter gnadenlos, und Elainas Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Ein großer brauner Vogel war auf dem Pier gelandet und wackelte auf seinen spindeldürren Beinen zu dem Leichensack, um ihn zu untersuchen. Mit seinem sichelförmigen Schnabel stach er auf das Plastik ein.

Elaina rannte an den Männern vorbei und wedelte mit den Armen. »Scht! Scht!«, schrie sie und verjagte den Vogel.

»Wo verdammt bleiben die Beamten, die die Leiche abtransportieren?«

Breck sah sie schräg an. »Wer?«

»Die Leiche verschmort hier drin und mit ihr vielleicht wichtige Beweise.«

Breck stemmte die Hände in die Hüften. »Wir warten auf unseren Krankenwagen. Der ist am Strand von einem Unfall aufgehalten worden.«

Elaina atmete tief durch. Sie spürte, dass gut ein Dutzend Augenpaare sie durchbohrten. Sie richtete die Schultern auf und versuchte sich zu beruhigen.

»Wann wird er hier sein?«, fragte sie.

»Wenn er hier sein wird. Stimmt’s, Maynard?« Abrupt wandte sich Chief Breck einem seiner Beamten zu.

»Yes, Sir.«

»Bring Miss McCord ins Revier, damit sie etwas abkühlt.«

Sie ließen sie mehr als vier Stunden warten.

An Elaina war Brecks Rüffel abgeprallt. Stattdessen hatte sie Handy und Aktentasche aus ihrem Wagen geholt, ihre Papiere im Konferenzraum ausgebreitet und sie gewissenhaft durchgearbeitet, als wäre sie heute Morgen mit dem sehnlichen Wunsch aufgewacht, den Freitagnachmittag im Polizeirevier eines Provinznestes zu verbringen. Um halb sechs war sie dennoch mit ihrer Geduld am Ende. Sie war müde und hatte Hunger. Die stickige Luft quälte sie. Es gab nämlich keine Klimaanlage, sondern nur einen tragbaren Ventilator, der dieselbe warme Luft immer wieder aufs Neue zirkulieren ließ. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach einem Snackautomaten machen, als Officer Maynard in der Tür stand.

»Miss McCord? Der Chef möchte Sie sprechen.«

Endlich ließ sich Ihre Majestät zu einer Audienz herab. Elaina sammelte ihre Sachen zusammen und verstaute sie in ihrer Aktentasche.

»Folgen Sie mir, Ma’am.«

Maynard war kleiner als sie, vielleicht ein Meter fünfundsiebzig. Aber er war athletisch gebaut und hatte eine stramme Körperhaltung, was sie an die Marines erinnerte, denen sie während ihrer halbjährigen Ausbildung im Trainingslager des FBI in der Marinebasis in Quantico begegnet war. Er führte sie durch das holzgetäfelte Revier; eine Frau Anfang sechzig saß an einem Metalltisch und telefonierte. Vor ihr stapelte sich ein bedrohlich hoher Berg von Notizzetteln.

Maynard öffnete die Tür zu Brecks Allerheiligstem. Im Büro roch es ein wenig nach Zigarren, der Meister selbst saß hinter einem Schreibtisch aus Holzimitat in einem gepolsterten Ledersessel. In einem Halbkreis um den Schreibtisch saßen Leute auf Plastikstühlen, die sie vom Yachthafen her kannte, mit Ausnahme eines glatzköpfigen Mannes, der in der Hand einen Cowboyhut hielt. Der Stern an seiner Brust verriet, dass er ein Texas Ranger war.

»Ich bin Doktor Frank Cisernos«, sagte der weißhaarige Mann vom Dock im Aufstehen, »der Rechtsmediziner von diesem County.«

Elaina gab ihm die Hand und stellte sich vor. Niemand sonst aus der Runde stand auf, um sie zu begrüßen. Ein Latino-Officer lächelte ihr zu.

Maynard setzte sich auf einen der beiden leeren Stühle und bot Elaina den anderen an. Sie stellte ihre Aktentasche darauf ab und blieb stehen. Ihre Finger vergrub sie unter den Achselhöhlen, damit niemand sah, dass sie zitterte.

»Sie wollen uns also helfen.« Breck beugte sich nach vorne. »Scarborough hat mir gesagt, dass Sie frisch von der Akademie kommen.«

Beinahe wäre sie zusammengezuckt. »Ich habe vorigen Herbst meinen Abschluss gemacht.« Was ihr Vorgesetzter wohl noch alles ausgeplaudert hat? Er hatte nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung ihr gegenüber gemacht. Aber dann hatte er sie doch als Profilerin hierhergeschickt. Vielleicht würde er bald in der Tür stehen.

Vielleicht, um zu sehen, wie sie auf die Nase fällt.

Sie räusperte sich. »Ich stehe Ihnen als Profilerin zur Verfügung. Außerdem kann ich als FBI-Agentin jedem Labor Feuer unterm Hintern machen.« Sie blickte zu dem Texas Ranger, der das auch konnte, und erkannte, dass ihre Aktien rapide im Sinken waren.

»Eine Profilerin, das hat uns gefehlt.« Chief Breck lehnte sich zurück. »Sie klären uns über den großen Unbekannten auf, den wir jagen müssen?«

Alle Augen richteten sich auf Elaina.

»Ich habe bisher nur ein paar Informationen«, sagte sie. »Ich brauche Fotos vom Tatort, und ich möchte bei der Obduktion dabei sein. Kommt jemand vom staatlichen Kriminallabor?«

Cisernos antwortete mit einem leichten Nicken.

»Wissen wir, wer das Opfer ist?«, fragte sie.

»Noch nicht genau«, sagte Breck. »Seit einer halben Stunde rufen bei mir pausenlos Eltern an, deren Töchter nicht ans Handy gehen. Alle machen sich Sorgen.«

»Sie sagten ›noch nicht genau‹. Sie tappen also nicht mehr ganz im Dunkeln?«, fragte Elaina.

»Sicher ist nur, dass sie eine Weiße ist mit langem dunklem Haar.« Brecks Blick fiel auf Elainas langes dunkles Haar. »Sie sah fürchterlich aus. Wir wissen nicht einmal, wie alt sie ist. Aber heute Nachmittag haben wir eine Meldung bekommen über einen verlassenen Audi bei einer Sliprampe im Norden der Stadt. Der Wagen steht dort seit zwei Tagen. Er ist angemeldet auf Valerie Monroe, siebenundzwanzig Jahre alt, aus Houston. Im Wagen fanden wir ihre Brieftasche mit Führerschein, einen Studentenausweis von der medizinischen Fakultät und die Versicherungskarte. Der Wagen wurde beschlagnahmt, aber eindeutig ist noch nichts.«

»Ich habe die Information, dass die Leiche heute Morgen im Sumpf von ein paar Fischern gefunden worden ist.« Elaina sah zu dem Rechtsmediziner. »Wie bei Gina Calvert im März soll man ihr die Eingeweide entfernt haben.«

»Gina Calvert wurde am fünfzehnten März gefunden«, sagte Cisernos. »Meiner Einschätzung nach hatte sie drei, mindestens zwei Tage da gelegen. Die neue Leiche ungefähr drei Tage.«

»Ginas Leiche ist auch im Nationalpark entdeckt worden.«

Elainas Selbstsicherheit kehrte allmählich zurück. Sie hatte sich mit dem Fall vor Monaten genau beschäftigt. »Man hatte ihr Ketaminhydrochlorid injiziert. Auch ihren Wagen hat man mit allen Papieren an einer Sliprampe gefunden.«

Breck kreuzte die Arme über der Brust. »Scheint, dass Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben, Miss McCord. Nun klären Sie uns über unseren Täter auf. Wen sollen wir suchen?«

In Elaina schrillten die Alarmglocken. Klug wäre es zu schweigen, bis sie alle Fakten zusammenhatte. Aber ihr Gesicht glühte, und von allen im Raum schlug ihr Misstrauen entgegen. »Der Täter ist wahrscheinlich ein Weißer, Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Er ist intelligent, überschätzt aber sich und seine Fähigkeiten. Er ist höchstwahrscheinlich attraktiv, vielleicht sogar charmant, ein Stratege, wenn er sich an Frauen heranmacht. Sein ausgeklügelter Modus Operandi verrät, dass er kontrolliert vorgeht und seine Impulse beherrschen kann. Ich vermute, er lebt auf der Insel, ist unausgelastet, er besitzt ein Boot oder hat kein Problem, eines zu bekommen. Er jagt und fischt gern, er liebt Gewehre. Und vielleicht auch das Militär und die Polizei.«

Die erstaunten Blicke ihrer Zuhörerschaft hinderten sie nicht daran weiterzusprechen. »Keinerlei Anzeichen von sexueller Gewalt, zumindest keine offenkundigen.«

Brecks Augenbrauen wölbten sich. »Keine offenkundigen?«

Elaina verlagerte ein wenig ihr Gewicht. »Auch wenn niemand vergewaltigt wurde, glaube ich, dass es sich um ein Sexualverbrechen handelt. Das, was der Täter mit dem Messer anstellt, ist eine Art Penetration. Diese Täter haben oft Schwierigkeiten mit ihrer Erektion. So schaffen sie sich auf andere Weise Abhilfe.«

Breck tauschte mit dem Ranger bedeutungsvolle Blicke aus, und Elaina stürzte sich immer tiefer in ein Meer von vagen Vermutungen. So blieb keine Zeit für Zwischenfragen.

»Er kidnappt die Frauen und injiziert ihnen die Chemikalie. Die Opfer können sich nicht mehr wehren. Dann schneidet er mit einem gezackten Jagdmesser ihre Bauchdecke auf. Er hinterlässt keine Spuren, was für ein genau geplantes Vorgehen spricht.«

»Einen Augenblick, bitte.« Breck hob die Hand. »Wir haben zwei Opfer. Sie tun aber so, als hätten wir’s mit einem Serienkiller zu tun.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Es könnte aber auch ein Trittbrettfahrer sein. Ein ganz normaler Mord, den der Täter aber so in Szene setzt wie das Verbrechen im März, um uns in die Irre zu führen.«

Elaina schüttelte den Kopf. »Und welche dieser Details sind der Öffentlichkeit bekannt gewesen?«

Breck fühlte sich plötzlich unsicher, und Elaina wusste, dass es ein taktischer Fehler gewesen war, ihn vor den Leuten bloßzustellen.

Aber er erholte sich schnell. »Wir wissen noch nicht, ob er Spuren im Audi hinterlassen hat. Der Wagen kann voller Fingerabdrücke sein.«

»In Gina Calverts Wagen waren keine. Und auch in dem verlassenen Mustang, den man nach der Ermordung von Mary Beth Cooper gefunden hatte, nicht.«

Im Büro wurde es mucksmäuschenstill. Der Name versetzte Breck in Erstaunen.

»Mary Beth Cooper«, sagte er noch einmal.

Elaina nickte.

»Aber das ist neun Jahre her.«

Sie nickte wieder.

Brecks Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ein Typ hat das Verbrechen gestanden. Er sitzt seit Jahren in Huntsville.«

Wieder nickte sie.

»Und jetzt wollen Sie mir weismachen, man hätte damals den Falschen eingelocht? Er wurde von einem ordentlichen Gericht verurteilt. Jemand hat ein Buch darüber geschrieben, verdammt noch mal.«

»Er hat mehrere Morde gestanden«, sagte Elaina. »Bei einigen Opfern wurde auch eindeutiges DNA-Material von ihm gefunden. Aber den Mary-Beth-Fall sollten wir uns noch einmal ansehen. Es gibt Ähnlichkeiten mit unserem Fall.« Elaina hielt es für möglich, dass Mary Beth Cooper das erste Opfer des gesuchten Täters war.

»Traumatischer Erstickungstod war die Todesursache«, sagte Cisernos.

Elaina sah zu dem Rechtsmediziner.

»Strangulation mit der Hand«, fügte er hinzu. »Ich habe selbst die Obduktion durchgeführt.«

»Und wie Sie in Ihrem Bericht ausführen«, sagte sie, »hatte das Mädchen bei seinem Tod Ketamin im Blutkreislauf. Und jemand hat nach ihrem Tod mit einem gezackten Messer auf sie eingestochen.«

Es wurde wieder still. Elaina suchte in den Gesichtern nach Unterstützung. Breck hielt die Arme verschränkt, er schien stinksauer zu sein. Cisernos zog die Stirn in Falten, und die Polizisten fühlten sich anscheinend unwohl, mit Ausnahme des Latino-Officers, der scheinbar von ihr fasziniert war. Er saß gespannt am vorderen Stuhlrand, er wollte mehr von ihr hören.

»So weit, so gut.« Chief Breck stand auf und streckte ihr nun doch die Hand entgegen. »Wir sind froh, dass Sie heute zu uns kommen konnten, Miss McCord. Ich denke, wir kriegen das alleine hin.«

Nach ihrem grandiosen Auftritt vor Breck hatte Elaina das dringende Bedürfnis, sich zu betrinken. Während sie durch die Stadt fuhr, wanderte ihr Blick unwillkürlich zu den vielen Bars, in denen sie zu gerne eine doppelte gefrorene Margarita mit Salz bestellt hätte.

Stattdessen fuhr sie in Richtung Brücke. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie die Besprechung noch einmal Revue passieren ließ.

Das war ihr erster Mordfall, ihr erstes Täterprofil, und sie hatte es total verpatzt. Ausgeschlossen, dass man sie zur Autopsie morgen früh dazubat. Daran hatte Breck keinen Zweifel gelassen. Eine Weiterarbeit an dem Fall wäre, wenn überhaupt, nur von Brownsville aus möglich. Falls Scarborough den Fall nicht einem erfahreneren Kollegen übertragen würde.

Elaina zog bei der nächsten roten Ampel ihre Jacke aus. Die Gehwege waren voller Touristen. Frauen in Shorts und Bikinioberteilen flanierten die Straßen auf und ab. Sonnenverbrannte Teenager marschierten mit dem Skimboard unterm Arm nach Hause. Ein Schild warb mit freien Zimmern im Sandhill Inn. Dort hatte Gina Calvert die letzten Tage ihres kurzen Lebens gewohnt.

Bei Grün bog Elaina nach links in die Causeway Road ein, die zurück aufs Festland führte. Laguna Madre glitzerte in der Abendsonne. In der Bucht konnte sie Katamarane und Mondfische erkennen, die sie voller Wehmut betrachtete. Sie erinnerte sich an ihre letzte Fahrt mit einem Segelboot. Eine Ewigkeit war das her, damals auf dem Michigansee. Obwohl ein eisiger Wind geweht hatte, war sie die ganze Fahrt über gut gelaunt gewesen. Ihr Dad hatte sich nämlich den ganzen Tag für sie frei genommen.

Ihr Handy läutete.

»McCord.«

Kurzes Schweigen. »Haben Sie den Zigarettenstummel eingesammelt?«

»Mit wem spreche ich?«

»Hundert Pro haben Sie ihn eingetütet und beschriftet.« Es war eine tiefe Männerstimme mit texanischem Akzent. »Hab ich recht?«

Elaina fiel der Mann am Colaautomaten wieder ein. Irgendwie war er ihr bekannt vorgekommen. Irgendetwas an ihm hatte ihr Unterbewusstsein den ganzen Nachmittag nicht zur Ruhe kommen lassen.

»Mit wem spreche ich?«

»Mit Troy Stockton. Elaina McCord, ich habe Sie in der Marina gesehen. Hat mich stark beeindruckt.«

»Woher haben Sie diese Nummer?«

»Ich habe eine Menge Nummern. Stimmt es, dass Sie uns schon verlassen?«

Elainas Schultern verspannten sich, sie sah in den Rückspiegel.

»Ich bin enttäuscht«, sagte er. »Nie hätte ich Sie für einen Drückeberger gehalten.«

Elaina checkte die Wagen hinter ihr: mehrere SUVs, ein Cabrio mit jungen Frauen und irgendein Lieferwagen. »Hören Sie. Entweder Sie sagen mir jetzt, woher Sie diese Nummer haben, oder ...«

Klick.

Elaina sah auf das Display. In der Anrufliste stand leider bloß »Anrufer unbekannt«. Sie schleuderte ihr Handy auf den Beifahrersitz.

Stockton. Troy Stockton. Der Name kam ihr bekannt vor, seine Stimme überhaupt nicht.

Ein Knall.

Das Lenkrad riss nach rechts aus, und der Wagen machte einige Sätze über zwei Fahrspuren hinweg. Bremsen quietschten, es wurde wild gehupt. Elaina versuchte, das Steuer wieder unter Kontrolle zu bekommen, als ihr Wagen von der Straße abhob.

Kapitel 2

Cinco Chavez war auf der Suche nach Troy. Und er suchte ihn in der Kaschemme, in der er jedes Wochenende zu finden war. Das Dockhouse war wie immer brechend voll. Cinco arbeitete sich durch das Gewühl neben der Bar und entdeckte Troy im Billardraum, umgeben von lächelnden Frauen und halb betrunkenen Arbeitern von der Bohrinsel, die hofften, hier ein paar schnelle Dollars zu machen.

»Troy, was geht ab?« Cinco sicherte sich einen Hocker neben drei Blondinen mit tief ausgeschnittenen Tops.

Troy sah vom Billardtisch hoch. »Nicht viel.« Er versetzte dem Spielball einen Stoß und versenkte zwei Halbe.

Dem großen Kerl, der an der Wand lehnte, schien das gar nicht zu gefallen.

Troy kreidete seinen Queue und ging um den Tisch herum für den nächsten Stoß.

Cinco saß ruhig auf seinem Hocker und hörte seinem knurrenden Magen zu. Breck hatte ihn heute sehr früh angerufen. So war er bisher nur zu einem Morgenkaffee gekommen.

»Hast du schon was gegessen?«, fragte Cinco.

Troy sah nicht auf zu ihm. »Nee.« Er versetzte dem Spielball einen Stoß und wartete, bis der letzte Halbe in einem Seitenloch verschwand.

»Gehen wir Fleisch fassen. Ich erzähl dir von der FBI-Braut.«

Troy kreidete seinen Queue und blickte weiter auf den Tisch. »Ich habe schon mit Maynard gesprochen.« Er sah zu seinem Gegenspieler, der dabei war, seinen Lohn zu verspielen. »Jetzt ins Eckloch.«

Der Kerl war sich ziemlich sicher, dass Troy das nicht hinkriegen würde. Schließlich lagen überall Volle als Hindernis herum. Selbstsicher blickte er zu seinem Kumpel auf der anderen Seite.

Die Herausforderung ließ Troys Augen aufleuchten. Cinco lehnte sich zurück und beobachtete, wie sich sein Freund auf den Stoß konzentrierte. Es wurde still.

Der Stock küsste den Spielball, der sich auf den Weg über den grünen Filz machte. Er traf die Bande, glitt zwischen zwei Vollen zurück und verlangsamte wie von Zauberhand seinen Lauf, als er in die Nähe des 8er-Balls kam.

Plumps.

Die Frauen atmeten auf. Die Miene des Typen vom Bohrturm verfinsterte sich, Troy zeigte keinerlei Regung. Er lehnte das Queue gegen den Tisch und trank einen Schluck Bier.

»Hat dir Maynard von der Besprechung erzählt?«, fragte Cinco.

»Mehr oder weniger.« Troy hielt die Hand auf und nahm ungerührt ein paar Zwanzigdollarscheine in Empfang. Der Verlierer schlich sich davon und stieß mit der Bedienung zusammen, die endlich Zeit gefunden hatte, die leeren Flaschen einzusammeln.

Jamie lächelte Troy an. »Noch ein Bier?«

»Nee, im Moment nicht. Hab ich dich heute nicht in der Marina gesehen?«

Jamies Lächeln verschwand, während sie das Tablett mit Leergut füllte. »Ich hab gesehen, wie sie das Mädchen gebracht haben.« Sie sah Cinco kurz an. »Hab gehört, dass man sie auf der Insel gefunden hat. Nicht auf dem Festland. Stimmt das?«

»Ja. Auf dem Festland hat der Sheriff das Sagen, wir nicht. Man hat sie im Nationalpark gefunden.«

»Wisst ihr schon, wer es ist?«

»Noch nicht.«

»Ah so ... Wem darf ich noch was bringen?«

Troy gab ihr Geld. »Ich verschwinde. Der Rest ist für dich.« Er drehte sich zu Cinco um, was den Damen die Gelegenheit gab, seinen Hintern zu begutachten.

Wie ungerecht die Welt doch war. Troy brauchte nur in seinen ausgeblichenen Jeans irgendwo aufzulaufen, während Cinco Knochenarbeit leisten musste, wenn er die Aufmerksamkeit einer Frau erregen wollte.

»Mann, ich brauche Fleisch zwischen meinen Zähnen«, sagte Cinco wieder. »Soll ich dir von der FBI-Braut erzählen?«

Troy zuckte mit den Achseln. »Was willst du mir denn erzählen? Maynard hält sie für verspannt.«

»Vielleicht ein bisschen.« Cinco fielen ihre klaren blauen Augen wieder ein und dass in ihrem Hosenanzug ein gertenschlanker Körper steckte. »Trotzdem, sie ist gut gebaut.«

Die Freunde bahnten sich ihren Weg durchs Lokal. Draußen roch es nach Fisch und Diesel, wie auf den Booten, die auf dem Weg zum Krabbenfang den ganzen Tag hier vorbeituckerten.

Troys Wagen stand wie immer an derselben Stelle. Er zog die Schlüssel aus der Tasche und sperrte die Türen mit der Fernbedienung auf. »Ich muss heute Abend noch arbeiten.«

Cinco war enttäuscht. Nur wenige wussten, dass sich hinter Troys Gelassenheit ein Workaholic verbarg. Cinco kannte niemanden, der so lange auf der Tastatur eines Computers herumhämmern konnte.

»Noch dasselbe Buch?«, fragte Cinco.

»Nein, was anderes.«

Er informierte seinen Freund kurz und bemerkte zum ersten Mal die Anspannung in seinem Gesicht. Dann hatte er verstanden. »Du machst dir Sorgen?«, fragte Cinco.

»Warum sollte ich?«

Cinco sah ihn nur an.

»Ruf mich morgen nach der Obduktion an.« Troy ging zu seinem schwarzen Ferrari und öffnete die Tür.

Cinco schüttelte den Kopf. Der Mann hatte seinen eigenen Kopf. »Kumpel, du kriegst Probleme. Breck hat sie zwar abserviert, aber Cisernos hat ihr zugehört. Ich war dabei.«

»Ich mach mir keine Sorgen.« Troy glitt hinters Lenkrad und ließ den Motor aufheulen.

Er fuhr rückwärts vom Parkplatz, gab Gas und jagte los.

Elaina sah sich den platten Reifen an.

Niemand hatte geschossen. Er war geplatzt.

Sie wusste, wie der Schuss aus einer Waffe klang. Dieser Reifen war eindeutig geplatzt.

Warum hatte sie dann beinahe den Verstand verloren?

Sie riss die Beifahrertür auf und schaltete die Warnblinkanlage ein. Alles war in Ordnung. Nichts Schlimmes war passiert. Sie hatte zwar noch nie einen Reifen gewechselt, aber für alles gab es ein erstes Mal. Jemandem, der die FBI-Akademie bestanden hatte, durfte ein platter Reifen keine Angst einjagen.

Sie holte die Gebrauchsanweisung aus dem Handschuhfach und sah unter »Reifenwechsel« nach. Der Verkehr brauste an ihr vorbei. Sie machte ein paar Schritte ins Gras, das neben dem Highway wuchs, und überflog die Anweisungen. Nur acht einfache Arbeitsschritte! Und zu jedem gab es eine Illustration. In null Komma nichts wäre sie wieder fahrbereit. Der Himmel wurde allmählich dunkel.

Nachdem sie im Kofferraum alles beiseitegeschoben hatte – Splitterschutzweste, Leuchtkugeln und Spurensicherungskoffer –, zog sie die Matte weg und starrte auf eine leere Ausbuchtung für den Ersatzreifen.

Was hatte sie erwartet? Das war ein Dienstwagen. Jemand vor ihr hatte den Ersatzreifen gebraucht und sich nicht um einen neuen gekümmert.

Sirenen heulten hinter ihr auf. Zuerst beschlich sie Panik, dann Erleichterung, gefolgt von neuer Panik.

Blaue und rote Lichter tanzten auf ihrem Ford Taurus. Wer würde ihr Retter sein? Bestimmt einer von denen, die mit versteinertem Gesicht ihre Demütigung vor Chief Breck beobachtet hatten.

Der Polizeiwagen hielt auf dem Seitenstreifen. Die Fahrertür ging auf, und Elaina konnte im Scheinwerferlicht nur die Silhouette eines Mannes ausmachen. Kies knirschte unter seinen Füßen.

»Ma’am.« Jetzt konnte sie sein Gesicht erkennen.

Maynard war ihr Retter.

Interessant, dass er genau jetzt vorbeikam. Ob Breck ihn mit ihrer Beschattung beauftragt hatte?

»Sie scheinen Probleme mit Ihrem Wagen zu haben.«

»Eine Reifenpanne«, sagte Elaina. »Ich wollte ihn wechseln, aber es gibt keinen Ersatzreifen.«

Er zog die Augenbrauen hoch, und sie wusste genau, dass er glaubte, sie könne nur Schuhe und Kleider wechseln.

»Machen Sie den Kofferraum auf«, sagte er. »Wir sehen mal nach.«

»Glauben Sie mir. Er ist leer. Gibt es eine Werkstatt in der Nähe?« Sie sah in Richtung Stadt, aber in der untergehenden Sonne war es schwierig, die Schilder entlang des Highways zu entziffern.

»Ich rufe für Sie an.«

»Danke.«

Maynard ging zurück zum Streifenwagen und holte sein Funkgerät heraus.

Elaina plante derweil den Abend. Für die nächsten Stunden, wenn nicht sogar für länger, saß sie hier in Lito Island fest. Sie holte Aktenkoffer, Handy, Sporttasche und ihren brandneuen iPod aus dem Wagen, zuletzt auch ihre Handtasche. Darin bewahrte sie sorgsam einen Zigarettenstummel als Beweisstück auf. Sie dachte an Troy Stockton. Beobachtete er sie? Sie sah die Straße hinunter.

»Hilfe ist unterwegs.« Maynard trottete auf ihren Wagen zu. »Der Typ heißt Don, Don’s Automobile heißt seine Firma. Er bringt alles wieder in Ordnung. Sie können bald weiterfahren.«

Da wollte sie wohl jemand ganz schnell loswerden. Elaina blickte in Maynards Gesicht und traf eine spontane Entscheidung. »Danke, aber ich bleibe.«

»Sie bleiben?« Er verzog das Gesicht.

»Ja.« Sie warf die Handtasche über die Schulter. »Könnten Sie mich zu meinem Hotel fahren?«

»Wo wohnen Sie?«

»Im Sandhill Inn.«

Gina Calvert hatte die letzten vier Tage ihres Lebens im Zimmer 132 verbracht, das vom Hotelpersonal Sand Dollar Suite getauft worden war. Elaina steckte den Kartenschlüssel ins Schloss, die Tür sprang auf, und sie betrat das abgedunkelte Zimmer. Es roch nach Schimmel und Möbelpolitur. Endlich fand sie den Lichtschalter.

Gelbes Licht erhellte den Raum. Es gab ein schmiedeeisernes Bett mit einer blau-weißen Steppdecke und zwei Nachttische aus gebleichtem Eichenholz. Sie schloss die Tür hinter sich ab und schob den Riegel vor. Ihre Taschen stellte sie auf den blauen Armsessel aus Chintz. Auf einem Nachttisch stand ein weißes Princess-Telefon.

Elaina betrachtete es mit einem unguten Gefühl. Sie musste sich bei ihrem Boss melden. Vielleicht sollte sie ihm einfach eine E-Mail schicken und hoffen, dass er sie erst am Montag las? So hätte sie zwei Tage, um sich von dem Desaster am Nachmittag zu erholen.

Sie hatte die Verhältnisse hier unterschätzt. Kompetenz und Fachwissen reichten nicht aus. Man musste sich auch bei den richtigen Personen lieb Kind machen und ihre Spielchen mitspielen. Sie hätte sich als lernwillige und zuvorkommende helfende Hand präsentieren müssen. Stattdessen war sie wie eine Schulmeisterin, die alles besser weiß, aufgetreten. Breck hat sie zu Recht in ihre Schranken verwiesen.

Sie packte ihr Handy aus und rief ihren besten Freund an.

»Weaver.«

Da war er, der vertraute Klang seiner Stimme. Und schon ging es ihr besser.

»Ich bin im Sandhill Inn.«

Pause. »Haben sie den Tatort nicht freigegeben wie vor drei Monaten?«

»Ich bleibe über Nacht.« Sie setzte sich aufs Bett und knöpfte ihre Bluse auf. Sogar hier drin war es schwül. »Ich habe einen Platten.«

»Dann ruf einen Abschleppwagen an«, sagte er mit leiser Stimme. »Es sind doch nur fünfzig Meilen von hier.«

»Vierzig.«

»Warum bleibst du dann?«

»Und warum flüsterst du?«

»Ich bin im Überwachungswagen mit Scarborough und Garcia«, sagte er. »Außenstelle Südwest.«

»Dann sollte ich auflegen.«

»Keine Sorge. Die hängen beide am Telefon.«

Ihr war trotzdem nicht wohl dabei. Elainas Kollege mochte Scarborough wahrscheinlich noch weniger als sie. Vielleicht wegen seiner purpurfarbenen Krawatten. Außerdem bevorzugte ihr Chef Untergebene, die ohne Fragen zu stellen ihren Dienst erledigten.

»Was ist passiert? Warum bleibst du?«

»Wahrscheinlich, weil alle wollten, dass ich gehe.«

»Tapferes Mädchen. Soll ich dich morgen abholen?«

»Nicht nötig. Ich bleibe wahrscheinlich übers Wochenende. Vielleicht bekomme ich etwas heraus.«

»Dann viel Glück. Bis Montag im Büro.«

Sie fühlte sich gestärkt. Wie immer, wenn sie mit Weaver gesprochen hatte.

Auch das Hotelzimmer hatte sich verändert. Es erschien ihr jetzt gemütlich, geradezu einladend. Mit dem richtigen Mann könnte sie hier ein paar schöne Stunden verbringen.

Ob Gina einen Mann mit hierhergebracht hatte? Hatte sie zu dem Typ Frauen gehört, die ihre Liebhaber in Bars aufgabeln? War sie eine Einzelgängerin gewesen? Die meisten Profiler konzentrierten sich auf den Täter. Elaina glaubte, vielleicht weil sie eine Frau war, dass das Opfer genauso wichtig ist. Wenn man das Opfer verstand, konnte man viel eher herausfinden, wie es zu der Begegnung mit dem Täter gekommen war.

Sie ging ins Bad und schaltete das Licht ein. In dem winzigen Raum gab es eine Sitzbadewanne. Der Boden war schwarz-weiß gefliest. Sie sah sich im Spiegel über dem Waschbecken an. Einige Haarsträhnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, ihre Wimperntusche war verlaufen. Wie schafften es Frauen, in diesem Klima Make-up zu tragen? Spätestens wenn sie morgens die Wohnung verließen, schmolz es doch dahin.

Sie wusch ihr Gesicht und bestellte nach kurzem Studium der Speisekarte, die sie auf dem Nachttisch gefunden hatte, per Telefon eine Pizza mit Peperoni und eine Zweiliterflasche Cola.

Das Zimmer sollte Aussicht aufs Meer haben, das hatte ihr der Portier gesagt. Sie zog die Vorhänge an der gläsernen Schiebetür zurück. Ihr Blick fiel auf das popelige Schloss. Gina Calvert durfte nicht sehr ängstlich gewesen sein.

Elaina streifte ihre Schuhe ab und ging nach draußen. Das Geräusch der brechenden Wellen lockte sie in den Innenhof. Der Halbmond war im Osten aufgegangen. Sie betrachtete ihn eine Weile. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück.

Weder am minderwertigen Schloss an der Schiebetür noch an dem am Badezimmerfenster hatte man Spuren von Beschädigung entdecken können. So stand es im Polizeibericht.

War der Täter über den Flur gekommen? Doch niemand vom Personal hatte ihn gesehen. Oder sie hatten ihn gesehen und es für sich behalten?

»Nein, er ist vom Strand gekommen.«

Elaina verschlug es den Atem. Sie griff nach ihrer Pistole.

Kapitel 3

Er trat ins Licht, und sofort wusste sie, wer er war.

»Troy Stockton«, sagte sie unfreundlich.

»Höchstpersönlich.« Sein Blick fiel auf die Glock. »Solange Sie mich mit dem Ding nicht wegblasen.«

Sie steckte die Pistole wieder in den Halfter. »Ich weiß, wer Sie sind. Sie haben über die Woodland-Morde in San Antonio geschrieben.«

Er lehnte lässig an der Wand neben der Tür. Er stand halb im Schatten, sie voll im Licht.

Mit ihrer offenen Bluse.

»Sie sind mir gefolgt«, sagte sie und knöpfte die Bluse wieder zu.

»Nee.« Er schob den linken Daumen durch die Gürtelschnalle und beobachtete sie.

»Woher haben Sie gewusst, dass ich hier bin?«

Er zuckte mit den Achseln.

Entweder war er ihr nachgestiegen oder jemand fütterte ihn mit Informationen. Nach seinem Beruf zu schließen, vermutete sie eine Kontaktperson bei der Polizei. Möglicherweise Maynard.

Sie starrte ihm unverhohlen ins Gesicht, aber er zeigte sich unbeeindruckt. Er stand einfach da, groß und breitschultrig; unter seinem schwarzen T-Shirt zeichneten sich seine Muskeln ab. So stellte man sich keinen Schriftsteller vor. Wo war die käsige Haut geblieben? Wo die Hornbrille, die er auf dem Foto auf dem Buchumschlag trug? Wahrscheinlich war sie nur ein Requisit gewesen, um die Illusion von wissenschaftlicher Seriosität zu erzeugen.

»Sie haben beschlossen hierzubleiben«, sagte er.

»Ich bin wegen einer Obduktion hier.«

»Man hat Sie nicht dazugebeten.«

Sie verschränkte die Arme und lenkte seine Aufmerksamkeit nach draußen.

»Am Strand wird es gegen Mitternacht ziemlich ruhig«, sagte er. »Keine Lagerfeuer mehr, seit sie verboten sind. Höchstens ein paar Pärchen.«

Sie folgte seinem Blick zum Ufer, wo die Wellen den Sand aufwirbelten. Im Mondlicht konnte sie eine Gruppe von Leuten neben einem Kajak ausmachen. Sie teilten sich eine Zigarette. Sie sah, wie die glimmende Asche die Runde machte. Andere schlenderten am Ufer entlang, vielleicht auf dem Weg zur nächsten Bar.

»Er könnte zu ihr raufmarschiert sein, ohne dass es jemand bemerkt hat. Vielleicht hat sie ihn auch irgendwoher gekannt und hereingelassen.«

Troy drehte ein wenig den Kopf, um ihr direkt in die Augen zu sehen. »Vielleicht hat er sich auch selbst hereingelassen.«

»Das Schloss war unversehrt.«

Sein Blick wanderte zum untersten Knopf ihrer Bluse. »Dieses Schloss ist ein Witz.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich kenne es.«

Ginas Freundinnen hatten der Polizei erzählt, dass sie am Abend ihres Verschwindens allein ins Hotel zurückgekehrt war. Dennoch hatte das Paar aus der Suite oberhalb aus Ginas Zimmer Stimmen gehört – von einer Frau und einem Mann. Wer war dieser Mann? Das war eine der zentralen Fragen der Ermittlung.

Einer Ermittlung, über die dieser Troy Stockton eine Menge zu wissen schien.

Elaina spitzte die Lippen. »Schreiben Sie jetzt auch über Gina Calvert? Noch ein Bestseller über aufgeschlitzte Frauenleiber?«

Der Muskel in seinem Kiefer zuckte.

»Sie scheinen mir über die richtigen Kontakte zu verfügen«, sagte sie. »Eine Menge Quellen zum Anzapfen. Es kostet Sie bestimmt nicht allzu viel Zeit, die Seiten Ihres neuen Buchs zu füllen.«

Er sah sie mit festem Blick an. »Du suchst nach einem Grund, warum du noch hier bist. Stimmt’s, Elaina?«

»Ich suche nach einem Grund, warum Sie hier sind.«

Wieder ein Zucken. »Ich dachte mir: Schau mal vorbei. Sag ihr, dass sie die Augen offen halten soll.«

»Danke für den Tipp. Jetzt ein Rat von mir. Alles, was ich sage, egal, ob Sie es direkt von mir hören oder von Ihren Freunden, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ich bin nicht hier, um Reporter glücklich zu machen. Und falls Sie mich in Ihrem Buch zitieren, dann hänge ich Ihnen eine Klage an den Hals, die sich gewaschen hat.«

Er verzog die Lippen. »Daran habe ich keinen Zweifel.«

Ihr Handy läutete.

»Gehen Sie besser ran. Es war nett, Sie kennenzulernen, Agent McCord. Ich wünsche Ihnen für Ihre Mission viel Glück.«

Elaina war vor der Dämmerung aufgestanden. Als der Himmel seine Farbe von Purpur in ein Orange wechselte, hatte sie schon vier Meilen Laufen hinter sich. Ihre Oberschenkel brannten, sie spürte ein Kribbeln in der Lunge. Kein Wunder. Sie war den ganzen öffentlichen Strand entlanggelaufen, bis in den Nationalpark, ins Vogelschutzgebiet hinein.

Ihr ganzes Leben war sie immer eine Läuferin gewesen. Ohne Fleiß kein Preis, hatte ihr Vater immer gesagt. Oder: Probleme sind da, um gelöst zu werden. Oder ihr Lieblingsspruch, der seit ihrem dreißigsten Geburtstag eine neue Bedeutung hatte: Wer rastet, der rostet. John McCord war eine lebende Sprichwörtersammlung. Als Kind hatte Elaina seine angestaubten Lebensweisheiten wie Trophäen gesammelt. Sie hatte gehofft, ihren allzu schweigsamen Vater besser zu verstehen.

Bei dem Schild VOGEL-BEOBACHTUNGS-PFAD verlangsamte sie ihren Lauf, sah aber weit und breit keinen Vogel, nur steile Sanddünen und Wellen, die an der Küste aufschlugen.

Sie kletterte auf die nächste Düne, um eine bessere Aussicht zu haben. Kies klebte jetzt an ihren Waden, die Laufschuhe waren voller Sand, aber der Blick von dort oben war es wert. So weit ihr Auge reichte, erstreckten sich Dünen, Sümpfe und das Meer. Ihr Hotel und der Rest von Lito waren undeutlich am nördlichen Horizont zu erkennen. Zwischen ihrem Aussichtspunkt und der Stadt konnte sie nur ein paar kleine Campingzelte und einen einzelnen Fischer, der am Ufer entlangwatete, ausmachen.

Sie war an einem abgeschiedenen Ort.

Vielleicht der abgeschiedenste auf der Insel.

Kein schlechter Platz, um eine Leiche loszuwerden.

Ein riesiges Labyrinth von wogenden Gräsern und plätschernden Wasserrinnen erstreckte sich vor ihr.

Er muss ein Boot gehabt haben.

Wie anders hätte er seine betäubten Opfer zu diesen abgelegenen Orten transportieren können? Gina Calvert, Mary Beth Cooper, das Opfer von gestern, sie alle waren im Sumpfland weit weg von der Stadt gefunden worden.

Der Killer hatte ein Boot.

Und wenn sie sein Boot fand, könnte sie auch ihn finden.

Troy hatte die Füße auf Elainas Verandatisch gelegt. Er saß da mit geschlossenen Augen und hörte, wie sie den Strand hochjoggte. Diese sanften keuchenden Töne, die immer näher kamen, brachten sein Blut in Wallung.

»Was machen Sie hier?«

Er öffnete die Augen und bekam das zu sehen, was er erwartet hatte: eine rot angelaufene, stinksaure Frau.

»Ich hab auf Sie gewartet.«

Sie verzog das Gesicht und blickte auf ihre Sportuhr, die sehr gut zu ihrem Top aus Elasthan und ihren Laufshorts passte. Beide Kleidungsstücke trieften vor Nässe.

»Woher haben Sie gewusst, dass ich nicht in meinem Zimmer bin?« Sie lehnte sich mit einer Hand an die Glastür, um einen Laufschuh abzustreifen. Sand rieselte über den Steinboden.

»Ich habe nachgesehen.« Er sah ihr zu, wie sie den zweiten Schuh entleerte.

»Sie haben nachgesehen.«

»Hab ich nicht gesagt, dass das Schloss ein Witz ist?«

Sie war wütend. Aber dass er heute Morgen bei ihr eingestiegen war, das glaubte sie ihm nun doch nicht.

Er lehnte sich mit seinem Stuhl nach hinten, um ihren Anblick zu genießen: lange schlanke Beine, tiefschwarzes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Und über allem lag ein feiner Schimmer von Schweiß.

»Hören Sie, Mr Stockton ...«

»Sagen Sie Troy zu mir.«

»Lassen Sie das. Ich bin spät dran und rede nicht mit Reportern. Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Stimmt nicht.«

»Was stimmt nicht?«

»Dass Sie spät dran sind. Sie sind zu spät dran. Die Obduktion war bereits gestern Abend.«

Zunächst konnte sie es nicht fassen. Dann wurde sie zornig. »Und Sie haben es gewusst! Und mir nichts gesagt.«

»Ich habe es heute Morgen erfahren. Der Pathologe ist gestern Abend gegen neun eingetroffen. Vier Stunden lang haben sie an ihr herumgeschnippelt. Gegen halb zwei sind alle nach Hause gegangen. Breck und Cisernos schlafen bestimmt noch fest und träumen davon, was so ein verdammter Krebs alles mit einer Leiche anstellen kann.«

Ihre Wangen wurden noch röter. »Sie sind geschmacklos.« Sie versetzte dem linken Schuh einen Tritt. Troy war mit seiner letzten Bemerkung zu weit gegangen. Dabei wollte er sie nur provozieren. Er hatte nicht die Absicht, sich über das Opfer lustig zu machen.

Der rechte Schuh landete mit einem lauten Knall neben der Tür. Elaina ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Troy nahm seine Füße vom Tisch und setzte sich aufrecht hin.

»Wirklich großartig.« Sie rieb sich den Nasenrücken. »Ich muss Scarborough Montagmorgen Bericht erstatten. Wie soll ich das, wenn der leitende Beamte noch nicht mal mit mir spricht?« Elaina schien mit sich selbst zu reden.

Troy beobachtete sie und wägte Pro und Contra ab, sie mit in sein Team zu holen. Für sie sprach: Sie war vom FBI, das bedeutete neue Quellen und Verbindungen. Gegen sie sprach: Sie war vom FBI, das bedeutete Bürokratie, lange Dienstwege und all der andere Mist, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Zudem war sie eine Frau, damit konnte sie hier unten in Texas keinen Blumentopf gewinnen. Wenn er sich mit ihr zusammentat, würde sie ihn bestimmt bis zur Lösung des Falles oder noch länger als ihre seelische Müllhalde missbrauchen.

Elaina sah aufs Meer, als wäre er nicht da.

»Breck ist nicht der Boss.«

Sie drehte sich zu ihm. »Was?«

»Nicht vor Breck müssen Sie sich in Acht nehmen. Gut, die beiden Leichen sind auf der Insel gefunden worden, und die fällt unter seinen Zuständigkeitsbereich. Aber der Ranger, den Sie gestern kennengelernt haben, der bestimmt von Austin aus, wo’s langgeht. Der Gouverneur vertraut ihm. Und falls sich herausstellt, dass ein Serienkiller an Texas’ beliebtestem Strand sein Unwesen treibt, können Sie sicher sein, dass der Gouverneur sich einschaltet. Und wenn er im Hintergrund die Fäden ziehen muss.«

»Der Texas Ranger. Ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.«

»Der ist auch egal«, sagte Troy. »Wichtig ist, dass Sie wissen, welche Rolle er spielt. Und von Scarborough, Ihrem Chef, und Breck sollten Sie wissen, dass sie alte Kumpels sind.«

»Scarborough und Breck?«

»Die beiden haben zusammen an der Texas State University studiert. Seltsam, dass er Ihnen das nicht gesagt hat, als er Sie hierhergeschickt hat. Ihm muss auch klar gewesen sein, wie Breck auf das Erscheinen einer Agentin reagiert. Ich vermute, er hat das eingeplant.«

Sie sah mit ihren bezaubernden blauen Augen wieder aufs Meer hinaus. Er mochte ihr markantes Kinn. Diese Frau hasste es, nur der Spielball für andere zu sein. Trotzdem sah es nicht danach aus, als würde sie aufgeben.

»Was interessiert Sie eigentlich an dem Fall?«, fragte sie.

Er hatte die Frage geahnt.

»Ich schreibe über Verbrechen. Und diese Morde sind in meiner Nachbarschaft passiert.«

»Und das ist alles? Sie reizt nur der Stallgeruch?«

Er sah ihr in die Augen. Seine Begründung genügte ihr wohl nicht.

Troy lehnte sich nach vorne. »Falls Ihre Theorie stimmt ...«

»Sie stimmt.«

»Okay. Dann war Mary Beth Cooper eines seiner ersten Opfer. Dann hat der Kerl, der ihre Ermordung gestanden hat, gelogen. Und dann steht in meinem Buch die Unwahrheit.«

»Sie wollen die Sache also richtigstellen.«

»Ich lieg nicht gern daneben, Agent McCord.« Sie auch nicht, darauf hätte er sein letztes Hemd verwettet.

Bemerkte er in ihren Augen ein erstes Aufflackern von Vertrauen? Sie hielt seinem Blick stand, dann sah sie weg.

»Sie scheinen sich in den örtlichen Machtverhältnissen gut auszukennen.«

»Ich bin hier geboren.«

»Sie scheinen mir helfen zu wollen.«

»Vielleicht.«

»Hören Sie. Ich habe keine Lust, Ihre sprudelnde Informationsquelle zu werden. Ich habe keine Lust, in einem Ihrer drittklassigen Krimis zitiert zu werden.«

»Ich schreibe keine Fiktion. Ich schreibe Tatsachenromane.«

»Bravo«, sagte sie. »Trotzdem, als Informantin bin ich für Sie tabu.«

Troy unterdrückte ein Lächeln. Das Wort »tabu« gehörte nicht zu seinem Wortschatz. »Wie Sie wünschen.«

»Noch einmal: Warum sind Sie heute Morgen vorbeigekommen?«

Er studierte genau ihr Gesicht. Er mochte ihre Art und wusste, dass er das, was er vorhatte, bald bereuen würde. »Vielleicht haben Sie ja Lust auf einen Ausflug.«

Sie sah ihn misstrauisch an. »Einen Ausflug?«