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Luka, ein junger Schauspieler, stammt aus einem kleinen Bergdorf im Großen Kaukasus, wo die Natur rau und das Leben reich an Mythen und Sagen ist. Die Stadt Tbilissi erscheint ihm verheißungsvoll, doch schnell bringt er mit seiner ehrlichen Art die omnipräsente Miliz gegen sich auf. Er entschließt sich zur Flucht. Doch der Busfahrer, der ihn bis zu seinem Dorf bringen sollte, setzt ihn auf halber Strecke vor die Tür: Eine Weiterfahrt sei bei der Eisglätte lebensgefährlich. Luka kämpft sich allein durch den Schnee, aber es ist hoffnungslos, die Dunkelheit bricht herein. Das Heulen der Wölfe ruft Erinnerungen wach, bis sich Luka plötzlich von einem Wolfsrudel umzingelt sieht. "Der scharlachrote Wolf" ist ein moderner Klassiker der georgischen Literatur. In atmosphärischen Bildern lässt Tschocheli eine archaische und zugleich moderne Welt lebendig werden, deren scharfe Kontraste die georgische Gesellschaft bis heute prägen. Menschen verwandeln sich in Wölfe und Wölfe in Menschen, heidnische und christliche Motive sowie alte und neue Erzähltraditionen gehen eine reizvolle Verbindung ein, sodass die Übergänge von Tradition und Moderne auf intellektuell anregende und sinnlich erfahrbare Weise greifbar werden.
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Seitenzahl: 236
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Luka, ein junger Schauspieler, stammt aus einem kleinen Bergdorf im Großen Kaukasus, wo die Natur rau und das Leben reich an Mythen und Sagen ist. Die Stadt Tbilissi erscheint ihm verheißungsvoll, doch schnell bringt er mit seiner ehrlichen Art die omnipräsente Miliz gegen sich auf. Er entschließt sich zur Flucht. Aber der Busfahrer, der ihn bis zu seinem Dorf bringen sollte, wirft ihn auf halber Strecke raus: Eine Weiterfahrt sei bei der Eisglätte lebensgefährlich. Luka kämpft sich allein durch den Schnee, es ist hoffnungslos. Die Dunkelheit bricht herein, und das Heulen der Wölfe ruft Erinnerungen wach – bis sich Luka plötzlich von einem Wolfsrudel umzingelt sieht.
Goderdsi Tschocheli lässt eine archaische und zugleich moderne Welt lebendig werden: Menschen verwandeln sich in Wölfe und Wölfe in Menschen, heidnische und christliche Motive sowie alte und neue Erzähltraditionen gehen eine reizvolle Verbindung ein. So werden in Der scharlachrote Wolf die Übergänge von Tradition und Moderne auf intellektuell anregende und sinnlich erfahrbare Weise greifbar.
»Er fühlte sich heimisch in dieser Umgebung. Auch das Wolfsgeheul schien ihm jetzt fast vertraut, als käme es aus seiner Kindheit, nur dass er größer geworden war – alles andere war gleich geblieben.«
Goderdsi Tschocheli
Derscharlach-rote Wolf
Roman
Aus dem Georgischen von Anastasia KamarauliMit einem Nachwort der Übersetzerin
Inhalt
Der Bus erreichte die Stadt …
Nachwort: Goderdsi Tschocheli – Ein Leben zwischen den Welten
Der Bus erreichte die Stadt und tauchte in den Straßenverkehr ein.
Vor dem Universitätsgelände hatte sich eine lange Schlange gebildet. Am Eingang zum Campus befand sich ein kleines Wachhaus mit einem Drehkreuz daneben, das bei Bedarf blockiert werden konnte. Der Wachposten bestand aus drei Wachmännern. Sie alle trugen eine rote Armbinde, auf der ein Buchstabe prangte: »M« für Milizionär. Eine Scheibe trennte den Posten vom Drehkreuz, davor hing ein Schild: »Halt! Passierschein vorzeigen!« Das Drehkreuz war so konstruiert, dass bei jeder Drehung nur eine Person das Studentenviertel betreten oder verlassen konnte. Wurde es blockiert, kam man weder hinein noch hinaus. Jeder wurde von den Milizionären kontrolliert, so dass sich auf beiden Seiten eine große Menschentraube staute. Luka, ein schlanker Junge von durchschnittlicher Größe, wahrscheinlich keine achtzehn Jahre alt, stand ebenfalls in der Schlange. Er hatte kurze, kastanienbraune Haare und schaute sich mit seinen blauen Augen etwas nervös um. Eine alte Frau kam auf ihn zu und bat ihn leise, fast flehentlich: »Genosse, kauf mir doch bitte zwei Päckchen Butter, wenn du reingehst, und wirf sie mir dann über den Zaun.«
Die Frau hielt ihm das Geld für die Butter hin. Er wusste nicht genau, was er tun sollte, er war zum ersten Mal hier, doch die Art, wie die Frau ihn ansah, machte es ihm unmöglich, ihr die Bitte auszuschlagen. Die Frau bemerkte sein Zögern.
»Studenten bekommen die Butter dort vergünstigt«, flüsterte sie ihm fast entschuldigend zu.
Sie steckte Luka drei Rubel in die Tasche, dabei zitterte ihre Hand so stark, dass es sich auf ihren Oberkörper übertrug. Sie blickte sich nach allen Seiten um, als wollte sie sich vergewissern, dass es keiner gesehen hatte.
Inzwischen war Luka an der Reihe.
»Hey, du, kannst du nicht lesen?«, fuhr ihn der Milizionär an und blockierte das Drehkreuz, so dass Luka stecken blieb.
»Passierschein!«, brüllte er.
»Ich bin zum ersten Mal hier, ich habe noch keinen Passierschein.«
»Was willst du dann hier, ohne Passierschein?!«
»Ich sage doch, ich bin zum ersten Mal hier.«
»Junge, geh rein oder raus, du hältst uns alle nur auf!«, murrten die Wartenden hinter ihm.
»Aber ich habe eine Wohngenehmigung.«
Luka holte das Universitätsschreiben aus der Tasche.
»Zeig her!«, der Mann riss ihm den Brief aus der Hand. »Ach, ein Schauspieler also?«, sagte er spöttisch.
»Lass ihn schon durch!«, rief der dritte Milizionär, der in der Ecke saß und Radio hörte.
»Sag ein Gedicht auf, dann kannst du passieren.«
»Ich kann aber keins auswendig.«
»Du willst ein Schauspieler sein und kannst noch nicht mal ein Gedicht aufsagen?«
Der Milizionär gab ihm das Schreiben zurück, und als Luka schon durch das Drehkreuz gegangen war, rief er ihm hinterher: »Hey, du Schauspieler, oder wofür du dich auch immer hältst, wehe, du lässt dich hier noch mal ohne Passierschein blicken!«
Der Laden war nicht weit vom Eingang entfernt, und so ging Luka hinein, kaufte die Butter und hielt Ausschau nach der Frau, die auf der anderen Seite des Zaunes geblieben war. Sie stand ein wenig abseits und winkte ihn zu sich.
Luka warf ihr die Butterpäckchen über den Zaun und fragte sie, wo das Gebäude Nummer zehn sei.
»Das Drittletzte«, sagte die Frau, und nachdem sie etwas gemurmelt hatte, das wie »Danke schön« klang, ging sie davon.
Luka blickte der Frau eine Weile hinterher. Sie wankte immer wieder und stützte sich auf ihren Gehstock. Irgendetwas an ihr kam Luka vertraut vor. Eine eigenartige, heimatliche Wärme ging von diesem gebeugten Rücken aus.
Bisher machte alles in der Stadt einen erhabenen und bedeutsamen Eindruck auf ihn. Vor zwei Wochen war er schon für die Aufnahmeprüfungen hier gewesen, doch hatte er damals nichts gesehen und nichts gehört – er hatte nur sein Ziel vor Augen, er wollte hier studieren, und nun war es so weit. Als er im Aushang der Universität seinen Namen auf der Liste derer las, die bestanden hatten, erschien es ihm, als hätte alles einen feierlichen Anstrich bekommen. Zurück in seinem Dorf kamen ihm sogar die Berge höher und majestätischer vor.
Die Stadt, die in ihm dieses hehre Gefühl hervorrief, erschien ihm einzigartig, erhaben und geheimnisvoll. Sie glich einer betörenden Frau, die Luka herbeilockte und ihm Glück verhieß.
Die alte Frau aber war kein Teil dieser Stadt, in ihren Schritten lag nichts Erhabenes. Wie eine mitten in einer harmonischen Melodie gerissene Saite schwang sie in Lukas Herz nach. Nein, diese Frau gehörte wahrlich nicht zu dieser Stadt, oder doch?
Luka drehte sich um und betrat das Gebäude, das die alte Frau ihm beschrieben hatte. In Zimmer Nummer 55 lag Merab Bakhia angezogen auf dem Bett, sein dicker Bauch ragte in die Höhe.
»Guten Tag«, grüßte Luka.
»Oh, guten Tag, werter Herr«, erwiderte Merab und richtete sich ein wenig auf.
»Mir wurde dieses Zimmer zugewiesen.«
»Aha, und von wo kommt der Herr?«
»Aus Gudamakari.«
»Wäre der Herr so nett, mir zu sagen, wo genau das liegt?«
»Hoch oben, in den Bergen.«
»Ach, wirklich? Und sagen Sie, isst man bei Ihnen die Zeitung eher gekocht oder gebraten?«
»Kommt ganz auf die Zeitung an«, antwortete Luka, und sofort brach Merab in schallendes Gelächter aus. Luka stimmte mit ein.
»Und wie sieht’s bei euch mit Schaschlik aus? Schaschlik?«
Merab hörte nicht auf, unsinniges Zeug zu reden und sich selbst köstlich darüber zu amüsieren.
Plötzlich klopfte es energisch an der Tür und zwei Milizionäre stürmten herein. Sofort verging den Jungen das Lachen. Den Milizionären folgten einige Komsomoler.
»Keiner von euch rührt sich!«, befahl einer der Milizionäre, und sie begannen, das Zimmer zu durchsuchen.
Sie drehten die Matratzen um, rissen die Schranktüren auf, dann bemerkten sie eine leere Weinflasche und einer von ihnen fixierte Luka.
»Du, komm her!«
Luka ging zu ihm.
»Was ist das?«
»Eine Flasche.«
»Dass das eine Flasche ist, sehe ich selbst, du Grünschnabel. Schreib das auf!«, wies er seinen Kollegen an.
»Name?«
»Luka.«
»Und weiter? Oder glaubst du, du bist Zereteli höchstpersönlich?«
»Tschocheli. Und ich nehme mal an, dass Sie auch kein Tschawtschawadse sind.«
»Nun schau sich mal einer diesen Rotzlöffel an. Was anderes bringt man euch wohl nicht bei. Nicht umsonst sagt man wohl, dass man euch statt an der Brust eurer Mutter an Peperonis nuckeln ließ. Immer dieses A-E-I-O-U, Ba-Be-Bi-Bo-Bu! Man muss schon ein Esel oder Affe sein, um bei euch zu landen.«
»Bei euch landen ja nur die Schweine, was bleibt uns Eseln und Affen dann anderes übrig?«
»Pass auf, was du sagst, Genosse! Wie redest du denn mit dem Milizionär?«, empörte sich der junge Komsomoler über Luka.
»Na warte, ich werde dir die nächsten Tage schon zeigen, was ein echtes Affentheater ist!«, drohte der Milizionär.
Zwei weitere Komsomoler kamen herein und drückten sowohl Merab als auch Luka einen kleinen Becher in die Hand.
»Na, worauf wartet ihr noch?«, trieb sie der stämmige Milizionär an.
»Bitte?« Luka hatte nicht begriffen, was sie von ihm wollten.
»Na los, macht da rein.« Der Milizionär zeigte auf den Behälter.
Luka war verwirrt.
»Genossen, tut einfach, was von euch verlangt wird«, drängte der Komsomoler.
»Wir sind uns noch nicht ganz sicher, was genau wir da reinmachen sollen«, sagte Merab scheinheilig.
»Wie meinst du das?«
»Na, ob groß oder klein.«
»Wir brauchen eine Urinprobe für die Analyse.«
Der Milizionär verlor langsam die Geduld.
»Dürfen wir das wenigstens auf der Toilette erledigen?«
»Nein, gleich hier, vor unseren Augen.«
»Und wenn’s überläuft?«, fragte Merab mit gespielter Sorge.
»Jetzt reicht’s! Schluss mit diesem Geschwätz, nun macht endlich«, befahl der Milizionär streng.
Luka schaute immer noch verwirrt, Merab signalisierte ihm, dass nichts zu machen sei, und so gaben sie nach.
Die Komsomoler verschlossen die Behälter, beschrifteten sie und verließen mit den Beamten den Raum.
Die beiden Jungen blieben zurück, und während Merab weiter herumalberte, fühlte sich Luka gedemütigt und saß schweigend da.
»Mach dir nichts draus. Stell dir einfach vor, diesen Service würden wir jeden Tag bekommen. Jetzt müssen wir uns wieder selbst um unser Geschäft kümmern. Die werden das jetzt analysieren und feststellen, dass wir keine Drogen nehmen, und damit war’s das auch. In der Zwischenzeit wirst du es längst vergessen haben.« Merab versuchte, Luka aufzumuntern. »Hier, das ist dein Schlafplatz.« Merab zeigte auf ein leeres Bett, dann ließ er sich von Luka die Wohngenehmigung geben und sagte: »Komm mit, wir holen dir Bettwäsche.«
Als sie alles hergerichtet hatten, sagte Merab: »Komm, darauf stoßen wir an.«
»Worauf?«, fragte Luka.
»Na, auf unsere Freundschaft.«
Die Jungen verließen das Gebäude.
»Da in dem Haus ist die Irrenanstalt der medizinischen Fakultät«, erklärte ihm Merab auf dem Weg.
»Aaaauuuwuuf!«, bellte eine alte Frau wie ein Hund, als die Jungen an einem der Fenster vorbeigingen.
Sie verließen den Campus, betraten eine Kneipe und tauchten in den Zigarettenqualm ein.
»Ohne Passierschein werden die mich nicht wieder reinlassen«, sagte Luka auf dem Weg zurück.
»Ich nehm nie den Eingang«, sagte Merab. »Ich hab zwar einen Passierschein, aber wer stellt sich da schon an?«
»Und wie kommst du dann rein?«
»Komm mit, ich zeig’s dir.«
Merab führte ihn um den Campus herum. An einer Stelle des Zaunes, gegenüber von ihrem Gebäude, schoben sie den Drahtzaun auseinander, schlüpften hindurch und schlossen den Zaun wieder hinter sich.
Im Zimmer angekommen, legten sie sich hin.
»Die anderen sind nach Hause gefahren«, sagte Merab.
»Welche anderen?«
»Hier wohnen noch zwei.«
Es klopfte wieder an der Tür. Merab öffnete.
Ein Mann in Militäruniform fragte: »Na, meine Herren, wie geht’s?«, und trat ein.
»Danke, gut, Herr Ausbilder.«
»Der Dekan schickt mich, um nach dem Rechten zu sehen. Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens.«
»Ist der neu?«
»Ja, erstes Semester, Schauspiel«, antwortete Luka.
»Angenehm. Sie werden bei mir Ihren Militärunterricht absolvieren. Dieses Jahr noch nicht, aber dafür nächstes Jahr. Woher kommen Sie?«
»Aus einem Dorf in den Bergen.«
»Dann sollte ja ein guter Soldat aus Ihnen werden. Und sobald Sie erst mal ein guter Soldat sind, werden Sie es auch zum Schauspieler bringen, oder zum Poeten. Wer noch kein Schießpulver gerochen hat, der …«
Das Gesicht des Mannes wurde plötzlich aschfahl und er setzte sich auf Lukas Bett. Merab lief sofort los, um Wasser zu holen, doch noch bevor er zurück war, hatte der Mann seinen letzten Atemzug getan.
Das Zimmer füllte sich mit Menschen. Man brachte den Leichnam weg, und der Raum leerte sich wieder. Luka saß da und dachte nach. Merab kam erst spät zurück und legte sich gleich hin. Luka starrte noch immer auf sein Bett.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Merab.
»Mir ist nicht nach schlafen.«
»Du hast doch keine Angst?«
»Nein.«
»Warum legst du dich dann nicht hin?«
»In diesem Bett werde ich keinen Schlaf finden.«
Merab stand auf: »Nimm meins. Du kannst froh sein, dass er in deinem Bett gestorben ist. Jetzt brauchst du keine Angst mehr vor dem Tod zu haben.«
»Wieso das denn?«
»Weil sich der Tod seine Seele schon geholt hat und er kein zweites Mal an den selben Ort zurückkehrt. In diesem Bett kann dir also nichts mehr passieren.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Hast du Hunger?«, fragte Merab.
»Nein, nicht wirklich.«
»Ich schon. Lass uns etwas essen.«
»Wo willst du jetzt noch etwas zu essen auftreiben?«
»Unter uns wohnt ein Sänger, der darf nichts Scharfes essen. Seine Familie schickt dem armen Kerl aber nur scharfes Zeug.«
Merab holte einen hölzernen Haken unter dem Bett hervor, öffnete das Fenster, angelte damit nach einem bis zum Rand gefüllten Fresskorb, der ein Stockwerk tiefer auf der Fensterbank stand, und zog ihn nach oben. Aus einem kleinen Tongefäß löffelte er Bohneneintopf und brach einen Laib Brot entzwei. Die eine Hälfte legte er auf den Tisch, die andere tat er wieder zurück in den Korb. Dann zog er noch einen zusammengefalteten Zettel heraus, auf dem unzählige Male »Danke« stand – jedes mit Datum und Uhrzeit versehen – und fügte ein weiteres »Danke« hinzu, ebenfalls mit Datum und Uhrzeit, faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn zurück in den Korb, den er an dem Haken auf das untere Fensterbrett hinabließ.
Plötzlich brach draußen Tumult aus. Die Jungen schauten hinaus, der schmale Flur füllte sich bald mit weiteren Schaulustigen. Einer der Studenten hatte sich einen Spaß daraus gemacht, einer Katze eine Blechdose an den Schwanz zu binden, und jagte das arme Tier nun vor sich her. Die Katze war trächtig, konnte kaum laufen und schaute verängstigt. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, lief bis zum Ende des Flurs, kauerte sich in eine Ecke und miaute kläglich. Ihr Peiniger aber rannte ihr hinterher und trieb sie von einem Ende des Flurs zum anderen.
»Miez, Miez, Miez!«, rief er immer wieder.
Luka ging auf ihn zu.
»Lass es lieber«, riet ihm Merab.
Aber Luka ließ sich nicht aufhalten.
»Lass ihn doch einfach. Er wird dich vermöbeln«, versuchte Merab ihn vergeblich zurückzuhalten.
Luka ging auf den Jungen zu: »Lass die Katze in Ruhe.«
»Klar, ich lasse sie laufen, dafür binden wir dir die Dose um. Aber auch nur, wenn du damit hundert Mal hin- und zurückläufst. Und wehe, du hast keinen Schwanz, an dem wir das Ding festmachen können.«
»Lass das arme Tier in Ruhe, es hat dir nichts getan«, wiederholte Luka ruhig.
Alle Augen waren auf sie gerichtet. Die Stimmung im Flur war angespannt, gleich würde etwas passieren.
Der Tierquäler schien betrunken zu sein, er hatte glasige Augen und atmete schwer.
»Ich soll die Katze also gehen lassen?!«, brüllte er und holte so energisch aus, dass es Luka auf der Stelle umgehauen hätte, wäre er nicht rechtzeitig ausgewichen.
Luka packte ihn unter den Armen, warf ihn über seine Schulter und rannte los – hin und her, hin und her. Der Junge wusste nicht, wie ihm geschah, und strampelte mit den Beinen, während die Schaulustigen in schallendes Gelächter ausbrachen. Luka trug seinen Widersacher hinaus, bis auf den Hof, zum Drehkreuz und rief dem Wachmann zu, er solle ihn passieren lassen. Auf der Straße warf er seine Last in einer dunklen Ecke, in der einige Bäume standen, wie einen Sack auf den Boden und sagte seelenruhig:
»So, hier sind wir allein. Jetzt können wir das unter uns klären. Von Mann zu Mann.«
Sein betrunkener Gegner stand schwerfällig auf, klopfte sich die Hose ab und trat mit eingezogenem Kopf den Rückzug an. Luka betrat den Campus wieder durch das Drehkreuz. Der Wachmann fragte ihn nicht mehr nach dem Passierschein, sondern sah ihn nur verdutzt an, brachte aber schließlich doch noch ein paar Worte hervor:
»Ach, sieh einer an, der Theaterclown!«
Luka antwortete nicht, sondern beobachtete, wie die Katze in der Dunkelheit in dieselbe Richtung wie ihr Peiniger verschwand. Dieser Tag hatte ihm wirklich nichts Gutes gebracht.
»Trink!«, drängte Merab Luka.
»Nein, ich kann wirklich nicht mehr.«
»Trink schon!«, sagte ein anderer.
»Ich muss zur Vorlesung.«
»Ja, ja, zur Vorlesung.«
Merabs Freund versuchte, ihm den Wodka aufzuzwingen.
»Ich komm gleich wieder«, sagte Luka.
»Wo willst du hin?«
»Ich geh zur Uni und komm dann gleich zurück.«
»Schau mal, ob du dir Geld leihen kannst.«
»Mach ich.«
Durch die dichte Rauchwolke, die im Lokal umherwaberte, bahnte sich Luka seinen Weg zur Garderobe.
»Mein Mantel hängt auf der Fünfzehn. Meine Freunde haben die Nummer.«
»Der hier?«
»Nein.«
»Und dieser?«
»Auch nicht.«
»Da ist aber kein anderer Mantel auf der Fünfzehn.«
Luka ging zurück zu den Jungs.
»Mein Mantel ist weg.«
»Wahrscheinlich hat ihn jemand mitgehen lassen. Was soll’s, mein Freund, so was passiert nun mal«, feixten die Jungs.
Nur mit einem Hemd bekleidet lief Luka auf die Straße.
Draußen lag Schnee, es war kalt und windig.
Auf dem Weg kam er an der Heilanstalt vorbei. Just in diesem Moment hörte er die Frauenstimme aus dem Fenster bellen – »Auuuwuuuf!« – gefolgt von einem Schwall kaltem Wasser, der sich über ihn ergoss.
Luka blieb wie angewurzelt stehen, er wusste nicht, was er machen sollte. Die anderen Insassen liefen an die Scheibe und lachten ihn aus.
Der Wind blies, es fror.
Bibbernd und nass bis auf die Knochen betrat Luka den Theatersaal der Schauspielakademie. Irina, eine Kommilitonin, stand auf der Bühne und rezitierte ein Gedicht. Durch die plötzliche Wärme, die ihn umfing, wurde es Luka ein wenig schwindelig und er sah Irina doppelt. Er hielt sich ein Auge zu und rief: »Irinaaaa!«
Irina verstummte.
»Irinaaa!«
»Was willst du, Luka?«
»Ich liebe dich, Irina!«
Im Saal brach Gelächter aus.
Zwei Jungen brachten ihn sogleich aus dem Gebäude in eine dunkle Ecke. Dort fragte ihn einer der beiden: »Du liebst sie also?«
»Ich liebe sie.«
Sofort traf ihn ein Schlag ins Gesicht, so hart, dass er bewusstlos zu Boden fiel. Die Jungen traten mit den Füßen auf ihn ein, dann schütteten sie ihm einen Eimer Wasser über, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen.
…
Luka lag in seinem Bett und zitterte.
Merab versuchte, ihn zu wärmen, und hatte mehrere Mäntel über die Bettdecke gelegt. Der Arzt kam herein und untersuchte ihn.
»Wir sollten dich lieber ins Krankenhaus bringen. Wie lange liegst du denn schon im Bett?«, fragt er Luka.
Merab antwortete für ihn: »Seit einer Woche.«
Sie zogen ihn an und nahmen ihn mit.
Vor dem Drehkreuz hatte sich wieder eine lange Schlange gebildet.
Der Krankenwagen raste mit Blaulicht davon.
Das Erste, was ihm auffiel, als er ins Krankenhaus kam, war der verwinkelte Flur, in dem Tische standen, an denen die Patienten aßen. Neugierig beäugten sie den Neuankömmling.
»Bring ihn in die Fünf. Da ist noch Platz«, sagte der Arzt zur Krankenschwester.
»Komm, mein Junge.« Die Schwester nahm sich seiner an.
Die meisten Krankenzimmer hatten Verbindungstüren. Als sie in die Vier kamen, fragte die Krankenschwester: »Hängst du an der Nadel?«
»Was?«
»Oder rauchst du Gras?«
»Was für Gras?«
»Die werden dich schon dazu bringen.«
»Wer sind die?«
»Die aus der Fünf«, flüsterte sie und sah sich um. »Da liegen nur solche. Alle mit chronischer Tuberkulose. Dass sie es selbst rauchen, reicht denen nicht, sobald sie einen in die Finger kriegen, machen sie ihn auch kaputt.«
»Schwester?«
»Ja, mein Junge?«
»Ist sonst nirgends ein Bett frei?«
»Leider nein. Einer aus der Fünf ist heute gestorben, sein Bett ist frei geworden.«
»Kann ich nicht eins in der Vier bekommen?«
»Wie denn? Du siehst doch, hier gibt es nur fünfzehn Betten.«
Luka nahm zehn Rubel aus der Tasche und steckte sie ihr zu.
»Mehr habe ich nicht bei mir. Wenn ich wieder auf die Beine komme, gebe ich dir mehr, nur steck mich da nicht rein.«
Aus der Fünf kam ein Mann mit rasiertem Schädel und ging zum Essen auf den Flur.
»Ich spreche mal mit dem Arzt.« Sie ging weg.
Kurz darauf kamen zwei Männer mit einem Metallbett herein und quetschten es zwischen zwei andere Betten, so dass kein Platz mehr dazwischen blieb. Dann wiesen sie Luka an, sich hinzulegen, und rieten ihm, sich zu schonen.
Nach dem Essen strömten die Kranken wieder in die Zimmer. In den Betten neben Luka lagen jetzt zwei alte Männer – einer rechts, der andere links. Der Linke war eigentlich gar nicht so alt, eher mittleren Alters. Er schaute Luka eindringlich an, dann fing er an zu schreien.
»Hilfe, Hilfe, er will mich umbringen.«
Niemand rührte sich.
»Hilfe!«, schrie der Alte, den man Suren nannte.
Mehrere Krankenpfleger stürmten herein. Nur mit Mühe konnten sie ihn beruhigen.
»Er will mich töten! Sie haben ihn geschickt, um mich zu töten.« Er zeigte auf Luka. »Er hat ein Messer! Ein Messer!«
»Immer mit der Ruhe. Keine Angst, er hat doch gar kein Messer.«
»Schaut nach!«
Die Krankenpfleger taten so, als würden sie Luka abtasten.
»Und, hat er eins?«
»Nein, nein. Keine Angst.«
»Er wird mich also nicht töten?«
»Du siehst doch, er kann sich kaum bewegen. Warum sollte er dich überhaupt töten wollen?«
»Sie haben ihn geschickt.«
»Ist ja gut. Beruhig dich wieder.« Die Krankenpfleger gaben ihm seine Medikamente.
Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte er Luka leise: »Und du hast wirklich kein Messer?«
»Nein.«
»Und du willst mich wirklich nicht umbringen?«
»Nein.«
»Und du wirst mir nicht die Kehle durchschneiden, wenn ich schlafe?«
»Nein, da brauchst du keine Angst zu haben.«
»Willst du mein Freund sein?«
»Wenn du willst.«
»Du passt doch auf mich auf, oder?«
»Wie soll ich das denn anstellen?«
»Du siehst doch den Kurden da drüben, im dritten Bett.«
»Ja.«
»Der ist bestimmt von denen geschickt worden.«
»Von wem?«
»Von denen. Der soll mir die Kehle aufschlitzen. Du passt doch auf mich auf, wenn ich schlafe, oder?«
»Ja klar.«
»Dann schlaf ich jetzt. Seit einer Woche habe ich nicht mehr geschlafen.«
Keine Minute später gab Suren schon ein lautes Schnarchen von sich. Allmählich wurde es ruhig im Krankenzimmer.
»Albert!«, rief jemand von der Straße aus.
Ein junger Mann, ziemlich klein, richtete sich in seinem Bett auf und schaute aus dem Fenster.
»Gleich!«, rief er hinunter, zog sich an, deckte das Bett so zu, als würde noch jemand darin liegen, und seilte sich an einem Strick, der am Fensterbrett befestigt war, ab.
Sein Bettnachbar wickelte das Seil wieder auf und versteckte es. Aus der Fünf kam der Kahlkopf, schlich leise zu Luka und flüsterte ihm ins Ohr:
»Man ruft nach dir.«
»Wer?«
»Der Chef.«
»Ich darf nicht aufstehen.«
»Du darfst, wenn man es dir befiehlt. Das ist ein Befehl, also komm mit.«
Luka ging mit.
In der Fünf wurde Karten gespielt. Die Männer schienen Luka, der in der Tür stand, gar nicht zu bemerken.
»Rauchen oder spritzen?«, fragte der Chef.
»Ich rauche nicht, ich darf nicht.«
»Du bist mir ja einer. Bist du schon lange hier?«
»Ich wurde heute eingeliefert.«
»Dann lass uns zur Feier des Tages einen rauchen.«
»Ohne mich.«
»Was? Was? Was?«
Einer zeigte ihm eine lange Spritze.
Jemand steckte seinen Kopf aus der Vier herein und zog sich sofort wieder zurück. »Die Nachtschwester kommt.«
»Schnell, hau ab!«, befahl der Chef.
Luka ging zurück zu seinem Bett und legte sich hinein. Die Nachtschwester lief vorbei und verschwand wieder. Aus der Fünf kam wieder der Bote zu ihm.
»Hast du Knete?«, flüsterte er.
»Nein.«
»Kriegst du morgen Besuch?«
»Bitte?«
»Ob dich morgen jemand besuchen kommt.«
»Ich weiß es nicht.«
»Wenn ja, knöpf denen was ab. Verstanden?«
»Verstanden.«
Der Bote ging zurück ins andere Zimmer.
Die anderen Patienten schliefen. Auch der Alte neben Luka schlief tief und fest.
Luka lag da und dachte nach. Doch eigentlich konnte man es kaum denken nennen. Er erinnerte sich an Dinge, die ihm sonst nie in den Sinn kommen würden. Diese Nacht glich auf eigenartige Weise jener anderen Nacht.
Damals war er noch klein. Er ging noch nicht mal zur Schule oder gerade mal in die erste Klasse, das wusste er nicht mehr so genau. Damals kam er zum ersten Mal ins Krankenhaus. Er hatte mit seinen Freunden auf dem Dorfhang Verstecken gespielt, und als er an der Reihe war, wurden ihm die Augen verbunden. Die anderen Jungen versteckten sich. Eine alte Frau hatte auf ihrem Dach, das mit dem Hang darüber auf gleicher Höhe lag, Weizen zum Trocknen ausgelegt und passte auf, dass weder die Hühner noch andere Vögel etwas davon stibitzten. Weil er nichts sehen konnte, lief Luka aus Versehen auf das Dach.
»Wo läufst du denn hin?«, keifte die alte Frau.
Luka wollte die Augenbinde abnehmen, aber das war gegen die Spielregeln, darum sagte er:
»Ich kann nichts sehen. Wo muss ich denn lang?«
»Ein Stück zur Seite und dann weiter geradeaus.«
Luka folgte ihrer Anweisung und bewegte sich tastend voran.
»Weiter, weiter!«
Luka lief weiter.
»Weiter, weiter!«, rief die alte Frau.
Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen und fiel. Er schlug mit dem Kopf auf und sogleich rann ihm Blut über das Gesicht. Er sah Sterne und fing an zu weinen. Seine Mutter eilte herbei, nahm ihn in den Arm und tastete seinen Kopf ab.
Damals bekam Luka zum ersten Mal ein großes Stück Kandiszucker von der Nachbarin. Am nächsten Tag brachte man ihn in das Krankenhaus des Rajons. Luka lag mit drei Männern im Krankenzimmer, die sich allerlei Geschichten erzählten.
Einer sagte: »Es gibt kaum noch ein Volk, das sich nicht nach dem Tod aller Christen sehnt. Heute ist einer dieser besonderen Tage, an denen sie ihren Durst nach christlichem Blut stillen.«
Luka war zum ersten Mal außerhalb seines Dorfes – mit fremden Menschen in einer fremden Umgebung. Das, was da eben gesagt worden war, hatte er nicht ganz verstanden, aber er dachte sich, dass der Mann vielleicht selbst einer von denen sei und er ihm, sobald er eingeschlafen war, den Kopf abhacken würde, um den Feinden der Christen sein Blut zu bringen.
Im Krankenzimmer schliefen alle.
Luka aber versuchte, wach zu bleiben.
Er schlummerte ein.
Riss die Augen wieder auf.
Er wehrte sich gegen die Müdigkeit.
Schlafen und Wachen kämpften gegeneinander an.
Er schlief ein.
Er träumte, dass er in seinem Dorf war und auf den Dächern spielte. Plötzlich flatterten Tauben auf und die Glocken begannen zu läuten. Aus der Kirche, die oberhalb des Dorfes stand, trat ein alter Mann mit weißem Haar und weißem Bart, sogar seine Kleidung war weiß. Auf einen weißen Gehstock gestützt lief er hinunter ins Dorf.
Seine Freunde liefen davon.
Luka wollte hinterher, doch er konnte nicht, seine Füße waren wie festgewachsen.
Der alte Mann kam auf ihn zu, legte seine Hand, die weiß wie Schnee war, auf seinen Kopf, gab ihm eine Blume und sagte:
»Hab keine Angst, mein Junge. Geh, lauf.«
Luka lief los.
Er wachte auf.
Es war schon hell.
Der Arzt betrat das Zimmer …
»Er hat ein Messer! Ein Messer!«, schrie Suren und sprang auf. »Hilfe!«
Nun war auch das ganze Zimmer auf den Beinen.
Suren war nur schwer zu beruhigen.
Es war früh am Morgen, die Patienten warteten auf ihre morgendlichen Spritzen. Luka stand auf, um sich das Gesicht zu waschen. Als er sich vorbeugte, begann seine Nase zu bluten und wollte gar nicht mehr aufhören. Die Krankenschwester legte ihn vorsichtig auf den Rücken. Im Zimmer waren nur noch Domenti und er selbst, die anderen frühstückten auf dem Flur.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte Domenti Luka. »Ich bin der Polizeimajor. Na ja, ich war es.« Domenti fing an zu husten.
Der Laufbursche aus der Fünf kam herein. Er ging zu Domenti ans Bett und sagte: »Na, Onkel Domenti, hast du immer noch Husten?«
»Sieht so aus, mein Junge.«
»Bin gleich wieder da«, sagte der Laufbursche und kam kurz darauf mit einem Gläschen Schnaps wieder, den er Domenti zu trinken gab. Diesem blieb augenblicklich die Luft weg und er ließ sich ächzend auf sein Kissen fallen.
»Pscht!« Der Bursche legte den Finger auf die Lippen und lief hinaus, um einen Arzt zu holen. Aber bevor er wieder zurück war, hatte Domenti schon seinen letzten Atemzug getan. Mehrmals rief der Arzt seinen Namen, doch da war nichts mehr zu machen. Sein Körper war schwer wie Blei, sie hatten Mühe, ihn aus dem Zimmer zu tragen.
Suren kam hereingelaufen. »Weißt du, wer da ist?«
»Nein. Wer denn?«, fragte Luka zurück.
»Der irre Akaza, der vorher hier lag. Er ist wieder da.«
Schon im Flur wurde der zwanzigjährige Akaza von den Patienten freudig empfangen. Sie folgten ihm ins Krankenzimmer, wo er sich auf Domentis Bett niederließ.
»Und, hast du’s noch drauf?«, fragten ihn die Patienten herausfordernd.
»Klar hab ich’s noch drauf«, erwiderte er.
»Unsinn, du kannst es bestimmt nicht mehr«, stichelte einer.
»Wie, ich kann’s nicht mehr?!«
»Du kannst es nicht mehr.«
»Wetten?«
»Um was?«