Der Schatten des Herodes - Andres Muhmenthaler - E-Book

Der Schatten des Herodes E-Book

Andres Muhmenthaler

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Beschreibung

Im dritten Aarberger Krimi ist Ex-Kommissar Weber wiederum gefordert, als ihn Laura, seine Nachfolgerin bei der Berner Kripo, um Unterstützung in einem Fall bittet, bei dem Bewohner der Psychiatrischen Klinik in Aarberg unter Mordverdacht geraten. Als sich herausstellt, dass das Hightech-Fahrzeug, in welchem die Klinikleiterin tödlich verunfallte, auf raffinierte Art manipuliert worden war, überschlagen sich die Ereignisse. Richtig dramatisch wird die Geschichte, als Bauarbeiter die Leiche einer Frau entdecken, die vor Jahrzehnten enthauptet und verscharrt wurde und Ex-Kommissar Weber bei seinen Ermittlungen einen Zusammenhang mit dieser Leiche und der getöteten Klinikleiterin erkennt. Die Spuren führen in die Vergangenheit, zu einem einst mächtigen Bewohner des Stedtlis, den die Aarberger Herodes oder den Braunen Ueli genannt und vor dem sie sich gefürchtet hatten. Es sollte nicht bei dem einen Leichenfund bleiben ... Den oder die Mörder müssen wir im Umfeld der Psychiatrischen Klinik suchen, ist Ex-Kommissar Weber überzeugt. Der dritte Aarberger Krimi von Andres Muhmenthaler bietet dem Leser wiederum viel Überraschendes und sorgt für Spannung bis zum Schluss.

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Seitenzahl: 248

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Personen

Aus früheren Aarberger Krimis bekannt

Heiri Weber: Ex-Kommissar der Berner Kripo im Ruhestand. Ruhestand? Von wegen!

Rita: Heiris Gattin. Sie hat ihren Heiri im Griff – mehr oder weniger.

Laura Sollberger: Heiris Nachfolgerin bei der Kripo. Sie hat es nicht leicht in ihrem Job und ist froh um Heiris Unterstützung.

Silvia Möri (die Rote Zora): Leiterin der Psychiatrischen Klinik in Aarberg. Ihr Leben endet plötzlich und unerwartet in einem Hightech-Fahrzeug.

Urs Lehmann (Paganini): Ehemaliges Wunderkind, Geigenvirtuose, tut sich schwer mit seiner Stradivari und sich selber. Zu schwer!

Werner Zürcher (Sokrates): Hat einen besonderen Draht zu Laura.

Jürg Blaser (der Revolutionär): Hat zwar nie eine Revolution ausgelöst, sondern als cleverer Geschäftsmann ein Vermögen angehäuft. Seine Schwäche: die junge Straßenmusikerin Swetlana.

Wendy und Marc Flückiger: Mitarbeitende in der Psychiatrischen Klinik, mit den Webers befreundet.

Uwe Schmitt: Psychisch labil, Ehemann und zugleich auch Patient von Silvia Möri.

Haben mit dem neusten Fall zu tun

Matthias Pulver: Lauras neuer Assistent bei der Kripo.

Tim Schmitt: Uwes Bruder, eine Kapazität, was Hightech-Fahrzeuge betrifft.

Adi Winkelmann: Gemüsebauer in der Region, überraschend vielseitig.

Yves Jobin: Hat eine schwierige Vergangenheit und eine besondere Beziehung zu Adi.

Max Gfeller: Ehemaliger Handball-Coach von Heiri. Dunkle Episoden aus der Vergangenheit belasten sein Gewissen.

Rainer, Horst und Swetlana: Haben ein großes Interesse an Paganinis Stradivari.

Herodes (oder der Braune Ueli): Obwohl schon lange tot, macht er manchen, die unter seinem Einfluss standen, noch heute das Leben schwer.

Inhaltsverzeichnis

Der Plan

Das Attentat

Konzert abgesagt

Die Unfallstelle

Adi Winkelmann

Heiri und Rita

Auf dem Weg zur Klinik

Lehmanns und der Versicherungsvertreter

Verhör in der Klinik

Leichenfund im Schwellenmätteli

Yves und sein Bruder

Tante Frieda

Der Möri-Hof

Leichenfund in Aarberg

Max Gfeller

Hamburg, Reeperbahn

Silvias Dokumente

Das Geisterhaus

Heiri, Max und Matthias

Ein Anruf aus Israel

Herodes und die schöne Helene

Puzzleteile

Matthias erklärt

Leichenfund im Geisterhaus

Max und Matthias

Beisetzung und Schlussworte

1

Der Plan

Heute bist du fällig, du starrköpfiges Luder. Deine schwarze Vergangenheit holt dich endlich ein. Viel zu lang habe ich auf diesen Moment gewartet. Wie ein Kartenhaus wird alles zusammenbrechen, was du aufgebaut hast. Du hast deine Chance bekommen und sie vertan, jetzt wirst du büßen, denkt er. Meine Rechnung muss aufgehen, sie muss, sie muss! Und wenn nicht, bring ich dich eigenhändig um!

Sein Gesicht ist wutverzerrt, die Augen starr auf das Display des Geräts in seiner linken Hand gerichtet. «Fahr zum Teufel, Rote Zora, deine Uhr ist abgelaufen», flüstert er. Beinahe muss er grinsen bei diesen Worten und findet den Vergleich mit Wilhelm Tell gar nicht schlecht. Auch er sieht sich als Rächer, als Kämpfer für die Gerechtigkeit. «Mal sehen, wer zuletzt lacht! Du wolltest nicht teilen, jetzt verlierst du alles!» Langsam bringt er sich in Position.

Auf seinem Display sieht er, dass sie mit dem Hightech-Auto soeben in Aarberg losgefahren sind. Er nimmt es befriedigt zur Kenntnis. Genial, diese Technik, denkt er, alle werden sich wundern. Mein verpfuschtes Leben bekommt einen neuen Sinn. Wenigstens für die Zeit, die mir noch bleibt. Doch stopp jetzt, klaren Kopf bewahren! Nichts vermasseln…

Auf dem kleinen Monitor beobachtet er die Fahrt des Wagens mit der kostbaren Fracht. Gleich wird sie die ehemalige Klosteranlage der heutigen Alters- und Pflegeklinik Frienisberg passieren. «Noch genau zwei Minuten, meine Liebe!», haucht er vor sich hin. Meine Position ist optimal. Sobald ich den Wagen dort vorn über die Kuppe kommen sehe…

2

Das Attentat

Silvia Möri, Ärztin und Leiterin der Psychiatrischen Klinik in Aarberg, sitzt erstmals anstelle ihres Ehemannes Uwe am Steuer seines Hightech-Wagens. Wie immer, wenn sie in den letzten Tagen zu den Proben nach Bern fuhren, ist Paganini alias Urs Lehmann mit seiner kostbaren Stradivari-Geige im Arm hinten eingestiegen.

*

Hoffentlich wird der Spinner Silvia nicht noch bitten, in seinem heiligen, neu hergerichteten Raum der Ruhe oder – wie er zu Klosterzeiten hieß – im Refektorium, ein Stoßgebet auf das Gelingen seines Konzertes aussprechen zu gehen, sonst ist mein genialer Zeitplan im Eimer, weiß er und kann sich der aufkommenden Nervosität fast nicht mehr erwehren.

*

«Fahr vorsichtig! Du weißt, meine Geige!», ist die Litanei, welche Uwe pro Fahrt zu den Proben mehrmals vom einstigen Wunderkind zu hören bekam. Doch heute, mit Silvia am Steuer, bleibt er stumm. In der Stellung eines Ungeborenen umklammert er den Geigenkasten. Silvia hatte Mühe, ihn überhaupt in den Wagen zu kriegen, denn heute ist der große Tag. Nach über zwanzig Jahren Bühnenabstinenz wegen seiner psychischen Probleme soll er in Bern sein Solisten-Comeback geben.

Die Vorbereitungsphase lief ganz nach Plan. Ermutigt durch die gelungenen Proben im Zusammenspiel mit dem Berner Sinfonieorchester konnte er seine anfängliche Verkrampfung ablegen. Sein berührendes Spiel auf den Saiten, in das sich Silvia schon zu Jugendzeiten verliebt hatte, war wunderbarerweise wieder da. Die Erwartungen sind riesengroß. Nur mit Mühe hat Silvia ihren Schützling und sich vom Presserummel abschirmen können. Die Aufmerksamkeit ist insbesondere auch von der Boulevardpresse geschürt worden. Was nicht weiter erstaunt.

Erstens ist Paganini einst von Seiten seiner Eltern als Wunderkind richtiggehend vermarktet worden und hatte dadurch einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Zweitens birgt die Tatsache, dass der mittlerweile vierundvierzigjährige Urs Lehmann die letzten zwanzig Jahre seines Lebens als Gebrochener und in mehreren Kliniken vergeblich Therapierter aus seinem Schatten tritt und zurück auf die Bühne kommt, durchaus Wundercharakter. Vom Psychopathen zum Star, oder so…

Insbesondere Paganinis ehrgeizige Eltern galt es auf Distanz zu halten. Sie meldeten sich fast täglich in der Aarberger Klinik und wollten Urs zu sich nach Bern holen. Sie, welche in der Krisenzeit beschämt weggesehen hatten, waren jetzt plötzlich wieder da und versuchten, ihren früheren Vorzeigesohn aus den Fängen von Silvia, dieser Hexe, wie sie die Psychologin bezeichnen, herauszulösen und unter ihre Fittiche zu nehmen. Ihr Neid auf Silvia, die es geschafft hat, ihrem Ursli sein fehlendes Selbstvertrauen zurückzugeben, ist riesig. Vergebens hat Silvia das alte Ehepaar Lehmann gebeten, erst nach den Konzerten wieder ins Leben ihres Sohnes zu treten, da sein Zustand immer noch äußerst fragil sei.

Während der Fahrt ertappt Silvia sich immer wieder, dass sie in den Rückspiegel schaut, um Paganinis Zustand zu überwachen. «Du musst zu deiner Nervosität stehen!», hat sie ihm geraten. «Die unruhige Nacht vor dem Konzert ist normal, weißt du, auch ich habe kaum ein Auge zugedrückt. In Bern angekommen werden wir noch unser Ritual durchspielen, und anschließend wird es bestimmt klappen. Du hast den Mozart so verinnerlicht, dass du völlig befreit aufspielen kannst. Alle drücken dir die Daumen. Das wird dir Halt geben, glaube mir!» So und ähnlich hat sie ihm vor der Abfahrt wiederholt zugeredet.

Doch was sie auf der Fahrt im Rückspiegel sieht, beunruhigt sie. Paganini zittert am ganzen Leib. Krampfhaft umklammert er seine Geige. Um ihn abzulenken, beginnt Silvia belanglose Geschichten aus ihrer Jugendzeit zu erzählen.

«Dort drüben am Rande der Lichtung haben wir einst mit unserem Lehrer der Unterstufe ein Tipi-Indianerlager aufgebaut. In der Nacht sind wir dann schlafend unter der Zeltplane ins Freie gerollt und feucht vor Tau in aller Herrgottsfrühe aufgewacht. Der erste Sonnenstrahl…» Silvia bricht ihre Erzählung abrupt ab, als ein Stoß durchs Auto geht. Wie auf Schienen fährt der Wagen anschließend geradeaus. Geistesgegenwärtig tritt Silvia mit voller Kraft auf die Bremse. Vergebens, denn neben der Steuerung sind auch die Pedale blockiert. Das Hightech-Auto aus den Staaten gehorcht ihr nicht. Selbst die Handbremse, an der Silvia verzweifelt reißt, scheint wie ausgeschaltet. Nun geht alles sehr schnell. «Dieser verdammte, uneinsichtige Scheiß…» flucht sie, als sie realisiert, dass das Auto ungebremst von der Straße abkommt und durchs Unterholz auf eine riesige Fichte zurast.

Die von ihrem Beruf stresserprobte Frau nimmt noch wahr, dass eine zu einem breiten Grinsen verzogene Fratze hinter einem Fichtenstamm hervorschaut. Im letzten Moment duckt sich Silvia.

«Oh Tannenbaum…!», hört sie Paganini wie aus einer fremden Welt. Ein gewaltiger Aufprall, und sie stürzt in eine tiefschwarze Unendlichkeit.

3

Konzert abgesagt

Heiri Weber, der frühere Hauptkommissar der Kripo Bern, freut sich wie ein Kind auf das große Ereignis. Seit Tagen, besser gesagt, seit der Rückkehr von ihrer mehrmonatigen Europareise im Wohnmobil, fiebert er der Sensation entgegen. Mit seiner Frau Rita hat er in Bargen den Siebzehn-Uhr-Zug in Richtung Lyss–Bern bestiegen, um keinesfalls den Konzertbeginn um zwanzig Uhr im Kulturcasino Bern zu verpassen. Während Rita ahnungslos und daher fast emotionslos die Gratiszeitung 20 Minuten durchblättert, die zuvor auf ihrer Sitzbank gelegen hat, schaut Heiri gutgelaunt der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft nach. Seine Gedanken kreisen um Paganini, den Solisten, dem es offensichtlich gelungen ist, seine Second Chance zu nutzen. Will heißen, dass er aus seinem Burn-out und psychischen Loch nach beinahe zwanzig Krisenjahren auf die Bühne zurückgefunden hat. Den wohl größten Anteil an seinem wundersamen Comeback trägt sicher Silvia Möri, Doktor der Psychologie und Leiterin der Psychiatrischen Klinik in Aarberg. Sie hat ihn unter ihre Fittiche genommen und in unzähligen Therapiestunden wieder aufbauen können. Es würde mich nicht wundern, wenn sich Silvia damit weit über Aarberg hinaus einen Namen als «Wunderheilerin» machen würde, überlegt Heiri und schmunzelt zufrieden.

Erstaunlich, welch positive Wirkung ihr Vertrauen dem einstigen Wunderkind mit seinen genialen geigerischen Fähigkeiten gegenüber tat. Eine größere Genugtuung, als ihn heute als Solisten, begleitet vom Sinfonieorchester Bern, auf der großen Bühne spielen zu sehen, kann man sich nicht vorstellen, sinniert er. Die Vorfreude aufs Konzert ist begleitet von der Sorge um ein mögliches Versagen von Paganini. Dies käme einer Katastrophe gleich, weiß Heiri und wischt sich mit dem Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn. Das Verlangen nach dem Rauchen, das er verspürt, macht ihn noch nervöser. Ärgerlich konstatiert er, dass ihm das Pfeifenrauchen auf der halbjährigen Europareise zur Gewohnheit geworden sein muss. Um diesem Verlangen etwas entgegenzuwir-ken, schiebt er sich einen Kaugummi in den Mund.

«Willst du mir nicht endlich das Ziel unserer Reise bekannt geben?», fragt Rita, schon etwas besorgt ob seiner steigenden Nervosität. Ich komme mir ein wenig vor wie an unserem Hochzeitstag, als ich auch, in Gala gekleidet, als Braut entführt wurde. Weißt du noch?»

Heiri nickt. «Ja, dein plötzliches Verschwinden damals hat mich ebenso ins Schwitzen gebracht. Und weißt du was? Ich ärgere mich heute noch, auf den Tag genau nach vierzig Jahren, darüber, dass Esther, mit diesem aus Bayern importierten Brauch, uns beinahe das Fest versaut hat. Ihr ging es doch nur um eine Selbstinszenierung. Eine typische Sängerin halt! – Ich verspreche dir, dass dies heute ein viel genüsslicherer Abend wird. Trotzdem lasse ich mir die Würmer nicht aus der Nase ziehen, du weißt doch am besten, wie stur ich sein kann, hm!», albert er und küsst Rita auf die Wange.

«Also gut, dann erzähle mir bitte wenigstens, wie du heute Morgen dein Aarberg, das du auf unserer Reise so vermisst hast, angetroffen hast.»

«Gut, eigentlich unverändert! Hauptthema ist nach wie vor der baldige Baubeginn der Migros auf der Ostseite des Stedtlis. Die Meinungen sind nach wie vor kontrovers. Alte Querelen werden neu aufgekocht. Das Coop-Lager scheint nach wie vor die Oberhand zu haben. Die Migros-Fans, die jahrzehntelang nach Lyss zum Einkaufen fuhren, haben sich zum Teil umbesonnen und zu Denner oder Lidl, gewechselt. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Aarberg ganz gut ohne die Migros ausgekommen wäre. Hoffentlich haben die Aarberger mit der Stedtlianbindung an den neuen orangen Konsumtempel kein Eigentor geschossen. Egal, das wird sich zeigen. Lächerlich, wie sich die Menschen mit ihrem bevorzugten Lebensmittelladen identifizieren. Viele scheinen weder reformiert, noch katholisch, noch muslimisch zu sein, sondern Migros-, Coop- oder Aldi-Menschen zu werden!»

«Der Mensch ist ein Gewohnheitstier», findet Rita. «Schau, auch wir sind nicht anders gestrickt. Schon oft habe ich mich gefragt, warum ich täglich die gleiche Walkingstrecke wähle, oder du deinen Tearoom-Besuch bei Steffens sogar in Griechenland vermisst.» Das Gespräch über diese Thematik endet in einem psychedelischen Disput. Unter anderem geht es darum, ob Pensionierte die erlangte Freiheit des Tun-und-Lassen-Könnens nicht aushalten und sich daher an immer wiederkehrenden Gewohnheiten als Struktur im Alltag festklammern.

Nachdem sie an der «Front», sprich auf dem Bärenplatz, etwas Kleines gegessen haben, legt Heiri die bereits erstandenen Logenplatz-Karten für das Konzert auf den Tisch. «Paganini spielt dein Mozart-Lieblingskonzert, stell dir vor, und dies genau heute an unserem Goldenen Hochzeitstag. Welch ein Glück, welch ein Zufall. Das Konzert ist seit Wochen ausverkauft!», verkündet er sichtlich bewegt.

«Aber doch nicht der Paganini aus Silvias Klinik!», ruft Rita völlig überrascht. «Das hättest du bestimmt nicht so lange vor mir geheim halten können, oder?»

«Doch, doch. Da du weder Tageszeitungen liest noch Lokalfernsehsendungen guckst, konntest du nichts ahnen, und ich habe mich bewusst zurückgehalten. Es ist doch schön, nach vierzig Ehejahren immer noch Geheimnisse voreinander zu haben!», entgegnet er und beginnt dann, von Paganinis langem Weg zurück zum Solisten zu erzählen.

Heiri freut sich über Ritas positive Reaktion. Als frühere Supervisorin erkennt sie sofort, welch wundersame Heilung Silvias Therapie in Paganini ausgelöst haben muss. «Diese Frau Möri, eure Rote Zora, muss tatsächlich immense Kräfte besitzen, um Menschen so aufbauen zu können. Im Mittelalter hätte man sie höchstwahrscheinlich auf deinem Aarberger Stedtliplatz als Hexe verbrannt, glaubst du nicht auch? Das Beispiel Paganini zeigt eindeutig, wie wichtig es ist, Vertrauen in einen Menschen zu haben. An jemanden glauben, hilft diesem, Berge zu versetzen, nicht wahr?»

«Welch kluge Frau ich doch habe», blafft Heiri und meint dies für einmal nicht ironisch, obwohl ihm Rita unter dem Tisch einen Tritt ans Schienbein versetzt.

Leider unterläuft ihm dann ein Regiefehler. Ohne sich viel dabei zu denken, zieht er, kaum im Freien angelangt, seine Tabakpfeife aus dem Mantelsack und will sie sich nach dem Stopfen anzünden. Rita, die diese Szene beim Betrachten eines Schaufensters im Spiegelbild beobachtet, reagiert äußerst heftig und schlägt ihm die Pfeife beinahe aus dem Mundwinkel.

«Ist es schon so schlimm mit deiner Sucht! Du weißt, einen Raucher hätte ich niemals geheiratet!» Wie ein kleiner Junge, der von seiner Mami zurechtgewiesen wird, nicht in der Nase zu popeln, lässt Heiri die Pfeife schuldbewusst wieder in seiner Manteltasche verschwinden.

Die gute Stimmung, die er mit seiner ausgeklügelten Regie aufgebaut hat, ist im Eimer. Die alten Eheleute gehen fortan mürrisch und wortlos nebeneinander her und bleiben erst beim Zytgloggeturm stehen, wo Heiri mit dem Hinweis: «Schau, es ist sieben Uhr, wir können zur Feier des Tages auch noch rasch das Glockenspiel ansehen!», das nervenzehrende Schweigen zu durchbrechen versucht.

Artig folgt ihm Rita, welche ob ihrer heftigen Reaktion selbst etwas erschrocken ist, hinüber in die Kramgasse. Einigermaßen versöhnt durch das Uhren-Spektakel mit dem Figurenkarussell und dem krähenden Hahn überqueren sie anschließend voller Vorfreude aufs Konzert die Münstergasse. Ihre verbesserte Stimmung erleidet jedoch bald einen zweiten, diesmal kaum zu verkraftenden Dämpfer.

Konzert abgesagt, auf unbestimmte Zeit verschoben!

Ungläubig lesen sie die Hiobsbotschaft, die an den verschlossenen Türen des Casinosaales angebracht ist. Heiris Gedanken rasen. Haben Paganinis Nerven nicht gehalten?, fragt er sich. Die Anspannung muss für ihn wohl groß gewesen sein und die Angst, zu versagen, noch größer. Also doch kein zweites Wunder von Bern, wie Uwe, Silvias deutscher Lebenspartner, angekündigt hat, sondern der zu befürchtende Rückfall in die Muster der Psychose. Doch wie hat sich die gezeigt? Hatte er einen Zusammenbruch? Ist er vor sich selber geflüchtet und hat sich in seinem Zimmer verschanzt? So etwas in dieser Richtung ist naheliegend, denkt Heiri und versucht, durch einen der Nebeneingänge ins Casino zu gelangen.

Wenn die Absage so kurzfristig mitgeteilt werden musste, müssten doch hier ein paar Musiker zu sehen sein, die normalerweise zwischen der Einspielprobe und dem Konzert auf dem Gehsteig noch etwas Sauerstoff tanken oder kurz eine Zigarette rauchen gehen. Aber nichts! «Be triebsferien!», brummt Heiri trocken, als ihn beim Zurückgehen zur ebenso enttäuschten Rita ein Anruf erreicht.

Sofort erkennt er Lauras Stimme, die Stimme seiner langjährigen Kripo-Assistentin. Was er nun zu hören kriegt, lässt ihn erschauern. Silvia Möri habe auf der Fahrt nach Bern, im Frienisbergwald, einen tödlichen Unfall gehabt. Paganini müsse hinten im Wagen gesessen und den Unfall wohl deswegen überlebt haben. Von ihm fehle jedoch jede Spur. Verschiedene Personen aus Silvias Aarberger Umfeld seien noch vor der Polizei am Unfallort eingetroffen. Ein Waldarbeiter wurde zufällig Zeuge des Unfalls. Er habe die Verunfallten gekannt und daher vor der Polizei bereits die Psychiatrische Klinik in Aarberg kontaktiert. Wendy habe den Anruf entgegengenommen und umgehend die Kantonspolizei informiert. Marc sei mit Wendy daraufhin unverzüglich zum Unfallort gefahren. Sokrates, der praktisch mit der Todesnachricht in der Klinik eingetroffen sei, habe dann den Laden, wie er zu sagen pflegt, übernommen und telefonisch die Konzertabsage veranlasst.

Heiri aktiviert den Lautsprecher an seinem Handy, um Laura besser zu verstehen. Rita steht neben ihm und hört gebannt mit.

«Er hat mich vorhin angerufen», spricht Laura weiter, «und mich aufgefordert, doch bitte die Sache in die Hand zu nehmen und mir wenigstens den Unfallort anschauen zu gehen. Vergeblich versuchte ich ihm klarzumachen, dass der Dienstweg einzuhalten sei und die Kantonspolizei uns bei Verdacht auf einen Mordanschlag dann schon aufbieten würde. Seine Argumente überzeugten mich jedoch. Ich ließ mich mit dem Kollegen am Unfallort kurzschließen. Sein Kurzrapport brachte mich zum Entschluss, nun doch persönlich hinzufahren. Tss, die Lage ist so verzwickt, dass ich dich gerne als Berater beiziehen möchte. Ich bitte dich, mir diesen Wunsch nicht abzuschlagen. Bestimmt interessiert und beschäftigt dich der Todesfall der Roten Zora auch.

Paganinis Comeback, auf das wir alle hingefiebert haben, ist geplatzt! Es geht nun um Schadensbegrenzung, du weißt, der vermisste Urs Lehmann, seine Stradivari, den Fortbestand der Klinik… Es geht um sehr viel. Bei Silvia sind, wie du weißt, alle Fäden zusammengelaufen. Mir kam sie manchmal echt vor wie eine Puppenspielerin, die den psychoti schen und manchmal apathischen Paganini wie eine Marionette zu neuem Leben erwecken ließ.»

Heiri weiß, welche Stütze Silvia ihren früheren Klassenkameraden war. Umgekehrt hat sich durch diese große Abhängigkeit wohl auch eine Art problematische Hassliebe entwickelt. Alle drei Stammpatienten der Klinik, Paganini, der Revolutionär und Sokrates, sind sich dessen mit Sicherheit bewusst, vermutet er. «War es ein Selbstunfall?», unterbricht er Laura.

«So, wie es auf den ersten Blick aussieht, schon», antwortet Laura. «Jedenfalls ist gemäß Zeugenaussagen kein anderes Fahrzeug in den Unfall verwickelt. Aber wir müssen den Wagen genau untersuchen und den Unfallhergang abklären. Selbstmord oder gar Mord stehen jedenfalls nicht zuvorderst auf der Liste der möglichen Unfallursachen. Falls es Mord wäre, gäbe es unzählige Verdächtige. Vielleicht hätte das Attentat auch eher Uwe gegolten, der bekanntlich aus Angst um sein Heiligtum, seinem Superauto, das Steuer noch nie aus der Hand gegeben habe. Über die Herkunft des modernsten Elektrofahrzeugs existieren ganz verschiedene Geschichten. Uwes Person ist nicht fassbar. Ich glaube, er war und ist allen ein Rätsel. Doch sorry, ich bin abgeschweift. Ich bin momentan auf der Autobahn zwischen Thun und Bern und möchte raschestmöglich zur Unfallstelle im Frienisbergwald. Ich könnte dich also irgendwo …»

Heiri zögert und argumentiert mit dem Hinweis, dass ihre Anfrage zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt komme, da er heute mit Rita den vierzigsten Hochzeitstag feiere und den Abend gerne… Doch weiter kommt er nicht, denn Rita reißt ihm in diesem Moment das Handy aus der Hand. Längst hat sie mitbekommen, dass Laura am Apparat ist.

«Hallo Laura, scheinbar brauchst du ihn dringend. Aus Erfahrung weiß ich, dass er in Gedanken nach diesem Ereignis ohnehin abwesend sein würde. Ich gebe ihn also frei! Ist ja schrecklich, was geschehen ist. Entschuldige, dass ich mitgehört habe! Silvia ist tot! Paganini verschwunden, Mord? Unglaublich. Wir stehen vor dem verschlossenen Casino-Konzertsaal, weißt du. – Ja okay, bis dann!»

«Du wirst in knapp zehn Minuten hier abgeholt, Heiri», sagt sie zu ihrem Mann, welcher mit einem fragenden, aber wie ihr scheint auch dankbaren Blick sein iPhone entgegennimmt. «Ist doch wahr. Unser Abend ist eh im Eimer. Schade! Versprich mir, dass wir ihn nachholen werden!»

Heiri drückt sie fest an sich. «Versprochen! Ich bin ein Glückspilz, denn ich habe die beste Frau der Welt!», flüstert er ihr ins Ohr, um dann ihre Fragen über den Unfalltod zu beantworten. Auch Rita findet es seltsam, dass Uwe, sein Bruder Tim, Silvia und Marc noch vor der Polizei am Unfallort eingetroffen seien. Die Schmitt-Brüder hätten sich an diesem nasskalten Nachmittag auf einer Mountainbike-Tour rein zufällig im Frienisbergwald befunden und laut ihren Aussagen den Aufprall von sehr weit gehört. Seltsam, um nicht zu sagen verdächtig, dass sie zur Unfallzeit gerade in diesem Waldabschnitt des ausgedehnten Frienisbergwalds waren! Anscheinend konnte man die beiden nicht dazu bewegen, Paganinis Konzert zu besuchen.»

Kaum hat Heiri den Faden zu Ende gesponnen, erinnert er sich an Uwes vor gut einem Jahr geäußerte Meinung zur klassischen Musik: «Sie gaukelt den Menschen mit ihrer Harmonie ein sorgenfreies, nennen wir es paradiesisches, Leben vor, das der Homo sapiens niemals erlangen wird. Ich brauche dieses Verdrängen der Alltagsprobleme nicht, diese Träumereien, die nichts mit der Realität zu tun haben. Die Menschheit ist und bleibt schlecht. Ich begreife, dass die Komponisten, von denen viele ein schwieriges Leben hatten, sich und ihre leidenden Zeitgenossen mit fröhlich strahlenden Melodien beglücken und aufmuntern wollten. Für manch einen mag diese Musik wie ein Kurbad wirken. Das geht mir aber ab! Keine sieben Pferde würden mich an ein Konzert mit solcher Musik schleppen können. Paganinis Geigenspiel in der Klinik ist reine Folter für mich. Die hohen Töne wie Nadelstiche…»

Vielleicht ist Tim, sein Bruder, in dieser Hinsicht gleich programmiert, und sie haben die Bike-Tour nur unternommen, damit sie von Silvia nicht noch zum Konzertbesuch genötigt würden. Heiri ist kaum mehr ansprechbar und erschrickt, als er Rita von der Straßenseite gegenüber auf ihn zukommen sieht. Unbemerkt hat sie sich nämlich vor gut fünf Minuten davongemacht, um drüben einen Blick in die Schaufenster zu werfen. Heiri ist froh, dass sie ihr übliches «Hallo, zerstreuter Professor!», diesmal sein lässt.

«Ich werde noch etwas shoppen gehen und dann per ÖV zurück nach Hause fahren», erklärt Rita, als sie, vom Helvetiaplatz kommend, Laura über die Kirchenfeldbrücke heranfahren sehen. Laura lässt es sich nicht nehmen, sich für die Entführung am Hochzeitstag gebührend bei Rita zu entschuldigen. Heiri wiederholt seinen ernstgemeinten Spruch, die allerbeste aller Frauen geheiratet zu haben und dreht sich dann beim Wegfahren nochmals zu Rita um, die ihm zurück winkt.

4

Die Unfallstelle

Kaum losgefahren, wendet sich Laura an Heiri: «Tut mir leid wegen eurem Hochzeitstag! Wenn ich das gewusst hätte...»

«Schon gut», entgegnet Heiri, «gib nur zu, du hattest einfach Sehnsucht nach mir. Wir haben uns schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich bist du neidisch auf Rita, die mich jeden Tag aushalten darf!»

«So in etwa! Einfach schade, dass unser erstes Date nach eurer Rückkehr hier im Polizeiwagen bei der Arbeit stattfindet. Sehr romantisch, nicht wahr! Schade auch um die vermasselte Vorfreude auf eure Einladung für morgen! Ich bin so gespannt auf eure Erlebnisberichte, du weißt, wie gerne ich selber auf Reisen gehe. Manchmal möchte ich echt den Bettel hinschmeißen, wenigstens für ein Jahr, und dann entscheiden, ob ich wieder zurückkomme. Das Leben ist wahrlich kein Ponyhof und sucht sich immer den steinigen Weg, wenn es auch einfacher ginge.»

«Das kannst du, was den heutigen Tag betrifft, laut sagen. Und ich fürchte, dass wir zum Philosophieren gleich keine Zeit mehr haben werden. In knapp zehn Minuten werden wir am Unfallort eintreffen. Wirklich ein rabenschwarzer Tag! Weißt du, ich habe mit Silvia und Paganini seit Wochen mitgefiebert. Nun ist diese vielversprechende Symbiose der beiden geplatzt. Wieder einmal zeigt sich, wie ungerecht das Leben sein kann. Alle hätten ihnen diesen Erfolg doch gegönnt, wenn man bedenkt, von wie weit unten dieser Paganini kam! Unglaublich!»

Beinahe hätten Laura und Heiri hier, wie schon so oft, über die Ungerechtigkeit im Leben zu debattieren begonnen. Doch sie lassen es. Einzig der Leitspruch ihres früheren Chefs Weibel geht ihnen unisono über die Lippen: «Wir von der Kripo sind für die Wahrheit und nicht für die Gerechtigkeit zuständig!»

«Ich bewundere diese Frau, diese Silvia Möri», spinnt Laura den Faden weiter. «Ihr Wissen, ihr selbstsicheres Auftreten, ihre Zielstrebigkeit und ihre Passion für alles, was sie anpackt. Heiri, weißt du mehr über ihr Privatleben? Ich habe gehört, sie sei homosexuell veranlagt. Aber sie ist doch mit Uwe, diesem Deutschen, verheiratet, oder?»

«Ja, ihr Privatleben scheint oder schien mir immer auch etwas suspekt», antwortet Heiri nach kurzem Zögern. «Vielleicht werden wir schon bald gezwungen sein, Licht in das Ganze zu bringen. In unseren letzten beiden Aarberger Kriminalfällen gab es keinen Grund, in Silvias Privatsphäre herumzustochern. Jeder hat doch seine Geheimnisse, oder?»

«Ja, schon. Aber gab es da keine Liebesbeziehung mit Wendy? Ich habe auch gehört, dass Uwe eher ihr Patient als ihr Ehemann und Co-Klinikleiter gewesen sein soll!»

«So, so, und woher hast du diese Infos alle?», fragt Heiri überrascht und beobachtet schmunzelnd die aufkommende Verlegenheitsröte in Lauras Gesicht.

«Alter Fuchs, du hast mich bereits nach fünf Minuten durchschaut! Es ist besser, mit offenen Karten zu spielen. Während eurer Reise ist so einiges geschehen, hhm, sowohl Schönes wie Unschönes.»

«Erzähl mal!», ermuntert Heiri sie erwartungsvoll, und Laura zögert nicht länger, ihm ihre Zuneigung und junge Liebesbeziehung zu Sokrates einzugestehen.

«Euch kann man wirklich nicht allein lassen! Gratuliere!», albert Heiri. «Ich glaube, ihr könntet recht gut zusammenpassen. Beide Mitte vierzig, hübsch, intelligent, sexy…»

«Ja, ja, ja!», fällt ihm Laura ins Wort. «Er ein Psycho und Fantast und sie ein altes Jüngferchen mit ersten Wallungen, die auf die beginnenden Wechseljahre hindeuten. Und jetzt kommt es: eine unbegabte Kriminalistin, wie du bald sehen wirst!»

«Na, na, na, wie kommst du nun plötzlich darauf?», fragt Heiri zurück. Laura räuspert sich und erzählt von insgesamt drei Fällen, die sie während Heiris Abwesenheit nicht habe lösen können.

Heiri besänftigt sie. «Erfolg und Misserfolg sind Teil unseres Jobs, wie du weißt. Bern kann sich glücklich schätzen, eine so gute Hauptkommissarin zu haben!»

Laura seufzt: «Ach, wenn du wüsstest! Insbesondere bei einem der ungelösten Fälle hätte ich deine Hilfe gebraucht, aber darüber später. Heiri schaut Laura fragend an, kriegt jedoch keine klare Antwort, da sie einen Polizeifunkspruch entgegenzunehmen hat.

«Nein, auf keinen Fall den Zeugen heimschicken! In ein paar Minuten sind wir da, wir fahren gerade neben dem Chutzen in Meikirch vorbei!», herrscht Laura den Anrufenden aufgebracht an, und schüttelt dann den Kopf.

«Ach, wo soll ich anfangen? Vielleicht war oder ist alles nur ein Spuk, weißt du, wie die Story mit der weißen Frau damals, die einigen Autofahrern im Belchen-Tunnel, später auch im Tunnel unter dem Thuner Waffenplatz, erschienen sei. Plötzlich habe sie jeweils auf dem Beifahrersitz gesessen und am Ende des Tunnels sei sie dann wieder verschwunden. Erinnerst du dich? Solche Geistergeschichten tauchen doch alle paar Jahre wieder auf.»

«Komm doch bitte zur Sache!», fleht Heiri förmlich und fühlt sich definitiv auf die Folter gespannt.

«Ach weißt du, es betraf ausgerechnet Silvias Vater, den Bruno Möri.»

«Inwiefern? Ich habe die Todesnachricht in der Zeitung gelesen. Er sei friedlich eingeschlafen, hieß es dort…»

«Ja, so weit, so gut. Aber weißt du, es ging eine Mordanzeige von unbekannt ein, und dies, obschon der Hausarzt einen ganz gewöhnlichen Sterbefall nach Herzversagen attestierte. Deshalb habe ich dem Fall auch überhaupt keine Priorität eingeräumt. Wir hatten einen schlimmen Sommer hinter uns, und ich war mit der Aufklärung eines brutalen Mordes in Köniz beschäftigt. Auch so eine Horrorgeschichte. Der Ehemann hatte seine Frau Gemahlin mit den Haaren an einen alten Beton-Sonnenschirmsockel gekettet und so, noch lebendig, im hauseigenen Swimmingpool versenkt! – Aber zurück zu Aarberg: Ich schickte also Matthias, meinen neuen Assistenten, den du sogleich kennenlernen wirst, nach Aarberg. Seine Ermittlungen führten jedoch zu keinem schlüssigen Ergebnis. Er fand, die zum Teil senilen Altersheimbewohner hätten sich in etwas hineingesteigert. Ein Hauptthema war der jahrelange Kampf, den Bruno und seine Leute vergeblich gegen den Neubau der Migros geführt hatten. Dies sei ein Pakt mit dem Teufel! Der Brand der einstigen Holzbrücke auf der Ostseite des Stedtlis, die dann durch die heutige Betonbrücke ersetzt worden ist, sei vor über hundert Jahren eine erste göttliche Strafe gewesen. Dies als Zeichen und Bestrafung dafür, dass in Aarberg auch nach den Hexenverbrennungen im Mittelalter und bis heute viel Unrecht geschehen sei! Lasst die Altlasten ruhen! Und so weiter.

Das andere Thema war der Geisterspuk, der die Bewohner in letzter Zeit heimgesucht habe. Die Fantasiegeschichten könnten ein ganzes Buch füllen, schrieb Matthias in seinem Schlussbericht, und legte ein paar von einem Kantonspolizisten aufgelistete Müsterchen bei. Unter anderem ging es um seltsame Geschenke, die Bruno vor seinem Tod gemacht worden seien. Zum Beispiel ein Blumenstrauß mit genau einer geknickten Rose, oder eine nackte Frauenpuppe, auch ein Ortsplan von Aarberg, auf dem verschiedene Totenkreuze und Fragezeichen eingezeichnet waren. Eines zum Beispiel an der Stelle gegenüber der heutigen Krone.»

«Tönt spannend. Da wollte wohl jemand den alten Bruno Möri vor seinem Tod in Angst und Schrecken versetzen…»

«Das Ganze ergab damals keinen Sinn. Doch wenn das heute ein Anschlag auf Brunos Tochter Silvia war, werde ich nachdenklich. Sorry, Heiri, das sind alles nur Seifenblasen. Aber nun zu den Fakten: Ich habe dich heute auch um Mithilfe gebeten, weil es nun bei mir diesen blinden Fleck gibt: Sokrates in Bezug auf Objektivität im Umfeld unseres neuen Falles, und natürlich auch, weil du Aarberg und seine Klientel so gut kennst. Mir ist sehr wohl bewusst, dass für ein mögliches Attentat auf Silvia auch Sokrates in Frage käme. Aus seinen Erzählungen und Erfahrungen als einer der zahlreichen Patienten der Klinik geht eine gewisse Hassliebe hervor, die sich über die Jahre zu Silvia entwickelt hat. Unendliche Dankbarkeit ihr gegenüber auf der einen Seite und auf der anderen eine Art Verzweiflung wegen seiner Abhängigkeit von ihr. Er ist immer noch psychisch instabil und spürt diese Diskrepanz, weil Silvia ihn vielleicht besser kennt oder kannte als er sich selber.»

Heiri merkt, wie unwohl sich Laura in dieser Situation fühlt. Ihre Rolle als Ermittlerin in einem Umfeld, in das auch ihr neuer Freund verstrickt ist, macht sie befangen. «Ich verstehe», sagt er. «Rede einfach weiter, wir kommen jetzt gleich an die Unfallstelle, wenn ich das richtig sehe.»