Schüsse im Spital - Andres Muhmenthaler - E-Book

Schüsse im Spital E-Book

Andres Muhmenthaler

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Beschreibung

Die Schlagzeile in einer Boulevard-Zeitung ist der Auftakt dramatischer Ereignisse: "Mord im Berner Insel-Spital." Das Opfer ist nicht irgendwer, sondern der fehlbare Chirurg, dem Heiris Frau Rita es "verdankt", für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt zu sein. Es sieht schlecht aus für Heiri Weber, den Ex-Kommissar der Berner Kripo, denn die Ermittlungen ergeben, dass die tödlichen Schüsse aus seiner Dienstwaffe abgefeuert worden sind, und das Video einer Überwachungskamera beweist, dass er zur Tatzeit im Insel-Spital gewesen ist. Laura, seine Nachfolgerin bei der Berner Kripo, glaubt an Heiris Unschuld, obwohl die Indizien gegen ihn sprechen: Motiv, Tatwaffe und Videobeweis. Aber auch Heiris Alibi -- er war zur Tatzeit nachweislich nicht in Bern -- ist hieb- und stichfest, was den Fall sehr komplex macht. Nach den erfolgreichen Aarberger Krimis nun Muhmenthalers erster Berner Krimi: ein Umzug mit viel Turbulenzen!

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Personen

Personen und Handlungen im Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Heiri Weber, Ex-Kommissar der Berner Kripo im Ruhestand

Rita, Heiris Ehefrau

Barbara, Tochter

Ben (Enkel)

Kriminalpolizei Bern

Laura Sollberger: Heiris Nachfolgerin bei der Kripo.

Jean-François Lambert, neuer Polizeichef

Markus Brunner, Assistent

Psychiatrische Klinik Second Chance, Aarberg:

Wendy und Marc Flückiger-Nussbaum, Leitung

Sokrates (Werner Zürcher), Insasse

Revolutionär (Jürg Blaser), Insasse

Insel-Spital Bern

Theo Rufer, Chirurg

Marianne Rufer, seine Frau

Renato Boselli, Sicherheitschef

Paraplegiker-Zentrum Nottwil

Dr. Thomas Kramer, Leiter Paraplegie

Dr. Lukas Zürcher, Oberarzt Paraplegie

Prof. Heiner Oberholzer, Direktor

Reitschule Bern

Jürg Blaser, Koordinator

Ben, Matthias Rufer, Sarah Brunner

Liebe Leserinnen und Leser

Heiri Weber, meine Hauptfigur der fünf bisher erschienenen Aarberger Krimis, ist eigentlich schon längst pensioniert. Sein letzter Fall als noch amtierender Hauptkommissar der Berner Kripo wurde unter dem Titel «Der Wolf ist tot» publiziert.

Danach hatte er beschlossen, etwas früher als geplant in den Ruhestand zu gehen. Er hatte genug vom selbstherrlichen Gebaren seines damaligen Polizeichefs Weibel und den intriganten Aktivitäten seines Nachfolgers Boselli. Nur mithilfe seiner früheren Assistentin Laura war es ihm von Südfrankreich aus – wo er seinen Zwangsurlaub verbrachte –, gelungen, die Wolfsgeschichte zu lösen, die später sogar verfilmt wurde und es ins Kino schaffte.

Von wegen Ruhestand, den er mit seiner Frau Rita genießen wollte: Die Berner Kripo, genauer gesagt Laura, kontaktierte ihn jeweils, wenn sie seine Hilfe oder seinen Rat brauchte. Ungewollt rutschte Heiri Weber immer wieder in die Rolle des Ermittlers, und zusammen mit Laura – die zur Kommissarin befördert wurde, nachdem Boselli über seine eigenen kriminellen Machenschaften gestolpert war – gelang es ihm in den Folgejahren, vier weitere teils spektakuläre Fälle zu lösen, die unter der Reihe der Aarberger Krimis veröffentlicht worden sind: «Koste es, wen es wolle», «Im Schatten des Herodes», «Späte Rache», «Weiß wie Zucker». In all diesen Geschichten sind das mittelalterliche Stedtli Aarberg und Heiris beste Freunde im Mittelpunkt: Marc und Wendy Flückiger, Leiter der Klinik Second Chance, Jürg Blaser alias Der Revolutionär und Werner Zürcher alias Sokrates. Letztere sind Insassen der Psycho-Klinik, Außenseiter der Gesellschaft, sehr intelligent, aber unfähig oder unwillig, ein bürgerliches Leben zu führen.

Nach dem letzten Aarberger Krimi hat Heiri Weber – wie immer nach erfolgreich abgeschlossenen Geschichten – durchblicken lassen, dass nun endgültig Schluss sei mit Ermitteln. Doch das Leben ist, wie wir es alle gerade in der Corona-Zeit erfahren müssen, unvorhersehbar und schicksalhaft. Rita, Heiris Frau, sitzt heute im Rollstuhl, und Webers müssen sich nach einem barrierefreien neuen Zuhause umsehen.

Die Aarberger Second-Chance-Klinik in der früheren Krone soll umgenutzt werden. Wendy und Marc sowie ihre zwei wichtigsten Patienten Sokrates und der Revolutionär müssen sich neu orientieren.

Laura steht nach ihrer halbjährigen Weltreise vor einem Neustart als Hauptkommissarin. Ihr neuer Chef ist ausgerechnet Heiris früherer Weggefährte und guter Bekannte Jean-François Lambert Le Welsch.

Nach den fünf Aarberger Fällen startet mit diesem Buch meine neue Berner Krimireihe, denn das Geschehen verlagert sich vom schönen Stedtli Aarberg in die Stadt Bern. Mit dem neuen Handlungsort verbindet mich ähnlich viel wie mit Aarberg. Hier bin ich geboren und habe ich später als Seminarist und Musikstudent einen großen Teil meiner Jugend verbracht. Kurzum: Bärn, i ha di gärn!

Es ist kein Zufall, dass Webers ausgerechnet im Berner Mattequartier ihr neues Domizil beziehen werden, unweit übrigens von Laura Sollbergers Wohnung. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Heiri, noch bevor er mit Rita die neue Wohnung bezieht, von Laura um Mithilfe gebeten wird: Mord im Insel-Spital Bern! Das Opfer ist ausgerechnet der Chirurg, der Schuld daran trägt, dass Rita heute im Rollstuhl sitzt.

Unbeabsichtigt findet sich Heiri nun auch in Bern an der Seite seiner früheren Assistentin und Freundin Laura Sollberger in der Rolle als Ermittler wie früher in Aarberg. Für sie gibt es, wie wir wissen, nichts Schöneres als mit Heiri, dem legendären Altmeister und Mentor, auf Verbrecherjagd zu gehen. Ihre Bewunderung und Achtung für ihn und die Harmonie der beiden lässt Heiris Frau Rita manchmal neidisch werden.

Für Spannung ist gesorgt, und wir fragen uns: Wird es Weber wieder gelingen, sein legendäres filigranes Netz so geschickt auszulegen, dass sich die Verbrecher früher oder später selbst darin verfangen?

Gute Unterhaltung wünscht

Ihr Res Muhmenthaler

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

1

«Erstens kommt es anders, und zweitens als du denkst.» Vieles erinnert Heiri Weber, den ehemaligen Hauptkommissar der Kripo Bern, an diesen alten abgedroschenen Satz, den er so hasste, weil sein Großvater ihn oft zu zitieren pflegte. Erst jetzt, im reifen Alter, erkennt er die philosophische Deutung dieses Spruchs. Er will uns eine Gelassenheit gegenüber dem Geschehenen empfehlen, das wir hinnehmen sollten, ohne es ungeschehen machen oder ändern zu können.

Ja, es ist ganz anders herausgekommen, als Heiri und Rita es sich gedacht hatten. Man lebt nicht, sondern wird gelebt, ist Heiris bittere Erkenntnis, und der Spruch seines Großvaters sollte jetzt helfen, das Geschehene zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Tut er aber nicht. Heiris Wut ist übermächtig.

«Bullshit!», flucht Heiri und schreit sich mit übelsten Verwünschungen seinen Schmerz von der Seele. Seine Gedanken kreisen um immer die gleichen Fragen: Warum? Warum ich, warum meine Frau Rita?

«Himmelherrgott, verdammte Scheiße!», flucht er innerlich und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Wenig später sitzt er im kühlen Wintergarten und schlürft den noch heißen Espresso. Doch auch der kann ihn nicht erwärmen. Im Gegenteil, er spürt seine Leere und Verzweiflung. Mit trübem Blick schaut er in den verwilderten Garten.

Schneeflocken tanzen aus der nebelgrauen Wolkendecke. Letzte abgestorbene Blätter fallen von den Bäumen und Sträuchern. Natur und Leben verabschieden sich in den Winterschlaf.

Schon immer hat er diese dunklen, nassen und nebligen Novembertage gehasst. Mit Arbeitseifer oder einer Ferienreise in den Süden hat er sie bisher irgendwie überbrücken können. Doch heute widerspiegeln sie ziemlich genau seinen Seelenzustand. Der Gedanke, dass es irgendwann wieder Frühling wird, vermag ihn nicht zu trösten.

Wehmütig denkt er an die zwei, drei glücklichen letzten Jahre zurück. Schöne Bilder vom gemeinsamen Gärtnern, Schwimmen in der Aare, Segeln auf dem Bielersee und unbeschwerten Momenten auf gemeinsamen Reisen tauchen auf. Fast zu schön, um wahr zu sein! Auch wenn die Vergangenheit nicht nur rosarot gefärbt war, bleibt doch die erfreuliche Tatsache, dass sich ihre eheliche Beziehung spürbar verbessert hatte. Rita hatte die Natur entdeckt und daraus viel positive Energie gewonnen. Seit über drei Jahren kam sie ohne Psychiater und ohne die von ihm verschriebenen chemischen Aufheller aus. Bestimmt hätten wir noch mehrere glückliche Jahre zusammen verbracht. Doch jetzt? Aus und vorbei!

«Pech gehabt!» So hat es ihnen der Assistenzarzt kurz nach Ritas zweiter Rückenoperation im Insel-Spital gesagt. Salopp, aber fadengrad ehrlich. Selbstverständlich nicht, ohne die Fakten vorher fachmännisch erläutert zu haben. Diese Tatsachen und die zwei Worte stellten nicht nur Ritas, sondern auch mein Leben auf den Kopf, sinniert er.

Noch immer ärgert er sich über den Chirurgen, der sich nach seinem Fehleingriff nicht ein einziges Mal hat sehen lassen. Von wegen Routine und über neunzig Prozent Erfolgschancen…

Ich werde ihn zur Rede stellen, diesen Feigling, nimmt sich Heiri vor. Sich einfach aus der Verantwortung schleichen geht gar nicht, auch wenn ein solcher Kunstfehler passieren kann.

«Alles wegen dir, Doktor Rufer, du Arschloch!», schimpft er in Gedanken und ergänzt die angefangene To-do-Liste: Haus räumen und renovieren, rollstuhlgängige Wohnung beziehen, einrichten, Garten in Ordnung bringen, Haus verkaufen und, und, und…

Ich werde nicht nur mein Geburtshaus vermissen, sondern werde hier richtiggehend entwurzelt. Aarberg wird mir fehlen! Die Anonymität in der Stadt wird mir zusetzen, mir den Rest geben, befürchtet er. Mit dieser Einstellung kannst du dir gleich die Kugel geben, sagt ihm sein Gewissen und weckt in ihm das erforderliche Umdenken. Ich bin es Rita und meiner Familie schuldig, zu kämpfen. Aufgeben kommt nicht in Frage. Ich muss jetzt stark sein.

Ein Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass es Zeit wird, sich aufzuraffen. Nochmals berechnet er die Fahrzeit nach Nottwil. Den üblichen Stau auf der Höhe von Aarwangen und Niederbipp eingerechnet. Nichts wie los, befindet er.

Die Fahrt hilft ihm, die düsteren Gedanken an den bevorstehenden Umzug nach Bern etwas zu verdrängen. Wenigstens erfüllt sich Rita den Traum einer eigenen Stadtwohnung. Sie fühlte sich in all unseren Arbeitsjahren in Bargen zu Recht irgendwie im Abseits. Abgenabelt von der Kulturszene und der pulsierenden Welt.

Hoffentlich drängt sie nicht allzu sehr darauf, möglichst rasch nach Hause zu kommen. Im Rollstuhl wird sie sich, anders als im barrierefreien Paraplegiker-Zentrum, hilflos vorkommen. Vorgängig muss alles behindertengerecht eingerichtet sein. Ein Glück, dass uns der Schwager diese Wohnung im Berner Mattequartier für den schlimmsten Fall in Aussicht gestellt hat. Rita wird große Augen machen, wenn ich ihr das heute erzähle.

Ganze sechs Wochen hält sie sich nun schon in dieser genialen Reha-Stätte am Sempachersee auf. Heiri hat in dieser Zeit nach vielen Besuchen mit Übernachtungen im für Angehörige angebauten Gästehotel einen sehr positiven Eindruck vom ganzen Betrieb gewonnen. Unzählige Male hat er Rita zu den Therapien begleitet. Von der Wassertherapie über das Reiten bis hin zum Atelier, das der Ergotherapie angeschlossen ist und in welchem sich auch am Abend noch die Türen zum individuellen Gestalten öffnen, ist hier alles perfekt eingerichtet.

Genial finden Webers auch das Konzept der Begegnung. Die große Eingangshalle mit einem sehr gut geführten Selbstbedienungsrestaurant ist ein veritables Begegnungszentrum für Rollstuhlfahrer und Fußgänger jeglichen Alters. Hier essen alle Angestellten und Besucher, vom Oberarzt oder dem Gärtner bis zum Dekubitus-Patienten, der im herangerollten Bett auf dem Bauch liegt, oder auch bekannte Rollstuhlsportler wie Heinz Frei, der mehrfache Sieger an den Paralympics. Sie trainieren nicht nur auf den hausinternen Sportanlagen, manche von ihnen haben auch zusätzlich einen Bürojob im Zentrum selbst.

Die gute Atmosphäre wird auch durch das lichtdurchflutete riesige Glasdach begünstigt und lässt die Reha-Patienten wenigstens für eine kurze Zeit ihr Schicksal etwas in den Hintergrund rücken.

Heiri hat ein zwiespältiges Gefühl, als er in Sursee die Autobahn verlässt. Einerseits freut er sich auf das Wiedersehen mit Rita, anderseits macht ihm das bevorstehende Gespräch zu schaffen. Es geht darum, Zwischenbilanz zu ziehen und Ritas nächste Schritte zu planen. Aufgrund seiner Beobachtungen fürchtet er, dass der Bericht inklusive fachkundiger Interpretation der neusten Bilder nichts Gutes verheißen wird. Was heißt schon Schritte planen? Rita wird höchstwahrscheinlich keine Schritte mehr machen können, glaubt Heiri mit bitterer Ironie.

Sind wir stark genug, den Tatsachen ins Auge zu schauen? Woher soll Rita nach ihrem schmerzhaften Kampf neue Kraft holen, fragt er sich. Ihr unermüdlicher Wille, in den Therapien und Trainings Fortschritte zu erzielen, hat leider bisher nicht den erhofften Erfolg gebracht. Heiri hat es jedoch nie übers Herz gebracht, Rita die letzte Hoffnung auf Besserung oder gar eine Wunderheilung zu nehmen.

Ein tiefer Seufzer entfährt ihm, als er in der Tiefgarage, für die er noch eine Wochenkarte hat, aus seinem R4 steigt. «Auch du hast bald ausgedient!», murmelt er, als er beim Weggehen das noch offene Schiebefenster auf der Fahrerseite bemerkt. Nervös schaut er auf die Armbanduhr und entschließt sich aufgrund der lediglich noch drei Minuten bis zum Gesprächstermin, nicht mehr zum Auto zurückzugehen. Er hofft, Rita noch auf ihrem Zimmer anzutreffen.

Als er um fünf nach zwei nach kurzem Anklopfen das Zimmer 217 betritt, schauen ihm drei paar Frauenaugen leicht vorwurfsvoll entgegen. Er umarmt Rita und sieht sich wegen der fünfminütigen Verspätung zu keiner Ausrede von wegen Verkehr oder so gezwungen, weil eine der Pflegefachfrauen gleich das Zepter übernimmt: «Wenn Sie uns bitte folgen würden, es ist schon vierzehn Uhr vorbei, und unser Ärztekarussell wartet nicht gerne», bemerkt die ältere der beiden Schwestern schulmeisterlich.

Heiri schließt sich ihnen wortlos an und fühlt sich einmal mehr dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Wie wenn wir aufs Schafott geführt würden, kommt es ihm vor.

Medizinische Direktion liest er am Türschild, und bald darauf wird der kleine Tross von zahlreichen Stimmen begrüßt.

Nachdem die Pflegerinnen gegangen sind, sehen sich Webers einem Halbkreis von Weißmänteln gegenüber. Heiri hat man einen Stuhl bereitgestellt. Fast wie beim Heiraten, wäre ihm aus Verlegenheit über die Stille beinahe herausgerutscht.

Der Klinikleiter, Professor Heiner Oberholzer, ein freundlich blickender weißhaariger Herr mit Hornbrille, schaut Rita an und eröffnet das Gespräch: «Wie fühlen Sie sich?»

«Was wollen Sie von mir hören? Sagen Sie es mir!», antwortet Rita und bricht in Tränen aus.

Betroffenheit macht sich breit. Alle wissen oder spüren es und stoßen trotz ihrer beruflichen Routine an emotionale Grenzen. Lukas Zürcher, der Oberarzt, der Rita während Wochen eng betreut hat, bricht das Schweigen: «Der Frust ist bestimmt groß. Sie geben sich alle Mühe der Welt, und wir tun unser Möglichstes, aber kommen trotzdem auf keinen grünen Zweig. Will heißen: Sie werden höchstwahrscheinlich nie mehr auf eigenen Beinen stehen und gehen können, Frau Weber. Aber das Leben geht weiter. Wie wir und Sie es hier im Hause tagtäglich erleben dürfen, gibt es auch unter den Paraplegikern und den Tetraplegikern Menschen mit einem erfüllten und sinnvollen Leben, und das wünschen wir uns auch für Sie. Sie schaffen das!»

Die Betroffenheit ist groß. Doktor Kramer, Leiter der Paraplegie und für Ritas Aufbauprogramm zuständig, nutzt das Schweigen, um im Stil eines Managers sein Zentrum zu loben. «Unser Haus ist über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus bekannt dafür, gehbehinderten Menschen beim ersten Schritt – entschuldigen Sie den unpassenden Ausdruck – ins neue Leben zu helfen. Wir stellen niemanden einfach auf die Straße. Frau Emmenegger, die gute Fee unseres Hauses, wird Ihnen gleich anschließend…»

Heiri ist nicht mehr in der Lage, den weiteren Erklärungen zu folgen. Längst hat er seine Frau in die Arme geschlossen, und beiden laufen die Tränen runter. Doktor Kramers salbungsvolle Rede geht an ihm vorbei.

Es ist schließlich ein älterer Herr im Rollstuhl, der sich bemerkbar macht und seine Kolleginnen und Kollegen bittet, Webers etwas Zeit zu lassen. «Ich kenne die Ohnmacht gegenüber dem Schicksal, das Sie beide nun trifft, aus eigener bitterer Erfahrung! Man ist machtlos. Gerade ich als Geistlicher, der alles Bisherige mit Gottes Willen erklärte, geriet ins Zweifeln. Die Trauer über das Verlorene braucht Platz, viel Platz und Zeit. Aus meiner Erfahrung und unzähligen Gesprächen mit Tetra- und Paraplegikern weiß ich aber, dass es den allermeisten gelingt, sich mit dem Gelähmtsein abzufinden und ein hoffnungsvolles neues Leben aufzubauen. Ob mit oder ohne Gott, bleibe dahingestellt.»

Nach dieser ruhig vorgetragenen Äußerung des Theologen herrscht kurze Stille. Zeit genug für Rita und Heiri, ihre Augen zu trocknen.

«Gerne bin ich bereit, Sie, Frau Weber, aber auch Sie, Herr Weber, in meinen Sprechstunden zu besuchen. Ich wünsche ihnen beiden viel Kraft!», sagt der Geistliche zum Schluss.

Diese Worte holen Heiri ins Hier und Jetzt zurück. «Danke und Entschuldigung! Es ist alles etwas viel.»

Nachdem die Weißkittel im Halbkreis mit Nicken und Gesten ihr Verständnis zum Ausdruck gebracht haben, fasst Heiri Mut und verschafft seiner Verzweiflung Luft: «Das Ganze war also ein nicht korrigierbarer Kunstfehler des Chirurgen, dieses feinen Herrn Doktor Rufer, der sich nach der misslungenen Operation nicht mehr hat blicken lassen! – Verstehen Sie mich bitte richtig. Fehler geschehen in jeder Branche, und wir haben unterschrieben, dass wir das Risiko tragen werden. Doch sich persönlich so aus der Verantwortung zu ziehen und einen Assistenzarzt vorzuschieben, finde ich erbärmlich. Kein Wunder, spricht man im Volksmund von den Göttern in Weiß. Kennt jemand diesen Mann persönlich? Oder können wir eventuell über Sie zu einem Gespräch mit ihm kommen?»

«Ach, lass es doch!», bittet Rita und legt ihm eine Hand auf den Unterarm. «Es bringt doch eh nichts mehr!»

«Doch!», unterbricht sie Doktor Kramer. «Zur Bewältigung eines solchen Schicksalsschlags ist es wichtig, sich mit dem fehlbaren Chirurgen aussprechen zu können. Ich persönlich werde ein solches Gespräch einfädeln lassen. Theo Rufers Fähigkeiten sind, oder waren, bis anhin unbestritten. Er war ein Studienkollege von mir, und ich habe seinen erfolgreichen Werdegang am Rande mitbekommen. Seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten entschuldigen sein Verhalten Ihnen gegenüber jedoch keineswegs. Ihnen als ehemaligem Hauptkommissar muss ich wohl nicht erklären, dass es auch fürs Insel-Spital eine Aufsichtsbehörde gibt, an die Sie sich wenden könnten.»

Heiri bedankt sich und findet den Vorschlag richtig, es vorerst nochmals über den direkten Weg zu versuchen.

Das Gespräch mit Frau Emmenegger wird vertagt. Zum Schluss meldet sich nochmals Ritas «Leibarzt» Doktor Zürcher: «Gerne gewähre ich Ihnen, Frau Weber, heute Abend Ausgang! Ihr Gesundheitszustand hat sich stabilisiert. Eine Luftveränderung mit einem Essen zu zweit täte nach all dem Gesagten bestimmt gut. In Sempach und Sursee gibt es ein paar gute Restaurants, und wenn Sie einverstanden sind, organisiere ich Ihnen den Fahrdienst unseres Hauses, den Sie auch für die Rückfahrt bestellen können.

Rita und Heiri willigen nach kurzem Zögern dankend ein. «Den Ausgehpass mit meiner Unterschrift brauchen Sie nur wegen der Versicherung», erwähnt der nette Herr Zürcher. Es klingt fast wie «Entschuldigung». Er bittet einzig darum, die Tageskarte und den Ausgehpass bei der Rückkehr an der Rezeption wieder abzugeben.

2

«Scheiße, überall sind Bullen! Sie schneiden uns den Weg ab!», flucht Tinu.

«Woher kommen die Provokateure diesmal?», fragt Philipp.

«Zürcher Antifas, oder YB-Hooligans, ist doch egal, vielleicht waren es die Bullen selbst, welche die Eskalation verursacht haben. Kapitalistenschweine! Kommt mit! Wir lassen uns nicht einbunkern!», ruft Tinu, und etwa ein halbes Dutzend Demonstrierende rennen ihm nach.

Zwischen dem Waisenhaus und der Einfahrt ins Parkhaus geht es den steilen Weg zur Aare runter und auf dem Uferweg dem Fluss entlang. Sie wagen kaum, sich nach Verfolgern umzudrehen, bis sie den Blutturm erreichen.

«Unsere Flucht macht uns doch nur verdächtig. Wir haben ja nichts getan!», findet eine junge Frau.

Tinu herrscht sie an: «Du hast echt keine Ahnung, bist du zum ersten Mal dabei? Wir sind im Krieg. Die kennen gar nichts. Auch friedliche Demonstranten, ja sogar Zuschauer, nehmen sie fest. Abschreckung, verstehst du? Sie hängen dir irgendetwas an, und du bist für ewig markiert. Kommt, wir müssen weiter, ich kenne einen Geheimgang.»

«So glaubt ihm doch, kommt! Die Bullen auf dem Waisenhausplatz haben uns absichtlich den Rückweg zur Reitschule abgeschnitten. Sie würden uns festnehmen!», ruft ein anderer Jugendlicher und rennt Tinu nach.

Erst zögerlich, dann aber in vollem Tempo schließen sich auch vier weitere vermummte Gestalten den beiden Insidern an. Tinu gestikuliert wild und mahnt sie zur Eile. Hinter dem Turm gehts in unwegsames waldiges Gelände.

Im Schutz des Gehölzes verschwinden sie durch eine Eisentür in einem unterirdischen Gang. «Früher floss hier das Abwasser der Reitschule und der halben Stadt runter in die Aare. Im Licht ihrer Handy-Taschenlampen klettern sie die trockengelegte röhrenartige Rampe empor. Und wie die andern vermutet haben, kommen sie nach rund zehn Minuten tatsächlich im rechtsfreien Areal der Berner Reitschule an.

Dort führt sie Tinu gleich in eine Garderobe oder eine Art Requisitenkammer für Theateraufführungen mit Bergen von Kleidungsstücken.

«Rasch umziehen!», befiehlt Philipp. «Die Bullen werden gleich da sein! Hört ihr die Straßenschlacht draußen? Wir werden uns als Kulturtruppe ausgeben, eure Kleider könnt ihr nach der Razzia wieder anziehen. Willkommen im Klub! Und lasst euch von niemandem anfeilen, verstanden!», mahnt Tinu mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Etwas eingeschüchtert und völlig überrumpelt lassen sich Philipp und die vier Mitläufer und Mitläuferinnen mit fragenden Blicken auf die Bühne führen. Zum Glück ist der Vorhang noch geschlossen. Routiniert wartet Tinu auf den richtigen Moment. «Die Polypen werden gleich hier sein, dann folgt ihr genau meinen Anweisungen!», befiehlt er.

«Guten Abend, Personenkontrolle!», ruft ein Polizeibeamter mit lauter Stimme durch den Saal.

«Verbeugen!», zischt Tinu, zieht den Vorhang auf und rennt ungeachtet der Polizisten, die durch die Türen eindringen, und ein paar Vermummten, die hier Schutz gesucht haben, vor die Bühne und applaudiert seinen Leuten wie der Regisseur einer Theatertruppe: «Super gemacht! Ich bin guter Dinge für unsere Aufführung morgen!»

Mit dem Unschuldsblick eines Klosterschülers wendet er sich jetzt den Polizisten zu: «Guten Abend, was ist denn hier los? Warum stört ihr unsere Hauptprobe? Wir geben hier ein Gastspiel! Morgen Abend, neun Uhr. Wenn ihr Lust habt…?»

«Schon gut, schon gut!», schaltet sich ein Mitglied der Koordinationsgruppe der Reitschule ein. «Ihr könnt euch umziehen gehen, sonst erkältet ihr euch noch.» Und zur Polizei gewandt: «Ich distanziere mich vehement von jeglicher Gewalt. Wir haben unsere Leute im Griff und können nicht für Vandalenakte und Ausschreitungen in der Stadt verantwortlich gemacht werden. Wegen der Theaterprobe war die Reithalle heute Nachmittag nur für Theaterfreunde geöffnet. Bitte beachtet unsere Rechte! Danke, meine Herren! Wir rufen euch gerne, wenn wir hier Probleme haben.»

Und plötzlich wird auch der Einsatzkommandant freundlich. «Danke, Herr Blaser. Weil wir die Lage hier drinnen als friedlich einschätzen, ziehen wir uns zurück. Entschuldigen Sie die Störung! Sie wissen, dass wir Ihre Arbeit hier akzeptieren, und Sie wissen auch, dass wir in der Vergangenheit hier immer wieder Auseinandersetzungen mit gewaltbereiten Anarchisten haben. Mit unserem Einsatz wollten wir ein deutliches Zeichen setzen. Gewalt, Vandalismus und Angriffe auf uns Ordnungshüter werden in Bern nicht geduldet, sonst herrscht Anarchie, und das widerspricht unseren Abmachungen. Schönes Wochenende!»

Kaum ist die Polizei außer Haus, taucht Blaser in der Garderobe auf und liest Tinu die Leviten. «Willst du die Reitschule in die Scheiße reiten, Mann? Auch wir halten uns an gewisse Regeln! Gewalt und Vandalismus bringen uns nicht weiter. Sie sind ein Zeichen von Schwäche oder Blödheit. Wir wollen den Rechtsextremen und der Polizei doch nicht in die Hände spielen!»

«Aber wir haben doch nichts Unrechtmäßiges getan…», will Tinu sich rechtfertigen, doch Blaser lässt ihn nicht weiterreden.

«Wenn ihr euch hier verstecken kommt, ist dies der Anfang vom Ende unserer Vision von einem besseren und gerechteren Miteinander. Ich will keine Polizei in diesem Haus, basta! Wenn du dich das nächste Mal hierhin flüchtest, übergebe ich dich persönlich der Polizei! Ist das jetzt deutlich genug?! Die Reitschule ist keine Kaserne für Mitglieder des Revolutionären Aufbaus. Ob RAS oder RAZ, diese Typen wollen wir hier nicht. Und jetzt verschwindet! Klar?!»

Dieser Schuss vor den Bug sitzt. Tinu entschuldigt sich. «Hast du eventuell Mättu und die andern gesehen?», fragt er noch, sichtlich in Sorge. Doch Blaser scheint nichts zu wissen.

Während Tinu vorsichtshalber wieder durch den Geheimgang verschwindet, führt Philipp die andern durch einen Seitenausgang ins Freie.

«Der Sturm ist vorbei!», verkündet er.

«Das ist mir jetzt echt eingefahren! Dieser Blaser hat vorhin über die RAS geflucht, weshalb?», will das einzige Mädchen in der Gruppe wissen.

Philipp klärt sie auf. «Die RAS, Revolutionäre Aktion Schweiz, und die RAZ, die Zürcher Untergruppe davon, sind gewaltbereite linke Autonome und kämpfen gegen den Staatsapparat und den Kapitalismus. Wir Berner sind gemäßigter und halten uns grundsätzlich an die friedliche Strategie. Immer wieder mischen sich aber Radikale in unsere Demos, mal sind es Linksextreme, mal Extremisten von rechts außen. Ob die überhaupt politisch motiviert sind, bezweifle ich, primär suchen sie die Konfrontation mit der Polizei, bis das Ganze zu Straßenschlachten eskaliert, bei denen dann auch Leute von uns abgeführt und verhaftet werden!»

«Und dieser Blaser arbeitet mit der Polizei zusammen?» Die Siebzehnjährige, mit Punkfrisur, Ohrpiercing und in löchrigen Jeans, ist begierig, ihr Wissen über die Reitschule zu erweitern.

«Nein, das kann man so nicht sagen», antwortet Philipp, dem die Rolle als Kenner der Szene gefällt. «Aber Jürg Blaser war in den Achtzigerjahren einer der Aktivisten und Mitgründer der Reitschule als autonomes Jugendzentrum. Er blieb dann jahrelang verschwunden und muss eine Menge Kohle gemacht haben, und jetzt ist er hier und finanziert Projekte, um Jugendliche sinnvoll zu beschäftigen und vom Rumhängen und Koksen wegzubringen. Für seine alten Freunde ist er übrigens der Revolutionär, und er scheint gute Verbindungen zur Stadtregierung zu haben.»

An die ganze Gruppe gewandt verkündet Philipp: «Nächsten Mittwoch treffen wir uns übrigens zu einer sogenannten Vollversammlung, wenn ihr Interesse habt. Am besten gehen wir nun einzeln von hier weg, denn in der Gruppe machen wir uns zu verdächtig! Tschüss zusammen!»

3

«Aber wir sind es doch unsern Patienten schuldig, insbesondere dem Revolutionär und Sokrates, dass es irgendwie weitergeht!», argumentiert Wendy.

«Du hast schon immer ein viel zu großes Herz gehabt und dich für andere aufgeopfert», entgegnet Marc. «Willst du ewig die Dienende sein? Jetzt ist doch genau der richtige Zeitpunkt, endlich etwas für uns zu tun. Endlich das Leben genießen, bevor wir alt und grau sind. Sokrates und der Revolutionär, die letzten Mohikaner aus unserer früheren Gymerklasse, werden schon einen anderen Weg für ihr weiteres Leben finden. Sie können sich bestimmt gut in unsere Situation versetzen und haben die Kündigung der Klinik durch die Erbgemeinschaft Möri eins zu eins mitbekommen. Begreif doch, der Aarberger Behörde war unsere Second-Chance-Klinik schon seit Beginn ein Dorn im Auge. Man munkelt, die Gemeinde hätte zehn Millionen für den Kauf des Krone-Areals aufbringen müssen.»

«Ja, ja, du wiederholst dich. Es bringt nichts, rückwärts zu schauen. Eine Weltreise zu machen, ist ja gut und recht – und dann? Immerhin bleiben uns noch mindestens zwanzig Jahre Berufstätigkeit, die wir zu leisten haben. Wie stellst du dir das vor? Kommt Zeit, kommt Rat ist mir zu einfach. Lass uns doch bitte mit unsern zwei alten Freunden nach Alternativen suchen. So komisch es klingen mag, aber sie sitzen doch im gleichen Boot wie wir. Sie sind unsere Patienten, aber indirekt auch unsere Arbeitgeber. Ohne das Privatvermögen unseres Revolutionärs hätte Silvia diese Klinik niemals stemmen können. Wie oft haben sie Heiri und uns schon geholfen. Nein, wir können die beiden nicht einfach absägen.»

«Wir können am Abend weiterreden, Schatz. Bald sind wir fünfzig Jahre alt, und deine Kinder sind flügge geworden, wir sind noch fit und wären endlich frei. Du weißt, wie schnell es gehen kann. Zum Beispiel Rita, zack, sitzt man im Rollstuhl oder hat einen unheilbaren Krebs…»