Der Stammtisch und sein Geheimnis - Andres Muhmenthaler - E-Book + Hörbuch

Der Stammtisch und sein Geheimnis E-Book und Hörbuch

Andres Muhmenthaler

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Beschreibung

Dieser Roman ist nicht nur eine Hommage an das historische Städtchen Aarberg im schweizerischen Seeland, sondern erzählt auch die ergreifende Liebesgeschichte von Emmi und Pjotr aus der Sicht einer stolzen, alten Eiche, deren Herzstück sich später als Stammtisch viele Gedanken über die heutige Gesellschaft macht. Der Stammtisch hütet ein Geheimnis aus der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als ein polnischer Staatsbürger zu Unrecht des Mordes an einem jungen Schweizer aus gutbürgerlichem Haus verdächtigt wird. Wird die Wahrheit eines Tages ans Licht kommen? «Eine berührende Geschichte. Ich glaube, ich habe Emmi gekannt.» Ein Aarberger, der nach der Buchlektüre fest davon überzeugt war, Emmi früher begegnet zu sein.

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Seitenzahl: 132

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Zeit:3 Std. 35 min

Veröffentlichungsjahr: 2017

Sprecher:Marion Koch

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

Vorwort

Vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser, haben Sie sich auch schon gefragt, wie viele Ihrer elektronischen Mitteilungen, die Sie täglich verschicken, von der Empfängerin oder dem Empfänger richtig verstanden werden.

Sie haben zwar nach möglichst unmissverständlichen Formulierungen gesucht, doch Ihr Gegenüber wird die Nachricht trotzdem durch seine eigene Brille sehen. Ein Gespräch direkt von Mensch zu Mensch, von Angesicht zu Angesicht, würde die Gefahr des Nicht-verstanden-Werdens um das x-fache verkleinern. Schon ein Blick, ein Gesichtsausdruck oder eine Nuance im Tonfall ihres Ansprechpartners würde Ihnen nämlich verraten, ob und wie Ihre Botschaft ankommt. Zudem könnten Missverständnisse im Nu bereinigt werden.

Warum suchen wir also nicht häufiger das direkte Gespräch und tun wir uns so schwer, offen miteinander zu kommunizieren?

Immer öfter schalten wir Elektronik dazwischen. Hand aufs Herz, wann haben Sie das letzte Mal ein sogenannt richtiges Gespräch von Mensch zu Mensch geführt?

Sind uns eventuell genau aus diesem Grund die langjährigen Nachbarn, Mitmenschen oder gar Familienmitglieder fremd geworden?

Oder anders gefragt: Wäre es nicht gut, wenn wir die vereinsamten Stammtische wieder neu beleben würden? Bieten sie uns nicht die ideale Plattform, um uns von Angesicht zu Angesicht auszutauschen und über Gott und die Welt zu diskutieren?

Allzu oft schieben wir den Zeitfaktor oder mangelndes Interesse an sogenannt belanglosen Gesprächen vor. Doch wer kann im Voraus sagen, ob ein Gespräch sinnvoll oder sinnlos verläuft?

Und wie viel Freizeit verbringen wir allein hinter unsern Computern?

Sind die Tausende von Facebook-Signalen nicht vielleicht nur Hilfeschreie, die wir aus einer zunehmenden Vereinsamung heraus aussenden? Manchmal befürchte ich, es seien letzte Angsttriebe, um der drohenden zwischenmenschlichen Eiszeit zu entkommen.

Können und wollen wir wirklich nur noch mit der eingebauten elektronischen Schutzdistanz miteinander kommunizieren?

Ist es uns der Mitmensch nicht mehr wert, ihm etwas Zeit zu widmen und ihm offen zu begegnen? Fürchten wir allenfalls direkte Konfrontationen?

Würde die Welt, oder zumindest unsere kleine Welt, nicht bereichert, wenn wir die Stammtische wieder mehr zum gegenseitigen Gedankenaustausch nutzen würden?

Kürzlich hörte ich den weisen Spruch: Erst wer andere versteht, wird sich selber verstehen.

Sind wir dem Gang der Zeit wirklich so hilflos ausgeliefert?

Wer oder was hindert uns eigentlich daran, wieder einen Schritt aufeinander zuzugehen und wieder mehr Empathie füreinander zu entwickeln?

In diesem Sinne widme ich meine frei erfundene Geschichte nicht nur all denen, welche das Stedtli Aarberg mit seinem Charme und als Ort der Begegnung schätzen und lieben, sondern auch jenen, die Mitmenschen offen und vorurteilslos begegnen.

Erster Teil

Schwungvoll parkt er seinen sauber geputzten Alfa Romeo auf dem schmucken Stedtliplatz. Er, Luca Haldimann, 28-jährig, ist Kundenberater bei einer Versicherung und seit Kurzem liiert mit Anke. Man hat sich über elitepartner.com kennengelernt.

Sichtlich in Gedanken vertieft, entfernt er sich von seinem Wagen, kehrt nochmals um, schnappt sich seinen Laptop und eilt dann dem Eingang der «Krone» zu.

Etwa zehn Minuten für einen Espresso müssen drinliegen!, redet er sich zu und betritt die altehrwürdige Gaststube. Etwas irritiert stellt er fest, dass alle Tische bis auf zwei reserviert sind. Er hat die Wahl, sich entweder zur Behinderten mit Hund oder aber an den Stammtisch zu Chrigu, dem Alkoholiker, zu setzen. Wahrscheinlich wird die «Krone» bald mit einer Schar von hauptsächlich alten Weibern überschwemmt, die auf ihrer Seeland-Carfahrt ausgerechnet hier einen kleinen WC-Stopp einschalten, überlegt er. Und Zeit, nein, Zeit, um das Lokal zu wechseln, habe ich jetzt wirklich nicht.

Widerwillig entscheidet er sich, am Stammtisch Platz zu nehmen.

Noch im Absitzen ruft er der Serviertochter, welche hinter der Theke mit dem Trocknen von Gläsern beschäftigt ist, zu: «Bringen Sie mir einen doppelten Espresso!»

Sofort klappt er seinen Laptop auf und vertieft sich in seine Arbeit.

Den an ihn gerichteten Gruss von Chrigu erwidert er mit einem leichten Kopfnicken, welches unmissverständlich klar macht, dass er sich auf kein Gespräch einlassen wird.

Als Jessica ihm seinen Kaffee hinstellt, schiebt er ihr, ohne vom Bildschirm aufzublicken, ein Fünffrankenstück zu. Als sie sich bedankt und nach Münzen sucht, raunt er ihr leicht genervt zu: «Ist gut so!»

Mit dem Schlagwort «Zeit ist Geld» meldet sich Chrigu mit einem Augenzwinkern in Richtung Jessica zu Wort und bestellt noch eine Flasche Bier. Luca überhört den Spruch absichtlich und hämmert noch etwas intensiver auf seine Tastatur ein. Er schiesst sich nämlich schon förmlich auf seinen nächsten Kunden ein.

Sein Erfolgsrezept ist einfach: Man muss dem Kunden immer zuerst eine mögliche Prämienreduktion anbieten und nachher via den Angstfaktor zuschlagen.

Diese Taktik hat ihm schon viel Erfolg gebracht.

Im letzten Jahr konnte er seiner Versicherung schweizweit am meisten Geld einspielen und erhielt dafür eine saftige Bonifikation.

Dieser Alki hat doch keine Ahnung!, denkt er.

Der profitiert doch von Leuten wie mir und kann den ganzen Tag Bier saufen und dumme Sprüche klopfen. Er ist ein Schmarotzer, genau wie die Behinderte, die einem notabene mit ihrem Hund noch den letzten freien Platz in der Wirtschaft streitig macht.

Apropos, wie geht es wohl meiner Cousine?

Seit fünf Jahren lebt sie jetzt nach ihrem Autounfall im Heim.

Im Rossfeld oder so…

Ihr schicksalhafter Fall würde sich doch bestens eignen, um dem nächsten Kunden etwas Angst einzujagen!

Ohne ein Wort zu sagen, klappt er seinen Laptop zusammen und verlässt die Gaststube mit einem zufriedenen Schmunzeln.

«Auf Wiedersehen», ruft ihm die Rollstuhlfahrerin, welche er keines Blickes gewürdigt hat, auffallend laut hinterher.

Der Stammtisch erwacht kurz. Spannungen, auch nonverbale, nimmt er jeweils sofort war.

Den Nachmittag hat er innerlich eigentlich schon abgeschrieben. Die Menschen haben sich offenbar nichts mehr zu sagen, ist die Erkenntnis der jüngeren Zeit, die ihm am meisten zu schaffen macht.

Ich als Stammtisch verliere meine Funktion als Plattform zum Gedankenaustausch je länger je mehr.

Die Sprüche meines einzig verbliebenen Stammgastes kenne ich, und die zu erwartende Reisegruppe wird sich – wie immer – um den letzten Nussgipfel streiten.

Was gibt es da Besseres, als sich aus dieser Realität auszuklinken und abzutauchen.

In letzter Zeit schwelgt er oft in Erinnerungen an sein früheres Leben.

Damals, als sein Holz noch das Herzstück der prächtigen Eiche ausmachte, welche knapp ausserhalb des Städtchens auf einer sanften Anhöhe an einem Waldrand stand.

Stolz und erhaben stand sie da, die alte Eiche.

Standort und Ausblick waren einmalig. Von der Anhöhe sah man im Vordergrund den herrschaftlichen Gutshof der Familie Krebs und dahinter die Silhouette des mittelalterlichen Städtchens, aus der der Kirchturm etwas herausragte. Den Horizont bildeten die sanften Züge des Jura.

Heute würden die Menschen sicher von einem Kraftort sprechen.

Schon in ihren Jugendjahren zeigte die Eiche Interesse am Tun der Menschen.

So konnte sie zum Beispiel beobachten, wie Mensch und Tier unter den Überschwemmungen der Aare litten, und bewunderte dann den Bau des Kanals, welcher die Wassermassen fortan in Richtung Bielersee umleitete.

Etwas weniger erfreut zeigte sich die Eiche über den Bau und die Inbetriebnahme der Zuckerfabrik am Fusse ihres Hügels. Nicht nur nahm diese ihr die Sicht auf einen Teil des Seelandes, nein, ihre Rauchemissionen vermischten sich im Spätherbst mit dem berüchtigten zähen Seelandnebel zu einem fürchterlichen Smog.

Weil die Menschen damals von früh bis spät arbeiteten, kam nur selten jemand zum Müssiggang in ihre Nähe. Die wenigen Gäste, meist gutbürgerliche aus dem Städtchen, machten zuweilen auf Sonntagsspaziergängen bei ihr Halt, und es schmeichelte der Eiche sehr, dass die Menschen nebst der wunderbaren Aussicht auch sie bewunderten. Sie war kräftig gewachsen, und unter ihrem riesigen Laubwerk fühlte man sich geborgen. Ihre Krone überragte den Burgerwald und wurde dadurch auch schon von weither wahrgenommen.

Um die Jahrhundertwende liess der Oberförster am Fusse ihres Stammes eine breite Sitzbank bauen.

Dies hatte zur Folge, dass nun vermehrt auch junge Paare ihre Schäferstündchen hier abhielten. Ihr Händchenhalten und ihre scheuen Küsse belustigten die Eiche ein wenig.

Sonst kamen ihr die Menschen nie sehr nahe. Von Ferne beobachtete sie sie beim Holzen, bei der Feldarbeit und beim Ausreiten.

Nur einmal erschrak die Eiche heftig. Da fuhr nämlich ein rauchendes und lärmendes Ungetüm direkt auf sie zu.

Wohl hatte sie gesehen, dass seit Jahren mehrmals täglich eine Art dampfende Schlange die Ebene durchkroch, aber die kam auf Schienen daher.

Die Eiche konnte nicht ahnen, dass sie in diesem Moment Zeitzeuge der ersten Traktorfahrt im Seeland war. Den stolzen Lenker des Gefährtes kannte sie. Es war Ueli Krebs, der Sohn des Gutshofbauern.

Auf sein Drängen hin hatte sein Vater den Traktor erstanden.

Bald war der Eiche aber auch diese neuste Erfindung der Menschen vertraut, und sie konnte ihr relativ ungestörtes Leben weiter geniessen. Nichts deutete damals auf die schicksalhaften Ereignisse der unmittelbaren Zukunft hin.

Jäh wird der Stammtisch aus seinen Erinnerungen herausgerissen. Soeben hat nämlich die erwartete Reiseschar die Gaststube geflutet. Obschon nach wie vor nur die Behinderte mit Hund und natürlich Chrigu dasitzen, gibt es ein Gerangel um die freien Plätze. Vor dem Frauen-WC bildet sich die obligate Schlange.

Niemand nimmt am Stammtisch Platz, und auch der Tisch der Behinderten wird gemieden. Chrigu murmelt etwas von: «Ich habe noch niemanden gefressen!», doch die Gäste, welche Stühle vom Stammtisch wegnehmen, gehen nicht darauf ein.

Aus dem Kopfweh begünstigenden Lärmpegel gelangen nur vereinzelte Wortfetzen bis zum Stammtisch.

«Wunderbare Holzbrücke – Ist dir auch so schlecht geworden? – Fräulein, zahlen – netter Chauffeur – teurer Kaffee – WC endlich frei?

Ja, fast schöner als Murten…»

Zum Glück ist der ganze Spuk bald wieder vorbei, denkt der Stammtisch, nichts als belangloses Geschwätz. Und wenn er nicht seine Aufmerksamkeit der Behinderten zugewandt hätte, wäre er sicher erneut in seine Erinnerungen abgeschweift.

Woher kommt diese junge Frau? Sie scheint auf jemanden zu warten.

Hat sie geweint? Sie hat leicht verklebte Augen. Erstaunlich, mit welchem Tempo sie mittels eines Holzstabes im Mund SMS schreibt.

Ihre Arme und Hände sind ganz gelähmt. Ihr geht es wie mir, denkt er. Auch sie ist den andern Menschen hilflos ausgeliefert. Sie kann sich nicht mal selber Tränen abwischen!

Erstaunlich daher, welche Würde, welche Gelassenheit sie ausstrahlt. Ach, könnte ich doch nur ein wenig in sie hineinsehen.

«Ruhe!», ruft der Reiseführer und wendet sich dann an die unruhige Schar.

«Bevor wir weiterreisen, möchte ich euch darauf aufmerksam machen, dass wir uns hier in einem ganz besonderen Gasthof befinden. Seit vielen hundert Jahren steigen hier Reisende ab. Die «Krone» beherbergte auch schon Grafen, ja sogar Könige. Noch bis in die 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts traf sich hier, in dieser Gaststube, die Aristokratie des Städtchens, um am edlen Stammtisch zu politisieren.»

«Stimmt!», unterbricht den Redner an dieser Stelle ein gutgekleideter Herr, welcher sich kurz zuvor unbemerkt am Stammtisch niedergelassen hat. «Mein Grossvater war oft hier anzutreffen. Manchmal war ich auch dabei, und man brachte mir ein Sirüpli. Wer hätte damals gedacht, dass ich einmal in seine Fussstapfen treten würde. Ja, meine Damen und Herren, als heutiger Gemeindepräsident heisse ich sie in meinem Stedtli, an diesem geschichtsträchtigen Ort, herzlich willkommen! Ich…»

Immer mehr Gäste schauen einander fragend an und beginnen zu tuscheln.

«Sollen wir ihm applaudieren? Was soll das? Müssen wir nun diesem Selbstdarsteller eine halbe Stunde lang zuhören?», fragen sie sich.

Niemand wird ihn jetzt so leicht bremsen können, weiss der Stammtisch aus Erfahrung. Gleich kriegen sie seinen Lieblingssatz zu hören: «Schon mein Grossvater hat sich hier in der «Krone» unter das Volk gemischt, um ihm den Puls zu fühlen, und dieser tägliche Gang hat heute für mich immer noch oberste Priorität.» Und mit einer Geste in Richtung Chrigu wird er weiterfahren: «Man muss doch als Gemeindepräsident wissen, wo den gewöhnlichen Bürger der Schuh drückt!»

Nein, ich mag gar nicht mehr zuhören. Lieber hänge ich wieder ein wenig meinen Erinnerungen nach, denkt der Stammtisch.

In den langen Wintermonaten stand ich oft wochenlang da, ohne auch nur einen Menschen zu Gesicht zu bekommen. Nur selten sah ich Holzer mit Pferd und Wagen im Burgerwald verschwinden.

So war es auch im Winter, nachdem im Mai die Friedensglocken das Ende des Zweiten Weltkrieges verkündet hatten.

Endlich, so um die Osterzeit, kam Besuch.

Ein ungleiches Paar näherte sich mir. Natürlich konnte ich damals nicht ahnen, wie schicksalhaft mein künftiges Leben mit demjenigen dieses jungen Paares verknüpft sein würde.

Die zierliche, knapp zwanzigjährige Frau erkannte ich sofort wieder. Sie war die Tochter des Gutshofbauern, die Schwester von Ueli, dem Traktorfahrer. Im vergangenen Herbst hatte ich ein paarmal beobachten können, wie sie in Begleitung eines gutsituierten jungen Herrn hoch zu Pferd an mir vorbeiritt.

Doch ihr heutiger Begleiter sah ganz anders aus. Er war mager, hatte ein ausgemergeltes Gesicht, und doch war er von kräftiger Statur. Er schien irgendwie frühzeitig gealtert und trug alte Arbeitskleider. Mir kam er etwas zwielichtig vor, und ich konnte mir nicht erklären, warum sich die hübsche Burgerstochter mit so einem einliess.

Wollte sie einem Gefangenen zur Flucht verhelfen?

Bald merkte ich, dass die beiden ein Liebespaar waren.

Ihre Besuche bei mir häuften sich, und es war nicht schwer zu beobachten, wie ihre Beziehung immer enger wurde. Ja, sie liebten sich wirklich. Doch nebst den immer intimer werdenden Zärtlichkeiten, die sie auf meinem Bänklein austauschten, kam es oft auch zu heftigen Diskussionen zwischen den beiden.

Dabei erfuhr ich, dass Pjotr Pole ist und als Internist ins Seeland gekommen war. Er hatte nach dem Krieg eine Stelle in der Zuckerfabrik Aarberg gefunden.

Seine Arbeit bestand darin, Zuckerfuder zu entladen. Ich mag mich gut erinnern, wie er einmal zu Emmi sagte: «Es ist doch gemein, dass ich als Ausländer für einen entladenen Zuckerrübenwagen nur 40 Rappen kriege, während die Einheimischen für die genau gleiche Arbeit zwei Franken erhalten.»

Ja, es waren schon Welten, die da aufeinander prallten.

Auf der einen Seite dieser arme Kerl ohne Perspektiven und auf der anderen Emmi, die wohlbehütete, gutbetuchte Burgerstochter.

Emmi fuhr zu jener Zeit jeden Tag nach Bern. Sie war Klassenbeste im Kirchenfeld-Gymnasium und stand kurz vor ihrer Matura.

Die Probleme des ungleichen Paares häuften sich, als Pjotr darum bat, bei Emmis Eltern vorstellig zu werden.

«Unser Versteckspiel ist doch menschenunwürdig», erklärte er Emmi eines Tages. «Warum können wir nicht heiraten und ein normales Leben führen? Es darf doch nicht wahr sein, dass dies in der freien, modernen Schweiz nicht möglich ist!»

«Doch, leider!», gab ihm Emmi seufzend zur Antwort. «Die freie Schweiz existiert nicht und wenn, dann sicher nicht hier! Du weisst gar nicht, wie oft ich zu Hause hören muss: «Die Polacken taugen nichts, sie sind faul und haben nichts anderes im Sinn, als unseren Mädchen und Frauen nachzustellen. Nicht, dass du dich etwa noch mit einem solchen Kommunisten einlässt!»

Nachdenklich fuhr Emmi fort: «Ja, und mein Bruder, der Militärkopf, hat kürzlich angefügt: ‹Warum sind die überhaupt noch hier? Der Krieg ist doch schon lange zu Ende. Die Regierung in Bern unternimmt wieder mal nichts! Man müsste das Ganze selber in die Hand nehmen und das Ausländerpack, wenn nötig, mit der Kavallerie aus dem Lande jagen!›»

«Nein Pjotr, wir müssen vorsichtig sein! Meinst du eigentlich, es mache mir Spass, am Sonntag immer mit Erwin, diesem verwöhnten Herrensöhnchen, auszureiten? Das mache ich doch einzig und allein uns zuliebe, damit meine Eltern glauben, ich sei in ihn, den Sohn des Gemeindepräsidenten, verliebt. Nur darum ist unsere verbotene Liebe bisher noch nicht aufgeflogen!»

Ja, ich litt damals richtig mit, erinnert sich die Eiche. Die beiden waren mir ans Herz gewachsen, und in Pjotr steckte viel mehr, als sein Äusseres verriet.

Er sprach ein gepflegtes Deutsch, selbstverständlich nicht ganz akzentfrei. Er sei fast mehr bei seiner deutschsprachigen Grossmutter aufgewachsen, hatte er Emmi erzählt. Der aufgeweckte Pole stand auch intelligenzmässig seiner Geliebten in nichts nach, und doch stand ihre Beziehung unter einem schwarzen Stern.

Unterdessen hatte sich die «Krone» fast geleert.

Auch der Gemeindepräsident ist wieder gegangen, nachdem ihm mit dem Abgang der Reisenden die Plattform zur Selbstdarstellung verloren gegangen war.

Erfahrungsgemäss wird er heute Nachmittag nochmals zurückkehren, wenn wieder mehr Betrieb ist, denkt der Stammtisch.

Chrigu kehrt soeben vom WC zurück. Die Behinderte sitzt immer noch allein an ihrem Tisch. Tote Hose, wie so oft am Nachmittag, denkt der Stammtisch.

Aus dem Lautsprecher plätschert Musik. Stundenlang, Tag für Tag.