Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Andres Muhmenthalers Geschichten spielen in seiner Heimat, dem Berner Seeland. In seinem zweiten Krimi wird das beschauliche Provinzstädtchen Aarberg zum Schauplatz eines Kriminalfalls, in den skrupellose Börsenspekulanten, Ausländerhasser und schwarze Immigranten verwickelt sind. Ex-Kommissar Heiri Weber, der sich auf seinen 65. Geburtstag und den Beginn seines offiziellen Ruhestands freut, gerät ungewollt noch einmal in die Rolle des Ermittlers, als auf mysteriöse Weise Menschen aus seinem Umfeld verschwinden. Als Heiri herauszufinden versucht, was es mit der angeblich verschwundenen Leiche auf der Bargenschanze auf sich hat, überstürzen sich die Ereignisse, und selbst seine besten Freunde erwecken durch ihr Verhalten sein Misstrauen. Heiris Verdacht, dass ihm seine Freunde einen Streich spielen, wird immer mehr zur Gewissheit. Als ihm seine Frau Rita tatsächlich gesteht, dass man ihm mit einem Geburtstagskrimi einfach nur eine kleine Freude machen wollte und ihm Einblick in das Drehbuch des Pseudokrimis gewährt, ist er keineswegs erleichtert. Denn seine Zweifel, dass jemand das Drehbuch benutzt, um ein Verbrechen zu kaschieren, bestätigen sich spätestens, als sich auch die Genfer Kripo bei ihm meldet. Davon stand nichts im Drehbuch.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Erster Teil: Der Geburtstagskrimi
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Zweiter Teil: Der schwarze Engel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Genüsslich vergräbt sich Heiri Weber nach dem Erwachen nochmals in den warmen Kissen. Rita hat ihr gemeinsames Nest bereits verlassen. Aus Erfahrung weiss Heiri, dass es jetzt etwa sieben Uhr ist. Längst hat er ihre «senile Bettflucht» akzeptiert, ja sogar schätzen gelernt. Er geniesst nämlich das Privileg, als Frühpensionierter liegen bleiben zu dürfen und noch fast zwei Stunden Zeit für sich zu haben. Seit gut einem Jahr begibt sich Rita beinahe täglich auf ihre grosse Walkingrunde, von der sie erst gegen neun Uhr zurückkehrt. Heiris Aufgabe besteht bis dahin einzig darin, den Tisch zu decken und Kaffee zu machen, was nur knapp fünf Minuten in Anspruch nimmt und ergo fast bis um neun warten kann.
Heiri hat es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag mit Musik einzuläuten. Nach dem Aufstehen setzt er sich mit einem doppelten Espresso an seinen Steinway-Flügel. Die Lust am Klavierspielen ist wieder in ihm erwacht. Aus Zeitmangel und auch ein wenig aus Groll seinen Eltern gegenüber, die ihn daran gehindert haben, Berufsmusiker zu werden, hat er während fast dreissig Jahren keinen Ton gespielt. Sein musikalischer Nachholbedarf ist daher riesig. Er hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt und will mindestens sein früheres Niveau erreichen. Er geniesst es auch, mit Musik sanft in den Tag zu gleiten. Immer wieder staunt er, wie wach und gelöst er dabei wird. Zur guten Laune trägt auch das bevorstehende Frühstück mit Rita bei. Das alte Ehepaar Weber zelebriert dieses nämlich. So gegen elf macht sich Heiri in der Regel auf zu seinem Rundgang mit dem Velo ins Aarberger Stedtli. Freunde treffen, im Tearoom Steffen Zeitungen lesen und kleine Einkäufe tätigen steht auf seinem Programm.
An diesem Morgen findet Heiri jedoch nicht zum Schlaf zurück. Zu sehr fühlt er sich gedrängt, einen Versuch mit seiner neu erstandenen Begleitstimmen-CD zu wagen. Kaum hat Rita das Einfamilienhaus als «Stockente», wie man im Volksjargon die Walkerinnen mit Stöcken nicht gerade charmant nennt, verlassen, begibt sich Heiri ins Wohnzimmer, legt die CD mit Beethovens Klavierkonzert ein und beginnt, den Solopart zu spielen. Zu seiner freudigen Überraschung gelingt es ihm auf Anhieb, mit der orchestralen Begleitung mitzuhalten. Er spielt sich langsam in einen Rausch hinein und wähnt sich als Solist auf einer grossen Bühne. Treffsicher setzt er die mächtige Akkordfolge, bis ihn etwas Feuchtes im Nacken beinahe erstarren lässt.
«Spinnst du, mich so zu erschrecken!», faucht Heiri, in der Meinung, Rita sei vorzeitig heimgekehrt und habe ihn ohne Vorwarnung auf den Nacken geküsst. «Willst du mich umbri…?» Das letzte Wort bleibt ihm im Hals stecken, denn nun kratzt ihn jemand auch noch ganz unsanft am Rücken. Heiri fährt herum und erschrickt erneut, als er den mit dem Schwanz wedelnden und winselnden Hasso entdeckt, der auf den Hinterpfoten steht und wie Espenlaub zittert. «Du kannst doch deinen Hund nicht einfach reinlassen, Paul!», ruft er vorwurfsvoll in Richtung Hauseingang. «Bist du bescheuert?! – Was willst du in dieser Herrgottsfrühe, ich bin noch im Pyjama! Du hättest wenigstens klingeln können!»
Als aber das leichenblasse Gesicht seines Freundes im Türrahmen auftaucht, hält Heiri inne. Etwas Schreckliches muss geschehen sein. Paul wankt durch die Zimmertür und sucht nach entschuldigenden Worten für seinen Überfall. «Du hast die Klingel, es ist…»
«Schon gut, komm, setz dich», erwidert Heiri und führt den völlig verstört wirkenden Freund am Oberarm zum Sofa.
«Hasso, hast du mich erschreckt», sagt er zum immer noch aufgeregt herumtänzelnden Dalmatiner. «Ja, ja, beruhige dich doch!» Heiri tätschelt dem Hund den Hals. «Ja, ja, du bist ein Braver», fügt er an. Aus den Augenwinkeln betrachtet er seinen vor Schreck erstarrten Freund. «Geht es dir nicht gut?», fragt er vorsichtig. «Ist es wegen deiner starken Medikamente? Ist dir schwindlig? – So sag schon, vor wem hast du Angst? Bist du auf der Flucht?! Warum kommst du zu mir?»
Paul scheint über diese Fragen lange nachdenken zu müssen. «Was – warum?», bröselt er hervor.
«Warum hast du deinen Hund auf mich gehetzt?», fragt Heiri nach, in der Hoffnung, Paul auf scherzhafte Art aus seiner Starre befreien zu können.
«Weiss nicht!», antwortet dieser, «habe es vergessen», und starrt mit weit aufgerissenen Augen an die gegenüberliegende Wand.
Ist Paul nun völlig übergeschnappt? Ist seine Demenzerkrankung schon so weit fortgeschritten?!
«Da hängt einer am Baum! Es ist Jens!», stottert Paul. «Hilf mir! Wir müssen ihn runterholen!»
Heiri zieht den Freund aufs Sofa zurück. «Komm, erzähl mir, was geschehen ist. Wer oder was hängt am Baum? Und wo…?»
«Er hat sich auf der Bargenschanze erhängt. Komm schnell!», drängt Paul, «bevor ihn Kinder entdecken – es ist ein furchtbarer Anblick! Sein Gesicht ist völlig verzerrt. Er trägt einen zerknitterten schwarzweissen Anzug. Warum hat er sich umgebracht? Ist es meine Schuld? Du weisst, wir hatten im Frühjahr einen grossen Streit! Gestern ist Traore, sein Geschäftspartner spurlos verschwunden, wie mir sein Vater gemeldet hat, und heute erhängt sich mein Ziehsohn Jens…»
«Hast du die Polizei schon verständigt?», fragt Heiri und greift beinahe instinktiv zum Telefonhörer. «Nein, ich dachte…»
«Schon gut», erwidert Heiri und wählt die Nummer der Polizei. Er meldet den schrecklichen, von Paul zufällig entdeckten Fund und den Verdacht, dass es sich beim Opfer um seinen Nachbarssohn Jens Zesiger aus Bargen handle. Nach Rücksprache mit Paul nennt er auch den genauen Fundort und gibt für Rückfragen seine wie auch Pauls Adresse an. «Ja, der frühere Hauptkommissar Weber ist am Apparat, Ihr früherer Kripo-Kollege. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dass ich sogleich eine Absicherung der Fundstelle auf der Bargenschanze vornehme und oben mit Paul Krebs auf die Ankunft von Hauptkommissar Boselli und Laura warte. Sie sollen sich verdammt noch mal beeilen. Die Bargenschanze ist ein beliebtes Ausflugsziel für Schulklassen – besonders bei solchem Wetter. Das Verhindern eines Schreckensszenarios hat oberste Priorität, verstanden?!» – «Nein, wir werden bestimmt nichts anfassen!», erwidert er auf den schulmeisterlich wirkenden Belehrsatz etwas ärgerlich und beendet das Telefonat.
Heiri drängt nun zum Gehen. «Es gilt, keine Zeit mehr zu verlieren. Komm! Ich hole noch rasch einen Rest Absperrband, den ich kürzlich in einem Kellerschrank gesehen habe, dann gehen wir», erklärt er sachlich. «Die Polizei wird wohl zirka eine halbe Stunde benötigen, bis sie auf der Bargenschanze eintrifft.»
Rasch geht es die kurze Strecke bergauf. Beide geraten innert Kürze ausser Atem. Hasso scheint gar nicht erpicht zu sein, nochmals an die unheimliche Fundstelle zurückzukehren. Immer wieder muss ihn Paul zum Weitergehen antreiben. Als sie das kleine Waldstück mit der Feuerstelle erreichen, werden auch seine Schritte langsamer. «Muss ich mir den schauerlichen Anblick wirklich nochmals antun?», fragt Paul besorgt.
«Nein, entschuldige, dass ich nicht selber darauf gekommen bin. Sichere du hier den Zugangsweg und lass niemanden passieren. Da, nimm dieses Stück Absperrband, damit kannst du dich besser als Polizeihelfer ausweisen!», ordnet Heiri an.
Dankbar bleibt Paul mit Hasso zurück, während sich Heiri gedankenversunken Richtung Fundstelle macht. Haben mein ungutes Gefühl, mein Instinkt mich gestern doch nicht getäuscht? Paul hatte zum wiederholten Mal von Jens’ undurchschaubaren Machenschaften erzählt und seine Skrupellosigkeit betont. Auch erwähnte er, dass die Börsenhelden Jens und Traore, der Sohn des nigerianischen Botschafters, mit ihren gemeinsamen Geschäften wohl in einen mächtigen Strudel geraten seien. Wenn man so rasch reich wird, kann es ja nicht mit rechten Dingen zu- und hergehen, erwähnte er. Viel Spekulatives geht Heiri durch den Kopf, und er erschrickt beinahe über seine Gedanken. Bei der Feuerstelle auf der Bargenschanze angelangt, schaltet sein Hirn wieder ins Hier und Jetzt um. Er starrt vor sich auf den Boden, um sich zu sammeln. Das hat er immer so gehalten, wenn ihm schreckliche Anblicke schwer verletzter Opfer oder entstellter Leichen bevorgestanden sind. So, von hier aus kann ich die nähere Umgebung überblicken, denkt er, und bleibt stehen. Auf das Schlimmste gefasst, hebt er langsam seinen Blick und sucht die umliegenden Bäume nach dem Erhängten ab – und findet nichts. Wie ist das möglich?, fragt er sich. Hatte Paul heute Morgen Halluzinationen? Haben seine «Medikamentenhämmer» diese ausgelöst? Verunsichert und beinahe etwas verzweifelt dreht er sich um und ruft Paul herbei. «Komm, Paul, da hängt niemand!», ruft er leicht vorwurfsvoll. «Gleich wird die Polizei eintreffen, und wie werden wir dann bitte dastehen?!»
Heiri will sein Smartphone zücken und seinen früheren Kollegen eine Entwarnung durchgeben, aber schon sieht er hinter dem angrenzenden Fussballfeld einen Polizeiwagen stehen.
Paul schaut verblüfft zur Krone der hohen Eiche hoch. «Fort, weg!», sind die Worte, die er hervorbringt.
«Und da soll Jens Zesiger gehängt haben?», fragt Heiri leicht verstimmt nach.
«Ja, er hing da! Die Leiche kann doch nicht einfach verschwunden sein?!» «Seit deinem Fund ist ja erst eine knappe Stunde vergangen! Du hast doch schlecht geträumt! Willst du mich verarschen? Sorry, aber für so was habe ich absolut kein Verständnis!» Heiri gerät immer stärker in Rage und beruhigt sich erst, als er Laura, seine frühere Assistentin, winkend über das Fussballfeld auf sie zukommen sieht. Sie wird sicher eine gewisse Nachsicht für den Fehlalarm haben, denkt er. Die Tatsache, dass ihr Boselli folgt, sein geltungssüchtiger Nachfolger im Amt des Hauptkommissärs, dämpft jedoch seine Hoffnung gleich wieder.
Heiri und Boselli reichen sich zur Begrüssung die Hand, während es sich Laura nicht nehmen lässt, ihren früheren Chef freundschaftlich zu umarmen. «Es ist, wie es ausschaut, ein Fehlalarm. Nehmt Rücksicht auf Paul, ihr wisst, er ist sehr krank und kaum noch zurechnungsfähig. Es war mein Fehler, ihm die makabre Geschichte abzunehmen, sorry!», flüstert ihr Heiri bei der Begrüssung ins Ohr.
Leider kann Heiri damit nicht verhindern, dass Boselli Paul sofort in die Mangel nimmt. «Und wo, bitte sehr, hängt nun dieser Tote?», fragt er vorwurfsvoll und leicht süffisant. «Ein Fehlalarm wird Sie teuer zu stehen kommen, mein Lieber! – Bitte Laura, nimm du die Personalien dieses Herrn auf und protokolliere seine Wahnvorstellungen. Dann ziehen wir hier ab. Wir haben Wichtigeres zu tun, als Hirngespinsten nachzujagen, nicht wahr!»
Danach wendet er sich Heiri zu. «Nun, altes Haus, ça va? Ist dir langweilig geworden, oder hat es einen anderen Grund, dass du jetzt fiktive Mordfälle vor deiner Haustüre inszenierst?! – Was, bitte, soll ich an die Presse weitergeben? ‹Wildwest-Szenen im Seeland?› oder vielleicht ‹Der Weber kanns nicht lassen›?!»
Immer noch der gleiche arrogante Aufschneider, denkt Heiri verärgert und lässt Boselli mit seiner höhnischen Fragerei ins Leere laufen. Er konzentriert sich vielmehr darauf, was Paul zu Protokoll gibt. Boselli merkt nicht, dass ihm Heiri gar nicht zuhört, als er zu einem Monolog über seine erfolgreiche Arbeit als Fahnder ansetzt. Ab und zu streut Heiri ein «ja so» oder «erstaunlich» ein.
Paul schildert Laura derweil genau die gleiche Horrorgeschichte, die er Heiri morgens erzählt hat. Er fügt einzig an, dass der Erhängte ein Pappschild mit der Aufschrift SCHULDIG auf der Brust getragen habe. Diese Bemerkung lässt Heiri endgültig aufhorchen. «Bringt Paul nun alles durcheinander? Interpretiert er Neues in seine fiktive Horrorgeschichte hinein? Warum nur bin ich auf ihn eingegangen? Welch eine Blamage!»
«Hast du es? Können wir?», fragt Boselli mehrmals und immer ungeduldiger, was Laura stereotyp mit «gleich!» beantwortet.
Auch beim Abschied kann der junge Hauptkommissar Hohn und Spott nicht unterlassen: «Das nächste Mal, wenn ihr hier einen hängen seht, holt ihr ihn gleich runter und bringt ihn zum Beweis in mein Büro, verstanden?!»
Zum Glück nimmt nur Heiri wahr, wie Laura demonstrativ die Augen verdreht. Seine Bemühungen, Paul in Schutz zu nehmen, fruchten keineswegs. «Vielleicht hat er die mannsgrosse Vogelscheuche, die dort drüben am Kirschbaum hängt, mit Jens Zesiger verwechselt», versucht es Heiri, doch Boselli packt Laura am Arm und sagt schroff: «Komm, ich habe Besseres zu tun, als mir von zwei alten Herren Seeland-Märchen auftischen zu lassen! Ihr hört von mir.» Im Davongehen redet Boselli noch überdeutlich weiter: «In Anbetracht, dass es sich beim Verursacher dieses Fehlalarmes um einen alten Kollegen handelt, werden wir wohl ein Auge zudrücken müssen.»
«Danke!», ruft ihm Heiri demonstrativ laut hinterher, «sehr gnädig von dir!»
Boselli tut, als ob er diese Bemerkung nicht gehört hätte, setzt sich hinters Steuer und fährt mit überhöhter Geschwindigkeit davon. Der Polizeiwagen zieht eine dicke Wolke von aufgewirbeltem Staub hinter sich nach. «Erstaunlich, dass dieser Arsch nicht noch die Sirene einschaltet», bemerkt Heiri kopfschüttelnd und wendet sich wieder seinem Freund zu.
Paul sitzt immer noch wie ein Häufchen Elend auf der «Anklagebank», einem liegenden Baumstamm. «Verzeih mir bitte!», fleht er, als Heiri neben ihm Platz nimmt. «Es sind wohl doch meine starken Medikamente. Ich hatte heute früh schon ein hartnäckiges Flimmern in meinen Augen.» Nach kurzem Zögern korrigiert er sich selber: «Aber nein! So etwas bildet man sich doch nicht ein! Genau dort drüben hing Jens – ich kann immer noch kaum hingucken.»
«Bitte beruhige dich!», erwidert Heiri. «Wir gehen jetzt runter zu unserem Haus. Rita wird auch gleich da sein. Zu dritt werden wir gemütlich frühstücken und uns von diesem Schock erholen. Glaub mir, die Geschichte ist auch mir schlecht eingefahren. Bei Jens weiss man ja nie so recht, woran man ist. Hast du mir nicht kürzlich erzählt, du hättest nun endgültig mit ihm gebrochen?»
«Doch! Eben! Hoffentlich habe ich ihn dadurch nicht in den Tod getrieben!»
«Vergiss es! Du hast definitiv alles Menschenmögliche für ihn getan! Komm jetzt! Ein Kaffee bei uns zu Hause wird uns hoffentlich auf angenehmere Gedanken bringen.»
Gerne nimmt Paul das Angebot an. Stumm nebeneinander gehend treten sie den Heimweg an. Nachdem sie das noch immer über den Waldweg gespannte Absperrband entfernt haben, hören sie nahende Kinderstimmen. «Gott sei Dank, sind sie nicht früher gekommen!», murmelt Paul. Heiri nickt nur.
Kurz bevor sie beim Waldrand oberhalb der kleinen schmucken Bargener Kirche angelangt sind, hören sie von hinten nahende eilige Schritte. «Und wer macht mir heute das Frühstück?», tönt es leicht vorwurfsvoll. Es ist Rita, sie ist via Bargenschanze von ihrer Walkingrunde zurück.
«Ich habe Paul zum Frühstück eingeladen, wenns dir recht ist», erwidert Heiri schlagfertig, ohne etwas von den Vorfällen preiszugeben. Er ist froh, dass Paul mit seiner Gruselgeschichte zurückhält und artig für die Einladung dankt.
«Ich war mit Hasso spazieren und habe mich nicht etwa selber eingeladen», erzählt er Rita, die sich über den Besuch freut. Ihr brennt offenbar etwas auf der Zunge, denn obwohl sie noch kaum zu Atem kommt, beginnt sie beunruhigt zu reden: «Ihr glaubt nicht, was ich soeben bei der hinteren Waldhütte erlebt habe. Ich bin richtig froh, wieder in Sicherheit zu sein. Es war total unheimlich. Schon von Weitem, als ich von Niederried her in den Wald kam, hörte ich Trommeln schlagen. Trotzdem setzte ich meinen üblichen Weg quer durch den Wald fort. Kurz vor der hinteren Waldhütte stand ein geparkter Geländewagen. Zuerst dachte ich an das Fahrzeug eines Waldarbeiters, doch beim Nähergehen realisierte ich, dass es sich um ein grossrädriges Auto mit getönten Scheiben handelte. Sofort fiel mir das seltsame Kennzeichen des Wagens auf, es war eine Diplomatennummer. Die Trommelschläge wurden immer lauter. Im Wagen konnte ich niemanden erkennen. Es war unheimlich, ich hatte ein richtig mulmiges Gefühl. Ich lauschte in Richtung der Geräusche. Es hörte sich an wie afrikanischer Gesang. – Paul, du als Afrikakenner hättest ihn vielleicht deuten können. Durchs Dickicht hinter der Hütte nahm ich die Schatten von vier oder fünf dunkelhäutigen Tänzern wahr. Als Trommel diente eine grosse blaue Regentonne, wie sie in unserer Gegend in jedem zweiten Garten steht. Der ganze unheimliche Spuk fand auf der kleinen Lichtung statt, wo wir vor Jahren die Asche von Jens’ Vater verstreut hatten. Vielleicht war es ein Totenritual?! Mich schaudert!»
Staunend hören Heiri und Paul zu, und Rita erzählt aufgeregt weiter: «Ihr versteht sicher, dass ich nicht den Mut aufbrachte, nachzusehen, was dort vor sich ging! Ich habe noch jetzt weiche Knie vor Schreck. Es war so beängstigend und wie verhext, denn auf dem Rückweg habe ich keinen einzigen Menschen angetroffen. Für gewöhnlich halten sich um diese Zeit doch Spaziergänger, Joggerinnen, Biker oder zwei, drei Reiterinnen im Wald auf. Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, glaubt mir! Beinahe hätte mich vorhin noch der Streifenwagen der Polizei angefahren. Der kam in einem Höllentempo angebraust. Vielleicht sind sie den Schwarzen auf der Spur, dachte ich, und versuchte, sie zu stoppen. Doch der Polizist am Steuer hupte nur kurz, um dann gestikulierend vorüberzufahren. Wegen der sich in der Frontscheibe spiegelnden Sonne konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich glaube, in der mir zuwinkenden Beifahrerin Laura erkannt zu haben. Seltsam, dass sie nicht abgebremst und kurz angehalten haben. Ich hätte ihnen gerne meine Beobachtungen mitgeteilt. Müsste ich die nicht der Polizei melden? Was meinst du, alter Profi?»
«Beruhige dich!», befindet Heiri. «Das ist tatsächlich eine aussergewöhnliche Geschichte. Wir dürfen jetzt nichts überstürzen.»
«Ist das alles, was du zu diesem Schreckensereignis zu sagen hast?», fragt Rita ungläubig.
«Nein, sicher nicht», entschuldigt sich Heiri und ist froh, dass sie mittlerweile zu Hause angelangt sind. «Nimm eine Dusche, wir werden beim Frühstücken in Ruhe darüber sprechen, denn auch wir hatten heute Morgen ein mysteriöses Erlebnis», beendet Heiri das Gespräch.
«Na, da bin ich aber gespannt», bemerkt Rita, bevor sie ins Badezimmer geht.
Da gibt es doch offensichtlich einen Zusammenhang, denn einen solchen Zufall gibt es fast nicht, denkt er. Ohne Ritas Beobachtungen würde das Ganze noch als Halluzination von Paul durchgehen. Seit gestern weiss ich, dass Traore und Jens ein gemeinsames Problem haben könnten. Doch dies erklärt noch lange nicht, weshalb eine Afrikafraktion in Bargen vorfährt, Jens Zesiger überfällt, ihn an einem Baum aufhängt und seine Leiche unweit der Mordstelle im Wald verscharrt! Die Geschichte wird immer abstruser! Werden meine Befürchtungen, in etwas reingezogen zu werden, vielleicht konkreter, als mir lieb ist?
«Es würde zusammenpassen!», murmelt Paul plötzlich beunruhigt. «Der Botschafter hat gestern am Telefon erwähnt, dass er Jens nun verdächtige, Traore etwas angetan zu haben. Scheinbar hatten sie vorige Woche einen heftigen Streit. Nun sind sie beide wie vom Erdboden verschwunden. Vielleicht liegt der Fall umgekehrt. Traore hat Jens getötet und sich dann abgesetzt. Beide seien wegen ihrer erfolgreichen, aber unsauberen Börsengeschäfte bereits auf dem Radar der Genfer Polizei, wie mir Traores Vater, der nigerianische Botschafter, schon vor Wochen sorgenvoll mitteilte.»
Beim Stichwort Genfer Polizei durchzuckt es Heiri kurz. Er erinnert sich an den Zeitungsbericht, der ihm gestern Abend ins Auge gestochen ist. Im Artikel der Tageszeitung Seeland heute stand etwas von einem Genfer Mietwagen, der im Obstgarten eines Bauern verlassen aufgefunden worden sei. Der Fundort war ausgangs Kallnach, nahe der Hauptstrasse in Richtung Aarberg. Auf Anfrage der Polizei habe die Mietwagenfirma bestätigt, dass der Mercedes nicht wie vereinbart vor zwei Tagen zurückgebracht worden sei. Der Lenker, ein gewisser Jacques Favre, sei zudem spurlos verschwunden. Er nehme ihre Anrufe auch nicht entgegen, liessen sie verlauten. Sachliche Hinweise und so…
Ein Zusammenhang mit dem Erhängten, wenn es ihn denn überhaupt gab, scheint Heiri jedoch eher unwahrscheinlich. Obwohl die Luftliniendistanz zwischen dem Fundort des Wagens und der Bargenschanze keine drei Kilometer beträgt.
«Jetzt beruhige dich doch! Vielleicht nimmt Jens deine Anrufe bewusst nicht entgegen. Sollte er Feinde haben und das nächste Opfer einer Racheaktion sein, hätten seine Gegner sicher einen Berufskiller engagiert, um ihn aus dem Weg zu räumen. Dieser hätte bestimmt im Geheimen agiert und nicht eine solch halböffentliche Tötung, begleitet von einem afrikanischen Folkloreauftritt, gewählt, meinst du nicht auch? Das Ganze ist mehr als suspekt. Lynchjustiz in der Schweiz? Die Täterschaft müsste sich schon sehr sicher fühlen, um eine solch rustikale und aufsehenerregende Hinrichtung vorzunehmen. Das anschliessende, weit herum zu hörende Totenritual bei helllichtem Tag käme einer Kumulierung der Verwegenheit gleich. Nein, einem Schnellfahrer wie Jens könnte man zum Beispiel ein wenig die Bremsen seines Sportwagens oder seiner Harley Davidson manipulieren, oder…, sorry, nun ist mir beim lauten Denken etwas die Fantasie durchgegangen! Ich wollte dich nicht brüskieren. Du kannst auf meine Hilfe zählen, falls diese nötig sein sollte», fügt Heiri an.
«Danke», murmelt Paul, der ganz in sich zusammengesunken ist.
«Ich wollte dich nicht noch mehr verunsichern!», entschuldigt sich Heiri erneut. «Vielleicht hilfts, wenn wir vermutete Zusammenhänge mit Rita besprechen. Erzählst du ihr deinen Bargenschanz-Schrecken?»
Paul nickt nur. «Wir werden es ihr erzählen müssen», bemerkt er etwas später, um gleich noch die ihn belastende Frage anzuhängen: «Haben die Schwarzen Jens’ Leiche verschwinden lassen, was meinst du?»
«Was Leiche?», fragt Rita empört. «Seid ihr etwa auch bei der hinteren Waldhütte gewesen? – Habt ihr Geheimnisse vor mir?»
Heiri, der Rita immer noch im Bad glaubte, fährt zusammen und sieht sich gezwungen, ganz mit der Geschichte herauszurücken. Dies auch, weil ihn Rita gleich mit mehreren Fragen überschüttet: «Weshalb hast du mich nicht benachrichtigt, als du heute früh weggingst? Du weisst, ich habe mein Handy immer dabei. Warum triffst du dich mit Paul um diese Tageszeit im Wald?»
«Stopp, du lässt mich ja gar nicht erzählen», unterbricht Heiri die Vorwurfssalve seiner Frau und schildert die Vorkommnisse des frühen Morgens aus seiner Optik. Er schliesst mit den Worten: «Wahrscheinlich hat sich Paul jedoch alles nur eingebildet. Sein Blutdruck spielt verrückt. Seit gestern nimmt er stärkere Medikamente.»
«Okay, aber meine Beobachtung entspringt nicht meiner Fantasie, das siehst du ein, nicht? Ich habe die Schwarzen um etwas rumtanzen sehen. Ich schwöre es! Aus reiner Angst bin ich nicht näher getreten. Mich schaudert beim Gedanken, dass Jens in ihrer Mitte lag. Und wenn er sich selbst erhängt hat? Seine Mutter, Giulietta, hat mir oft von Jens’ dunklen Gedanken erzählt. Schon vor Jahren fürchtete sie sich davor, dass er sich etwas antun könnte. Gerade du, Paul…» Es gelingt Rita nicht, auszureden, Paul erleidet einen Schwächeanfall und rutscht von seinem Stuhl. Geistesgegenwärtig stützt ihn Rita.
«Komm, hilf mir!», fordert sie Heiri auf. Wir legen ihn aufs Sofa – das wird schon wieder. Es wird die ganze Aufregung sein.»
«Sollen wir den Arzt holen?», fragt Heiri besorgt. Doch dieser haucht: «Nicht nötig, ich werde es überleben, glaubt mir!»
Ein paar Sekunden später fährt Paul hoch. «Herrje, ich sollte Liliane benachrichtigen! Sonst gibt sie eine Vermisstmeldung auf. – Wegen meiner Demenz, wisst ihr!» Hastig zückt er sein Handy, um seine Ehefrau zu benachrichtigen. Heiri zieht sich unterdessen rasch in die Küche zurück, um frischen Kaffee zu holen oder vielmehr, um seine Gedanken zu ordnen. Soeben ist ihm nämlich ein schlimmer Verdacht gekommen. Was, wenn Paul das Ganze nur spielt? Waren Pauls Wildwestgeschichte, sein Schwächeanfall und alles weitere nur Ablenkungsmanöver? Aber wovon? Hat er sich in krumme Geschäfte hineinziehen lassen? Geht es ihm um einen Vergeltungsschlag gegen Jens, Traore oder den Botschafter? Paul scheint irgendwie zwischen die Fronten geraten zu sein. Jens ist ihm längst entglitten. Seine Bemühungen, ihn zu einem einigermassen anständigen Mann zu erziehen, sind gescheitert. Hat Paul nun alles gegeben und «seine» Afrikaner dafür eingespannt, Jens aufzurütteln? Hätten diese Jens vielleicht nur die Grenzen aufzeigen sollen, sind dabei aber zu weit gegangen?
Auffällig oft hat Paul in letzter Zeit, und insbesondere seit er wieder bei Liliane wohnt, betont, wie wichtig ihm die Kontakte zu seinen früheren afrikanischen Mitarbeitern und zur Botschafterfamilie aus Bern seien. Ja, der «Gute Paul», wie ihn seine Bekannten nennen, wird weit herum «Helfer von Afrika» bezeichnet. Auch Rita und Heiri sind Mitglieder im Gönnerverein seines Fraternité-Projektes und zahlen regelmässig ein. Über dreissig Jahre stand Paul seinem Projekt vor, bis er die Verantwortung aus Altersgründen via den Botschafter an ein regierungsnahes Hilfswerk abtrat. – Aber nein! Paul ein Gauner oder gar Mörder, das kann nicht sein! Bestimmt bin ich mit diesem Verdacht auf dem Holzweg, überlegt Heiri. Bevor ich Leute verdächtige, müsste ich herausfinden, ob Jens, Traore oder diesem Phantom mit dem Genfer Mietwagen wirklich etwas zugestossen ist. Leide ich an einer gewissen Déformation professionelle? Schon wegen meines Pensioniertenstatus ist es doch verdammt noch mal nicht meine Sache, mich in irgendetwas einzumischen.
Etwas verwirrt kehrt er ohne Kaffee in die Stube zurück und hört, wie Paul sich von Liliane verabschiedet. «Ja, ich beeile mich!», ruft er, und zu Heiri gewandt: «Sorry, aber ich muss nach Hause, wir bekommen Besuch.» Paul macht Anstalten, zu gehen.
«Soll ich dich nicht besser nach Hause begleiten?», fragt Rita besorgt. Doch Paul wehrt erstaunlich ironisch ab: «Erstens habe ich ja meinen Kampfhund dabei und zweitens stehen entlang dem Trottoir nach Aarberg keine Bäume. Die Gefahr, dass ich noch mehr Erhängte antreffe, ist also minim!»
Rita und Heiri sind irritiert. Solche von dunkelschwarzem Humor begleiteten, ins Makabre abdriftenden Sprüche sind sonst keineswegs Pauls Art.
Unter der Tür bleibt Paul nochmals stehen, entschuldigt und bedankt sich, um dann verblüffend sicheren Schrittes zur Dorfstrasse zu marschieren. Seltsam, höchst seltsam, dieser Abgang, denkt Heiri. Dieser plötzliche Wandel…, sein klarer Kopf! Will er sich vielleicht nur ein verwegenes Spielchen mit mir leisten, um seine häufigen Schachniederlagen gegen mich zu rächen?
«Was soll ich mir weiter den Kopf zerbrechen?», redet Heiri sich zu und setzt sich erneut ans Klavier. Wäre doch schön, wenn ich meine Gäste anlässlich meines näher rückenden Geburtstagsfestes mit dieser wundervollen Musik beglücken könnte. Diesmal unterbricht ihn keine feuchte Hundeschnauze, nein, es ist vielmehr Rita, die ihm ganz einfach die Begleit-CD ausschaltet und vorwurfsvoll an ihn herantritt. «Wie kannst du nach solch einem Schocker einfach so in den Alltagstrott deines Rentnerdaseins zurückkehren? Findest du es nicht nötig, meinen verdächtigen Beobachtungen nachzugehen? Möchtest du nicht auch wissen, wo Jens steckt?»
Nun wird auch Heiri etwas lauter: «Was erwartest du eigentlich von mir? Soll ich etwa den Waldboden um die hintere Waldhütte herum umgraben, um Jens’ Leiche zu finden? Paul hat doch halluziniert! Er macht mir Sorgen, nicht dieser Unflat von Jens.
Rita verstummt; sie weiss, dass es jetzt nicht an der Zeit ist, mit Heiri zu streiten. Meistens, wenn etwas dicke Luft aufzieht, sprich, Vorwürfe von Rita auf ihn einprasseln, zieht sich dieser schmollend wie ein in seine Schranken gewiesener Junge zurück, um dann später meist doch einzulenken. Auch diesmal funktioniert es nach diesem Muster. Allerdings nicht, weil er klein beigeben will, sondern vielmehr erhofft er sich, durch sofortiges Handeln seinen Kopf endlich wieder frei zu kriegen. Ich lass mich doch nicht von der Vergangenheit als Fahnder einholen und mir die gerade jetzt so schöne Lebensphase durch Spukgeschichten vermiesen. «Shit!», flucht er leise vor sich hin.
Statt hinter dem Flügel, findet er sich jedoch eine halbe Minute später mit dem Handy bewaffnet im Badezimmer. Er wählt die Nummer des Gemeindeschreibers und hat Glück, diesen auf seinem Posten zu erreichen.
«Nein, eine Waldbestattung findet heute keine statt», gibt ihm der Befragte etwas erstaunt zur Antwort. Auf die Rückfrage, warum er dies wissen wolle, gibt Heiri nur ausweichend Antwort, um dann rasch eine zweite Frage zu stellen: «Kannst du mir bitte noch sagen, wo Jens Zesiger – du weisst schon, der ‹Quicky›, wie ihn viele von euch nennen, seine Schriften hinterlegt hat?»
«So viel ich weiss, in Genf», antwortet Simon, dem die seltsame Fragerei seines Onkels etwas peinlich ist.
Heiri spürt das. Mit lieben Grüssen an Simons Familie, die hoffentlich wohlauf sei, beendet Heiri das Kurzgespräch.
Vielleicht wurde Jens auch «nur» entführt. Jemand will ihm Angst einjagen oder ihn erpressen. Bestimmt könnte man bei ihm eine grosse Summe Lösegeld holen, denkt Heiri auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer und merkt, dass ihn seine Situation nervt. Im Flur hört er Rita etwas von: «Ja, er hat angebissen, tschüss» ins Telefon hauchen.
«Und?», fragt Rita. «Mit wem hast du heimlich telefoniert?»
«Mit Simon, es gab oder gibt übrigens heute keine Waldbestattung», antwortet Heiri freimütig. Die Frage: «Wer hat angebissen?» schluckt er wohlweislich vor dem Aussprechen hinunter. Denn ihm ist keineswegs entgangen, wie Rita ihren eigenen Anruf mit der Frage nur vertuschen wollte. Mit dem: «Er hat angebissen» hat sie also bestimmt mich gemeint! Er ärgert sich einmal mehr über die Geheimnistuerei rund um sein anstehendes grosses Geburtstagsfest. Nicht gerade stimmungsfördernd. Hat sich heute die ganze Welt gegen mich verschworen? Dabei denkt er auch an das eben geführte Telefonat mit Simon zurück. Warum nur musste dieser die Sache mit Jens’ Übernahmeangebot für unser Haus erwähnen? Der dumme und zugleich perfide Spruch: «Mit Jens hätten wir einen grossen Fisch, sprich Steuerzahler, an Land gezogen. Dies hätte unsere marode Gemeindekasse geradezu saniert», klingt noch immer in seinen Ohren, und er sieht Jens’ Kaufangebot von einer Million Franken für seine Liegenschaft vor Augen.
«Tja, einmal Kriminalist, immer Kriminalist», stichelt Rita, als sie ihren in Gedanken abwesenden Mann ansieht. «Man kann in deinem Gesicht ablesen, wie dein Gehirn arbeitet! Seit der Südfrankreich-Geschichte, deinem letzten gelösten Kriminalfall, hat dich wohl doch nichts mehr derart beschäftigt wie die Vorfälle von heute früh, nicht wahr? Ich bitte dich jedoch, mir deine Schritte im neuen Fall kundzutun. Das Ganze geht Paul und mich doch auch an. Vielleicht können wir sogar etwas zur Lösung beitragen. Vorläufig ist ja keine Hilfe von Polizeiseite zu erwarten. Im Gegenteil, dein Ruf ist bestimmt etwas angekratzt. Also, sagen wirs kurz und deutlich: Diesmal werde ich mich nicht wie damals in Südfrankreich mit einem Rosenstrauss und einem Nachtessen für deine Geheimniskrämerei abspeisen lassen, das verstehst du doch!»
Heiri nickt: «Jawohl, Frau Oberstaatsanwältin,» entgegnet er. «Ich stehe am Anfang meiner Ermittlungen ausser Dienst und werde Sie nach meinem persönlichen Ermessen immer auf dem neusten Stand halten.»
Rita kann es nicht unterlassen und antwortet lächelnd: «So gefällst du mir! Auch ich werde meinen Beitrag zur Lösung leisten.»
«Ist dies der Schlüssel von Zesigers Haus?», unterbricht Heiri seine Frau und nimmt diesen sogleich vom Nagelbrett.
«Ja, willst du heute vielleicht einmal bei unseren Nachbarn die Blumen giessen und die Aquariumsfische füttern?», fragt Rita mit einem Augenzwinkern.
«Genau», antwortet Heiri, «die Blumen.» Seine Schritte führen ihn jedoch vorerst zum Fahrrad und nicht zum Haus von Zesigers. Mürrisch, weil ihm überhaupt nicht danach ist, schlägt er den Weg zur besagten Waldhütte ein. Irgendwie stinkt doch die ganze Sache zum Himmel, verflixt noch mal! Warum schaltet sich Rita nur so vehement ein? Wem hat sie ganz vertraulich gesagt: «Er hat angebissen…»? Soll ich nun von einer auf die andere Stunde meiner ganzen näheren Umgebung misstrauen?! Um dies zu vermeiden, sehe ich mich fast schon gezwungen, Fakten zu liefern. Deshalb kann es sicher nicht schaden, das Gelände um die Waldhütte herum abzusuchen. Ein geübter Fahnder wie ich wird doch bestimmt herausfinden, ob die Horrorgeschichten von Rita und Paul erstunken und erlogen sind.
Beim Radeln fällt ihm plötzlich «Madame Etoile» ein, die gestern früh im Radio ihr Wochenhoroskop verbreitet hat: Schwierige Sternkonstellationen in Kombination mit dem bevorstehenden Vollmond könnten zu Gefühlsirritationen und Verwirrtheit führen. Mit der nötigen Gelassenheit würde man diese Phase am besten meistern. Man solle sich nicht unterkriegen lassen, denn ab Donnerstag würde wieder Stabilität einkehren. Mit wichtigen Entscheiden solle man besser bis Ende Woche warten, denn nichts sei bis dann richtig fassbar.
Heiri, der sonst nichts mit Sterndeuten am Hut hat, erschrickt bei der Feststellung, dass dieses Horoskop ganz auf seine momentane Lage zugeschrieben ist. Mir fehlt das Greifbare an diesem «Fall». Alles kommt mir vor wie in einem Traum. Alles ist irgendwie surreal. Wenigstens die Waldhütte steht noch am selben Ort wie immer, stellt er mit einem Grinsen fest, und stellt sein Fahrrad an die Blockhüttenwand. Alles ist ruhig. Kein Trommelschlagen, keine tanzenden Afrikaner oder dergleichen. Ein Blick auf den vom vorgestrigen Gewitterregen aufgeweichten Waldboden genügt jedoch, um frische Reifenspuren, Fussabdrücke und einen Abdruck eines kreisrunden Gegenstandes mit einem Durchmesser von ungefähr vierzig Zentimetern auszumachen. Ein Regenfass, in der Grösse wie das, welches in Zesigers Garten steht, überlegt Heiri, und der Routinier wird nun doch etwas nervös. Er nimmt sich vor, beim anschliessenden Besuch von Zesigers Haus einen Blick auf deren Regenfass zu werfen.