Späte Rache - Andres Muhmenthaler - E-Book

Späte Rache E-Book

Andres Muhmenthaler

0,0

Beschreibung

«Ein Fuchs tut, was ein Fuchs tun muss!» Es scheint, als ob dieser Spruch auch auf Heiri Weber zutrifft, den einst erfolgreichen Hauptkommissar der Kripo Bern. Im letzten halben Jahr ist aus dem rüstigen Rentner ein Griesgram geworden, der seiner Frau Rita zunehmend auf den Wecker geht, bis diese ihn bei ihrem Psychiater anmeldet. Wie verwandelt ist Heiri, als ihn Laura, seine frühere Assistentin und jetzige Nachfolgerin, um Rat und Unterstützung in einem mysteriösen Aarberger Kriminalfall bittet: Da starben kurz hintereinander drei Männer der sogenannten Aarberger Viererbande, alle vorher noch kerngesund, und immer hat die gleiche Witwe mit einer auffälligen Hexenkreuz-Tätowierung die Toten ins Krematorium begleitet. Heiris Depression ist wie weggeblasen, als er zu ermitteln beginnt und damit weitere Ereignisse auslöst, als ob er in ein Wespennest gestochen hätte. Es geht um Rache, und Heiri kennt inzwischen das Motiv der Täter nur zu gut.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Personen

Aus früheren Aarberger Krimis bekannt

Heiri Weber: Ex-Kommissar der Berner Kripo im Ruhestand. Ruhestand? Damit hat er ein Problem.

Rita: Heiris Gattin. Sie hat ihren Heiri im Griff – mehr oder weniger.

Laura Sollberger: Heiris Nachfolgerin bei der Kripo. In ihrem neusten Fall benötigt sie wiederum Heiris Unterstützung.

Wendy und Marc Flückiger: Sie haben die Leitung der Psychiatrischen Klinik Aarberg übernommen.

Sokrates (Werner Zürcher): Dauerklient der Psychiatrischen Klinik Aarberg, treuer Freund von Heiri.

Haben mit dem neusten Fall zu tun

Robert Hemund: Ex-Mann von Wendy, strebsamer Gottesdiener mit eigener Auslegung der biblischen Gebote.

Die Waldfrau: Marianne, Schwester von Robert Hemund. Hat ein schweres Los.

Rebekka Moser: Frau des Pfarrers – das bringt Verpflichtungen mit sich.

Käthi Tschabold: Organistin, Katechetin. Liebt Hexengeschichten. Und hat offenbar einen Plan.

Rahel Reber: Dentalhygienikerin, Heiris Zahnhexe.

Die Herren der Aarberger Viererbande: Karrieristen mit unrühmlicher Vergangenheit, wie sich herausstellen wird.

Die Ehefrauen der Aarberger Viererbande: von ihren Männern verwöhnt. Aber war es das, was sie sich vom Leben erträumt hatten?

Psychiater Doktor Bühler, Vater von Käthi: durchaus qualifiziert, hat aber auch eigene Pro bleme zu lösen.

Zahnarzt Daniel Zürcher: Hat sich nicht nur um die Zähne seiner Klienten gekümmert.

Barbara und Ben: Tochter und Enkel der Webers.

Alte Frau: zunächst im Hintergrund agierend. Wer ist sie?

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Inhaltsverzeichnis

Die Vorgeschichte

Kapitel 1: Sprechstunde

Kapitel 2: Opa, gibt es heute noch Hexen?

Kapitel 3: Die Zahnhexe

Kapitel 4: Die geheimnisvolle Organistin

Kapitel 5: Die Waldfrau

Kapitel 6: Zufällige Begegnungen

Kapitel 7: Ein Verdacht kommt auf

Kapitel 8: Wendy macht sich Sorgen

Kapitel 9: Der Fahrraddieb

Kapitel 10: Unangenehme Begegnungen

Kapitel 11: Ben ist verschwunden

Kapitel 12: Unlustige Witwen

Kapitel 13: Die Waldfrau erzählt

Kapitel 14: Der Deal

Kapitel 15: Der Kreis der Verdächtigen

Kapitel 16: In einer stillen Kammer…

Kapitel 17: Die alte Unbekannte

Kapitel 18: Im Ringmuurkeller

Kapitel 19: Einen Hexenstern für jeden Toten

Kapitel 20: Fentanyl

Kapitel 21: Vandalismus

Kapitel 22: Mystische Aarbergernacht

Kapitel 23: Im Polizeipräsidium

Kapitel 24: Über Ursache und Wirkung

Die Vorgeschichte

In einem stattlichen Aarberger Haus treffen sich vier ältere, gut situierte Frauen jeden Dienstagmorgen ab neun Uhr zum Bridgespielen. Manchmal gesellte sich noch die eine oder andere Bekannte aus denselben gehobeneren Aarberger Kreisen dazu. So wie an diesem schönen Maimorgen vor gut zwei Jahren.

Nicht selten entwickelten sich nebst dem Spiel angeregte Gespräche über Gott und die Welt. Doch an diesem 13. Mai geschah etwas Besonderes. Das Leben der anwesenden Damen wurde mit einem Schlag grundlegend verändert.

Über Alltagsthemen und anlässlich des anstehenden siebzigsten Geburtstages der mit Abstand Ältesten in der Runde begann man reihum über das eigene Leben zu reflektieren. In ihren Biografien sind viele Parallelen auszumachen: Alle hatten sie die Matura oder eine Berufslehre abgeschlossen, dann aber sehr jung geheiratet und Kinder großgezogen. Fortan hielten sie ihren Männern für ihre Berufskarrieren den Rücken frei und besorgten den Haushalt, verpassten also eine berufliche Entwicklung und blieben Hausfrauen.

Die angehende Jubilarin reißt plötzlich das Wort an sich. Es ist, als hätte sie auf diesen Moment gewartet: «Machen wir uns nichts vor. Durch den Verdienst unserer Ehepartner sind wir zu ansehnlichem Reichtum und Wohlstand gekommen und haben im Grunde nichts zu klagen. Wir können uns problemlos eine Putzfrau leisten. Die arbeitsaufwändigen Kinder sind flügge geworden. Wir können unsere Tage frei gestalten und genießen viele Privilegien. Trotzdem haben wir unseren Gatten wie im Mittelalter zugedient, ihren Dreck weggeputzt und unsere Bedürfnisse unterdrückt. Ist es das? Ist das Leben, meine Lieben?»

Verblüfft und gespannt hören ihr die andern zu. Sie holt aus und vergleicht ihre familiäre Situation, insbesondere ihre Frauenrolle, mit dem Schicksal von Frauen im dunklen Mittelalter: «Lieber selber als Hexe auf dem Scheiterhaufen enden, als diese verlogene Gesellschaft mittragen! Ich bewundere den Mut von Marianne und ihren Mitstreiterinnen. Sie haben mit der heutigen konsumgeilen und nach wie vor von Männern dominierten Gesellschaft gebrochen. Sie ließen sich von niemandem knechten. Sie haben sich von den Fesseln befreit, sind also genau das Gegenteil von uns angepassten Huscheli. Ich schäme mich, diesen Schritt aus purer Bequemlichkeit nie gemacht zu haben. Alles hingenommen zu haben. Aber noch ist es nicht zu spät!»

Niemand aus der Runde traut sich, ihren Redefluss zu unterbrechen, geschweige denn, ihr zu widersprechen, denn sie alle verbindet ein erniedrigendes Geheimnis.

«Jetzt ist der allerletzte Moment, um etwas zu ändern und Rache zu nehmen!», betont sie. «Oder wollt ihr eurem Angetrauten nach seiner Pensionierung nun wie ich rund um die Uhr zudienen, sein Programm mitmachen und ihn bis zu seinem Tod in zwanzig, dreißig Jahren hegen und pflegen? Pfui Teufel! Ich verachte mich, ich verachte euch, dieses Joch so lange getragen zu haben. Haben sie uns nicht alle während ihrer zahlreichen Überstunden mit einer Sekretärin oder andern jungen Dingern betrogen? Ich bin bestimmt nicht die Einzige, welche davon weiß und dem Hausfrieden zuliebe nichts dagegen unternommen hat. Wacht auf, bevor es zu spät ist!»

Eine nachdenkliche Stille tritt ein. Längst haben sie das Weiterspielen vergessen. Nachdem sie der emotionale Ausbruch ihrer Freundin sprachlos gemacht hat, beginnt etwas in ihnen zu arbeiten. Alles bisher Heruntergewürgte, in sich hineingefressener Ärger über ihre arrangierten und unbefriedigenden Vernunftehen steigen in ihnen hoch und verdichten sich zu Hassgefühlen gegen die Dominanz ihrer Männer, die sie jahrzehntelang erduldet hatten.

Selbstverständlich hatten sie auch ihren materiellen und persönlichen Profit aus diesen Beziehungen gezogen. Man denke nur an die unzähligen Tennis- und Wellness-Stunden, die sie sich dank der guten Einkommen ihrer Männer hatten leisten können. Oder daran, dass man viele Sommer lang kein größeres Problem zu haben schien, als den Liegestuhl rechtzeitig, möglichst als Erste, am besten Standort in der Badi Aarberg positionieren zu können. Meist da, wo man den Überblick über die Neuankommenden und die Cafeteria-Besucher hat. Zugegeben, auch die haarige Brust des Bademeisters und sein knackiger Hintern sollten möglichst im Blickfeld sein.

Die Sprecherin ist kaum mehr zu bremsen. Erzählt dann ganz offen von ihrem persönlichen Schicksal. Vom Leid, welches ihr und ihrer Tochter zugefügt worden war und von ihrem Entschluss, dieses nicht ungesühnt ins Grab mitnehmen zu wollen. Betroffenheit macht sich breit. Dann zeigt sie der Damenrunde ihren Plan, zückt einen gut vorbereiteten Vertrag aus ihrer Handtasche und legt ihn den vier Frauen zum Unterschreiben vor.

Bis auf die Jüngste im Bunde unterzeichnen sie das verbindliche Dokument und schwören wie die alten Eidgenossen: «Eine für alle, alle für eine! Zusammen sind wir stark!» Unter dem Druck der Gruppe und kaum verhehlten Drohungen entschließt sich vor dem Auseinandergehen auch die Jüngste zum Unterschreiben des Vertrags.

1

Sprechstunde

«Na, wie geht es uns heute, Herr Weber?» Schon in diesem gesprächseinleitenden Satz bestätigen sich die vielen Vorurteile, die Heiri, seines Zeichens Ex-Kommissar der Kripo Bern, gegenüber der Psychiatrie im Allgemeinen hegt. Anstelle einer frechen Antwort, die ihm auf der Zunge brennt («mir geht es gut, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht…»), bringt er nach einigem Zögern ein nichtssagendes «gut» über die Lippen. Wenn er mich jetzt fragt, ob wir immer noch Albträume haben, verlasse ich den Laden gleich wieder, nimmt er sich vor. Rita hat es bestimmt gut gemeint mit dieser geschenkten ersten Therapiestunde bei ihrem Psychiater. Sie hat ihn jedoch zu diesem Schritt genötigt.

Aus dem unternehmungsfreudigen Frührentner, der den größten Teil der neuen Freiheiten mit Rita verbracht hat, ist in den letzten Monaten ein ausgepowerter, grübelnder Griesgram und Stubenhocker geworden, der beim stundenlangen Fernsehen öfter mal zu tief ins Glas schaut.

«Ich halte das nicht mehr aus.», hat sich Rita schon mehr als einmal beschwert. «Lass dir doch helfen. Mit so wenig Schlaf wirst du nie mehr aus deinem Loch finden. Nächstens deponiere ich dich im Altersheim, verkaufe die Hütte und nehme mir irgendwo eine kleine schicke Stadtwohnung. Ich lasse mir mein Leben nicht von dir versauen!»

«Dumme Frage, ich weiß!» Meistens kommen Menschen mit irgendeinem Problem zu mir», versucht der kleine dickliche Mann mit dem strähnigen weißmelierten Haar das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Nicht gerade vertrauenerweckend, dieser Anblick, denkt Heiri. Auch kein Wunder, dass ihn seine Frau schon vor fast zwanzig Jahren verlassen hat, wie er von Rita weiß. Bald kommen wir zwei an den von mir viel zitierten Punkt, dass man sich beim Psychiater oft fragen müsse, wer genau jetzt wen therapiere. Bestimmt hat Rita als seine «Dauer»-Patientin ihm geholfen, sich über den Zerfall seiner Familie hinwegzutrösten. Armer Kerl!

Was nun folgt, gleicht einem Verhör auf der Polizeistation. Im Spital würden sie einem das Krankenkassenkärtchen abnehmen und hätten die Personalien innert Sekunden in ihrem System erfasst, findet Heiri. Er gibt aber artig Auskunft über sein Alter und seine Gesundheit. Gesundheit? Ist doch gut, oder?

«So, das hätten wir! Ihre Frau hat mir erzählt, dass Sie unter Albträumen leiden und manchmal noch den ganzen Tag das Bild einer entsetzlich entstellten Leiche mit sich tragen. Das gilt es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. All das Unverarbeitete, Abscheuliche, drängt sich in Ihr Bewusstsein. In Ihrem Beruf bei der Kripo hätte ich keinen Tag überlebt, wissen Sie. Ich kann nämlich kein Blut sehen! Aber item. Wenn ich daran denke, dass Sie all die Jahre bestimmt noch ohne Coaching, Supervision oder anderweitige Unterstützung arbeiten mussten, bewundere ich Sie. Vierzig Jahre lang Gewalt, Schrecken, Ungerechtigkeiten und so weiter hautnah miterleben zu müssen! Unglaublich, was sich da wie eine Art Atommüll-Endlager in Ihnen angesammelt haben muss und erst jetzt in Form von Träumen durch Ihre selbst aufgebaute Schutzmauer rinnt.»

Atommüll-Endlager? Das hat er gut formuliert, findet Heiri.

Aus meiner Optik gibt es zwei Ansätze, wie wir in einer Therapie vorgehen könnten. Die erste wäre: Wir versuchen das Leck zu verschließen, verstärken also die Schutzmauer. Der zweite: Wir versuchen das Endlager umzulagern, es zu entgiften, um ihm sozusagen in Ihrem Denken und Fühlen einen anderen Platz zu geben.»

Ohne es zu bemerken, nickt Heiri anerkennend und muss sich eingestehen, dass er Herrn Bühler wohl etwas falsch eingeschätzt hat. Warum nur habe ich solche Widerstände in mir, mir helfen zu lassen? Hat die Erfahrung und Devise, sich beim Ermitteln oft nur auf sich selbst verlassen zu können, zu dieser Blockade geführt? Ist dieser Schutzschild, den ich mir unbewusst aufgebaut habe, gegen innen und außen wirksam und verhindert auch den Zugang von gutgemeinten Ratschlägen?

Hat Rita eventuell doch recht, wenn sie mich manchmal als unbelehrbar und unnahbar beschreibt? Wie hat sie mir doch heute Morgen, vor dem Gang hier in die Praxis, vorgeworfen: Keine Hilfe annehmen zu wollen, sei hochnäsig und feige. Hat sie eventuell bereits mit Herrn Bühler über meine Verhärtung gesprochen? Er scheint jedenfalls gut mit meinem Fall vertraut zu sein, grübelt Heiri und merkt nicht, dass der Psychiater mit seiner Ausführung bereits bei den nächsten Schritten angelangt ist.

Hilfe zur Selbsthilfe sei die wichtigste Doktrin in der Psychologie. Er habe höchstens eine Beraterfunktion. Schon Freud habe… Eigentlich sehe er nur bei der zweiten Variante eine Chance, also indem man den Sondermüll aufarbeite und nicht versuche, noch dickere Mauern…

Ja, hier liegt das Grundproblem, spürt Heiri, und auf einmal sieht er sich unwillentlich in die Therapie einsteigen: «Genau hier, Herr Bühler, habe ich große Ängste.» Der sonst eher wortkarge Heiri beginnt nun zu debattieren. Beginnt, wie zuvor Herr Bühler, Vergleiche heranzuziehen. Anstelle des Sondermülls hält er es eher mit dem Zauberlehrling: «Die Kräfte, die ich rief, werde ich nie mehr los. Wie bei allem im Leben, gibt es auch in mir zwei Seiten. Meine erlernte Einstellung, im Beruf schreckliche Anblicke und Erlebnisse zu ertragen, indem ich sie zwar aufnahm, um sie aber nüchtern und möglichst ohne eigene Emotionen in meiner Schublade abzulegen, wirkt sich jetzt wie ein überfüllter Magen aus. Mein Ich sträubt sich dagegen, loszulassen, so quasi den Finger reinzustecken, um erleichterndes Erbrechen zu bewirken.»

Diese Selbstanalyse beeindruckt Herrn Bühler offensichtlich. «Sehr treffend, aus Ihnen wäre ein guter Psychologe geworden. Ja, Sie haben Angst davor, dass die Aufarbeitung dieser bösen Geschichten diese reanimiert und dadurch ihrer Psyche noch mehr Schaden zufügen könnte. Das verstehe ich. Es mag sein, dass Sie schlimme Momente nochmals durchleben müssen, doch nur, wenn es uns gelingt, sie aufzuwecken, können wir den Kampf gegen sie aufnehmen. Sie müssen sichtbar werden, erst so werden sie auch fassbar. Es ist Ihnen offensichtlich nicht gelungen, in Ihren drei Rentnerjahren genügend Distanz zu finden. Die Zeit heilt leider nicht alle Wunden, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Heiri ist beeindruckt, obwohl er diesen Lösungsansatz des Aufarbeitens irgendwie auch erwartet hat. Zum ersten Mal scheint ihm, dem kritischsten aller Patienten, die Hilfestellung dieses Mannes als mögliche Option. Längst hat er sich nämlich eingestehen müssen, dass er die Horrorträume nicht einfach ausblenden kann. Und wie er sie loswerden könnte, weiß er nicht. Langsam hat er auch vom Gedanken Abschied genommen, dass sie sich eines Tages von allein verflüchtigen würden. Die Schlafqualität hat immer mehr gelitten, ist er sich bewusst, und hat als Folge oft negativen Einfluss auf seine Laune. Es ist eine Beeinträchtigung von Ritas und seiner Lebensqualität, das muss er sich eingestehen. Also lieber wenigstens den Strohhalm packen und den Schritt wagen, als sich damit abzufinden. Im besten Fall lebe ich noch zwanzig Jahre, und die möchte ich, verdammt nochmal, glücklicher leben.

«Gut, einverstanden! Einen Versuch ist es mir wert, wenn Sie mir jederzeit die Möglichkeit gestatten, auszusteigen, bin ich bereit für eine Therapie!», hört er sich sachlich und schon beinahe locker sagen.

«Gut, dann starten wir doch gleich mit einem ersten Meditationsversuch! Welches Bild verfolgt Sie am meisten, Herr Weber?»

Erstaunlicherweise erzählt Heiri bald von diesem fassungslosen, aber auch vorwurfsvollen Blick einer jungen Frau. Zu keinem Wort fähig, starre sie ihn an und irgendwie auch durch ihn hindurch ins Leere. Die Mischung aus Entsetzen, Wut und Ohnmacht lasse ihn erschauern und meist auch mi einemSchuldgefühl aufwachen. «Wenn sie wenigstens geschrieen hätte, mir die Leviten gelesen, mich gepackt oder geschlagen hätte, aber dieser Blick!», fügt Heiri mit angespanntem Gesichtsausdruck hinzu. «Wenn ich in der Lage gewesen wäre, sie auf ihren Blick anzusprechen. Der Traum geht nie weiter, Herr Bühler? Und so lange werde ich ihn auch nicht los, das spüre ich! Verstehen Sie?»

Der Psychiater nickt. «Bestimmt haben Sie bei Ihren Ermittlungen auch Fehler gemacht. Darüber müssen wir nicht diskutieren. Hier scheint Sie eine mögliche Mitschuld zu belasten, welche eventuell auch keine war. Denn Ihr Job war die Wahrheitssuche und nicht die Suche nach Gerechtigkeit. Anders gesagt: Sie sind berufshalber erst eingeschritten, als das Böse bereits geschehen war und haben laut Ihrem guten Ruf bestimmt sehr überlegt und vorsichtig gehandelt. Vergessen Sie das bitte nicht!»

Heiri entspannt sich ein wenig.

«Wir können eigentlich erst mit der Therapie beginnen, wenn Sie sich an eine oder die mögliche Auslösung für den Traum erinnern, was Sie vermutlich nicht so einfach ist. Manchmal helfen Details, um dem Erlebten auf die Spur zu kommen. Zum Beispiel die Haarfarbe dieser jungen Frau, eine Halskette, Kleidungsstücke. Gut möglich aber auch, dass Sie sich die ganze Geschichte nur im wahrsten Sinne des Wortes erträumt haben und sich ihr Unterbewusstsein diesen Kurzfilm aus Gefühlen zusammengestellt hat. Am besten nehmen wir den Traum aber als Ausgangspunkt, um in die Seele zu blicken. Versuchen Sie den Blick bitte nochmals in Worte zu fassen. Was hat die Frau genau aussagen wollen, wie haben Sie den Blick verstanden? Warum hat es offenbar auch Ihnen die Sprache verschlagen?»

Heiri ist etwas ernüchtert. Nächte- und tagelang hatte er sich ungefähr dieselben Fragen gestellt, aber mit dem besten Willen keine Antwort darauf gefunden. Warum sollte ich jetzt plötzlich in dieser Minute eine Antwort finden? Zum Glück hilft ihm Herr Bühler weiter. «Was hätten Sie dieser Frau denn sagen wollen?»

Heiri bleibt stumm, hebt und senkt nur etwas seine Schultern. Doch Herr Bühler lässt nicht locker und spricht ihm mögliche Antworten vor. Selbst diese Hilfestellungen lösen in Heiri keine Erinnerung aus. Immerhin ist er immer mehr davon überzeugt, dass dieser Blick nichts mit seinen schlimmsten Ermittlungserlebnissen zu tun hat. Auch weil er ihn schon mehrmals mit den unauslöschlichen Szenen, die er jederzeit aus einer Ecke der Erinnerungen auftauchen lassen kann, verglichen hat.

«Bleiben Sie dran, Herr Weber», rät Herr Bühler und entschuldigt sich dafür, hier seine Therapiestunde abklemmen zu müssen. Bereits mehrmals hat sich nämlich auch eine divenhafte Dame im Wartezimmer bemerkbar gemacht. Erst durch Hüsteln, später mit einem geräuschvollen Toilettengang, schließlich durch mehrmaliges Anklopfen und Hereinschauen.

Penetrant, denkt Heiri. Der würde ich etwas husten… Nachdem er mit dem Psychiater den nächsten Termin – in zwei Wochen wieder – vereinbart hat und sich verabschieden will, murmelt er plötzlich das Wort «Cheerleader».

«Was?»

«Ach nichts!», entgegnet Heiri gedankenversunken.

«Ja, jeder hat so seine Schwächen», meint Herr Bühler. Unsere Tochter hat da auch mitgemacht. Ich stehe dazu, SCB-Fan zu sein!», erklärt er, als er Heiris überraschten Blick auf das Poster an der Wand richten sieht. «Mir sind Diplome, also Auszeichnungen über meinen beruflichen Werdegang, nicht so wichtig! Und die Praxis oder das Wartezimmer damit zu tapezieren, wäre mir peinlich, wissen Sie!», bemerkt der Psychiater, während er Heiri die Hand zum Abschied reicht.

Heiri bleibt gedanklich abwesend vor dem Poster stehen, bis er von der ins Zimmer drängenden Patientin recht unsanft weggerempelt wird.

Herr Bühler entschuldigt sich anstelle der forschen Dame, die schon auf dem Therapiestuhl Platz genommen hat und flüstert Heiri zu: «Danke, dass Sie ihr nicht mit einem Cross-Check geantwortet haben!»

Benommen und mit seinen Gedanken immer noch ganz woanders steigt Heiri aufs Fahrrad. Nicht einmal der starke Verkehr auf der Lyss-Straße rüttelt ihn wach. Über die Betonbrücke fährt er ins Stedtli rein. Danach landet er nicht wie gewöhnlich im Tearoom Steffen, sondern biegt rechts in den Gerbeweg ein. Ein Schleichweg, der direkt runter zum hölzernen Fußgängersteg führt.

Peng! Heiri fällt vor Schreck beinahe vom Fahrrad und zieht instinktiv die Bremse. Unmittelbar nach dem Schuss, dessen Knall von den Hauswänden verstärkt zurückhallt, sieht er neben sich etwas Schwarzes zu Boden klatschen. Unschwer zu sehen, dass es sich dabei um einen Raben handelt. Ein letztes Zucken, und der Vogel ist tot.

Heiri steigt vom Fahrrad und schaut zu den Fassaden der Häuser hoch. Er kann jedoch keinen Gewehrlauf oder dergleichen ausmachen. Einzig scheint ihm klar, dass aus irgendeinem Fenster geschossen worden ist. Heiri schaut sich um, sieht aber niemanden, der Zeuge des Vorfalls hätte sein können.

Erinnerungen an seine Kindheit werden wach. Der Nachbarsbub besaß nämlich ein ganzes Waffenarsenal an Luftgewehren. Als Knaben hatten sie auf ungefähr alles geschossen, was kreucht und fleucht. Unvergesslich bleibt ihm die Erinnerung an ihr Menschenopfer, oder besser an die peinliche, von den Eltern verlangte persönliche Entschuldigungsszene mit Handreiche und so. Chrige, die dumme Kuh, hatte einen Querschläger in die Wade abbekommen…

Aber morgens um elf Uhr sitzen die möglichen Schützen doch bestimmt noch in der Schule und ärgern die Lehrer, vermutet Heiri und weiß nicht recht, wie er auf diesen Vorfall reagieren soll. Den Vogel einfach liegen zu lassen, scheint ihm genauso daneben, wie die Polizei oder den Wildhüter anzupeilen. Trotzdem weckt das ungewöhnliche Ereignis seine Neugier, und er entschließt sich, eine mögliche Fortsetzung der Kurzgeschichte hinter einem Mauervorsprung abzuwarten. Würde mich nicht wundern, den Schützen bald zu Gesicht zu bekommen, sinniert er.

Und tatsächlich hört er Sekunden später in einem der Hinterhäuser des Stedtlis eine Tür aufgehen und jemanden still vor sich hin fluchend die Treppe aufs Sträßchen runterlaufen. «Muss man eigentlich alles selber machen!», schimpft die ältere Dame, als sie mit einem Müve-Sack und einer «Ghüder»-Schaufel bewaffnet aufs Sträßchen tritt. Ist das nicht die Frau Pfarrer?! Heiri traut seinen Augen nicht, und doch muss es Rebekka sein. Unweigerlich geht ihm dabei das Schwan-Lied von Gölä durch den Kopf. Wenn eine damals als Schulmädchen dem Bild des grauen Entleins entsprach, dann sie. Die dicke Hornbrille hat ihre vogelscheuchenartige magere Erscheinung damals nur noch lächerlicher gemacht. Jahrelang wurde sie zum Gespött. Gemeiner als etwa zwölfjährige Kinder ist niemand, weiß Heiri.

Damals hätte ich begriffen, wenn sie zum Luftgewehr gegriffen hätte, um sich Respekt zu verschaffen. Aber als über sechzigjährige gesetzte Frau Raben vom Himmel zu holen… Heiri beobachtet noch, wie Rebekka die Krähe im Kehrichtsack in den gegenüberstehenden Container wirft, sich nochmals nach möglichen Zeugen des kurzen Spuks umschaut und dann über den Treppenaufgang hastig wieder in ihrem Haus verschwindet.

Den Gedanken, den Raben nun zu konfiszieren, lässt Heiri sofort wieder fallen. Nichts wie weg, bevor es noch peinlich wird, ist seine Devise. Umgekehrt kann er es auf der Heimfahrt nicht unterlassen, mögliche Blick-Schlagzeilen für die eben erlebte Szene zu formulieren: Frau Pfarrer räumt auf! Die Todesschützin! Volltreffer! Eine glatte Zehn. Präsidentin der Tierschutzsektion Seeland holt unschuldigen Raben vom Himmel. Besonders perfid und zweideutig fände er: Mit Luftgewehr gegen schwarzen Emigranten in Gestalt eines Raben…

Noch während der Heimfahrt spürt er an seinem Oberschenkel sein Handy surren. Vis-à-vis des Radsportgeschäfts Thomet fährt er deshalb rechts heran, um den Anruf entgegenzunehmen. Es ist Rita, die sich nach seinem Verbleiben erkundigt und wie es beim Bühler gewesen sei. «Bin gleich zu Hause!», meldet er kurz angebunden und nimmt das letzte Wegstück unter die Räder.

Bald stehen beide Webers in der Küche und rüsten Karotten. Rita freut sich, dass Heiri sich nun doch helfen lassen will. Sie ist aber feinfühlig und vorausschauend genug, um sein Einschlagen des von ihr initiierten Weges nicht triumphierend zu kommentieren. «Zu einem zarten Pflänzlein muss man Sorge tragen», ist ihre Einstellung. Geschickt sucht sie nach andern Gesprächsthemen. Heiri durchschaut sie jedoch und befriedigt ihre Neugier, indem er von sich aus über die Therapiestunde erzählt.

Trotzdem ist die friedliche Zweisamkeit nur von kurzer Dauer. «Laura, deine geliebte Nachfolgerin bei der Kripo Bern, hat angerufen. Sie hat sich nach deinem Zustand erkundigt und dich um Hilfe gebeten. Ich glaube nicht, dass du momentan einer Zusatzbelastung gewachsen wärst und habe sie auf einen anderen Zeitpunkt vertröstet.»

Heiris Reaktion fällt heftig aus: «Da ist sie wieder, deine permanente Bevormundung, verdammt noch mal!», brüllt er und verlässt die Küche. Um seinen Unmut noch zu verstärken, knallt er die erstbeste Tür zu. Die Versuchung, Laura umgehend anzurufen, ist groß, und doch unterlässt er es. Rita so in den Rücken zu fallen, scheint ihm zu riskant.

Im Badezimmer betrachtet er sein Gesicht im Spiegel. Erst vor einem Jahr haben Laura und ich den Mord an Silvia Möri gelöst, diese verzwickte Herodes-Geschichte. Und jetzt will mich meine Frau davon abhalten, Laura in einem neuen Fall als Ratgeber zu helfen. Weil es mir schaden könnte. Weil ich dazu nicht mehr in der Lage sei. Bin ich denn in so kurzer Zeit dermaßen abgesackt und zu einem Pflegefall geworden? Nachdenklich schaut er sein Spiegelbild an. So genau hat er sich schon lange nicht mehr in die Augen geschaut. Die Erkenntnis, dass Rita mit der Absage wegen seines Zustandes schon recht hat, schmerzt ihn. Ich muss etwas ändern, sagt er zu sich selber.

2

Opa, gibt es heute noch Hexen?

«Ich kann nicht einschlafen, Opa!» Ben reißt Heiri aus seinen Gedanken zum Schachspiel auf dem iPhone. Im Türrahmen steht der neunjährige Sohn seiner Tochter und reibt sich die verweinten Augen. Heiri, der wie fast jeden Mittwochabend den Hütedienst bei Seilers leistet, zeigt sich erstaunt, denn Ben ist in den vergangenen Monaten immer rasch eingeschlafen.

«Soll ich dir noch eine Geschichte erzählen, weißt du, so wie früher, als du noch klein warst? Komm, am besten gehen wir wieder in dein Zimmer, sonst wecken wir noch deine Schwester», erklärt Heiri und schiebt seinen vor Müdigkeit leicht taumelnden Enkel zurück ins Schlafzimmer. Vom Ärger über die verpasste Chance, die Schachpartie zum ersten Mal auf Level sieben gewinnen zu können, lässt er sich nichts anmerken und setzt sich auf die Bettkante, während Ben schon unter die Bettdecke geschlüpft ist.

«Für den Märchenautomaten scheinst du mir nun doch etwas alt. Weißt du noch?! Ich habe still das ABC aufgesagt, und du musstest mich mit ‹Stopp› unterbrechen. Mit dem gewählten Buchstaben…»

«Bitte fang nicht wieder damit an. Du weißt, ich hasse Buchstaben!», fällt ihm der Enkel ins Wort.

«Hu-hu, da schaut eine alte Hexe raus», singt Heiri mit verstellt krächzender Stimme, packt seinen Enkel an den Schultern und erschrickt ob Bens heftiger Reaktion.

«Nein, Sophie ist keine Hexe, ihr dürft sie nicht auf dem Stedtliplatz verbrennen!», brüllt er los und beginnt auf Heiri einzuschlagen.

Offensichtlich habe ich in ein Wespennest gestochen, sinniert Heiri. «Wer ist Sophie? Hast du von ihr geträumt?»

Es vergeht eine geraume Weile, und erst nach Heiris Wiederholung der Frage beginnt Ben zu erzählen. Vorerst brechen nur Fragmente von Schauersätzen aus dem aufgewühlten Jungen heraus: «Überall in Aarberg gibt es sie, die Hexenzeichen mit dem fünfzackigen Stern. Die Hexen sind nach Aarberg zurückgekommen, um sich zu rächen. Ich habe selber eine von ihnen gesehen!»

«Nein, sowas! Du hast in Aarberg eine richtige Hexe gesehen?» Heiri ist mehr belustigt als erstaunt und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

«Ja, lach nur, aber es stimmt! Sie sah aus wie eine Hexe, mit langen Haaren und so, und sie trug einen Raben auf der Schulter.»

Heiri erinnert sich an die scheue Frau, die er selber schon einmal im Stedtli gesehen hat, und die tatsächlich einen Raben auf der Schulter trug. Im Tea-Room Steffen hat er gehört, sie sei eine Obdachlose, die draußen im Wald lebe. «Schon gut, ich glaube dir, dass du eine seltsam aussehende Frau im Stedtli gesehen hast. Aber weißt du, Hexen gibt es nicht wirklich, und die Frau, die du gesehen hast, ist bestimmt ganz harmlos. Aber wer ist Sophie, was hat sie damit zu tun?»

Es gelingt Ben, etwas Ordnung in seine Erzählung zu bringen. «Frau Tschabold hat uns heute im kirchlichen Unterricht die Geschichte von Sophie erzählt. Sie hat behauptet, sie sei Sophies Ur-Ur-Urenkelin, die als letzte Hexe auf dem Stedtliplatz in Aarberg hingerichtet wurde. Sophies Lebensgeschichte ist so schlimm, dass ich immer an sie denken muss. Mit dem Rad, das an der Decke der Holzbrücke aufbewahrt wird, wurde sie gefoltert, dann mit einem Schwert geköpft und auf dem Scheiterhaufen vor Hunderten Zuschauern auf dem Stedtliplatz verbrannt. Niemand hat ihr geholfen! Dabei hat sie doch nichts Böses getan!»

«Ja, das glaube ich dir sofort. Menschen können brutal sein. Das Leben ist manchmal ungerecht. Aber wer war diese Sophie, wo wohnte sie? Kannst du dich noch erinnern?»