Der Schrecken und andere Schauermärchen - Verschiedene Autoren - E-Book

Der Schrecken und andere Schauermärchen E-Book

Autoren Verschiedene

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Beschreibung

Die Schauerliteratur (englisch gothic fiction) bzw. der Schauerroman (englisch gothic novel) ist ein literarisches Genre der Phantastik, das Mitte des 18. Jahrhunderts in England entstand und seine Blüte am Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte. Eine Unterart davon sind die Schauermärchen, die besonders bei den Brüdern Grimm in Deutschland ihren Aufschwung erlebten. Sie wurden in trivialisierter und vergröberter Form zur dominanten Literaturform am Anfang des 19. Jahrhunderts. Nervenkitzel wie Blutschande oder verwesende Leichen sollten die die Sensationsgier der Leserschaft befriedigen. Der Aufstieg der Schauerliteratur hängt eng zusammen mit einer Erweiterung des Ästhetikbegriffes, der über "Imagination" zum einen die verschiedenen Spielarten der Natur und ihrer Wirkung auf den Menschen entdeckt, zum anderen deren gefährliche und unheimliche Seiten, das Düstere und das Erhabene. 18 Schauermärchen, zum Teil illustriert, wollen wir vorstellen.

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Seitenzahl: 274

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Autorenkollektiv

Der Schrecken und andere Schauermärchen

Der Schrecken und andere Schauermärchen

Illustrierte Ausgabe

Autorenkollektiv

Impressum

Texte: © Copyright by Autorenkollektiv

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Illustrationen: © Copyright by versch. Küntler

Übersetzer: © Copyright by Unbekannt

Verlag:Das historische Buch, 2023

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Nathaniel Hawthorne: Die alte Jungfer in Weiß

Gustav Meyrink: Der Schrecken

E.T.A. Hoffmann: Eine Spukgeschichte

Brüder Grimm: Die drei Schlangenbläter

Ludwig Bechstein: Spuk unter den fünf Eichen

Brüder Grimm: Das Totenhemdchen

Hans Christian Andersen: Das Kind im Grabe

Brüder Grimm: Der Räuberbräutigam

Ludwig Bechstein: Gevatter Tod

Brüder Grimm: Von dem Machandelbaum

Rudyard Kipling: Die gespenstische Rikscha

Theodor Storm: Die Regentrude

Alexander Sergejwitsch Puschkin: Der Sargmacher

Brüder Grimm: Die beiden Wanderer

Wilhelm Hauff: Die Geschichte von dem Gespensterschiff

Ludwig Bechstein: Der undankbare Sohn

Theodor Storm: Der Spiegel des Cyprianus

Johann Peter Hebel: Das wohlbezahlte Gespenst

Nathaniel Hawthorne: Die alte Jungfer inWeiß

Die Strahlen des Mondes kamen durch zwei tiefe schmale Fenster und zeigten ein geräumiges Zimmer, reich ausgestattet in altertümlicher Weise. Durch eines der Gitter fiel der Schatten der Butzenscheiben auf den Boden. Geisterhaftes Licht durchkreuzte sich, ruhte auf einem Bett, fiel durch die schweren Seidenvorhänge und erhellte das Gesicht eines jungen Mannes. Doch wie ruhig lag der Schlummernde da! Wie bleich war sein Gesicht! Wie sehr sah doch das Linnen, das ihn umwand, nach einem Totenhemde aus! Ja: Es war ein Toter in seinen Leichenkleidern.

Plötzlich schienen die starren Züge sich zu bewegen in dunkler Erregung. Sonderbarer Gedanke! Es war nur der Schatten des Vorhangs, dessen Fransen zwischen dem Mondlicht und dem toten Gesicht sich regten, als die Tür des Zimmers aufging und ein Mädchen leise sich zum Bettrand schlich. Täuschte das Mondlicht, oder verrieten ihre Haltung und ihr Blick wirklich einen Schein von Siegesfreude, als sie sich über den bleichen Leichnam beugte – selber so bleich wie er – und ihre lebenden Lippen auf die kalten des Toten presste? Als sie sich von diesem langen Kusse aufrichtete, zuckte es in ihren Zügen, als ob ein stolzer Herr ankämpfte gegen seine Qual. Wieder schien es, als hätten sich die Züge des Toten in Zwiesprache mit den ihren bewegt. Wieder war es Täuschung. Der Seidenvorhang hatte zum zweiten Male geweht zwischen dem Gesicht und dem Mondlicht, als ein zweites schönes Mädchen die Tür auftat und geisterhaft zum Bett hinglitt. Da standen die beiden Mädchen, beide schön, mit der bleichen Schönheit des Toten zwischen sich. Aber die, die zuerst eingetreten war, war stolz und vornehm, die andere ein zierliches, sanftes Geschöpf.

„Hinweg!“ rief die Stolze. „Du hattest ihn im Leben.

Der Tote ist mein!“

„Dein!“ erwiderte die andere mit Beben. „Wahr hast du gesprochen! Der Tote ist dein!“ Das stolze Mädchen fuhr auf und starrte mit entgeistertem Blick in ihr Gesicht. Aber ein Ausdruck wilder Trauer ging über die Züge der Sanften; dann sank sie schwach und hilflos nieder auf das Bett. Ihr Haupt ruhte auf dem Kissen neben dem des Toten, und ihr Haar vermischte sich mit seinen dunklen Locken. Ein Geschöpf der Hoffnung und der Freude war sie; der erste Zug aus dem Kelch des Leides hatte sie verwirrt.

„Edith!“ rief ihre Nebenbuhlerin.

Edith stöhnte, als ob sich ihr plötzlich das Herz zusammenkrampfte. Sie löste ihre Wange vom Kissen des toten Jünglings, stand auf und begegnete furchtsam den Augen des hochmütigen Mädchens.

„Wirst du mich verraten?“ fragte diese ruhig.

„Solange bis der Tote mich reden heißt, will ich schweigen,“ antwortete Edith. „Lass uns allein. Geh und lebe viele Jahre, und dann komm wieder und erzähle mir von deinem Leben! Auch er wird da sein. Wenn du dann von Leiden erzählst, die schlimmer sind als der Tod, wollen wir dir beide vergeben.“ „Und was soll das Zeichen sein?“ fragte das stolze Mädchen, als ob ihr Herz einen Sinn erkannte in diesen irren Worten. „Diese Haarlocke,“ sagte Edith und hob eine der dunklen Locken empor, die dicht und schwer auf des toten Mannes Stirn lagen. Die beiden Jungfrauen reichten sich die Hand über der Brust des Leichnams und setzten einen Tag und eine Stunde fest, in ferner, ferner Zeit, für ihr nächstes Zusammentreffen in diesem Zimmer. Das stattlichere Mädchen warf noch einen langen Blick auf das leblose Gesicht und ging fort; sie wandte sich jedoch noch einmal zurück und zitterte, bevor sie die Tür schloss. Fast glaubte sie, der tote Geliebte blicke drohend auf sie. Und auch Edith! Schien es nicht, als löse ihre weiße Gestalt sich auf im Mondlicht? Ihrer Schwäche zum Trotz ging sie hinaus und sah einen schwarzen Diener, der im Vorzimmer wartete, mit einer Fackel, die er zwischen sein Gesicht und ihres hob und sie mit hässlichem Grinsen betrachtete, wie es ihr vorkam. Dann hob er die Fackel hoch, leuchtete die Treppe hinab und öffnete das Haustor. Der junge Stadtgeistliche war gerade die Stufen heraufgekommen, verneigte sich vor der Dame und trat schweigend ein. Viele Jahre vergingen. Die Welt schien wieder neu, soviel älter war sie geworden seit der Nacht, in der jene blassen Mädchen über die Brust des Toten einander die Hand gereicht hatten. Inzwischen hatte eine einsame Frau den Weg von ihrer Jugend bis ins höchste Greisenalter zurückgelegt, und die ganze Stadt kannte sie unter dem Namen ›die alte Jungfer im Sterbekleid‹. Eine leichte Geistesverwirrung schwebte über ihrem ganzen Leben, aber so still und sanft und traurig, so frei von jeder Heftigkeit, dass man sie ihren harmlosen Träumereien nachgehen ließ, unbehindert von der Welt, mit deren Geschäften und Vergnügungen sie nichts gemein hatte. Sie wohnte allein und kam nur ans Tageslicht, um mit Leichenbegängnissen zu gehen. Sooft ein Leichnam durch die Straße getragen wurde, ob in Sonne, Regen oder Schnee, ob es ein prunkvoller Zug war, in dem die Reichen und Stolzen sich drängten, ob es nur wenige und ärmliche Leute waren, immer kam die einsame Frau hinter ihnen her, in einem langen weißen Gewand, das die Leute ihr Leichentuch nannten. Sie stellte sich nicht unter die Freunde und Verwandten, sondern blieb an der Tür stehen, um das Totengebet zu hören, und ging am Schluss des Zuges, als sei es ihre Pflicht auf Erden, Trauerhäuser aufzusuchen, der Schatten der Betrübnis zu sein und achtzuhaben, dass den Toten ihr Recht ward bei der Bestattung. So lange schon machte sie es so, dass die Bewohner der Stadt sie für einen Teil jeden Begräbnisses hielten, so wichtig wie das Bahrtuch oder wie die Leiche selber; und Schlimmes ahnte man vom Schicksal des Sünders, wenn nicht ›die alte Jungfer im Sterbehemd‹ hinter ihm herglitt. Einmal, so erzählte man, erschreckte sie eine Hochzeitsgesellschaft mit ihrer bleichen Gegenwart, als sie plötzlich in dem erleuchteten Saal erschien, gerade als der Priester ein treuloses Mädchen mit einem reichen Manne verband, bevor ihr Geliebter ein Jahr lang tot war. Das war ein schlimmes Vorzeichen für diese Ehe! Manchmal stahl sie sich hinaus beim Mondlicht und besuchte die Gräber ehrenhafter Unbescholtenheit, treuer Gattenliebe, jungfräulicher Unschuld und jede andere Stelle, wo der Staub eines gütigen und treuen Herzens moderte. Über den Hügeln dieser geliebten Toten streckte sie die Arme aus und machte Bewegungen, als ob sie Samen streue, und viele glaubten auch, dass sie ihn hole aus dem Garten des Paradieses, denn die Gräber, die sie besuchte, waren grün noch unter dem Schnee und vom April bis zum November blühten liebliche Blumen darauf. Ihr Segen hatte mehr Kraft, als ein frommer Spruch auf dem Grabstein. So ging ihr langes, trauervolles, friedliches und phantastisches Leben dahin, bis es nur noch wenige gab, die so alt waren wie sie, und die jungen Geschlechter wunderten sich, wie die Toten je begraben worden waren, wie die Trauernden je ihren Kummer ertragen hatten, ohne ›die alte Jungfer im Sterbehemd‹.

Noch immer vergingen die Jahre, noch immer folgte sie den Begräbnissen, und noch immer ward sie nicht zu ihrem eigenen Totenfest gerufen. Eines Nachmittags war die Hauptstraße der Stadt ganz belebt von Geschäftigkeit und Lärm, obwohl die Sonne nur noch die obere Hälfte des Kirchturms vergoldete, und die Dächer und die höchsten Bäume schon im Schatten lagen.

Das Bild war freudig und voll Leben, trotz des dunklen Schattens zwischen den hohen Backsteinhäusern. Prahlerische Kaufleute waren da, in weißen Perücken und spitzenbesetzten Sametröcken, bronzefarbene Gesichter von Kapitänen, fremdländische Tracht und Sitten spanischer Kreolen, das hochmütige Gebahren der Bewohner Altenglands. Sie alle standen im Gegensatz zu dem rauen Äußern einiger Hinterwäldler, die über den Verkauf von Holz verhandelten, aus Wäldern, in denen noch nie eine Axt erschallte. Manchmal ging eine Dame vorüber, rundlich und schwellend in bestickten Röcken, zierlichen Schrittes in Stöckelschuhen, mit vornehmer Grazie sich verneigend, wenn die Herren ehrerbietig grüßten. Das Leben der Stadt schien seinen Brennpunkt in der Nähe eines alten Herrenhauses zu haben, das etwas im Hintergrund der gepflegten Straße stand, von ungepflegtem Gras umwachsen, in befremdlicher Einsamkeit, die eher vertieft als verbannt wurde durch das Gedränge in solcher Nähe. An seiner Stelle hätte gut ein prächtiges Bankgebäude stehen können, oder ein Häuserblock voller Reklameschrift. Das große Haus selber hätte ein vornehmes Gasthaus abgegeben, mit dem Königswappen über der Tür und Gästen in allen Zimmern anstatt der Einsamkeit. Aber irgendeines Erbstreites halber hatte das Haus lange unbewohnt gestanden, verfiel mehr von Jahr zu Jahr und warf seinen vornehm düsteren Schatten über den geschäftigsten Stadtteil. In dieser Umgebung und zu dieser Zeit sah man in der Ferne eine Gestalt die Straße herabkommen, die sehr verschieden war von allen, die soeben beschrieben wurden. „Ein seltsames Segel in Sicht,“ bemerkte ein Seemann aus Liverpool, „dort die Frau in dem langen weißen Gewand!“ Der Seemann schien ganz betroffen und viele andere auch, die gleichzeitig die Gestalt erspähten, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sofort verstummten die verschiedenen Gespräche, und flüsternd machte man Vermutungen über das seltsame Ereignis.

„Kann so spät am Nachmittag noch ein Begräbnis sein?“ fragten einige.

Sie schauten auf jede Tür nach den Zeichen des Todes, dem Totengräber, dem Leichenwagen, der schwarzgekleideten Verwandtenschar – nach allem, was den wehmutsvollen Prunk der Leichenbegängnisse ausmacht.

Auch zu dem Kirchturm im Abendschein schauten sie auf und wunderten sich, dass seine Glocke keinen Ton gab, die doch immer geläutet hatte, sooft man diese Gestalt im Tageslicht erblickte. Aber niemand hatte davon gehört, dass heute noch ein Toter zu seiner letzten Wohnung getragen werden sollte, kein Anzeichen für ein Begräbnis war zusehen außer der Erscheinung ›der alten Jungfer im Sterbehemd‹.

„Was kann das bedeuten?“ fragte ein jeder seinen Nachbarn. Alle lächelten, als sie die Frage stellten, doch mit Besorgnis im Auge, als werde eine Seuche angekündigt oder sonst ein großes Unheil, weil die zu ungewohnter Zeit unter den Lebenden auftauchte, deren Gegenwart immer mit Tod und Weh in Verbindung gestanden hatte. Was ein Komet ist für die Erde, das war diese trauernde Frau für die Stadt. Weiter ging sie, und das überraschte Murmeln verstummte, wo sie vorbei kam. Hoch und niedrig trat zur Seite, damit ihr weißes Kleid ihn nicht berühre. Es war ein langes loses Gewand von fleckenloser Reinheit. Die Trägerin schien sehr alt, bleich, abgezehrt und schwach; doch sie glitt dahin ohne den unsicheren Schritt des hohen Greisenalters. An einer Stelle ihres Weges sprang ein rosiger Junge hervor und lief mit offenen Ärmchen auf die geisterhafte Frau zu, als warte er auf einen Kuss von ihren blutlosen Lippen.

Einen kleinen Augenblick stand sie still und ihre Augen schauten mit unirdischer Güte auf das Kind, dass es, erschreckt nicht, aber voller Scheu dastand und zitterte, während das alte Mädchen weiter schritt. Vielleicht hätte selbst die kindliche Berührung ihr Gewand befleckt; vielleicht auch hätte ihr Kuss das holde Kind in Jahresfrist dem Tod verschrieben. „Sie ist nur ein Geist,“ flüsterten die Abergläubigen, „das Kind streckte die Arme aus und konnte ihr Kleid nicht fassen!“

Das Erstaunen wuchs, als sie durch das Tor des verlassenen Hauses schritt, die moosbewachsenen Stufen hinaufgingen, den eisernen Klopfer hob und dreimal klopfte.

Die Leute konnten nur vermuten, dass irgendeine Erinnerung, die ihren irren Sinn bedrückte, die alte Frau hierhergetrieben hatte, die Freunde ihrer Jugend aufzusuchen, die doch alle längst ihr Heim verlassen hatten; wenn ihre Geister nicht noch darin umgingen, passende Gefährten für ›die alte Jungfer im Sterbekleid‹. Ein älterer Mann näherte sich den Stufen, entblößte ehrerbietig seine grauen Locken und versuchte, ihr die Sache zu erklären. „Seit fünfzehn Jahren,“ sagte er, „hat niemand mehr in diesem Hause gewohnt, seit dem Tode des alten Oberst Fenricke nicht mehr, an dessen Beerdigung Sie teilgenommen haben, wie Sie vielleicht erinnern. Seine Erben liegen miteinander in Streit und haben das Herrenhaus verfallen lassen.“ Das alte Mädchen sah sich langsam um, bewegte leicht den Finger der einen Hand und legte den Finger der anderen auf den Mund. Im Halbdunkel des Portals sah sie noch geisterhafter aus als sonst. Wieder hob sie den Klopfer, und diesmal tat sie nur einen Schlag. War es möglich, dass man jetzt einen Schritt vernahm, der die Treppe des alten Hauses herabkam, von dem doch alle wussten, dass es so lange unbewohnt gewesen? Langsam, schwach, und doch schwer, kam es näher, wie der Schritt eines alten, hinfälligen Menschen, immer deutlicher auf jeder tieferen Stufe, bis es das Tor erreicht hatte. Innen fiel der Riegel, die Tür ging auf. Einen Blick nach oben zum Kirchturm hinauf, auf dem die Sonne gerade verblasst war, das war das letzte, was die Leute sahen von der ›alten Jungfer im Sterbehemd‹.

„Wer hat die Tür geöffnet?“ fragten viele.

Diese Frage konnte niemand befriedigend beantworten; der Schatten unter dem Tor war zu tief gewesen. Zwei oder drei alte Männer protestierten gegen einen Schluss, den man zu ziehen geneigt war, und versicherten, es sei ein Neger gewesen, der dem alten Cäsar merkwürdig ähnlich sah, der früher als Sklave zum Hause gehört hatte, dem aber vor mehr als dreißig Jahren der Tod die Freiheit gegeben. „Ihr Ruf hat einen alten Diener der Familie auferweckt,“ sagte ein anderer halb im Ernst. „Wir wollen hier warten,“ erwiderte ein dritter, „bald werden noch mehr Gäste anklopfen. Aber man sollte zuvor die Kirchhofspforten öffnen!“

Dämmerung hüllte die Stadt ein, ehe die Menge sich zum Gehen wendete und die Deutungen dieses Ereignisses erschöpft waren. Einer nach dem andern trat den Heimweg an, als eine Kutsche – ein seltener Anblick in jener Zeit – in die Straße einbog. Es war ein altmodisches Gefährt, fast bis zur Erde tief mit Wappen auf der Vertäfelung, ein Lakai hinten, ein dicker Kutscher vorne auf dem Sitz; nach Prunk und feierlicher Würde sah das ganze aus. Etwas Geheimnisvolles lag im Rattern der Räder. Die Kutsche rollte durch die Straße, bis sie auffuhr vor dem Gitter des verlassenen Hauses, und der Lakai sprang herab.

„Wessen Staatskutsche ist das?“ fragte ein besonders Neugieriger.

Der Lakai gab keine Antwort, sondern stieg die Stufen zu dem alten Hause hinauf, klopfte dreimal mit dem eisernen Hammer und kam zurück, um den Wagenschlag zu öffnen. Ein alter Mann, der die heraldischen Gesetze kannte, die damals so verbreitet waren, untersuchte das Wappenschild.

„Ein blaues Feld, ein Löwenhaupt zwischen zwei Lilien,“ sagte er, dann flüsterte er den Namen der Familie, der dieses Wappen gehörte. Der letzte Erbe seines Adels war kürzlich verstorben, nach langem Aufenthalt am glänzenden englischen Hofe, wo ihm Geburt und Reichtum eine hohe Stellung gaben. „Er hinterließ keine Kinder,“ fuhr der Wappenkundige fort, „und dieses Wappen, das in einem Rhombus steht, zeigt an, dass die Kutsche seiner Witwe gehört.“

Noch weitere Enthüllungen wären wohl erfolgt, wäre nicht der Sprecher plötzlich verstummt vor dem strengen Blick einer sehr alten Dame, die den Kopf aus dem Wagen steckte und sich anschickte, auszusteigen. Als sie herauskam, sah man, dass ihre Kleidung prächtig war und ihre würdevolle Gestalt trotz des Alters noch vornehm im Verfall; doch Stolz und Elend zugleich lagen in ihrem Ausdruck. Ihre strengen starren Züge flößten Scheu ein, nicht wie die des weißen alten Mädchens – es lag etwas Böses dann. Sie stützte sich auf einen Stock mit goldenem Knauf und schritt die Stufen hinauf. Die Tür sprang auf und das Licht einer Fackel erglänzte auf der Stickerei ihres Kleides und schimmerte auf den Pfeilern des Portals. Eine kleine Pause – ein Blick rückwärts – dann raffte sie sich gewaltsam auf und trat ein. Der Mann, der das Wappenschild entziffert hatte, wagte sich auf die unterste Stufe; doch sofort trat er zurück und erzählte bleich und zitternd, dass das genaue Ebenbild des alten Cäsar die Fackel hielt.

„Aber ein so abscheuliches Grinsen haben nie die Züge eines Sterblichen getragen, nicht schwarz noch weiß! Es wird mich bis zu meiner Sterbestunde verfolgen.“

Inzwischen hatte die Kutsche gewendet, rasselte ungeheuerlich auf dem Pflaster, polterte die Straße hinauf und verschwand in der Dämmerung; das Ohr jedoch konnte noch lange ihren Weg verfolgen. Kaum war sie verschwunden, als die Leute sich zu fragen begannen, ob die Kutsche mit den Dienern, der Geist des alten Cäsar, die alte Dame, das alte Mädchen selber – ob nicht alles seltsam verknüpfte wunderbare Täuschung sei mit irgendeinem dunklen Sinn. Die ganze Stadt war auf den Beinen, so dass das Gedränge dauernd wuchs anstatt sich zu zerstreuen. Da standen sie und starrten zu den Fenstern des Herrenhauses empor, die jetzt vom steigenden Mond versilbert wurden. Die Alten, froh, der Geschwätzigkeit des Alters nachgeben zu dürfen, erzählten von dem längst verblassten Glanz der Familie, von den Festen, die sie gegeben hatte und den Gästen, den vornehmsten des Landes, selbst ausländischen von Adel und Titel, die durch dies Portal geschritten waren.

Diese anschaulichen Schilderungen schienen die Geister derer wachzurufen, von denen sie erzählten. So stark war der Eindruck auf einige der phantasievolleren Hörer, dass zwei oder drei derselben ein Zittern befiel und sie im selben Augenblick behaupteten, deutlich drei weitere Schläge des eisernen Klopfers gehört zu haben.

„Unmöglich!“ riefen andere. „Seht, der Mond scheint bis unter das Portal, und man sieht alles ganz genau, nur um den Pfeiler ist ein schmaler Schatten. Da ist keiner!“ „Ging die Tür nicht auf?“ flüsterte jemand. „Hast du es auch gesehen?“ sagte ein Gefährte in entsetztem Ton.

Aber die allgemeine Meinung widersprach der Ansicht, dass noch ein dritter Besucher sich an der Tür des verlassenen Hauses gezeigt hätte. Einige jedoch hielten fest an diesem neuen Wunder und erklärten sogar, dass ein roter Achtstreifen, wie von einer Fackel, durch das große Vorderfenster gefallen sei, als ob der Neger einem Gaste die Treppe hinaufleuchtete. Auch das wurde für bloße Einbildung erklärt. Aber plötzlich schreckte die ganze Menge zusammen und jeder konnte den eigenen Schrecken im Gesicht aller anderen lesen.

„Wie entsetzlich!“ riefen sie.

Ein Schrei, zu furchtbar deutlich, um daran zu zweifeln, war im Hause gehört worden – ein plötzlicher Ausbruch und dann tiefe Stille, als ob das Herz, das ihn hervorgestoßen, dabei zersprungen wäre. Die Leute wussten nicht, ob sie den Anblick des Hauses fliehen oder zitternd eindringen sollten, das seltsame Geheimnis zu ergründen. Die Verwirrung und der Schrecken legten sich ein wenig, als ihr Geistlicher erschien, ein ehrwürdiger alter Mann, ein Heiliger, der ihnen und ihren Vätern den Weg zum Himmel gewiesen hatte seit mehr als einem Menschenalter. Er war eine ehrfurchtheischende Gestalt. Lange weiße Locken fielen ihm auf die Schultern und ein weißer Bart wallte auf seine Brust herab. So tief gebeugt war sein Rücken über seinen Stab, das es schien, als blicke er dauernd zu Boden, um ein gutes Grab für seinen müden Leib zu suchen. Es währte lange, bis man dem guten alten Mann, der taub war und schon etwas schwachsinnig, soviel von der Sache verständlich machen konnte, wie sich überhaupt verstehen ließ.

Aber als er die Tatsachen erfasst hatte, wurden seine Kräfte merkwürdig rege.

„Wahrlich,“ sagte der alte Herr, „es ist meine Pflicht, das Haus des würdigen Oberst Fenricke zu betreten, damit der guten Christin nichts geschehe, die ihr die ›alte Jungfer im Sterbekleid‹ heißt.“

Und siehe, der ehrwürdige Priester schritt die Stufen des Herrenhauses empor und ein Fackelträger folgte ihm. Es war der ältere Mann, der mit dem alten Mädchen gesprochen hatte, derselbe, der nachher das Wappen erklärt und die Züge des Negers erkannt hatte. Wie ihre Vorgänger klopften sie dreimal mit dem eisernen Hammer.

„Der alte Cäsar kommt nicht,“ bemerkte der Priester.

„Er wird wohl nicht länger Dienste tun in diesem Hause.“

„Dann war es sicher ein Schlimmerer in Cäsars Gestalt,“ sagte der andere Abenteurer.

„Gottes Wille geschehe,“ antwortete der Priester, „sieh, meine Kraft, so sehr sie auch verfallen ist, hat doch genügt, die schwere Tür zu öffnen. Lass uns eintreten und die Treppe hinaufgehen.“

Nun bot sich ein seltsamer Beweis dafür, wie traumhaft verwirrt der Geist alter Leute sein kann. Als sie die breite Treppenflucht emporschritten, schien sich der alte Priester mit Vorsicht zu bewegen, trat mitunter zur Seite, neigte oft das Haupt wie zum Gruße, benahm sich ganz so, wie einer, der durch eine große Menge schreitet.

Oben auf der Treppe sah er um sich, mit trauriger und feierlicher Güte, legte seinen Stab beiseite, entblößte seine weißen Locken und war augenscheinlich im Begriff, ein Gebet zu beginnen.

„Ehrwürdiger Herr,“ sagte sein Begleiter, der dies für eine passende Einleitung ihrer weiteren Nachforschung hielt, „wäre es nicht richtig, wenn das Volk teil hätte an unserm Gebet?“

„Wehe!“ rief der alte Priester und schaute entgeistert um sich, „ist keiner bei mir außer dir? Wahrlich, alte Zeiten kamen zu mir zurück, und mir war, als sollte ich eine Totenpredigt halten, wie so oft in früherer Zeit von dieser Treppe herab. Wahrhaftig, ich sah die Schatten vieler, die dahingegangen sind. Ja, ich habe nacheinander bei all ihren Leichenfeiern gepredigt und die ›alte Jungfer im Sterbekleid‹; hat sie zu Grabe getragen!“

Nun war er sich klarer über ihre augenblickliche Absicht, nahm seinen Stab und schlug ihn kraftvoll auf den Boden, bis das Echo kam, aus jedem leeren Zimmer; aber kein Diener leistete dem Ruf Folge. Daher gingen sie den Flur entlang und hielten wieder an vor dem großen Vorderfenster, durch das man die Menge unten sah, halb im Schatten, halb im Schein des Mondes. Zur Rechten war die offene Tür eines Zimmers, eine verschlossene zur Linken. Der Geistliche deutete mit seinem Stock auf die geschnitzte Eichenfüllung der letzteren.

„In diesem Zimmer,“ sagte er, „saß ich vor einem ganzen Menschenalter am Totenbett eines edlen jungen Mannes, der in den letzten Zügen –“

Offenbar gab ihm der Gedanke, der ihn jetzt durchzuckte, eine furchtbare Erregung. Er riss die Fackel aus der Hand des Gefährten und stieß die Tür mit so heftiger Gewalt auf, dass die Flamme erlosch. Es blieb nur noch das Licht der Mondstrahlen, die durch zwei Fenster in das geräumige Zimmer fielen. Es war genug, um alles zu entdecken, was man erfahren konnte. In einem hochlehnigen eichenen Armstuhl saß aufrecht, die Arme über der Brust gekreuzt, den

Kopf im Nacken, die ›alte Jungfer im Sterbekleid‹. Die stolze Dame war auf die Knie gesunken, der Kopf ruhte auf dem heiligen Knie des alten Mädchens, eine Hand hing zur Erde herab, die andere hielt sie krampfhaft aufs Herz gepresst. Sie schloss sich um eine Haarlocke, die einst schwarz gewesen, doch jetzt unter grünlichem Schimmel die Farbe verloren hatte. Als der Priester und der Laie in das Zimmer hineinschritten, nahmen die Züge des alten Mädchens einen so bewegten Ausdruck an, dass sie glaubten, das ganze Geheimnis in einem Wort erklärt zu hören. Doch es war nur der Schatten eines zerfetzten Vorhangs, der sich bewegte zwischen dem toten Gesicht und dem Mondlicht.

„Beide sind tot,“ sagte der ehrwürdige Mann.

Wer soll nun das Geheimnis enthüllen? Mir ist, als husche es in meinem Geiste hin und her, wie Licht und Schatten über das Gesicht des alten Mädchens – Und nun ist es fort!

Gustav Meyrink: Der Schrecken

Die Schlüssel klirren, und ein Trupp Sträflinge betritt den Gefängnishof. – Es ist zwölf Uhr, und sie müssen im Kreise herumgehen, um Luft zu schöpfen, paarweise – einer hinter dem andern. – Der Hof ist gepflastert. Nur in der Mitte ein paar Flecken dunkles Gras wie Grabhügel. – Vier dünne Bäume und eine Hecke aus traurigem Liguster. Ringsum alte gelbe Mauern mit kleinen, vergitterten Kerkerfenstern.

Die Sträflinge in ihren grauen Zuchthauskleidern, sie reden kaum und gehen immer im Kreise herum – einer hinter dem andern. – Fast alle sind krank: Skorbut, geschwollene Gelenke. – Die Gesichter grau wie Fensterkitt, die Augen erloschen. Mit freudlosem Herzen halten sie gleichen Schritt.

Der Aufseher mit Säbel und Mütze steht an der Hoftür und starrt vor sich hin. – Längs der Mauer ist nackte Erde. – Dort wächst nichts: das Leid sickert durch die gelben Wände. „Lukawsky war eben beim Präsidenten“, ruft ein Gefangener den Sträflingen durch sein Kerkerfenster halblaut zu. – Der Trupp marschiert weiter. – „Was ist's mit ihm?“ fragt ein Neuling seinen Nebenmann.

„Lukawsky, der Mörder, ist zum Tode verurteilt durch den Strang, und heute glaub' ich, soll sich's entscheiden, ob das Urteil bestätigt wird oder nicht. Der Präsident hat ihm die Bestätigung des Urteils auf dem Amtszimmer verlesen. – Der Lukawsky hat kein Wort gesagt, nur getaumelt hat er. – Aber draußen hat er mit den Zähnen geknirscht und einen Wutanfall bekommen. – Die Aufseher haben ihm die Zwangsjacke angelegt und ihn mit Gurten auf die Bank geschnallt, dass er kein Glied rühren kann bis morgen früh. – Und ein Kruzifix haben sie ihm hingestellt.“ – Bruchstückweise hatte der Gefangene den Vorbeimarschierenden dies zugerufen. –

„Auf Zelle Nr. 25 liegt er, der Lukawsky“, sagt einer der ältesten Sträflinge. – Alle blickten zum Gitterfenster Nr. 25 hinauf. Der Aufseher lehnt gedankenlos am Tor und stößt mit dem Fuß ein Stück altes Brot beiseite, das im Wege liegt. –

In den schmalen Gängen des alten Landgerichtes liegen die Kerkertüren dicht nebeneinander. – Niedrige Eichentüren, in das Mauerwerk eingelassen, mit Eisenbändern und mächtigen Riegeln und Schlössern. – Jede Tür hat einen vergitterten Ausschnitt, kaum eine Spanne im Geviert. Durch diese ist die Neuigkeit gedrungen und läuft längs der Fenstergitter von Mund zu Mund: „Morgen wird er gehenkt!“ –

Es ist still auf den Gängen und im ganzen Hause, und doch herrscht ein feines Geräusch. Leise, unhörbar. Nur zu fühlen. – Durch die Mauern dringt es und spielt in der Luft, wie Mückenschwärme. – Das ist das Leben, das gebundene, gefangene Leben!

Mitten im Haupteingang, dort wo er weiter wird, steht eine alte leere Truhe ganz im Dunkeln. Lautlos, langsam hebt sich der Deckel. – Da fährt es wie Todesfurcht durchs ganze Haus. – Den Gefangenen bleibt das Wort im Munde stecken. Auf den Gängen kein Laut mehr, – dass man das Schlagen des Herzens hört und das Klingen im Ohr. – Die Bäume und Sträucher auf dem Hofe rühren kein Blatt und greifen mit herbstlichen Ästen in die trübe Luft. – Es ist, wie wenn sie noch dunkler geworden wären. –

Ein Trupp Sträflinge ist stehen geblieben wie auf einen Winke: Hat nicht jemand geschrien? –

Aus der alten Truhe kriecht langsam ein scheußlicher Wurm. – Ein Blutegel von gigantischer Form. – Dunkelgelb mit schwarzen Flecken, saugt er sich die Zellen entlang am Boden hin. – Bald dick werdend, dann wieder dünn, bewegt er sich vorwärts und tastet und sucht. – Am Kopfe seitlich in jeder Höhle starren fünf aneinander gequetschte Augäpfel, – ohne Lider und unbeweglich. – Es ist der Schrecken. –

Er schleicht sich zu den Gerichteten und saugt ihnen das warme Blut aus – unterhalb der Kehle, dort, wo die große Ader das Leben vom Herzen zum Kopfe trägt. – Und umschlingt mit seinen schlüpfrigen Ringen den warmen Menschenleib. Jetzt ist er zur Zelle des Mörders gekommen. – Ein langes grauenhaftes Schreien, ohne Unterbrechung, wie ein einziger nicht endender Ton, dringt auf den Hof.

Der Aufseher am Türpfosten fährt zusammen und reißt den Torflügel auf. – „Alle, marsch hinauf, auf die Zellen“, schreit er, und die Gefangenen laufen an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, die steinernen Treppen hinauf. – Trapp, trapp, trapp – mit plumpen, genagelten Schuhen.

Dann ist es wieder still geworden. – Der Wind fährt in den öden Hofraum hinunter und reißt eine alte Dachluke ab, die klirrend und splitternd auf die schmutzige Erde fällt. Der Verurteilte kann nur noch den Kopf bewegen. Er sieht die weiß getünschten Kerkerwände vor sich. Undurchdringlich. – Morgen früh um sieben Uhr werden sie ihn holen. – Noch achtzehn Stunden bis dahin. – Und sieben Stunden, dann kommt die Nacht. – – – Bald wird Winter sein, und das Frühjahr kommt und der heiße Sommer. – Dann wird er aufstehen – früh – schon in der Dämmerung –, und auf die Straße gehen, den alten Milchkarren ansehen und den Hund davor ... Die Freiheit –! Er kann ja tun, was er will. – Da schnürt es ihm wieder die Kehle: – wenn er sich nur bewegen könnte, – verflucht, verflucht, verflucht – und mit den Fäusten an die Mauern schlagen. –

Hinaus! – – Alles zerbrechen und in die Riemen beißen. – Er will jetzt nicht sterben – will nicht – will nicht! – Damals hätten sie ihn hängen dürfen, als er ihn ermordet hat, – den alten Mann, – der schon mit einem Fuß im Grabe stand. – Jetzt hätte er es doch nicht mehr getan! – Der Verteidiger hat das nicht erwähnt. – Warum hat er es den Geschworenen nicht selbst zugerufen?! – Sie hätten dann anders geurteilt. – Er muss es jetzt noch dem Präsidenten sagen. – Der Aufseher soll ihn vorführen. –

Jetzt gleich. – – – Morgen früh ist's zu spät, da hat der Präsident die Uniform an, und er kann nicht so dicht an ihn heran. – Und der Präsident würde ihn nicht anhören. – Dann ist's zu spät, man kann die vielen Polizeileute nicht mehr wegschicken. – Das tut der Präsident nicht. – – –

Der Henker legt ihm die Schlinge über den Kopf, – er hat braune Augen und sieht ihm immer scharf auf den Mund. – Sie reißen an, alles dreht sich – halt, halt – er will noch etwas sagen, etwas Wichtiges.

Ob der Aufseher kommen wird und ihn heute noch losbinden von der Bank? – Er kann doch nicht so liegen bleiben die ganzen achtzehn Stunden. – Natürlich nicht, der Beichtvater muss doch noch kommen, so hat er es immer gelesen. Das ist Gesetz. – Er glaubt an nichts, aber nach ihm verlangen wird er, es ist sein Recht. – Und den Schädel wird er ihm einschlagen, dem frechen Pfaffen, mit dem steinernen Krug dort. – – – – – – Die Zunge ist ihm wie gedörrt. – Trinken will er – er ist durstig. – Himmel, Herrgott! – Warum geben sie ihm nichts zu trinken! – Er wird sich beschweren, wenn die Inspektion nächste Woche kommt. – Er wird es ihm schon eintränken, – dem Aufseher, dem verfluchten Hund! – Er wird solange schreien, bis sie kommen und ihn losbinden, immer lauter und lauter, dass die Wände einstürzen.

– Und dann liegt er unter freiem Himmel ganz hoch oben, dass sie ihn nicht finden können, wenn sie um ihn herum gehen und ihn suchen. Er muss irgendwo herabgefallen sein, deucht ihm, – es hat ihm einen solchen Ruck gegeben durch den Körper. – Sollte er geschlafen haben? – Es ist dämmerig.

Er will sich an den Kopf greifen: seine Hände sind festgebunden. – – – Vom alten Turme dröhnt die Zeit – eins, zwei – wie spät mag's sein? – Sechs Uhr. – Herrgott im Himmel, nur noch dreizehn Stunden, und sie reißen ihm den Atem aus der Brust. – Hingerichtet soll er werden, erbarmungslos – gehenkt. – Die Zähne klappern ihm vor Kälte. – Etwas saugt ihm am Herzen, er kann es nicht sehen. – Dann steigt es ihm schwarz ins Gehirn. – Er schreit und hört sich nicht schreien, – alles schreit in ihm, die Arme, die Brust, die Beine, – der ganze Körper, – ohne Aufhören, ohne Atemholen.

An das offene Fenster des Amtszimmers, das einzige, das nicht vergittert ist, tritt ein alter Mann mit weißem Bart und einem harten, finstern Gesicht und sieht in den Hofraum hinab. Das Schreien stört ihn, er runzelt die Stirn, – murmelt etwas und schlägt das Fenster zu. Am Himmel jagen die Wolken und bilden hakenförmige Streifen. Zerfetzte Hieroglyphen, wie eine alte, verloschene Schrift: „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet!“

E.T.A. Hoffmann: Eine Spukgeschichte

Eine Erzählung aus „Die Separinos-Brüder“

„Ihr wisst, dass ich mich vor einiger Zeit, und zwar kurz vor dem letzten Feldzuge auf dem Gute des Obristen von P. befand. Der Obrist war ein munterer jovialer Mann, so wie seine Gemahlin die Ruhe, die Unbefangenheit selbst.