Der schützende Schreibtischstuhl - Franziska Thiele - E-Book

Der schützende Schreibtischstuhl E-Book

Franziska Thiele

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Beschreibung

Der Roman pointiert eine typische junge Frau in einem typischen Angestellten Verhältnis: Dieses Typologie ist so überspitzt dargestellt, dass der Leser immer wieder schmunzeln muss. Dennoch sind den meisten Menschen dieser Gesellschaft, welche die vorgegebene Laufbahn von Schule, Ausbildung und Beruf entlang gegangen viele von Nicole Sophies Gedanken nur zu bekannt. Nicole Sophie steckt ihre Energie in ihren Job und in die Planung ihres täglichen Lebens, in dem kein Platz für außergewöhnliche Umstände ist. Es geht ihr wie so viele: Sie versucht ihre Arbeit als Versicherungskauffrau so zuverlässig wie möglich zu erledigen, natürlich möchte sie keine Fehler machen. Ihr Selbstbewusstsein zieht sie aus der Tatsache, dass sie alles im Griff zu haben scheint. Mit ihrem Freund Michi, der etwas weiter weg bei der Bundeswehr studiert, trifft sie sich jedes Wochenende. Ihre Beziehung ist geprägt von sich viel Abstand und viel Nähe, die jeden Montag und Freitag zu einem auf und ab führen, von Nicoles verzweifelter Eifersucht und Marios Suche nach einem Leben, das mehr als Arbeit, Ehe und Kind versprechen würde. Es geht in diesem Roman um die kleinen Veränderungen in dem Alltag, um die inneren Monologe, die daraus resultieren und um die gedanklichen Strukturen, die das Netz unserer Gesellschaft ausmachen. Nicole entdeckt die Gesundheitsapps und Fitnessarmbänder für sich, die sie überwachen und vor allem eine Sicherheit schenken: Die Vernetzung gibt ihr das Gefühl, nicht mehr ganz so alleine zu sein und natürlich ist sie auch bemüht, für gute Zahlenwerte zu sogen. Die Überwachung wird ihr nicht schwer bewusst, sie, die wie viele andere auch denkt, dass sie nichts zu verheimlichen hat.

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Franziska Thiele

Der schützende Schreibtischstuhl

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort: Der schützende Schreibtischstuhl

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Impressum neobooks

Vorwort: Der schützende Schreibtischstuhl

Der Roman pointiert eine typische junge Frau in einem typischen Angestellten Verhältnis: Dieses Typologie ist so überspitzt dargestellt, dass der Leser immer wieder schmunzeln muss. Dennoch sind den meisten Menschen dieser Gesellschaft, welche die vorgegebene Laufbahn von Schule, Ausbildung und Beruf entlang gegangen viele von Nicole Sophies Gedanken nur zu bekannt. Nicole Sophie steckt ihre Energie in ihren Job und in die Planung ihres täglichen Lebens, in dem kein Platz für außergewöhnliche Umstände ist. Es geht ihr wie so viele: Sie versucht ihre Arbeit als Versicherungskauffrau so zuverlässig wie möglich zu erledigen, natürlich möchte sie keine Fehler machen. Ihr Selbstbewusstsein zieht sie aus der Tatsache, dass sie alles im Griff zu haben scheint. Mit ihrem Freund Michi, der etwas weiter weg bei der Bundeswehr studiert, trifft sie sich jedes Wochenende. Ihre Beziehung ist geprägt von sich viel Abstand und viel Nähe, die jeden Montag und Freitag zu einem auf und ab führen, von Nicoles verzweifelter Eifersucht und Marios Suche nach einem Leben, das mehr als Arbeit, Ehe und Kind versprechen würde. Es geht in diesem Roman um die kleinen Veränderungen in dem Alltag, um die inneren Monologe, die daraus resultieren und um die gedanklichen Strukturen, die das Netz unserer Gesellschaft ausmachen. Nicole entdeckt die Gesundheitsapps und Fitnessarmbänder für sich, die sie überwachen und vor allem eine Sicherheit schenken: Die Vernetzung gibt ihr das Gefühl, nicht mehr ganz so alleine zu sein und natürlich ist sie auch bemüht, für gute Zahlenwerte zu sogen. Die Überwachung wird ihr nicht schwer bewusst, sie, die wie viele andere auch denkt, dass sie nichts zu verheimlichen hat. Auch als Mario Entgleis, der eine Zeit im Ausland unversichert verbracht hat und keine Arbeit hat, ihr Kunde wird, zieht sich das indoktrinierte Gedankengerüst weiter: er ist nun mal daran Schuld, nicht nach den Vorgaben gelebt zu haben und kann erst wieder versichert werden, wenn er die Nachzahlungen liefert. Nicole selbst kann anscheinend nicht viel für ihr Denken und Handeln, es wurde antrainiert. Immer mehr wird auch das Leben von Mario deutlich, der auf der Straße dealt und zeitweise in der Wohnung eines Freundes untergekommen war. Das deutsche Bürokratiesystem ist verstrickt: Erst Krankenkasse und festen Wohnsitz, dann Hartz 4, die Krankenkasse will aber erst Geld oder die Bescheinigung vom Arbeitsamt, auch eine Wohnung erhält er erst mit Bescheinigung. Schließlich wendet sich Nicole, die ihren Kunden täglich auf der Straße beim dealen sieht und immer dazu angehalten wurde, unrecht zu melden, dies ihrem Freund in der Bundeswehr, der seine Beziehungen hat.

Mittwoch

Nicole Sophie war eine brave junge Frau – sie hatte sich nie etwas ernstliches zu Schulden kommen lassen und war durchweg unauffällig durch die Strukturen und Netze der Behörden gelaufen – warum auch hätte sie kriminell werden sollen, sie hatte keinen Grund dazu. Nicole Sophie war hübsch, sie machte sie hübsch: Jeden Morgen stand sie eineinhalb Stunden vor Beginn ihrer Arbeit auf, um zu duschen, ihre Haare danach zu föhnen und sich schließlich vor ihrem großen ovalen Spiegel, der in ihrem Schlafzimmer quer zu Bett an die Wand gehängt wurde, sich zu schminken – dieses seit ihrer Jugend täglich praktizierte Ritual konnte Nicole auch wenn sie sehr müde war, wenn im Winter die Sonne erst drei Stunden später den Tag erhellen würde, ohne sichtbare Fehler ausüben: zuerst trug die 24-jährige säuberlich die Grundierung auf, wodurch ein paar unreine Stellen ihrer Haut, die man weder als fettig oder trocken, sondern als durchweg normal – ganz wie es zu Nicole Sophie passte - bezeichnen würde und welche vor allem den Tag über damit beschäftigt war, die Erstickungsanfälle zu bewältigen und durch die Schicht aus Grundierungscreme und Puder ein wenig Luft zum atmen zu erhaschen, dann folgte der Puder, der ihr zu jeder Jahreszeit, auch im verregneten Herbst und grauen Winter einen frischen Teint versprach, bis Nicole Sophie schließlich zu den Augen überging, um zuerst einen leichten Lidschatten, der sich der Farbe ihres Oberteils, meist ein farbiges, nicht zu auffälliges T-Shirt, welches unter einem schwarzen Blazer hervorlugte, aber nicht zu auffällig sein durfte, denn sie wollte nicht anzüglich wirken. Nach dem Lidschatten folgte der Kajal, ein Schminkstift, das einem Stift allzu ähnlich sah, und mit dem sie früher, als Kind – als sie schon ihrer Mutter beim schminken zusah, bevor diese morgens das Haus verließ, um zu ihrer Arbeit zu gehen, gerne auf dem Schminktisch ihrer Mutter herum gemalt hatte – den sie mit feinster Präzision an den oberen und unteren Rand ihres Auges, den inneren Augenlider leicht auftrug. Schließlich, und das war der letzte Schritt für ihre Augen, mussten noch die Wimpern durch Maskara, wie man jetzt die Wimperntusche nannte, verstärkt werden, wodurch die Augen allgemein etwas größer und wacher wirken wollten. Jetzt malte Nicole Sophie nur noch mit einem farblosen Lippgloss ihre nicht große und obsessive, aber auch nicht zu kleine Lippen nach und fertig war die Prozedur. Um das Lippgloss nicht zu schädigen, zwang sich Nicole, schon vor der Schminkroutine ein Toast mit wenig Butter und Honig zu essen, obgleich sie zu der Zeit noch keinen Hunger verspürte. Nach dem Schminken zog sich Nicole noch fertig an: eine schwarze feine Hose, das T-Shirt und der Blazer, dann war sie endlich bereit, um ihre Arbeitsstelle, welche aus einem schwarzen gepolsterten Drehstuhl, einem Schreibtisch mit Laptop und einem Schildchen mit dem Aufdruck „Willkommen, Nicole Sophie Klein ist gerne für Sie da“ stand. Nicole ist stolz darauf, schon mit ihrem jungen Alter von 24 Jahren einen eigenen Platz zu haben und die Kunden der Krankenversicherung, bei der sie auch schon die Ausbildung vorbildlich absolviert hatte, bedienen zu dürfen. Ihre Laufbahn war lückenlos: nach der Grundschule das Gymnasium mit dem Abschluss Abitur, dann ein Praktikum bei einer Versicherung für drei Monate, um den Zeitraum zu überbrücken, bis ihre Ausbildung begann und schließlich, nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung der nahtlose Übergang zu ihrer Arbeit im Servicebereich der Kundenbetreuung: Nie wurde Nicole einem Kunden gegenüber unfreundlich, denn sie hatte immer fleißig gelernt und wusste auf alle Fragen Antworten und schließlich hatten ihre vorbildlichen Noten für Selbstbewusstsein gesorgt – zuletzt wusste Nicole Sophie schließlich auch, wer vor und hinter dem Schreibtisch, auf den sie, wie gesagt recht Stolz war und der ihr nicht zuletzt den Abstand vor dem Kunden verschaffte, der nicht in den geheimnisvollen Bildschirm mit den Daten auf dem Desktop sehen können sollte, saß.

Als Nicole Sophie, die von ihren Freundinnen und ihren Eltern meist Nici genannt wurde, um viertel nach sieben bereit war, um sich auf den Weg auf ihre Arbeit zu machen, war es noch immer dunkel, doch an manchen Tagen, an Tagen wie diesem Mittwoch war es noch besser, wenn man in der Dunkelheit Hoffnung auf einen Tag mit gutem Wetter, auf einige Sonnenstrahlen, schöpfen konnte und nicht bereits am Morgen mit den prallen, tief hängenden Wolken konfrontiert zu werden, die sich oft den gesamten Tag nicht verzogen, es sei denn sie regneten ab. Während Nicole ihre Handtasche mit allerlei kleinen Dingen auffüllte, die sie den Tag über brauchen könnte, fiel ihr ein, dass sie nach der Abend noch mit einer alten Schulfreundin zum shoppen verabredet war. Ein paar Dinge konnte sie sicher auch gebrauchen und es freute sie, sich den Tag darüber Gedanken machen zu können, denn sie liebte es, sich selbst kleine Pläne zu erstellen, Pläne darüber, ob ihr Shampoo bald leer sein würde oder ein neues -shirt angebracht war, Pläne darüber, was sie am Mittag in ihrer einstündigen Pause essen konnte und ob sie am Abend etwas kochen sollte, Pläne über Ausflüge am Wochenende, einen A Plan für gutes und einen B Plan für schlechtes Wetter – mit dem Planen verging nicht nur die Zeit, sondern wurde auch genutzt, sagte sie sich – und die Freude darüber eine geplante Tätigkeit vollbracht zu haben war größer als die Tätigkeit an sich. Die zentrale Lage der Versicherung, in der sie arbeitete, ließ Freundinnen, die in der Stadt einkaufen wollten, immer wieder bei Nicole anrufen und Nicole war ganz froh darüber, denn so musste auch sie nicht alleine einkaufen – während sie nach dem Autoschlüssel griff, überlegte sie, dass es eine willkommene Abwechslung war, gerade heute, am Mittwoch, dem Tag in der Woche, an dem die Erinnerungen des letzten Wochenendes ihre Anziehung verloren und die Pläne für das nächste fast noch zu früh waren, dem Tag, an dem sie meistens müde erwachte, da sie Dienstags für gewöhnlich noch eine Tanzgruppe nach der Arbeit besuchte und sich am nächsten Morgen ihre Glieder schwerer anfühlten, doch heute konnte sie sich nicht so darauf freuen, wie sie es gerne getan hätte. Nicole Sophie spürte ein beißendes Stechen, als sie an das Telefonat mit Michi, ihrem Freund, dachte. Michael war ein weiterer Teil Nicoles Lebens, auf das sie normalerweise stolz war. Sie war schon fast vier Jahre mit ihm, der ihre zweite Beziehung war, zusammen, und ihre Freundinnen und Kollegen, ja, alle, die sie beide kannten, lobten immerzu ihre Beziehung, versicherten immer wieder, wie gut sie zusammen passten. Seit knapp zwei Jahren belegte Michi ein Studium der BWL, um seine zuvor absolvierte Ausbildung als Kaufmann weiter auszubauen und sich eine solide Grundlage für das Berufsleben zu schaffen. Es war ihr, Nicole, natürlich recht, denn auch sie würde von einem guten zweiten Gehalt profitieren, sie könnten sich ein schönes Haus mieten oder sogar kaufen. Auch dass das Studium, welches er bei der Bundeswehr, die fördernde Maßnahmen angeboten hatte, absolvierte, nicht mehr in der gleichen Stadt sondern rund hundert Kilometer weiter südlich gelegen war, schadete der Beziehung wenig, da sie sich auch vorher kaum unter der Woche gesehen hatten – so freut man sich immer aufeinander und unternimmt immerhin etwas, statt nur auf der Couch zu sitzen, pflegte Nicole auf Fragen zu der Veränderung in ihrer Beziehung zu sagen. Sie selbst wohnte in einer zwei Zimmer Wohnung, die ihre ältere Schwester bereits vor sieben Jahren angemietet hatte und die nun selbst vor zweieinhalb Jahren mit ihrem Freund, den sie geheiratet hatte, zusammen gezogen war. Nicole konnte die bereits vollkommen ausgestattete Wohnung, die in der Nähe ihres Heimathauses lag, direkt übernehmen und fühlte sich in der bekannten Atmosphäre von Anfang an wohl.

Der Traum in dieser Nacht hatte sie erneut nervös gemacht, was nach diesem Gespräch gestern Abend kein Wunder war, dachte Nicole. Sie hatte ihn auf seinem Handy angerufen und die Hintergrundtöne stimmten sie, die nach dem Sport müde war und sich auf ein, bereits im Kopf vorgeplantes Gute-Nacht-Telefonat freute, ärgerlich – das Grölen der andere Typen, die sie nur als grölende Typen kannte und welche ihr alleine daher unsympathisch waren, die Musik, und, und das war die Hauptursache ihrer Nervosität, es waren auch andere Frauenstimmen, die zwar nicht deutlich zu erkennen, aber doch eben da waren, diese haben sie bis in die Nacht verfolgt. Natürlich war nichts mehr mit „Küsschen“ oder „Träum was Süßes“, nein, das Gespräch fand schnell sein Ende und zuletzt konnte es sich Nicole nicht verkneifen, ein bitteres „Und feier noch schön mit den Mädels, die ich da höre, du Student!“ nicht verkneifen. Dann wurde aufgelegt. Es ärgerte sie selbst, dass sie wieder einmal so reagiert hatte und Michi böse Gedanken anhing, Michi, der sich immer so sehr um sie bemühte, der, sobald die letzte Vorlesung um war, in seinem Wagen saß, um sie am Freitag pünktlich von ihrer Arbeit abzuholen. Michi, der jeden Plan fürs Wochenende gefügig mitmachte und sich nie beschwerte. Als Nicole nach draußen trat, regnete es. Auch das noch, dachte sie, heute kommt wirklich alles zusammen. Sie hatte nur ein paar Schritte bis zu ihrem kleinen Polo, doch wollte sie nicht ihre Hose unten durchnässen und den gesamten Tag mit einer feuchten Hose in der Arbeit sitzen müssen, dachte sie. Endlich saß Nicole Sophie in ihrem roten Polo – auch auf ihn war sie stolz – und lenkte ihren kleinen Gefährten geschickt aus der Parklücke heraus. Als sie Gas geben wollte, rammte sie, oder, wie sie dachte, rammte ein zu schneller und unvorsichtiger Radfahrer beinahe ihren Rückspiegel – das hätte jetzt noch gefehlt, schoss es ihr durch den Kopf. In der ersten Zeit ihrer Ausbildung war sie mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren, doch der häufige Regen und die feine Kleidung, die nicht schmutzig werden sollte, ließen sie bald die Entscheidung treffen, sich ein kleines Auto zu kaufen – sie zahlte jeden Monat kleine Raten dafür ab und mit dieser Möglichkeit war der Kauf eines Neuwagens statt der eines gebrauchten möglich. Nicole war froh, jetzt in dem noch neu riechendem perfekt funktionierenden Fahrzeug zu sitzen, anstatt auf spritzenden Rädern eines Fahrrads durch den Verkehr zu müssen. Ihr Fahrrad stand im Keller und wenn es das Wetter zuließ, machte sie mal eine Tour am Samstag oder Sonntag. Nicole achtete sehr genau auf die Wettervorhersage und zog sie mit in ihre Planung ein, denn durchnässte Klamotten und Haare, dazu noch zerlaufene Schminke waren Dinge, die sie überhaupt nicht mochte. Immer hatte sie in der Handtasche einen kleinen faltbaren Schirm dabei. Als der Regen an die Scheiben klatschte, während sie vor einer roten Ampel wartete, musste sie wieder an Michi denken – es war eine der – vielen unbedeutend erscheinenden – Handlungen, die sie sich in Michi verlieben lassen hat. Damals, kurz bevor sie zusammen kamen, erinnerte sie sich noch an einen düsteren, verregneten Tag, an dem sie ihren Schirm zu Hause vergessen hatte. Sie war noch in der Ausbildung und hatte an diesem Tag eine Mitarbeiterin für Praxisübung im Servicebereich begleitet und überlegte den ganzen Tag über, ob sie die Verabredung für den Abend mit Michi absagen sollte. Sie wollten in das Kino gehen, das zwar nicht weit weg lag, doch weit genug, als dass sie bis dahin durchnässt gewesen wäre und mit Sicherheit keine Lust gehabt hätte, so noch zwei Stunden vor der Leinwand zu sitzen. Sie wusste jetzt noch, dass sie sich verschiedene Ausreden hatte einfallen lassen, schließlich sogar eine als Kurznachricht gespeichert, doch sich nicht durchgerungen hatte, sie zu senden, und um sechs Uhr Abends, als es noch immer schüttete, Michi sie mit einem großen gelben Regenschirm wartend vor dem Ausgang empfing. Es war einer dieser Momente, an denen sie dachte: ja, der ist es. Der Gedanke an die gestrige Szene und an den Traum, in dem Michi in der Kneipe saß und eine andere Frau ihm auf dem Schoß, machte sie traurig. Ein Hupen ließ Nicole, die das Umspringen der Ampel nicht gemerkt hatte, aus ihren Gedanken schrecken und endlich losfahren.

Als sie endlich auf ihrem weichen warmen Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch, auf dem ihr Laptop stand und ihr Namensschild die Kunden begrüßte, entspannte sich Nicole Sophie ein wenig. Es war viertel vor acht, als sie ihren Laptop hochfuhr, wie immer viertel vor acht. Sie kam in ihrer gesamten Zeit bei der Versicherung, während der Ausbildung und Arbeitszeit nur ein einziges Mal zu spät und diese Verspätung hatte sie natürlich nicht selbst zu verschulden: Es hatte einen Unfall auf der Straße vor ihr gegeben, ein Radfahrer, der mit einem Auto zusammengestoßen war, wie sie später im Wochenblatt gelesen hatte, und dieser Unfall brachte sie, die Schweißgebadet vor Nervosität in der Arbeit erschien um 27 Minuten, was dazu führte, dass Nicole, die immer 15 Minuten vor acht erschien, zwölf Minuten zu spät im auf ihrem Stuhl im Servicebereich saß – die Chefin hatte sich große Sorgen um Nicole gemacht, weil sie ihre Zuverlässigkeit kannte und mahnte Nicole auch nicht ab, als diese die Erklärung für ihre Verspätung nannte. Nachdem der Laptop hochgefahren war, hantierte Nicole Sophie an dem Block, der vor ihr lag und den Kugelschreibern, die eigentlich bereits geordnet waren, aber welche sie wie bei in einem Initiationsritual der Kampfkünste alle noch einmal berührte und um nicht erkennbare Millimeter versetzte. Dann wartete sie auf die ersten Kunden. Ihre privaten Emails checkte Nicole Sophie nur in der Pause, auch ihre SMS, denn es hatte bereits Abmahnungen in der Firma aufgrund vom privaten Gebrauchs des Internets gegeben und obgleich sich Nicole nie etwas zu Schulden hatte kommen lassen, hatte sich seit Anbeginn ihres durch Erinnerungen nachvollziehbaren Lebens eine Angst vor Abmahnungen manifestiert, denn sie hatte zuerst von ihren Eltern, dann im Kindergarten und später in der Schule und immer so weiter gelernt, dass diejenigen, welche die Regeln missachteten oder auch ohne sie zu missachten durch abweichende Handlungen auffällig wurden, entweder sofort bestraft wurden oder auf Dauer einen Nachteil erhielten, weil die Autoritätsperson sich jedes abweichende Verhalten im negativen Sinne merkte – und dies, hatte Nicole festgestellt, konnte dazu führen, dass man ausgeschlossen wurde, ausgeschlossen aus dem Eisessen mit der Familie, ausgeschlossen aus dem Spielkreis im Kindergarten, ausgeschlossen aus der Unterrichtsstunde in der Schule oder ausgeschlossen aus der Versicherung, was hieß gekündigt und diese Vorstellung war gleich eines Ausschlusses aus der Gesellschaft, die Gesellschaft in der Nicole Sophie sich bewegte und weiterhin geplant hatte sich zu bewegen. Nicole Sophie war sich der untergründigen Angst, dass ein Zuspätkommen diese Kette nach sich zog, nicht gleich bewusst, doch war die Angst an sich spürbar und so hielt sich Nicole an die Vorgaben, was ihr im Übrigen nicht besonders schwer fiel, denn ihre Pläne lagen immer innerhalb dieser Grenzen und ein außerhalb kam nicht nur nicht in Frage, sondern wurde meistens gar nicht erst gesehen.

Die erste Kundin an diesem verregneten Mittwoch ließ Nicole Sophie sogleich wieder an den Streit, wie sich das Ende des Gesprächs mittlerweile interpretierte, mit Michi denken. Die Kundin selbst hatte freilich keine äußerliche Ähnlichkeit mit Mich, doch sie war schwanger und diese sichtbare Auswölbung des Bauches der jungen Frau, welche bereits einige Male Nicole Sophies Kundin war, und sich, weil Nicole sie nicht gleich erkannt hatte, dafür entschuldigte, heute nicht geschminkt zu sein, wie sonst üblich und daher wohl anders aussehe, erinnerte Nicole an ihre Pläne, die sie noch nicht im vollen Ausmaße Michi angekündigt hatte und welche von einer Hochzeit, einem schönen Fest beiden Familien und eventuell auch Nachwuchs, ein Baby oder besser zwei, wo Michi dann ja auch eine gute Ausgangslage für einen guten Verdienst haben würde, ausgingen. Nicole nutzte den kleinen Schwenk in das Persönliche und fragte nach dem Befinden der Frau, fragte, wie beifällig, nach ihrer Situation und öffnete dabei die Datei mit den Daten der Frau und errechnete sich schnell ihr derzeitiges Alter, das 27 Jahre betrug. Dann hätte ich ja noch drei Jahre Zeit, dachte Nicole, die sich mit der Frau vor, ihr, welche sehr entspannt und zufrieden lächelte und hin und wieder ihre rechte Hand kreisend über ihren runden Bauch strich, verglich. Die Frau erkundigte sich nach den Regelungen der gesetzlichen Krankenkasse in Bezug auf Entbindungsstationen und Hebammen, über Kostenerstattung privater Hausbesuche von Hebammen und die Zahlungen bei naturheilkundlichen Verfahren. Immer mehr Kunden erkundigten sich in letzter Zeit nach der Kostenübernahme einer Behandlung bei einem Heilpraktiker – vor zwei Monaten wurde zu diesem Thema daher eine Sondersitzung nach der regulären Arbeitszeit abgehalten, in der die Servicemitarbeiter darüber informiert wurden, wie sie am besten diese Frage negierten, ohne die Kunden abzustoßen. Bereits in ihrer Ausbildung hatte Nicole gelernt, dass die gesetzlichen Krankenkassen die schulmedizinische Behandlung und, welche auf empirischen Grundlagen und sichtbaren Tatsachen beruhe, fördere und die Kosten dafür erstatte, wobei die heil-praktische Medizin, welche auch mit gefühlten Tatsachen arbeite und neben der bisherigen studierten empirischen Medizin mittlerweile eigenständige Ausbildungszweige entfalte sowie Behandlungsmethoden wählte, die mit nicht-medikamentösen oder nur auf natürlichen Medikamenten basierende Heilverfahren durch unterschiedlichste Praktiken arbeitete, nicht von gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Nicole hat das eingesehen, nur sahen es einige der Kunden nicht ein, wodurch es zu schwierigen Gesprächen kommen konnte. Nicole Sophie wusste zwar, dass sie auf der entscheidenden Seite des Schreibtischs saß, doch auch, dass die Kunden nicht vergrault werden sollten und so wurden den Mitarbeitern einige Sätze antrainiert, die ähnlich wie „Diese Heilpraktik kann in manchen Fällen heilen, doch es sind noch keine verlässlichen Studien auf lange Zeit und mit vielen Patienten bekannt. Wir möchten natürlich, dass alle gesund werden und fördern daher die Ärzte, die mit zuverlässigen Studien arbeiten.“ klangen und den Kunden schonend beibringen sollten, dass die Krankenkasse diese alternativen Verfahren nicht bezahle. Jetzt, als die Schwangere vor Nicoles Schreibtisch saß, war Nicole Sophie stolz, schnell mit seriöser Stimme eine passende Argumentation vorweisen zu können: „Sie wissen, doch dass diese Verfahren noch nicht gänzlich geprüft wurden und es wäre furchtbar, wenn ihrem Baby etwas passieren würde.“ Dabei sah Nicole mit einem so hinreißend mitfühlenden Blick auf den Bauch der Frau, dass sie fest selbst fest davon ausgegangen war, einer eventuellen Sturheit der Kundin gleich entgegengewirkt zu haben. Doch dem war leider nicht so, denn gerade Schwanger hatten die Tendenz zu einer sehr sturen Haltung, wie Nicole Sophie erleben musste: „Nun, genau deswegen möchte ich ja keine Medikamente schlucken, die im Zweifelsfall in das Ungeborene Kind, das sich ja, wie Sie sehen können, in mir befindet und mit mir verbunden ist, übergehen könnten. Genau aus diesem Grund, zum Schutz meines Kindes wollte ich eine andere Behandlungsmethode wählen.“ Und dann begann die Frau, die sich anscheinend bereits eingehend informiert hatte, Nicole, die an diesem Tag überhaupt keine Nerven für so etwas hatte und genau wusste, dass es egal war, was die Frau erzählte und ob Nicole dieses verfahren vielleicht für sinnvoll hielt, denn die Bestimmung war klar festgelegt und würde sich auch jetzt nicht ändern, davon zu erzählen, wie eine Behandlung mit Wärme und natürlichen Verfahren sich positiv auf das Empfinden des Embryos auswirken würde und ihr selbst wahrscheinlich Schmerz ersparen würde und sie redete sich in Rage, während hinter ihr bereits zwei weitere Kunden wartete und Nicole selbst ungeduldig wurde, sich jedoch zusammen riss, die Frau nicht wirsch zu unterbrechen. Als sie endlich mit ihrer Rede abgeschlossen hatte, machte Nicole ihr abermals deutlich, dass die Krankenkasse diese verfahren nicht zahlte und ließ nun die gelernten Sätze der Deutlichkeit wegen aus. Als die erboste Schwangere endlich den Platz verlassen hatte, fühlte sich Nicole schon fertig für die Mittagspause oder besser schon für den Feierabend, doch sie zwang sich, noch nicht den Feierabend herbei zu sehen, der ohnehin noch keine Ruhe, sondern ein Shoppen mit ihrer Freundin erst mal verhieß, doch geplant war geplant und nun zwang Nicole sich zu einem freundlichen Lächeln, denn, und auch das hatten sie wieder und wieder in der Ausbildung besprochen, jeder Kund verdiente ein offenes und freundliches Lächeln, egal was davor gewesen und wie die persönliche Stimmung war.