Milans Weg - Franziska Thiele - E-Book

Milans Weg E-Book

Franziska Thiele

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Beschreibung

Die Geschichte eines junge Mannes, der sich zwischen Hoffnungen und wahnhaften Ideen verloren hat, geht weiter. Der Protagonist Milan findet sich nach dem Erwachen in einem ihm unbekannten Raum wieder. Sein Zimmernachbar scheint sich nur in Versen auszudrücken und ihm wenig weiterzuhelfen. Das Buch, welches auch ohne dem Lesen des ersten Teiles für sich steht, zeigt mit teils skurril komischen, teils traurigen Szenen den Versuch einer Wiederfindung des Selbst, wobei die äußeren Umstände, die eigentlich helfen sollten, nicht immer förderlich sind. Ein überraschender Roman mit Tiefgang.

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Seitenzahl: 320

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Franziska Thiele

Milans Weg

zweiter Teil: vernebelt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Impressum neobooks

Erster Teil

-1-

Drei Tage später erwachte Milan, dem jegliches Gefühl für Raum und Zeit abhanden gekommen war. Allein seine verklebten Augenlider, welche nur langsam dem Willen diese zu öffnen nachgaben, dem einzigen Willen, den der junge Mann, der seinem Aussehen nach drei Jahre statt 3 Tagen gealtert zu sein schien, aufbringen konnte, gaben ihm selbst Auskunft darüber, dass er länger als eine Nacht geschlafen haben musste. Auch fühlte er, dass es kein entspannter, Energie spendender Schlaf gewesen sein konnte, denn statt morgendlicher frischer Kraft, kostete es ihn alle Kraft, seine Augen zu öffnen. Weißes Licht stach wie ein Schwert in seine trübe, wässrige Iris und Schwindel überkam ihn. Erst als er zum dritten Male seine Lider geschlossen und wieder geöffnet hatte, schaffte es der ausgezehrte Mann, dessen Gesicht jeglicher Mimik beraubt wurde, seine Augen einige Sekunden offen zu halten. Milan, der sich selbst bei der Einlieferung als Frank bezeichnet hatte, betrachtete die weißen Wände, welche ihn in einem quadratischen Würfel umgaben. Eine Standleuchte, die neben seinem Bett abgestellt war, warf weißes Licht auf ihn, dessen Körper unter einer weißen wollenen Decke nur zu erahnen war. Seine Hautfarbe hat sich längst der des Raumes unterworfen, nur ein leichter rosa Schimmer auf den Wangen ließ vermuten, dass sein Blut noch rot war. Frank schwenkte seine Pupillen an den untersten Rand seiner Lider und sah an sich herab. Nur eine grobe Kontur seines Körpers war unter der dicken drückenden Decke auszumachen. Zuerst hob er das linke Bein etwas an, nur um zu prüfen, ob es noch reagierte. Dann das rechte. Die Glieder folgten den Anweisungen des Gehirns mit Verzögerung, aber sie schienen zu funktionieren. Der Mann namens Milan schwenkte seine Hand kraftlos in Richtung seiner Haare, die Finger durchfuhren die dünnen fasrigen Strähnen seines einst vollen, dunklen Schopfes. Einst ist noch nicht lange her, dachte Frank. Wie lange, dass wusste er nicht. Einzelne, zusammenhangslose Bilder, manche aus seiner Kindheit, andere aus der Jugend - Deutschland. Ein Spielplatz, eine schimpfende Lehrerin, die von den Schülern mit Kreide beworfen wird und weinend aus dem Klassenzimmer rennt, sein Zimmer, er. Dann die Zeit danach. Intuitiv spaltete er die verlebte Zeit in zwei getrennte Welten. Er sah sich in der Schule, in der Arbeit, dann mäandrierten kleine Gassen vor seinen Augen, gabelten sich zu immer kleineren. Er sah sich vor der Gabelung stehen, den Blick auf kleine steinerne Wege, ein enges rundes Fenster wie beim Fokussieren mit einer Kamera entstand, wodurch die Bilder erst näher rückten, um dann wieder in der Ferne dem Auge zu entgleiten. Längst starrten die geöffneten Augen ohne zu blinzeln eine Zeit lang auf die leere weiße Wand und gleichsam sah er auf ihr das Weglabyrinth, in dem er sich befand, mitten drin. Schließlich schwindelte ihm, der seinen Weg nicht wählen konnte und kraftlos auf der Verzweigung verharrte und im Nebel der Verschleierung entglitten dem Bettlägrigen die Wege. Wie durch Beton erschwert, fielen die Lider zu und das Bewusstsein entglitt der Sphäre seines wachen Körpers.

Wirre Bilder, Bilder, die ihn selber zeigten, ihn, Milan, wie er die sandigen Dünen der Küste entlang streifte, ohne Wasser, mit zerrissener Kleidung, seine Augen trocken von der Sonne, dem Salz der Luft und dem des Meeres, sein Bewusstsein im Delirium. Milan sah sich gehen, spürte aber den gehenden Körper nicht, es gelang ihm nicht, sich in diesen Zustand, der sein eigener war, wieder einzufühlen. Durch das Auge eines Wanderers, der zufällig auf der gleichen Route war, aber einige Meter weiter weg, konnte Milan sich selbst beobachten: er erblickte den verwahrlosten Körper eines Mannes ohne erkennbaren Alter, umhüllt von Stofffetzen, die einst Kleider gewesen sein mussten. Er hinkt, der Mann ohne Alter, ohne ein Zeichen seiner Herkunft und seiner unbestimmten Zukunft.

-2-

Die Brust des geschundenen Mannes, dessen ausgemergelter Körper unter eine weiße Bettdecke gelegt wurde, begann zu schmerzen. Die Augen wollten sich noch nicht der Gegenwart stellen und waren noch immer verschlossen. Wie ein Kind, das es vorzog die Augen geschlossen zu halten, um sich selbst den Frieden des Nichtwissens zu bewahren, bevor ihm böse Bilder in die Träume begleiten konnten. Er stieß ein keuchendes Röcheln aus und begann laut zu husten. Eine Krankenschwester eilte herbei, las oberhalb des Bettgestelles den Namen „Milan“, und beruhigte wie gelernt und immer wieder erprobt den Gast, indem sie ihn mit dem Vornamen ansprach: „Milan, hören Sie mich? Sehen Sie mich an.“ Als Milan aus einiger Ferne seinen Namen hörte und die Augen blinzelnd dem Licht der hellen Lampe neben seinem Bett nachgaben, blickte er in das vorwurfsvoll aussehende Gesicht der gestressten Krankenschwester Anna, welches sich nicht zu der süßlich rufenden Stimme zu passen schien. Sein Husten hörte schlagartig auf und Milan ließ sich zurück in sein Kopfkissen fallen – war dies die Schocktherapie, fragte er sich noch, als er seinen Kopf schlaff nach hinten fallen ließ.

„Ohne Schatten gibt es kein Licht, man muss auch die Nacht kennenlernen.“ Milan wurde erst jetzt bewusst, dass noch ein Dritter im Raum sein musste, da die männliche Stimme mit Sicherheit nicht aus dem Mund der Krankenschwester kommen konnte. Kurz überlegte er, ob er selbst etwas gesagt hatte und nicht mehr in der Lage war Stimmen zu unterscheiden, verwarf aber dann diesen Gedanken. Er hatte sich nicht gemerkt, was die Stimme gesagt hatte, auf die er nicht gefasst war. Trotzdem dankte er ihr innerlich bereits bevor er ihren Besitzer kennenlernen durfte, dafür, dass die Krankenschwester ihre Aufmerksamkeit endlich von ihm abwandt. Um dies zu beschleunigen, drehte Milan seinen Kopf, der sich noch nie so schwer angefühlt hatte, schwerfällig auf die rechte Seite dem anderen Ende des kleinen Raumes zu, an welcher ein zweites Stellbett zu finden war. „Was?“, presste Milan heraus.

„Ohne Schatten gibt es kein Licht, man muss auch die Nacht kennenlernen“, antwortete eine dunkle, alte Stimme, scheinbar aus dem Bette kommend. Erst als Milan seine bleischwere Kugel auf dem Hals gänzlich so drehen konnte, dass seine Augen das gegenüber stehende Bett ausmachen konnten, erkannte er einen kleinen, fast unbehaarten Kopf auf dem Kopfkissen liegen. Auch sein Kopf muss sich so schwer anfühlen, dachte Milan, denn auch sein Nachbar hatte ihn nicht aufgerichtet, um zum sprechen. Mühevoll streckte Milan sein Haupt empor, um das Gesicht dieses Mannes, der außer dem Satz nichts weiter verlauten ließ, ausmachen zu können. Obwohl Milan im Schätzen vom Alter eines Menschen immer gut gewesen war, konnte er nun nicht mal annähernd das Alter dieses Mannes bestimmten. Die kahlen Haare ließen zwar auf einen nicht mehr jungen Menschen schließen, die Haut war aber nur durch wenige Falten durchfurcht. Sie war fast durchsichtig, im hellen, kalten Schein der Lichtröhren, die jeweils neben und über den Betten platziert waren, konnte man den Verlauf der Adern im Gesicht des Mannes erkennen. Trotz aller Kraft und Konzentration, die Milan dem Inspizieren des ihm so unwirklich erscheinenden Gesichtes widmete, konnte er dem Gesicht des Mannes keinerlei Ausdruck entnehmen. Die Augen waren zwar in seine Richtung gelenkt, aber er spürte den Blick nicht, nicht so, wie man sonst spürt, wenn man angesehen wird. Die Mundwinkel waren gerade und keine Furche, weder um die Lippen, noch umseine Augen oder auf der Stirn, ließ ein Indiz auf die Gemütslage der Person schließen. Wie glatt gebügelt, dachte Milan. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, dass noch eine dritte Person im Raum war. Er wusste nicht, wie lange er auf den Mann gegenüber gestarrt hatte – er hatte alles darum vergessen, einzig ein seltsames Gefühl blieb.

„ Er kommuniziert ausschließlich, indem er Sätze, manchmal ganze Phrasen zitiert, aber stets ohne eigenen Kommentar. Gewöhnen Sie sich daran Milan, denn der Herr wird sich das Zimmer mit Ihnen teilen – oder besser gesagt umgekehrt, denn Sie kamen ja hinzu und er überlässt Ihnen, Milan, die Hälfte“. Milan mochte Anna nicht, diese Frau mit dem rundlichen Gesicht, dessen Lächeln zu einer unwirklich scheinenden Gesichtsstarre verkommen ist. Was sie sagte, kam ihm sinnlos vor, denn weder er noch der andere Mann hatte sich das Zimmer oder den Nachbarn wohl ausgesucht. Ihm fiel auf, dass diese Anna ihn mit Milan ansprach, aber siezte, was ihm gar nicht gefiel – ein Dejawu erklomm seinen Körper, aber von wem er zuvor so bezeichnet wurde, kam ihm einfach nicht ins Gedächtnis. Der Versuch, Erinnerungen hervor zu beschwören, bereitete Milan seltsame Kopfschmerzen. Er ließ die Gedanken über die Suche der Situation des Menschen, der ihn auch immer mit Herr Milan bezeichnet hatte ergebnislos fallen. Es war noch eine Sache in diesen paar Worten dieser Anna, welche ihm ebenfalls nicht gefiel. Sie sprach ganz so, als wisse Sie, was er, Milan, vor allem aber der Mann neben ihm, wollten. Milan dachte, dass der Mann gar nicht anders konnte, als Milan hier wohnen zu lassen, dass er weder nett noch unfreundlich reagieren konnte und es somit ein Einfaches war, ihm jeglichen Wünsche, Begierden, Tatsachen, ja, alles, was einen Menschen ausmacht, einfach anzuheften. Sehr wehrhaft sah auch sein Nachbar nicht aus. Milan war wieder in seine Gedankenwelt entschwunden, ehe sein Blick auf Annas Körper, der vor ihm platziert war, fiel. Er war plötzlich wieder furchtbar müde, so, als habe er einen ganzen Tag lang schwer körperlich gearbeitet. Ihm schwindelte. Er wünschte sich, Anna würde gehen, er wünschte sich, alleine zu sein. Denn ist dies nicht das wenigste, dass ein Mann in einer solchen Situation wollte? Er war ihr ausgeliefert. Konnte die Frau nicht erkennen, dass er seine Ruhe brauchte? Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr Blick auf seinem Gesicht ruhte, dass diese Frau, Krankenschwester oder Ärztin, was auch immer, ihn in einer Erwartungshaltung ansah. Was wollte Sie, fragte sich Milan. Er überlegte angestrengt, wurde sich aber keiner Frage bewusst, die diese Anna ihm gestellt haben könnte. Milan war so mit seinen Gedanken beschäftigt, Gedanken, die von dem seltsamen Zimmernachbarn zu Anna schwenkten und sich in dem verzweifelten Versuch eine Vergangenheit zu dieser Gegenwart zu finden, verloren – ganz wie sich ein Feldweg zu vielen kleinen Trampelpfaden verzweigt, die sich in den Weiten der Halme verlieren. Milan hatte noch kein einziges Wort gesprochen und alles, auf das Anna wartete, waren ein paar Worte aus dem Munde dieses verwirrten Mannes, der als Landstreicher aufgefunden worden war. Das einzig Bekannte war sein Name, der entweder Frank oder Milan sein musste. Als er von den Sanitätern aufgeschnappt wurde, gab er Frank als seinen Namen an. Später, nachdem er Beruhigungstabletten und eine Infusion erhalten hatte, schrieb er mit zitternden Fingern Milan auf seinen Anmeldebogen.

-3-

Paulette stand spät auf. Sie sah ihre verschlafenen Augen im Spiegel an und beschloss zuerst duschen zu gehen. Ihre Mitbewohnerin war bei ihrem neuen Freund – sie kam nur noch vorbei, um ihre Wäsche zu wechseln. Vielleicht wird es ja langsam Zeit für eine eigene Wohnung, dachte sie, einerseits um der dumpfen Stille einen Sinn einzuflößen, andererseits, um sich selbst aufzumuntern. Im Badezimmer angekommen, drehte sie den Wasserhahn auf und hielt ihre Zahnbürste unter den kühlen Strahl. Sie sah in den

rechteckigen Spiegel vor ihr. Die kleinen Badlampen, welche über den Spiegel angebracht waren, gaben ein neonfarbenes grelles Licht ab, in welchem sich niemand gerne betrachtete. Paulette aber nahm es hin, wie es nun mal war, mit einer fast beängstigenden Gleichgültigkeit. Die nackten Tatsachen. Sie begutachtete die Krümel in ihren Augen, die noch vom Schlaf her sich an die Lider hefteten. Sie sah auf die kleinen Fältchen ihrer Haut und fragte sich, ob das die ersten Anzeichen vom Alter wären, obwohl sie gerade einmal Ende zwanzig war. Sie betrachtete ihre Mähne aus Dreatlocks und fragte sich, ob sie diese spätestens zum dreißigsten Geburtstag abschneiden würde, als Zeichen dafür, dass sie nun endlich erwachsen geworden, sich der Gesellschaft der Erwachsenen angegliedert habe. Sie wurde traurig bei dem Gedanken, sich von ihrer Haarpracht trennen zu müssen und schob die Vorstellung beiseite, bevor sie tiefer in sie eindringen konnte. Paulette fragte sich, wie angepasst – gesellschaftsfähig sagt man auch dazu - sie werden könnte, stellte sich vor, wie sie morgens aus dem Haus ginge, die Straßen entlang zu einen der Verwaltungsgebäude. Sie versuchte sich in einem Hosenanzug, einem dunklegrauen Zweiteiler mit hellgrauen Streifen, wie sie in den Büros oft getragen werden, vorzustellen. Als sie schließlich die Drehtür erreichte, welche in das Innere der von Papieren und Computern übersäten Büroräume mit gestriegelten und gewachsten Menschen, die leise redeten, wenn sie sie ihren Kopf von dem PC rüber zu dem Kollegen auf der anderen Seite des Schreibtisches schwenkten und als dieser, der von den anderen im Raum sitzenden nicht zu unterscheiden war, ihr gepflegt mit einem Auge zu zwinkerte, überkam sie ein stechender Schmerz in ihren Eingeweiden. Es war schon immer ihr Magen gewesen, der sich mit Schmerzen gegen all das gewehrt hatte, wofür der Kopf noch keine stichhaltige Erklärung hatte. „Nein, Paulette, so wirst du niemals“, rief die junge Frau erzürnt ihrem Spiegelbild, welches das gleiche zurück schrie, entgegen. Sie sah tief und böse in die braunen Augen ihres Spiegelbildes, bevor Paulette schließlich in die Dusche trat, um den Wasserstrahl all diese Gedanken in die Tiefen der Kanalisation tragen zu lassen. Sie stellte sich all die Gedanken vor, wie sie mit den dicken Wassertropfen nach unten prasselten, auf dem Boden der Dusche kurz sich sträubend kreisten und schließlich ihren Weg zum Abfluss finden. Die Verzweigungen der Kanalisation führen sie immer weiter, bis ihre Gedanken mit sauberem Wasser wieder durch einen Hahn irgendwo anders die Oberfläche erreichen würden. Vielleicht wäscht sich jemand das Gesicht mit dem durch ihre Gedanken aufgedunsen Tropfen, die aus dem Wasserhahn plätschern.

Nachdem sie lange geduscht hatte, trocknete sie sich ab, tunkte ihre Finger in die Cremedose und verstrich die helle Paste langsam auf ihrem Gesicht, dann auf den Beinen und schließlich auf den Bauch, den Brüsten und Armen. Weil sie dann nicht wusste, was der Tag zu bieten hatte, keine rechte Lust verspürte, irgendetwas in Angriff zu nehmen, ging Paulette in die Küche. Langsam füllte sie Wasser in den unteren Behälter ihrer spanischen Kaffeekanne, gab einen Esslöffel des gerösteten Kaffeepulvers in den oberen Bereich, schraubte die Kanne zusammen und stellte sie auf eine der Herdplatten. Dann nahm sie einen kleinen Topf, gab etwas Milch hinein und platzierte ihn auf die zweite Platte, bevor sie beide erwärmte. Während des Wartens auf den frischen Kaffee überlegte Paulette, was sie mit dem Tag machen sollte. Ihren letzten Job in einem kleinen Kiosk hatte sie gekündigt, nachdem sie immer wieder Probleme mit unfreundlichen Kunden und ihrem Chef, dem all dies egal war, der selbst vor seinen Gästen geflüchtet war, hatte. Die Sinnlosigkeit, den ganzen Tag in einem kleinen Laden auszuharren, um undankbaren Gästen Kaffee und Zeitschriften zu verkaufen, hielt sie nicht mehr länger aus. Die Urlauber waren zum Teil schon in der früh besoffen und beschwerten sich darüber, dass sie keinen Alkohol verkaufte. Schließlich, in den letzten Wochen,als sie sich schon wie in einem Käfig vorkam, wie der Panter von Rilke, der nur Stäbe um sich sah.

Nun, da sie mit ihrem Kaffee in dem kleinen Wohnzimmer saß, überfiel sie die Sinnlosigkeit aufs Neue. Es war dasjenige Gefühl, dass Menschen überkommt, welche sich nicht in das gesellschaftliche Geschehen einordnen können. Paulette wünschte sich manchmal, einfach einem Tagesablauf wie alle anderen auch nachgehen zu können: Morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, nach Hause kommen, und fertig. Wenn sie dann aber durch die Straßen lief und all die beschäftigten Menschen betrachtete, die so ihr Leben an sich vorüberziehen ließen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dies alles sein kann. Das dies unser einziges Leben ist, bestehend aus einem Alltag, über den die meisten fluchen und ihm trotzdem nachgehen. Ging es nicht vielen so oder fragten sie sich nichts mehr, da Zeit und Kraft für Fragen einfach fehlten, fehlen mussten, damit sie weiter arbeiteten. Paulette kam sich plötzlich furchtbar einsam vor. Alle anderen gingen diesen Fragen losen Alltag nach, während sie am Küchentisch saß und Kaffee trank. Aber auch die Vorstellung, jemanden zu treffen, vielleicht eine Freundin, missfiel ihr. Der Gedanke an die hohlen Worte des täglichen Lebens missfiel ihr, genauso die Vorstellung sich selbst mit den ihren dafür so untauglichen Gedanken einem oberflächlichen Gespräch hingeben zu sollen. Sie nahm immer nur kleinste Schlücke aus der Tasse, in der Hoffnung, dass sie, das Alibi ihres Nichtstuns, nicht leer werden würde – Paulette wusste einfach nicht, was sie danach machen sollte. So war es fast Mittag geworden und die blonde Frau mit dem Haarkranz aus Dreatlocks saß noch immer vor ihrer Tasse, in der der Kaffee bereits wieder erkaltet war.

-4-

Als Milan das nächste Mal und nur wenige Stunden später erwachte, wusste er nicht, ob Stunden oder sogar Tage vergangen waren. Diesmal öffnete er entschlossener die Augen und auch wenn sich seine Glieder müde anfühlten, so spürte er einen Hauch von Energie, die seinen Körper durch flößte. Vielleicht war es jene Energie, ausgehend von unserem Innersten, welche uns immer wieder dazu ermunterte, aufzustehen und weiter zu machen. Oftmals verebbt diese Energie, welche aus der natürlichen, bereits kindlichen Neugierde hervorgeht, erfahren zu wollen, was passieren wird. Der Mensch musste von Natur aus gewillt sein, immer wieder Erfahrungen zu machen, denn diese verhelfen den Geist zu neuen Denkweisen. Viele derer, deren Tagesablauf jeden anderen gleicht und deren Umfeld nur aus kahlen Mauern besteht, verlieren dieses Gefühl der geheimnisvollen Spannung bereits jeden Morgen kurz nach dem Erwachen wieder, sobald der Geist sich gewahr wird, dass nun wieder der gleiche Tag anstehen würde. Bei Milan war die morgendlich entfachte Energie die einzige Kraft, die seinen Körper zum Erwachen führte und dafür sorgte, dass er nicht gleich wieder die Augen zufallen ließ. Das Bett neben ihm war nun leer, der Mann unbestimmten Alters, der lediglich Zitate von sich gab, war nicht da und so hatte Milan die Ruhe, sich das Zimmer genauer anzusehen.

Am Bett neben sich erkannte er das Namensschild seines Nachbarn, auf dem geschrieben stand: Albert. Mühsam richtete er seinen müden Körper auf, bis er in einer aufrechten Lage saß. Die grelle Lampe neben seinem Bett ließ er ausgeschaltet, dennoch war der Raum etwas erhellt. Zwischen seinem Bett und dem seines Nachbarn fand er ein heruntergezogenes beiges Rollo, hinter dem Licht zum Vorschein kam – Sonnenlicht! Müde in den Gliedern, aber entschlossen in den Sinnen, diese runde, Leben spendende Lichtkugel zu sehen, schob Milan langsam sein linkes Bein vom Bett und ließ es auf den Boden plumpsen, dann sein rechtes, sodass seine Fußballen den Boden berührten. Er fühlte sich kalt an. Milan war dankbar für jegliches Gefühl, das er wahrnahm, denn noch immer wusste er nicht, wie er hierher gekommen war, ob er vielleicht einen Unfall hatte und wie kaputt sein Körper war. Er sehnte sich nach Anhaltspunkten für sein Leben, nach Antworten auf die Fragen, warum und wie lange er hier war, was er hier sollte. Seine Erinnerungen ließen Milan aufs neue im Stich. Im Zimmer fand er außer dem Schild, mit seinem Namen darauf keinerlei Informationen zu ihm. Er zog seine Beine wieder vom kalten Boden hoch und winkelte sie wie ein kleines Kind an, ließ seinen schweren Kopf wieder auf das Kissen fallen, behielt diesmal die Augen aber weit geöffnet. Einzelne Gesichter kamen schemenhaft aus den Tiefen seiner Erinnerung empor. In einem erkannte er seine Mutter, die ihn mahnend ansah: Was hast du nun schon wieder angestellt?, fragte ihr Blick. Er erkannte auch seinen Vater und schließlich sah er sich als Jugendlicher durch die Straßen in dem Viertel gehen, in dem er aufgewachsen war: Bremen. Die Tür ging auf und zum ersten Mal konnte Milan seinen Zimmernachbarn vollständig sehen. Sein Körper war schmal, dennoch waren die von ihm ausgehenden Bewegungen mit Energie gefüllt. Das Gesicht wirkte noch immer zeitlos, aber Milan glaubte, eine winzige Neigung des Mundwinkels nach oben hin zu bemerken, als Albert ihn sah. Albert sah ihn nun an und sprach: „Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln.“

Milan war sich zuerst nicht sicher, ob Albert das Wort an ihn gerichtet hatte. Eher hätte er sich ein „Hallo“ oder eine Begrüßung von einem, wie er dachte „normalen“ Menschen erwartet, erhielt stattdessen jedoch nur ein weiteres Zitat. Da Milan nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, aber nicht unfreundlich erscheinen wollte, wenn er einfach stumm blieb, antwortete er: „Hallo! Ich muss lange geschlafen haben.“ Dies war gleichzeitig das Ende des Gesprächs, das eine scheinbar zusammenhangslose Anhäufung von Worten war. Um der Situation und der darauffolgenden Stille aus dem Weg zu gehen, raffte sich Milan nun doch auf, setzte die Beine wieder auf den kalten weißen Fliesenboden und stellte sich aufrecht hin. Auch wenn der Rücken und die Beine schmerzten, durchfuhr den Körper ein Schub, der bis in das Gehirn gelangte und das wage Gefühl der Freude aufkommen ließ. Jene Freude, die ein jeder empfindet, wenn er nach einer Krankheit, in der er gepflegt werden musste, endlich wieder Selbstständigkeit wahrnahm, jene Freude, die jemand empfindet, der eingesperrt war und wieder frei gelassen wurde, jene Freude, die tief in uns verankert ist, um aufzukeimen, wenn immer das Bewusstsein sich seiner selbst, dem einfachen da sein, erfreut.

Milan schritt langsam in die Richtung der Tür, welche Albert halboffen stehen gelassen hatte. Als er sie durchschritt, fand er sich inmitten eines langen Korridors wieder, an dessen beiden Seiten zahlreiche Türen mit Nummern besehen waren. Er merkte sich zur Sicherheit die Nummer seiner eigenen Tür, um zurück zu finden: Nr. 33. Dann ging er langsam den Korridor entlang. Die Worte Alberts, die einzigen, welche er in den letzten Stunden zu hören bekam, hallten in seinem Kopf wieder: „Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln.“ Meinte er damit ihn?

-5-

Um sich den Nachmittag zu vertreiben und der aufdringlichen Stille, die in der leeren Wohnung herrschte, davonzukommen, ging Paulette an diesem warmen Nachmittag hinaus. Sie wollte sich nicht mit jemanden treffen, eigentlich auch nicht mit jemanden sprechen, sondern nur ein paar andere Dinge sehen, auch wenn diese noch so belanglos waren, als die halb getrunkene Kaffee Tasse auf dem Tisch vor ihr. Langsam ging sie die kleinen Einkaufsstraßen entlang, in welchen Mitbringsel und Andenken für Touristen die Läden füllten. Oftmals missbilligte sie die Touristen, alleine ihrer Urlaubsfreude wegen, die sie nicht empfand. Heute sah sie ihnen einfach nur zu und stand, da auch sie nichts zu tun hatte, ihnen mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber. Paulette gefiel die Gleichgültigkeit, sie war angenehmer als der ständige Groll, der sie von innen auffraß und den sie in den letzten Tagen ihrer Arbeit kaum mehr los geworden war. Während des Gehens fragte sich die Frau mit den Dreatlocks, ob sie anderen das Freihaben nicht gönnte, wo sie selbst zuvor immer im Stress war. Sie beschloss mehr auf diese Regungen zu achten und zu versuchen, die Menschen nicht mehr mit einem verurteilenden Auge zu betrachten. Sogleich fühlte auch sie sich etwas leichter um ihr heute so schwer wiegendes Herz. Die Wärme und der gleißende Schein der Sonne ließen Paulette nach einiger Zeit ermüden und so zog sie es vor, sich ein schattiges Plätzchen in einem der zahlreichen Kaffees zu suchen. Sie fand an einem freien Tisch direkt vor dem in türkis und flieder bemalten Häuschen mit der Aufschrift „CAFE“ einen Platz, der durch einen großen alten Birkenbaum im Schatten lag. Erst als Paulette die Karte durchsah, fiel ihr auf, dass sie noch nichts gegessen hatte. Um Durst und Hunger gleichzeitig zu stillen und der Zufriedenheit über die neu gewonnenen Erkenntnis wegen bestellte sie sich einen großen Eisbecher. Nachdem sie die Bestellung für den Amaretto Becher aufgegeben hatte und nach dem passenden Geld in ihren Hosentaschen kramte, fiel ihr ein zusammengefaltetes Papier in der Hose auf. Sie zog es heraus. Ein Hitzewallung durchströmte den Körper, als Paulettes Augen die zerknitterte Seite auseinander faltete. Bereits vor ein paar Wochen hatte sie den Inhalt gelesen, das, was nicht für sie oder vielleicht noch nicht einmal für irgendwem bestimmt ist, und doch kam sie nicht um die Neugierde herum, ihn abermals zu lesen:

Frank war wieder auf sich allein gestellt. Es war auch gut so, dachte er. Der Strand war leer, es wurde Abend und endlich etwas kühler. Er hatte den Tag so geschwitzt, dass sein T-Shirt noch immer feucht an ihm herunterhing. Er zog es zuerst aus, dann seine Hose und schließlich seine Unterhose. Dann legte er es in den Sand und ging zum Meer. Die Zehen wurden nass, es fühlte sich gut an, kalt, aber gut. Langsam schritt er einige Meter weiter in das Wasser. „Erlös mich“, sagte er dem Meer, „Erlös mich von dieser Welt, nimm mich, ich wehre mich nicht mehr.“ Und er warf seinen ganzen Körper in das Wasser, tauchte die Brust, den Hals und schließlich den Kopf in das befreiende Nass. Eindringen will ich, dachte Frank, ich will in dich eindringen und gehalten werden, halte mich fest. Es erregte ihn und Frank tauchte immer wieder ab und versuchte sich gegen den Auftrieb des Salzes mit aller Kraft unten zu halten bis er nicht mehr konnte und nach oben gespült wurde. Als seine Muskeln ermüdeten, ging er schließlich aus dem Wasser und trocknete sich mit seinem T-shirt ab. Dann ging er der Nacht entgegen, immer den Strand entlang. Spürte endlich wieder die Freiheit, nirgends hin zu müssen und trotzdem gehen zu können, wohin und wie lange er wollte. Es wurde finster, als er die beleuchteten Strandabschnitte verließ und Frank freute sich wie ein kleines Kind, er beschleunigte seinen Schritt etwas. Dann, als es so düster wurde, dass er nicht mehr den Unterschied zwischen Meer und Strand ausmachen konnte, musste er sein Schritttempo wieder etwas verlangsamen, um nicht gegen etwas zu stoßen. Mal drang das Wasser bis zu seinen Knien und er musste etwas mehr zum Strand weichen, mal ging er längere Zeit über Sand und musste die Nässe wieder suchen, um nicht zu weit vom Meer abzukommen.

Paulette las aufmerksam jedes Wort, bevor sie den Zettel wieder zusammenfaltete und in ihre Hosentasche steckte. Langsam und geistesabwesend aß sie ihr Eis. Bereits seit einiger Zeit hatte sie nichts mehr von Milan gehört. Sie fragte sich, wo er steckte und vor allem, was diese Zeilen zu bedeuten hatten. Er hatte ihr einmal von einem Psychologen erzählt, dass er ihn aufgemuntert hatte etwas zu schreiben, um Ruhe zu finden. War das seine Geschichte? War Milan Frank? Sie wusste es nicht. Ein Gefühl der Beklommenheit durchfuhr sie, die Intuition, dass etwas nicht stimmte. Nachdem sie ihr Eis gegessen hatte, wusste Paulette jetzt, wohin sie der Weg führen sollte. Sie wollte das sehen, was Milan sich vorgestellt hatte, sie wollte zum Strand, das Meer sehen. Diesmal ging sie schneller und achtete auf nichts um sie herum. Endlich am Strand angekommen, entblößte sie ihre Füße und verlangsamte bedächtig den Schritt, die hellen, weichen Körner zwischen ihren Füßen fühlend. Kurz vor dem Wasser setzte sie sich in den Sand und sah zum Meer, zur ewigen Weite hinaus. Paulette nahm noch einmal den Zettel aus ihrer Hosentasche und las die Zeilen. Diesmal langsamer und behutsam, die Tiefe, die in den Worten lag aufsaugend, ohne an Milans Verwirrtheit zu denken. Schließlich stand sie auf, nahm die Schlappen in ihre Hand und näherte sich dem Meer. Das Wasser kam und ging mit den Ausläufern kleiner, gleichmäßiger Wellen und umspielte Paulettes Füße. Das Wasser, weich wie Seide, zog sie in seinen Bann. Langsam ging die junge Frau, die noch vollständig angezogen war, weiter und weiter in das kühle, verheißungsvolle Wasser. Sie konnte, sie wollte nicht stoppen und schließlich warf sie ihren ganzen Körper in das Nass, hielt nun die Luft an und übergab sich ganz dem Wasser. Sie tauchte einige Meter, die Stille, die Tiefe, das Wasser, dem sie völlig egal war, welches sie aufnahm und umspielte mit Sanftheit, erfüllten sie mit einem tiefen Gefühl von Glück. Nach wenigen Minuten hingen die triefenden Klamotten schwer wie Sandsäcke von ihrem Körper herab und zwangen sie in die Realität zurück zu kehren. Wechselkleidung hatte sie natürlich nicht mitgenommen und mit den nassen Sachen in den Sand setzten war auch keine gute Idee. So watschelte Paulette, die einen seltsamen Anblick bot, nach welchem sich sogleich einige auf der Straße umdrehten, die Gassen entlang nach Hause. Die Blicke störten sie nicht. Nur die nasse Kleidung schien Paulette, welche die Freude der Schwerelosigkeit genoss, noch auf dem Boden zu halten. Das leichte, schwingende Gefühl eines desjenigen, der aus eigenem Impuls handelt und die Schönheit dieses eigens Vollbrachten genießen darf, überkam Paulette das erste mal an diesem Nachmittag. Noch nie zuvor hatte sie sich so integer mit sich selbst gefühlt. An diesem Abend saß sie vor einer Tasse Tee und beschloss, diesem Gefühl des Seins an sich auf die Spur zu gehen, und sie beschloss Milan zu suchen. Die Fragen, wohin sie der Weg führte und wie die Suche beginnen würde, sollten sie dabei nicht bedrängen, so nahm sie sich vor.

-6-

Milan stapfte den Boden des langen Ganges weiter entlang. Überall hingen Neon leuchtende Strahler von der Decke, Fenster gab es keine. Die Ärzte und Krankenschwester, die an ihm vorbeigingen, schienen ihn nicht zu bemerken. Weder grüßten sie, noch sahen sie ihn an. Das irritierte Milan so, dass er sich fragte, ob er träumte, oder ob er wirklich hier war. Der Schmerz, der seine Nerven durchfuhr, als sich kraftvoll in seinen rechten Oberarm kniff, ließen die Zweifel an der Wirklichkeit wieder schwinden. Er sagte sich, dass es hier eben so sei, und ging weiter. An einer Gabelung entschied er sich für den linken Gang. Es roch nach Essen. Milan wusste nicht, wann er zuletzt etwas gegessen hatte, der Geruch, der ihm in die Nase stieg, ließ Hunger in ihm aufsteigen. Sein Magen zog sich zusammen und knurrte, als er dem Geruch näher kam. Das Ende des Ganges führte direkt in einen großen Saal. Auf der Tür stand in großen Buchstaben. Bereich für Nahrungsaufnahme. Milan fragte sich, wer sich so eine Beschriftung einfallen ließ, die einem den Appetit schon fast wieder nehmen konnte. In dem Gewusel von zahlreichen Menschen, die sich an einem großen Buffet bedienten und an einem der zahlreichen Tische niederließen, schien niemand den neu angekommenen zu beachten. Alle waren in den gleichen weißen Hosen und T-Shirts gekleidet wie auch Milan sie trug und so beschloss er, dass diese Essensausgabe auch ihm gelten musste. Er sah dem Treiben zuerst gebannt zu. Noch nie hatte er so viel weiß auf einmal gesehen. Nicht nur die Menschen waren in weiß gehüllt, die Wände, die Tischdecken, ja, sogar die Tische und Stühle waren weiß. Die Farbe der Reinheit, dachte Milan, die Farbe der Unschuld, nahm in dieser Konzentration allen weiteren ihre Daseinsberechtigung und wirkte erdrückend. Weder unschuldig, noch rein, im Gegenteil, das weiß wirkte herrisch und unterdrückend. Da er nun seit einigen Minuten mitten im Raum herum stand, entschloss der junge Mann sich mit den slawischen Gesichtszügen, den ausgeprägten Wangenknochen und dunklen Augen, einen Teller zu nehmen. Da stand er nun vor einem vollen Buffet und wusste nicht, was er essen sollte. Aus irgendeinem Grund mochte er das triefende Fleisch vor ihm nicht und er nahm sich einige Kartoffeln, ein paar Tomaten und zwei Äpfel mit. Milan setzte sich an einen Tisch, an dem noch keiner war, um alleine zu sein. Er beschloss nach seinem Essen auch den anderen Flügel entlang zu gehen und nach einem Weg nach draußen Ausschau zu halten. Nur das Essen sagte ihm, dass es entweder Mittag oder Abend sein musste, er vermisste das Sonnenlicht. Dem Essen fehlt das Licht, dachte Milan noch weiter, als er die Gabel in die Tomate steckte. Er sah das aufgespießte Stück an und sprach zu ihm: „Ich hoffe, du durftest das wirklich Licht genießen – nicht nur das künstliche, das die in den Gewächshäusern aufbauen. Denn wirkliches Licht ist das schönste, nur dadurch fühlt man sich lebendig. Ich fühle mich gerade nicht lebendig, eher wie ein Gerät, gesteuert durch einfachste Muster: Du bist müde, du musst aufs Klo, du willst Licht. Das wars schon fast.“ Dann ließ Milan die aufgespießte Tomate, mit der er gesprochen hatte, wieder von der Gabel auf den Teller plumpsen und es tat ihm im gleichen Moment Leid, sie so aufgespießt zu haben. So blieb die Tomate, die in dem Kranken Mitleid erregte, außer den zwei Löchern der Gabel unangetastet auf dem Teller liegen. Die Kartoffelstücke schluckte Milan mit einer Tasse Tee, Früchtetee, der nach Kindertagesheimen schmeckte, mühsam hinunter. Schließlich traute er sich seinen Blick zu den anderen in weißen Kitteln gehüllten Menschen schwenken zu lassen. Obwohl die meisten bestimmt nicht den ersten Tag hier sind, sahen sich manche von ihnen bedächtig um, las taten sie etwas verbotenes. Milan konnte nur Einzelpersonen ausmachen, auch wenn manche neben anderen saßen, fand er keine vor, die miteinander sprachen. Es waren Frauen und Männer da, doch in einem Leben ohne Kommunikation machte das Geschlecht keinen großen Unterschied, dachte Milan. Kommunikation findet zwar nicht nur durch Worte statt, oh, wie viel können schon Blicke sagen, ging es in ihm vor. Aber auch stille Kommunikation braucht mehr als weiße Hüllen. Milan lächelte über seinen ersten Denkanstoß seit langer Zeit, doch gleichzeitig wurde ihm furchtbar schwindlig, sein Mund fühlte sich trocken an, die Hand vermochte den Griff zum Tee nicht mehr bewältigen. Stattdessen klammerte er sie an der Tischkante fest. Dann schaltete sich der kaum erst angesprungene Mechanismus wieder ab und wurde zu Dunkelheit und Stille.

-7-

Erst am siebten Tag seines Aufenthaltes in der Klinik für psychische Erkrankungen war Milan klar genug im Kopf und bei ausreichender körperlichen Verfassung, um an einem aufklärenden Gespräch seines zugeteilten Hauptarztes teilnehmen zu können. Eine Krankenschwester, welche er zuvor noch nie gesehen hatte, führte Milan sachlich durch den Korridor und stellte ihn vor eine weiße Tür mit der Aufschrift: Chefarzt der Zimmer 30 bis 36. Milan rechnete im Kopf durch, wie viele Typen, wie er selbst einer war, von dem Mann hinter der Tür behandelt werden. In jedem Zimmer sind zwei bis drei Personen, hatte Milan anhand der Betten feststellen können. Milan wusste nicht, was ihn hinter der Tür erwartete.

Er horchte in sich hinein und bemerkte mit Erleichterung, dass sein Zustand sich gebessert hatte, dass er sich zumindest darauf verlassen konnte, ein Gespräch führen zu können, ohne dabei abzudriften. Abzudriften in eine Welt, die ihn ebenso anzog wie anwiderte. Eine rettende Welt, eine Zuflucht, die weder Ort noch Zeit bedingt, wodurch die zwielichtige Natur dieses Seins im gleichzeitigen Nichtsein erst ihren gesamten Reiz entfalten kann. Die letzten Tagen hatte sich Milan, hatte sich sein Körper immer wieder die Freiheit genommen, wohl nicht zuletzt bedingt durch die Tabletten, die ihm Anna, die Krankenschwester, welche mehr Krankenschwester als Mensch war, ihm unter Aufsicht hatte schlucken lassen, immer wieder in einen dämmrigen Zustand zu gleiten, einen Zustand, der weder als wach noch schlafend, noch als bewusst wahrgenommen, bezeichnet werden konnte. Einen Zustand, dem Milan manchmal versuchte zu verdrängen, denn er suchte das Bewusstsein, die Erinnerung, sich selbst. Doch gelang es ihm höchstens ein paar wenige Gedanken und Erinnerungen aus dem Innersten seiner verflochtenen Gehirnstrukturen zu ziehen, die ihm Brocken seines Lebens, Puzzlestückchen eines großen Puzzles, dessen Teile zuerst umgedreht, dann nach Farbe und schließlich nach Lage im Puzzle sortierte werden müssten, nach Rand- oder Mittelteil unterteilt, bevor man mit dem puzzlen endlich beginnen hätte können. Milan hatte noch nicht einmal alle Puzzleteile umgedreht, er war sich noch nicht einmal sicher, dass noch alle Stücke da waren.

Als Milan, ein Mann Ende Zwanzig, der mitten auf einer Ferieninsel, auf der Ferieninsel Mallorca, auf einem Strand sitzend, barfuß, mit freien Oberkörper, einer zerrissenen Hose, ausgemergelten Körper, dem man ansah, welche Strapazen er in den letzten Wochen durchgemacht haben musste, umringt von weinenden und schreienden Menschen sich ein Kleintier einverleibte, dass er soeben selbst gefangen hatte und in den rohen, noch warmen Körper biss, während aus diesem das Blut tropfte, wurde er von Ärzten der psychischen Klinik mitgenommen. Milan hatte diese Teile des Puzzles noch nicht gefunden, sie waren noch zugedeckt. Während er minutenlang vor der Tür verharrte und an ein riesiges Puzzle dachte, wurde ihm bewusst, wie wenig er davon aufgedeckt hatte, geschweige denn irgendein Teil sortiert. Die Stirn des Mannes, der vor der Arzttür steht und keinerlei Anstalten machte, auch nur anzuklopfen, legte sich in kleine Falten und die ausgeprägten Kiefer, welche ihm das maskuline Aussehen eines Osteuropäers verliehen, schoben sich verkrampft vor und zurück, wie sie es schon immer taten, wenn Milan sich schwierigen Gedanken hingegeben hatte. Es sah aus, als würde er in seinem Mund etwas zerstampfen, doch das Puzzle vor seinen Augen wurde nur noch größer und unübersichtlicher. Das Puzzle meines Lebens, ging es ihm durch den Kopf, was für ein Leben.

Anna, die Krankenschwester, stupste ihn verächtlich und mit einem Stöhnen an, welches ihre Gedanken auch ohne Worte freien Lauf ließ: Wieder einer dieser vollgepumpten Irren, die aus dem Nichts heraus stehen bleiben und in ihre Welt versinken. Milan war jedoch schon immer ein Mensch gewesen, der sich gerne in seine Gedankenwelt zurückzog, der schwankte zwischen trivialen Gesprächen in den Bars, die er mit viel Bier herunterspülte und den Gedanken, die ihn immer wieder inne halten ließen, immer wieder zu einer Person werden ließen, die sich ihre eigenen Wege aus der Einfalt der Gesellschaft suchte. Diese seine Eigenschaft wurde verstärkt durch die Medikamente, bis er dem Hier und Jetzt gänzlich entgleiten konnte. „Anklopfen!“, fuhr ihn Anna harsch an, „oder wollen sie hier übernachten?“ Ihre Augen gaben mit einer Drehung der Pupillen, welche den äußersten Rand der Iris langsam im Kreis entlangfuhren, als hätten sie dort etwas verloren, offen zur Schau, wie wenig sie sich in diese Menschen herein versetzten konnte.

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