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Eine literarische Bestandsaufnahme von Galizien 1942/43. In einer Sprache, die um Angemessenheit ringt - in einer Weise, die in der polnischen Literatur ihresgleichen sucht. Der deutsch besetzte "Distrikt Galizien" auf dem Höhepunkt der Shoah. Eine Handvoll Überlebender irrt durch die Wälder nahe eines fiktiven Schtetls – sucht nach Verstecken, flieht vor Erpressung, Denunziation, Plünderung und letztlich Ermordung. Immer bedrohlicher wird auch die Lage der nichtjüdischen Bevölkerung: Terror der Besatzungsmacht, Verschleppung zur Zwangsarbeit, Partisanenkrieg und offen ausbrechende zwischenethnische Konflikte. Im täglichen Kampf ums Überleben ist keine Strategie verlässlich - auch nicht der bewaffnete Widerstand, der die Romanfiguren vor fundamentale ethische Fragen stellt. Buczkowski transponiert das Grauen und das Chaos von Krieg und Shoah in eine Prosa von erstaunlicher sprachlicher Intensität. Durch eine nichtlineare, polyphone Erzählstruktur, einen verknappten, zuweilen schroffen Sprachduktus sowie den bewussten Wechsel von naturalistischer Präzision und märchenhafter Stilisierung entsteht eine vielschichtige Textlandschaft, in der die Geschichte einer vernichteten multiethnischen Region widerhallt.
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Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2023
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BIBLIOTHEK DER POLNISCHEN HOLOCAUSTLITERATUR
Band 4
Leopold Buczkowski
Der schwarze Bach
Roman
Aus dem Polnischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Katarzyna Śliwińska
Herausgegeben von Ewa Czerwiakowski, Sascha Feuchert und Lothar Quinkenstein
Der schwarze Bach
Anmerkungen
Nachwort
Leopold Buczkowski
Die Übersetzerin Katarzyna Śliwińska
Heindl
Der Weg und die Nacht, sie nahmen kein Ende. Es dämmerte bereits, als Heindl sich durch den Taumatsch zum Trójnóg hinaufgeschleppt hatte. Er tastete sich zum Fenster der Kate und klopfte. Die heiße Stirn an die Scheibe gelehnt, sagte er:
»Mach auf, keine Angst. Jetzt mach schon, was gibt es da lange nachzudenken. Dass du es später nicht bereust; du tust, als wäre dir nicht klar, was passiert ist.«
Aus dem dunklen Türspalt zur Diele kam ein Flüstern, hastig , vom Warten erschöpft.
»Na, wie geht es dir?«, fragte es aus dem Dunkel.
»Immer schlimmer. Aber jetzt, wo alles überstanden ist, bereue ich keine Sekunde.«
»Du bist zur falschen Tür raus. Wir sind gleich hinterher auf die Treppe, da hast du schon auf dem Boden gelegen. Es war keine Zeit, dir auf die Beine zu helfen. Die Juden aus Szajas Bande haben dich gesucht, wir auch. Morgens immer Cyruliński und Dukat, mittags zogen Kunda oder Latadywan los. Kunda hat die Leiche von Buchsbaums Enkel hinterm Teich bei Bołdurki gefunden, da soll jemand mit Dumdum auf die Jesusfigur im Wald geschossen haben, und ein Stück weiter auf dem Weg nach Huciska lagen Tefillin und ein Stock, die hat er mit nach Hause genommen. Und du warst verschwunden, ein Jahr lang. Du schuldest uns eine Erklärung , die Leute erzählen, du hättest viel Leid angerichtet.«
»Meinetwegen«, sagte der andere. »Es ist wie mit jenem Mann, der eine Brücke über den Sumpf gebaut hat, angeblich zur Sühne. Da stellt sich dieser Sünder eines Tages unter die Brücke – stellt sich hin und hört, was denn die Leute über sein Werk sagen. Da kommen sie, und die einen schimpfen, dass die Brücke aus Holz ist, die anderen schelten, sie ist zu hoch, und ein kalter Wind würde dort blasen, auch dass sie schon löchrig ist – wie die Leute so reden. Zuerst geschossen, sagst du? Ich für meinen Teil könnte fragen: Hast du die Tür verriegelt, wie abgesprochen? Ich hatte genug um die Ohren: Futter besorgen für die Pferde, Zigaretten für Chaim, eine Zinksalbe aus der Apotheke, für die Emilka Bilder vom heiligen Antonius, weil’s ihr so in den Sinn kam, und ’nen Haufen anderes Zeug , kann dir jetzt nicht alles aufzählen. Jeder könnte der erste gewesen sein. Ich saß bei einem Glas warmer Milch. Kunda sagte: ›Bei dem Sauwetter hätten wir die Plache mitnehmen sollen.‹ Ich darauf: ›Trifft sich gut, ich weiß noch, Bernstein hat eine bei der Hanczarka gelassen – wir gehen heute zu ihr, bevor wir aufbrechen, holen uns die von der Schlampe, da wird nicht lang gefackelt.‹ Rózia war gerade dabei, sich auf meinen Rat hin eine Hose überzuziehen. Sie stand hinterm Stuhl, raffte das Kleid, um es in die Hose zu stopfen. Und du warst in der Mitte, hast dir eine gedreht. Hättest du nur die Tür verriegelt oder auf gut Glück geschossen. Szerucki und Kunda hatten an dem Tag keine Waffen, so einfach ist das. Und als von drüben ein Schuss gefallen ist – da hast du angefangen zu schreien. Wozu in aller Welt? Darfst dich nicht wundern, dass ich dir nicht länger vertraut habe. Es ist wie mit dem üblen Geruch, der einem nachgeht. Dem Kerl ist nicht mehr zu helfen, wenn er erst einmal stinkt. Du weißt ja, das Leben zählt in jedem seiner Augenblicke, immer liegt der gesamte Einsatz auf dem Tisch. Du schlüpfst nicht durch. Die Spitzel, die schaffen’s manchmal, aber am Ende macht ihnen der Brotgeber den Garaus, dann liegt so ’n Köter zerdrückt im Matsch. Du bist doch dabei gewesen, als Ciszka gebettelt hat: ›Ach, legt mich nicht um! Ich will mich nützlich machen.‹ ›Du Hurensohn!‹, schreit darauf Szerucki und scheuert ihm eine in seine Spitzelseele, dass der sich vollgeschissen hat. Da konnte einen ja noch der Jammer packen, aber darum geht’s hier nicht. Das war erst der Anfang. Vergiss nicht, was sie mit Rózia angestellt haben. Wie sie ihr die Beine gespreizt haben – und sie: ›Ich fleh euch an, lasst mich in Ruh‹ –, da bist du mir grad über den Rücken getrampelt. Es soll dir im Gedächtnis bleiben: Rózia würgt an den Fingern eines Mazepiners, bekommt keine Luft. Hättest du bloß geschossen, jeder Augenblick zählt. Wąskopyski wird’s dir nicht verzeihen. Du weißt, ein Mann wie der, dünn, mit Augen aus Stahl und schmaler Nase – so einer verzeiht keinem. Das mit Rózia wirst du ihm büßen, du hättest sie retten sollen. Da kannst du noch so viele Winkeladvokaten haben, es hilft nichts. Eines Tages wird er bei dir klopfen, ganz gleich, wo du dich versteckst. Das ist dann dein Ende.«
»Du regst dich auf«, kam aus dem Dunkel die Antwort. »Ich hab immer gesagt, du bist ’n schlauer Bursche, aber in der Nacht damals, da warst du völlig verdattert. Was hast du dich nur so in mich verbissen? Wirst wohl gedacht haben, ich hätte was mit Rózia. Ich will dir ehrlich sagen: Da war nichts. Und wenn du’s wissen willst, dann sag ich: Szerucki. Lass das Zähneknirschen. Szerucki hat ihre Mutter in Huciska versteckt, sie immer im Auge behalten. Konnte doch keiner wissen, dass gerade die in die Diele kommen würden. Ich hatte auf deinen Riecher gesetzt. Da ging noch der Wecker los, Szerucki ist mit einem Satz zur Kommode, um das Rattern zu stoppen. ›Alles in Ordnung‹, hast du gesagt, das hat mich verwirrt. Was ich dir auch noch sagen wollte: Aus dir war der Dampf raus. Brotkrümel hast du in den Fingern geknetet. Ich lass nicht zu, dass man alle Schuld auf mich schiebt. Gib deinen Fehler zu. Du warst zur falschen Tür raus. Kunda war’s, der geschrien hat, nicht ich. Die haben ihm ’ne Ladung in den Bauch gejagt, und er – klemmt sich die Hände zwischen die Beine, stöhnt und trampelt auf der Stelle, als wollte er ein Feuer ersticken. Dann ist bei dem Knall noch die Lampe erloschen. Weiß der Teufel, auf wen man da hätte schießen sollen – hier ein Schatten, dort ein Schatten. Rózia kam mir unter die Hände. Sie ist mir nicht teurer als die Sache und auch nicht billiger gewesen. Ich war sicher, sie wäre gleich hinter mir. Gut so – dachte ich. Da lagst du schon auf der Schwelle, und hinter mir lief Szerucki, nicht Rózia.«
»Nein, du bleibst nicht bei der Wahrheit. Umkehren, das hättest du tun sollen, Licht drauf und in den Haufen schießen. Die Angst saß dir im Nacken, da wirst du gedacht haben: Ach, das ist es nicht wert, so oder so wird jetzt alles viel schlimmer kommen. Selbst als ich zu Boden fiel, wollte ich noch immer nicht glauben, du wärst einer, der die Sonne nicht mehr sieht.«
»Was weißt du, was ich dachte«, versetzte der im Dunkel. »Du redest wie ein Pfaffe, der Worte in großer Eile in ein Fass stopft. Deine Gereiztheit versteh ich ja, ich frag mich nur: Warum bist du der Sache nicht auf den Grund gegangen, da wär dir einiges klar geworden?«
»Was denn?«, fragte der Ankömmling.
»Rózia sagte vor dem Abend zu Szerucki: ›Sprich du mit ihm. Wąskopyski will mich verstecken, aber ich mag nicht mehr darüber reden. Ich würde sein Angebot sogar gerne annehmen, dann wäre ich näher bei Vater.‹ Versteht sich – da wäre sie näher am Steinbruch in Sasów gewesen. Und dir kam nicht in den Sinn, dass das Mädel litt. Sie wollte euch nicht entzweien.«
»Ich will dir was sagen – als sie damals in die Diele kamen, da war ich mir sicher, es ist Wąskopyski gewesen, und meine Meinung über ihn stand fest, obwohl ich ihn nie gesehen hatte. Ich konnte es dir nicht sagen. Du hast mich ja aufgenommen. Einer, der die Prügel der Kripo kennt, der ist wie ’ne Ratte, die durchs Feuer gelaufen ist.«
»Zieh du ihn nicht in den Dreck«, sagte der andere. »Etwas, was du nicht verstehst, willst du in einen Topf mit kriminellen Dingen werfen. Du redest wie einer, der noch nichts vom Leben weiß, und da trifft ihn aus heiterem Himmel ein Faustschlag auf den Schädel.«
»Du brauchst dich nicht zu ereifern. In welchen Dreck? Mir geht es nur darum, dass ich nicht den Glauben hatte, das hat zu dem Schlamassel geführt. Ich kann nichts dafür. Als Tońka noch lebte, da hat alles noch seinen Sinn gehabt, ganz gleich, wie die Sache ausgehen mochte, alles schien heller beleuchtet. Nun nage ich an mir selbst und rühr keinen Finger. Früher war ich durch jede Tür gegangen, um sie frei zu bekommen. Heute küsse ich die Stelle, wo sie gestorben ist. Nichts erwarte ich mehr, und nichts mehr erwartet mich.«
»Und Buchsbaum, hast den mal gesehen?«, wollte der im Dunkel wissen.
»Die Kinder der Hynda Glas haben ihn gefunden, eine Woche nach Neujahr. Er lag erfroren unter einer Kiefer, nur unter seinem Körper taute es ein wenig , mehr nicht. Schwammiges, bleiches Gesicht. Der graue Bart auf seiner bloßen Brust.«
»Wer hat ihn begraben?«
»Zwei Überlebende aus dem Steinbruch in Sasów. Die Leute in Huciska erzählen sich, dass er noch immer über die Felder streift, halberfrorene Kinder soll er auflesen. Und da ist tatsächlich einer, aus dem Gebüsch am Waldrand kommt er, die Hand über der Stirn, sieht vom Hügel in die Stadt hinab, das verbrannte Szabasowa. Dem Aussehen nach – ein Mann. Möglich, dass es Gabbe Gudeł ist.«
»Einer aus Szabasowa hat mir erzählt, Buchsbaum hat die kleine Kalma gefunden, auf dem Acker bei Pasieki. Zu wem kam sie dann?«
»Zur Arbuzowska, die war damals schon Witwe.«
»Was war denn passiert? Ein kräftiger Kerl wie der . . .«
»Die Mazepiner, sie kamen die Kuh holen. Es war Nacht. Arbuzowski lauschte. In der Nachbarschaft gab es Geschrei. Feuerschein flammte herüber. Arbuzowski stürzt aus dem Haus, geduckt, das Hemd weit offen, in der Hand eine Axt. Rasch über den Hof. Ein Poltern an der Stalltür. Mit wenigen Sprüngen ist er dort, erwischt jemand, holt noch einmal aus und haut wie von Sinnen auf den Mann ein. Zurück zum Tor, mit dem Axtrücken zieht er noch dem anderen eins über den Schädel, sackt dann zu Boden. Am Morgen wälzte sich feuchter, schwerer Rauch über die Erde, floss durch den Wald, in den Hohlweg , über den Hohlweg hinaus. Qualmiger Dunst und dumpfe Stille. Die Arbuzowska hat die ganze Nacht lang lamentiert. Schnee fegte über den Rest. Hasen sticken ihre Spuren hinein, eine Elster hüpft hier und dort einer Maus hinterher.«
»Weißt du noch, wer damals bei dem Brand dazugekommen ist? Ich stand im Holunder, hörte die Arbuzowska rufen:
›Großer Gott, wie kommst denn du hierher? Hä?‹
›So oder so – du wirst es nicht wissen‹, sagte der andere. Die Arbuzowska stand mit gesenktem Kopf über ihrem toten Mann.
›Jesus! Wie rasch das Feuer gefangen hat.‹
›Reg du dich nicht auf. Los, in die Glut, die Blechkanne suchen. Dort näher am Ofen. Und die Nähmaschine, die müsste auch dort sein.‹ – Denk nur, noch am Abend hat die Arbuzowska das Licht angemacht, den Geflüchteten ein Mahl bereitet. Vielleicht die Kuh gemolken. Jesus, nicht auszudenken! Du bist dann mitten rein, hast mit dem Haken in der Glut gestochert, das Rad von der Nähmaschine konntest du herausfischen, einen blechernen Lampenschirm, irgendwelche Drähte von einer Falle.
›Ich dachte, du hast sie bereits‹, sagte der andere von der Seite.
›Du, warte. Bei der Hitze, da kann die Munition explodiert sein, dann ist die Kanne futsch. Wollen wir nicht Wasser über die Stelle schütten? Ich erstick gleich, das hält man ja nicht aus!‹
Ein Windstoß wirbelte die Funken in die Luft. Du, gebückt, warst gerade dabei, etwas Schweres unter einem glühenden Holzbalken hervorzuzerren.
›Und, hast du sie?‹, drängte der andere.
›Geht schwer . . .‹, hast du gekeucht.
›Bist ’n guter Mann, mein Freund. Zieh nur!‹
›Jesus! Hier liegt einer unter den Bohlen, verbrannt!‹, hast du gerufen.
›Wer denn? Wie?‹
›Los, bind dir einen nassen Lumpen vor die Nase, fass an. Man erstickt hier ja.‹
Da sprang schon einer in die Glut. Wer war’s denn?«
»Chuny Szaja. Wir haben die verkohlte Leiche aus dem Schutt geholt. Rózia Arnstein. Dann haben wir uns mit letzter Kraft zur Forsthütte geschleppt, um dort den Rest der Nacht hinzubringen. Aron Tykies hatte sich dort einquartiert, für die erschossenen Polen aus Cisna zimmerte er Särge. Auf der Herdplatte brieten Kartoffeln, für ihn und für die Kinder, die dort zusammenkamen – die Kinder der ermordeten Katz’ und Propsts, der Ruchla Karawan und der Chana Gutman. Ein Hund hatte sich den Kindern angeschlossen, auf Schritt und Tritt ist er ihnen gefolgt. Sie riefen ihn Baś. Als es kalt wurde, hat die Arbuzowska drei zu sich genommen. Im Stall hat sie ihnen ein Lager zurechtgemacht, in den Futterkrippen . . .«
Diese Nacht trafen wir in der Werkstatt bei der Forsthütte den Spitzel an. Er kauerte auf einem Stapel Spreißelholz neben dem Ofen, stocherte in den Zähnen. Tykies bestrich drei Kindersärge mit Beize. Auf der Werkbank saßen junge Katzen. Als wir reinkamen, sagte der am Ofen kein Wort, musterte nur Chuny Szajas Gesicht, hohlwangig , blass, mit großen blauen Ringen um die Augen.
»Steh auf!«, rief Szaja. Er suchte den Spitzel ab. Tykies zwinkerte mir zu.
»Was bist du für einer?«, fragte ich und spielte den Dummen. »Komm näher ans Licht!«
Unwillig trat er heran. Ich fegte ihm die Mütze vom Kopf. Seine Stirn war nass. Da war nichts zu sagen. Chuny Szaja hat ihn erkannt. Nun, die Sache musste warten. Wir wollten das Haus nicht versauen. Setzten uns fürs Erste und rauchten. Zogen die Stiefel aus, legten die Fußlappen auf das blecherne Ofenknie, ließen den Todgeweihten die Spreißel nachlegen.
»Immer nur ’ne Handvoll rein, du Dreizackhalunke, und pass auf, das Blech wird ja rot.«
Apathisch warf er in regelmäßigen Abständen Holz ins Feuer, gab auf unsere Fußlappen acht. Wir betteten uns auf die Späne, ruhten aus. Seit dem Tod seiner Kinder ging Chuny Szaja dem Feind direkt entgegen, mit der Gefahr vertraut, wich auch dem Schlimmsten nicht aus. Eine Unrast, etwas berechnend Brutales war in diesem sonst so gelassenen und arbeitsamen Menschen erwacht. Ich konnte ihn im Licht sehen – er lag da, die beiden Fäuste unterm Kopf, schaute Tykies lächelnd bei der Arbeit zu und kaute auf den Lippen. Tykies wickelte sich einen Lappen um den Zeigefinger, malte ein Kreuz auf einen Sargdeckel. Er sprach jiddisch, Szaja übersetzte mir gleich alles. Er liebte mich und war mir restlos ergeben, wie ein Hund. Ich konnte ihn verstehen und schätzte ihn bei der Arbeit, auch für seine Vernunft. Seine Umsicht war uns mehr als einmal von Nutzen, gerade wenn es darum ging , nachts was zu essen zu besorgen. Und kein schlechter Menschenkenner war er. Eigentlich war er es auch, der uns klarmachte, dass die Hanczarka nicht nur rumspitzelte, sondern auch eine notorische Hetzerin war.
Die Nacht war ruhig , hin und wieder krachte ein Schuss durch den Wald, es prasselte dann jedes Mal, als würde eine Handvoll trockene Erbsen durch einen Trog rollen. Wir unterdessen lagen einfach da, lockerten nur etwas die Gürtel, damit auch die Kaldaunen ruhten, und dachten zurück, an dieses und jenes. Wir sprachen darüber, wie wir einmal im Wald durch eine lange Schlucht gelaufen waren, hinein in den Schlag. Es war Nacht geworden – herbstlich frisch und feucht.
»Der Tod wird langsam langweilig«, hatte der Tscheche gesagt, ein Intelligenzler aus Prag. »Und auch das Todesurteil . . ., nicht? Etwas anderes wäre, sagen wir: ein Todesurteil gegen ein Pferd. Öffentlich verlesen und vollstreckt – ich glaube, das würde man nicht aushalten.«
»Interessant aber wäre zu erfahren, wie sich Zeugen, Verteidigung und Staatsanwaltschaft dazu verhielten.«
Gespräche wie dieses brachen gewöhnlich ab, man musste schauen, wo man etwas zu essen herbekam oder im Warmen pennen konnte, auch von Neuem an Flucht und Kampf denken.
Der Todgeweihte rieb den Fußlappen von Chuny Szaja in den Händen, trat ans Licht, kratzte beflissen mit den Nägeln jede Erdkrume weg.
»Wie schrecklich ist das alles«, sagte Chuny. Wir sahen uns in die Augen. Und mir kam der Gedanke: Ist da eine, die den Spitzel liebt? Ein fescher Bursche! Ich fragte ihn: »Hast ein Weib?«
»Wieso nicht?«, gab er zurück.
Chuny Szaja stützte sich auf den Ellenbogen, richtete sich halb auf.
»Schau, schau«, sagte ich zu Chuny, »da findet sich tatsächlich ein Mädel, das so einen liebt.«
»Wie wär’s, wenn du uns zwei zu ihr bringst?«, fragte Chuny.
Zur gleichen Zeit dämmerte uns derselbe Gedanke.
»Sie ist nicht von hier«, sagte der Spitzel.
»Macht nichts, wir finden sie auch so«, versetzte Chuny barsch.
»Du weißt, wo sie lebt?«, fragte ich ihn und tat verdutzt.
»Gewiss.«
Jedes Wort hat sich mir tief ins Gedächtnis geprägt. Chuny schaute auf die Uhr.
»Zwanzig vor vier. Bring den Hund jetzt raus, knall ihn ab. Nur, weißt schon, du lässt den erst ’n paar Schritte laufen, dann in den Rücken. Die Schuhe soll er hierlassen. He, zieh die Stiefel aus!«, brüllte Chuny den Mann an, mir zwinkerte er zu und sagte mit gedämpfter Stimme: »Man muss endlich mit all dem aufräumen.«
Ich stand auf, lief über den Bretterboden zum Ofen. Die Fußlappen waren in der Wärme verkrustet, ich rieb sie zwischen den Händen. Auf einmal rieselte Kalk von der Decke, die Kerze erlosch. Im Aufblitzen sah ich, wie Chuny geduckt zur Schwelle sprang. Eine Granate ging bei der Kate hoch.
»Bist du am Ofen? Schmeiß mir die Schuhe«, flüsterte er zu mir hinüber.
Im Liegen mühten wir uns ab, die Stiefel über die Füße zu ziehen. Aus dem Wald knatterte es über die Wände. Und wieder ging ein Rattern los. Alle möglichen Gedanken spritzten in meinem Kopf auf, wie Butter in einer glühend heißen Pfanne, der lebendigste zuerst – fliehen, zur Diele kriechen! Wer ballert da draußen wie von Sinnen? Wir müssen uns trennen, denn wenn eine Granate hier einschlägt . . . Misslich auch, dass der Lappen sich verknäuelt hatte und es mir nicht recht gelingen wollte, den Rist in den Stiefel zu bekommen.
»Chuny!«, rief ich. »Kannst was sehen?«
»Da!«, er deutete mit dem Finger. Durch einen Spalt über der ausgetretenen Schwelle waren sie zu sehen. Die Bäume sprangen im flackernden Grün einer Leuchtrakete, zwischen den Stämmen liefen welche auf die Schlucht zu. Schon auf dem Rückzug schickten zwei noch ein paar kurze Salven in unsere Richtung. Plötzlich knisterte das Kleinholz, und in Tykies’ Werkstatt krachte es ohrenbetäubend. Die Stube stand sofort in Flammen, trockene Kiefernspäne wirbelten zur Decke. Tykies kroch zu uns rüber, glühende Asche hinter sich schleifend, den Daumen hielt er noch immer auf den schwarzen Beizlappen gepresst, er hustete. Wir hatten Mühe, ihn wegzustoßen, er drängte sich zwischen uns wie ein Kind.
Ja, diese Nacht war hart. Auf dem Dachboden schliefen im Heu die Kinder. Sie wollten nicht runter, verängstigt verzogen sie sich flink in die hintersten Winkel, auf der anderen Seite hörte man die losen Ziegel vom Dach rasseln.
Um vier waren wir draußen, dicht hinter uns liefen im Trab die Kinder, bald stieß auch der Hund dazu. Am schlimmsten war Tykies dran, der Schneesturm fegte über die Felder, und er trug nur eine dünne Weste.
Wir liefen hinaus aufs dunkle Feld, wussten zum ersten Mal nicht weiter, und neben uns gingen die Kinder, sie hatten Vertrauen zu uns. Der Wind pfiff uns ins Gesicht, stechende Graupeln rieselten herab. Eine Stunde liefen wir über die Felder, wandten uns dann nach links, in den Schlag bei Maleniska, und drangen bei Podhorce tiefer in den Wald. Chuny Szaja entschied, dass wir den Weg auf Pasieki nehmen.
»Da kann man sich irgendwo in einen Heuschober wühlen«, sagte er. Der Marsch hat uns alle mächtig erschöpft. Mir kam, ich weiß nicht woher, das Märchen von der Waldgöttin in den Sinn. Es rauscht in den Wipfeln, ein Knarren in den Bäumen, und tief unten – grüne bewegte Stille, eine Biene fliegt emsig durchs Lungenkraut. Vögel sitzen in ihren Nestern. Die Birke blüht mit goldenen Kätzchen, und es ist grau und trüb, nur dass gelbe Blumen im schwarzen Wasser stehen. Bleibt ein Mann zur Nacht allein im Wald, erscheint ihm sogleich eine Eule. Sie zeigt sich in der Gestalt eines schönen Mädchens, das man lieben möchte ohne Wenn und Aber. Sie spricht mit ihm und schäkert – den Mund aber, den Mund verbirgt sie listig , eine Blume hält sie davor oder die Hand, damit nur keiner sieht, dass sie einen Schnabel hat. Wie verschlagen sie ist! Du schläfst ein im Wald – schon kommt sie im Traum. Es quält einen beim Marsch so mancherlei – Märchen, Trugbilder, Herzenserinnerungen. Wenn es schneit, erstickt im Wald jeder Laut. In jedem Gebüsch zeigt sich eine Gestalt oder das Häuschen einer Waldhexe.
»Bleibt beisammen, Kinder«, flüsterte Chuny.
Wir liefen noch immer durch den Wald. Leichter Schnee fiel. Über der Schlucht ein Steg. Auf dem Steg – niemand. Letzten Winter war Cirla hier gelaufen – sie dachte, da wäre jemand, ein durchsichtiger Schatten.
»Wer steht da im schwarzen Wald auf dem Steg?!«, rief sie.
Im Wald war es still und warm. Eine Birke duckte sich unter der Schneelast bis zum Boden. Raureif lag glitzernd auf dem Weg , der Wald verschwamm in bläulichem Dunst.
Die ganze Nacht war Cirla durch den Wald gelaufen, hatte ihr totes Kind im Arm gewiegt, ihm ein Märchen erzählt.
Aber was ist das, ein Märchen?
Ich hauste mit Tońka im Ofen der Ziegelei, auf Seńka. Wir lebten dort unbehelligt bis in den Herbst. Eines Nachts zog ich los, wie gewöhnlich, um was zu essen zu besorgen. Schwarz war die Nacht wie ein Stuteneuter. Nur am Waldrand ein spärliches Leuchten, ich hielt darauf zu. Als ich mich näher schlich, hörte ich drinnen in der Stube welche kichern und schimpfen, dann jaulte es auf und gleich ein Schrei, als hätte dort einer den Todesstoß erhalten. Ich spähte durch einen Spalt in der Gardine. Sitwa vor dem Spiegel, kämmte sich die Haare. An der Tür, geduckt, eine Jüdin, ein schwarzes Tuch über Kopf und Schulter geschlagen. Kurdiuk in der Mitte, Sitwa konnte ihn im Spiegel sehen. Auch ich sah ihn im Spiegel. Er näherte sich, hielt ihr einen Ring hin.
»Gefällt er dir?«
Stille, dann sie:
»Und wenn schon?«
»Na, den hab ich für dich mitgebracht.«
»Was soll ich mit dem Ring?« Sitwa lachte dumpf auf und säuberte den Kamm. »Unangenehm, davon auch nur zu sprechen«, sagte sie.
»Unangenehm?«
»Was willst du, weswegen bist du hier?«
»Ich wollte mit dir reden.«
»Na schön. Setz dich.« Sitwa flocht einen Zopf, drehte sich um.
»Ich will alles erzählen, wie sich’s gehört, von Anfang an, du sollst nicht denken, ich hätte die Ajznerowa nur wegen dem Ring umgebracht. Ich will’s dir erzählen, damit du weißt, was Sache ist. Als ich jetzt zu dir kam, hab ich die ganze Zeit überlegt, wie ich’s mir selbst erklären soll. Darum will ich nur über das Eine sprechen, du weißt schon . . . nicht über die Ajznerowa, über Bernstein, Silberg oder sonst was. Das ist vorbei, hier und jetzt geht es darum, was dabei herausspringt, für dich, für mich. Über den Mann will ich sprechen, der mir ans Leben will.«
Sitwa blickte mit ihren schönen schwarzen Augen zum Fenster: »Was hat der Hund? Er bellt nicht.«
»Dein Hund ist ’n stinkiger Kriecher.«
»Ach wo«, versetzte sie ärgerlich und starrte immerzu ins Fenster, als könnte sie im Gardinenspalt meine Augen sehen. Kurdiuk stand eine Weile reglos da, zog dann eine Pistole aus der Manteltasche, ich hörte, wie er durchlud. Es war Zeit, sich zu entfernen. Ich beschloss, weiterzugehen.
Szerucki erzählte mir über Sitwa lustige Dinge. Er wilderte gern. Einmal hatte ihn beim Raubschießen im Winter ein gewaltiger Schneesturm erwischt, und er kam zu Sitwa, um den Morgen abzuwarten. Da waren schon drei, Hilfspolizisten. Sitwa bewirtete sie mit Wodka, das Grammofon spielte. Die Kiberer wollten ihr an die Wäsche, sie saß in ihrem schmuddeligen roten Schlafrock, die Beine übereinander, zeigte ihnen französische Fotografien. Sie lachten und pfiffen, stampften vor Begeisterung , und sie sang mit versoffener Altstimme: »Heißa, hopsa, mach geschwind, sie hält den Hintern in den Wind!«
»Was ist das für ein Stratege?«, wollten sie von Sitwa wissen, als Szerucki mit der Hand über ihren bloßen Nacken fuhr.
»Auch nicht von schlechten Eltern«, sagte Sitwa. »Trinkt, Jungs!«, sprach sie ihnen zu.
Der am betrunkensten war, warf Szerucki einen Blick zu und schlich sich zur Tür. Er rückte das Koppel zurecht, griff nach dem Gewehr. Mit einem Satz war Szerucki bei ihm. Der Mann war sturzbesoffen. Szerucki verpasste ihm einen Kopfstoß. Da fiel der Kiberer um und brüllte, als wäre ihm der Buckel gebrochen. Szerucki sprang ihm ins Gesicht, traktierte ihn mit den Absätzen, schnappte sich das Gewehr, stieß mit der Schulter die Tür auf. Von der dunklen Diele aus schoss er auf den Liegenden. Vom Bord über der Tür fielen irgendwelche Schachteln, Papiere, Fläschchen. In seiner Aufregung schickte Szerucki noch drei Schüsse in die Stube, bis die Lampe zerborsten war, und stürzte ins Freie, auf das schwarze, froststarre Feld. Ja, ein Faulpelz war er nicht. Später sah ich ihn in der Forsthütte. Sein Hemd war aus der Hose gerutscht, er spaltete Holz mit einem stumpfen Keil, von der Anstrengung stand ihm Schweiß auf der Nase. Es galt, die eiskalte Stube zu heizen, denn Chuny Szaja hatte Cirla gebracht, die kurz vor der Niederkunft war.
Eine schäbige Nacht. Kurdiuk stürmte aus der Kate und begann zu schießen, in die Büsche, hinter denen ich stand. Er glaubte wohl, da hätte sich einer versteckt. Dann feuerte er eine rote Leuchtrakete ab. Ich duckte mich, wartete, rannte aus dem Gebüsch aufs freie Feld und lief, lief, müde, hungrig und ohne Hoffnung , in dieser Nacht noch etwas Essbares aufzutreiben. Vereinzelt zeigten sich Sterne am schwarzen Himmel, die Kälte wurde immer beißender, ich passierte gerade eine Weidengruppe am anderen Bachufer, da trat aus dem Dickicht jemand auf mich zu, eine Stimme störte die Stille, dumpf, wie aus einem Fass.
»Wer da? Bleib stehen, oder ich leg dich um!«
Ich fand nicht gleich die richtigen Worte, etwas gab mir den Satz ein: »Schon gut, alles in Ordnung.«
»Bist nicht von hier?«
»Kann man fast sagen«, erwiderte ich.
»Soll wohl heißen, du warst schon mal in der Gegend, ganz sicher bist du hier geboren.«
»So ungefähr«, sagte ich und fragte, als ich ihm ins Gesicht sehen konnte: »Chaim?«
»Ja.«
Chaim lernte ich im Herbst zweiundvierzig kennen. Wir saßen auf dem Dachboden bei Brandon in Szabasowa, plötzlich waren bei Kocjans Laden Schüsse zu hören, dann eiliges Fußgetrampel. Wir gingen zum Dachfenster, schauten hinaus. Die Wolken zogen tief, schwarz, mit hellen Fransen gesäumt. Ein Nieselregen fiel. Chaim schüttelte sich vor Kälte, als würde er am ganzen Körper Stiche spüren. Er schaute hin und sagte:
»Wie die Bienen, nur dass es heut regnerisch ist, aber sonst – wie die Bienen, wenn sie sich im Schwarm auf einen Ast setzen. Die armen Kinder, hocken eng aneinandergekauert auf der Straße vor der Kirche, im Regen. Eine Menge haben sie da zusammengetrieben, man sieht den Boden nicht mehr. Wie auf einem Ast, so drängeln sie sich, dicht an dicht.«
Chaim schaute mit gerunzelter Stirn nach draußen, rieb sich kräftig den Nacken. Man konnte es nicht sehen, aber unten am Haus pfiff einer, wie nach einem Hund, Schüsse krachten. Und diese Ukrainer mit den Waffen, und die Kinder im Regen, auf ihren Tod wartend, und das Wetter – unmenschlich alles, ein grauenhaftes Bild. Chaim trat von einem Bein aufs andere, zuckte krampfhaft die Schultern, löste sich dann vom Fenster und kam wieder zurück, schaute hin und schüttelte sich abermals am ganzen Körper.
»Ich muss würgen, weiß nicht, weshalb«, sagte er, »davon geht ein Geruch aus, als hätten sie dort Schafe zusammengetrieben.«
Die Straße war abgeriegelt, Lastwagen standen quer in den Zufahrten. An den Kotflügeln lehnten die Chauffeure, völlig durchnässt, schienen auf etwas zu warten. Die Hilfspolizisten trotteten in ihren Pelerinen umher, matten Herbstfliegen gleich, mit ihren dreckigen Stiefeln teilten sie Tritte aus, direkt auf die Kinderrücken. Chaim sank zu Boden. Ich half ihm auf die Beine.
»Hör zu«, sprach Chaim, »ich sag dir was. Diesen Kindern hatte man in der Schule ein Lied beigebracht. ›Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder . . . Rote Blätter fallen . . .‹ Und siehe da: Rot ist’s geworden.«
Während er sprach, begannen die Kinder auf der Straße zu wimmern, die Motoren jaulten auf Hochtouren, und immer dichter fielen Schüsse.
Chaim konnte seine Bestürzung nicht verbergen. Heute ist er schon anders, er hatte sich eine Waffe besorgt. Schon diesen Frühling , als wir durch die brennende Zamkowa rannten, war er verändert. Er hatte die Waffe – und Menschen, die er beschützen wollte. Hinter ihm liefen geduckt die Kinder, kauerten sich nieder und sprangen auf, er sammelte sie um sich, denn sie stoben auseinander, sobald irgendwo ein Feuer aufblühte – rasch, in einen Holzschuppen, in einen dunklen Winkel, wo man sich verkriechen konnte. Das Röcheln der Angeschossenen konnte ihn in seinem Tun nicht beirren.
Klara Wasicińska war da anderer Meinung. Sie erzählte mir, dass Chaim tagelang in einem Erdloch unter dem Pfarrschuppen hockte, nur nachts raffte er sich von seinem Strohlager auf, lief im Obstgarten auf und ab, um das Kreuz zu strecken, und ein leises Pferdeschnauben genügte, schon fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Wenn es nach ihr ginge, müsste jeder zu jeder Stunde, Tag und Nacht, sich schlagen, draufhauen, schießen. Ungeduldig , das Mädel. Ein Schatten unter der Diele, er lässt ihr keine Ruhe. Man sollte bedenken, dass Chaim bei dem ersten Pogrom in der Lwowska-Straße Schwiegervater und Mutter verlor, die ganze Nacht saß er bei seiner sterbenden Frau im Keller, erst im Morgengrauen, als er sich sicher war, dass sie nicht mehr lebte, deckte er die Tote mit einem Strohsack zu, schnappte sich den Kasten mit den chirurgischen Instrumenten, eine Flasche Rivanol, sprang mit einem Satz aus dem Keller und rannte blindlings los, über Schutt und Trümmer. Kaum spürte er wieder festen, ebenen Grund unter den Füßen, verlangsamte er den Schritt und zog sein Taschenmesser hervor.
In derselben Nacht drückte Aron Tykies seine Zigarette im Hausflur aus und packte ein Kind in Lumpen. Auch er tastete sich Balken für Balken durch die verkohlten Ruinen und stapfte dann über die schwarze Wiese in den Wald. Der Hund des toten Arnstein folgte ihm schnaubend auf dem Fuß.
Im Süden stand bläulich die mächtige Wand des Waldes. Tykies holte Chaim am Kahlschlag bei Huciska ein. Sie schlugen sich durch eine Kulisse, Espengehölz mit dichtem Unterholz, das Löcher in ihre Hosen riss, passierten dann den zweiten Streifen mit den vereinzelten Buchen, die man als Samenbäume belassen hatte. Es war schon heller Tag geworden, als sie den geschlossenen Altbestand erreichten. Hier war es still und warm. Weich brach dürres Holz unter ihren Füßen, wie in Watte. Der lockere, rötliche Grund war mit Reif bedeckt, der harsch wie berstende Glassplitter knirschte. Der Hund lief voraus. Hin und wieder blickte er sich um, trabte dann unermüdlich weiter, die Schnauze am Boden. Raschelnd fiel das Laub.
Tykies wollte sich setzen, ein wenig verschnaufen. »Bin ganz außer Puste«, sagte er zu Chaim. Dieser tastete das Kind ab, klopfte leicht da und dort, wollte anscheinend etwas prüfen – da zeigte sich am Rand der Schneise ein Trupp Menschen. Sie warteten ab, bis die Leute nicht mehr zu sehen waren. Schritten noch eiliger aus und hielten Ausschau nach dem Feind. Etwas weiter im Wald floss ein Bach, der Weg führte hier nach rechts, am Haus des Parzellanten. Sie stiegen über den Zaun, die Stachelbeeren, setzten über das Wasser. Hinter einem Gebüsch saß Wąskopyski. Er stand auf, kam auf sie zu.
»Guten Tag«, sagte er, »ihr braucht keine Angst haben.«
Und so ging das Gespräch:
»Was bist du für einer?« Er deutete mit dem Finger auf Tykies.
»Und selber?«, fragte Chaim zurück.
»Du sollst gleich erfahren, wer ich bin. Ich halte die Ordnung hier im Wald. Die Burschen von der jüdischen Polizei, die knallen wir ab, kapiert? Dich kenn ich, und der, was ist das für ’n Vogel?« Er zeigte wieder auf Tykies, der ihn misstrauisch beäugte.
»Ein Tischler, Tykies heißt er. Was kann man dazu noch sagen? Du siehst wohl, der Mann ist nie und nimmer Polizist.«
»Nun sagt mir: wo wollt ihr hin? Jetzt, wo wir uns kennen, da will ich auch erfahren, wo ihr hinwollt. Der Tischler kann gehen, wohin es ihm beliebt. Und du bist Arzt, stimmt’s? So, dann kommst du mit. Ich will dir ein Mädchen zeigen, die hat was am Bein, geschwollen ist es wie ’ne Gießkanne. Blutegel setzt du ihr oder sonst was, wirst schon wissen. Das Mädel ist vom Fieber ganz ausgedörrt und so von Kräften, dass sie nicht mehr spricht.«
»Freut mich, dass ich helfen kann«, sagte Chaim, »ich will meine Pflicht tun.«
»Red nicht so schlau daher: Pflicht. Da, im Schuppen, schau zuerst nach der Kranken, nachher werden wir über die Pflicht sprechen.«
Chaim folgte ihm über den Hof. Aus dem Fenster der Kate sah ihnen eine Weile eine alte Frau zu, gab Tykies mit der Hand ein Zeichen. Wąskopyski trat auf die Tenne und rief:
»Tońka!«
»Was ist?«
»Einen Arzt hab ich dir gebracht, gut so?«
»Ach, Herr Doktor, dieses Leiden, ganz übel hat’s mich erwischt. Was glauben Sie? Blutvergiftung?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte Chaim, »so dunkel, wie es hier ist. Hatte jemand auf Sie geschossen? Wie lange ist das her? Schaffen Sie’s nach unten, in die Kate?«
Wąskopyski nahm Tońka auf die Arme und trug sie hinüber in die Stube. Chaim hinterher, er warf die Mütze auf den Tisch und bat um Wasser. Beim Trinken schaute er zu Tońka. Blickte prüfend in ihre tief liegenden schwarzen Augen, musterte ihr blasses, hohlwangiges Gesicht, ihre verdreckten roten Haare über der weißen Stirn.
»Nie rührt das Vergehen der Zeit so innig wie an einem heiteren Sommertag«, murmelte Tońka im Fieber.
»Wir haben schon späten Herbst, wissen Sie? Die Kugel hat den Knochen verletzt«, stellte Chaim fest. »Nichts zu machen, ich kann Ihnen unter diesen Umständen nicht helfen. Wir werden das Herz überwachen, mehr nicht.«
»Ach was, das Herz überwachen, ’ne Spritze vielleicht, du verstehst wohl, worum es geht.« Wąskopyski lehnte sich an die Wand und zeigte auf mich: »Du da, steig aufs Pferd. Und du, schreib ihm auf, was er kaufen soll. Tońka hat mal bei Sitwa fünf goldene Dollar gelassen, keine Sorge, das Luder wird den Mund schon halten, kannst Gift darauf nehmen.«
Chaim schrieb das Rezept. Ich schwang mich auf Znajdas Stute und ritt los.
Damals, als ich unser Versteck in der Ziegelei verließ, flüsterte Tońka mir ins Ohr: »Pass auf dich auf.« Bedrückt schleppte ich mich durch die Nacht, der Wind blies mir ins Gesicht, und ich dachte bei mir: Mit meinem Mädchen steht es nicht zum Besten.
Ich schlich mich in eine Kate, man weiß ja, wie es ist. Du schleichst dich ein, alles dunkel, man muss sich vortasten, sich nach dem Gehör richten, noch mehr nach dem Geruch. Ich stand in der Diele, aus der Stube kam ein Schnarchen, es roch nach Sauerkraut, nach Pferdegeschirr, nach gedämpften Kartoffeln, mit Buchweizenspreu vermengt. Unter dem Sack auf der Handmühle konnte ich einen Brotlaib ertasten. Ich nahm ihn mit.
»Wer ist da?«, hörte ich auf einmal, und ein Streifen grünes Licht drang zu mir herüber. Da war ich schon im Obstgarten, setzte über den Zaun und rannte die Anhöhe hinab, immer nur hinab.
Chaim war währenddessen zu Cirla gegangen, sie zu entbinden. Ich traf ihn dort noch an, als ich im Morgengrauen in die Forsthütte kam, ich hatte den Weg verloren. Erst bei Tagesanbruch war ich wieder in der Ziegelei. Von Tońka keine Spur. Auf ihrem Lager fand ich ihren Hausschlüssel – mein teuerstes Andenken.
Ein Jahr ist es nun her, und die Erinnerung an Tońka verfolgt mich Tag und Nacht, ich komme nicht los davon. So viele schreckliche Dinge habe ich später erlebt, trotzdem vergeht keine Stunde, in der mir nicht ihre Gestalt vor Augen steht, überall sehe ich sie. Es ist nicht bewiesen, dass sie nicht mehr lebt. Ich weiß aber, was es heißt, zwei Jahre bei Wind und Wetter auf blanker Erde zu liegen, bei lebendigem Leib von Läusen aufgefressen. Da muss man doch einen Knall kriegen!
Als die Schupos auf Motorrädern in Szabasowa einrückten, lief Gabbe Gudeł gerade von Haus zu Haus, klopfte mit dem Stock zum scheidenden Pessachfest. Sie kreisten ihn ein, und der Größte schlug ihm mit dem Gummiknüppel an die Schläfe. Vor der Synagoge war schon eine Grube mit Kalk gefüllt, und Gudeł musste hineinsteigen, dann trieben sie die Jungen aus Mechutens Chejder zusammen und befahlen ihnen, den halb Bewusstlosen wieder zur Besinnung zu bringen. Die Jungen, mit der Peitsche zur Eile gehetzt, holten Wasser und schütteten es auf den Gabbe, der fast erstickt war in der Kalkgrube.
Wieder zu sich gekommen, streckte er immer wieder die Hände aus, krallte die Finger in die lockere Erde am Rand der Grube.
Sie ließen Schammes Buchsbaum im liturgischen Gewand holen. Zwei Hilfspolizisten brachten ihn her. Der Offizier klopfte dem Synagogendiener auf die Schulter und befahl ihm, über der Grube aus der Ethik vorzulesen. Dieser, bis ins Mark erschüttert und von Scham erfüllt über das Verbrechen, begann mit bleichen Lippen, die deutlich von seinem rötlichen Bart abstachen, unverständliche Worte zu stammeln, durchtränkt von Trauer und Tod.
Ein heißer Tag im Sommer.
»Hahaha!«, johlte die Polizistenmeute.
Die Jungen holten Wasser von der Pumpe. Gabbe Gudeł griff mit den Fingern nach dem Rand der Grube, die Jarmulke flog ihm vom Kopf. Plötzlich wurde Buchsbaum in den Nacken gestoßen und fiel hinein. Der Lange deklamierte mit den Händen in den Hüften: »Der lieben Sonne Licht und Pracht in seiner Allmacht hat uns Gott gebracht, er hörte unser Weinen.«
Das war ein böses Zeichen.
Seither ging Gudeł wie von Sinnen durch die Welt, er lief durch die Gassen von Szabasowa, redete wirr in die Luft, und die zerzausten Pejes standen ihm vom Kopf, wie bei einer treibenden Wasserleiche. Den ganzen Winter ließen ihn die deutschen Gendarmen gewähren, machten Fotos, zeigten ihn ausländischen Journalisten, die auf dem Weg an die Ostfront hier Station machten.
Gabbe Gudeł stellte sich gewöhnlich vor das Tor des jüdischen Waisenhauses, schaute immerzu unter seine Achsel, wo Stroh steckte, hielt die rechte Hand mit der zerknüllten Jarmulke vor sich hin und sprach zu den hungrigen Kindern:
». . . Und das Schweigen der Stadt? Wer von euch kennt es – das Schweigen der Stadt? Der Schornstein, das ist die schweigende Stadt. Der Rauch, ja, das kann der Klang einer lebendigen Stadt sein, eine schweigende Stadt aber, sie ist ohne Rauch, da ist kein roter Schimmer am Himmel, kein ewiges Licht in den Gottestempeln, kein Wort . . .«
Die Kinder, in Lumpen gehüllt, hielten sich in seiner Nähe, schauten ihm bei seinem Monolog auf die Lippen, und immer wenn Gabbe Gudeł sich unter die Achseln griff, hofften sie, er hätte dort etwas zu essen und würde es gleich verteilen. Ach, ihr schmächtigen, lieben Wunder!
Und eine Meute von Spitzeln schlenderte Tag und Nacht durch die Gassen, bald hierhin, bald dorthin, von einem unsichtbaren Chef dirigiert, der die Beute in den Koffer raffte: Gold, Perlen, Pfeffer, goldbestickte Tallit.
Auf der Landstraße bei Szabasowa marschierte die deutsche Infanterie auf Kiew, Panzer und Artillerie rollten in breiter Phalanx über den Asphalt, Kradfahrer rasten die Kolonnen entlang , schnelle Funkwagen, Schlauchboote, Sankas, Trosse, Feldgendarmen, Abwehrspezialisten und Provokateure, Blitzmädchen von den Marschkompanien und Ersatzbataillonen. Ein endloser Zug. Unaufhörlich rückte auf Gleisen Nachschub heran: Munition, schwere Geschütze, Pferde und weißlackierte Schlitten.
Am Abend sagte Cirla zu Chuny Szaja, als sie die Kerze anzündete: »Versteck dich. Sie kommen.«
Er hatte gerade noch Zeit, die Tür hinter sich zuzuschlagen und in den Obstgarten zu springen.
Die Gendarmen traten in Nudels Stube, bahnten sich mit Kniestößen den Weg durch die Schar der Kinder, schleiften ihn vor die Gartenpforte und erschossen ihn. Durchs Fenster konnte man sehen, wie Nudel kurz stehenblieb, dann fuhr er mit der Hand ruckartig an sein Ohr, rief etwas und fiel zu Boden, für immer.
»Eine verfluchte Zeit ist gekommen«, sagte Szerucka.
Rauch stand in der Luft, die Stadtmitte brannte.
Schammes Buchsbaum fastete, verfiel zusehends vor Kummer, und als Cirla ihm abends einen Kartoffelpuffer reichte, hielt er den Fladen in der Hand, traute sich nicht, auch nur ein Stück abzubeißen, gab ihn schließlich dem jüngsten Enkel ab. Überall wurden Männer aufgegriffen. Hungrig , verdreckt, kaum auf den Beinen sich haltend, wurden sie in den Steinbruch getrieben, zum Ausbau des Bahnhofs, oder man erschoss sie am Waldrand. Die Herzen der Menschen in Szabasowa standen plötzlich still oder rasten und hämmerten wie verrückt. Im Osten dröhnte die Artillerie, die Erde bebte. Szerucka wurde auf dem Ring verprügelt, weil sie ein jüdisches Kind in Schutz nehmen wollte.
»Sicher, Weib, du hast es gut gemeint. Siehste, das hast du jetzt davon«, sagte der ukrainische Polizist zu ihr.
Und das Kind blieb auf dem Pflaster liegen, ohne Gnadenschuss. Zwei leblose Beine auf einem Stück Pappe, die weitaufgerissenen Augen blickten in die milde Sommernacht, die von den Schreien vergewaltigter Mädchen zerschnitten wurde.
»Heiliger Jesus«, stöhnte der alte Tombak, während er durch die Gassen strich und Kippen der Deutschen auflas. Hungrig wieherte das Pferd im Stall, niemand mehr ließ sich vom Bahnhof kutschieren. In der Dämmerung liefen Menschen mit gesenkten Köpfen durch die Straßen, den Blick auf den Boden geheftet.
In der Arbeitervorstadt knatterte abends eine Schießerei los, am Himmel funkelten Leuchtraketen.
Tombak seufzte tief, steckte sich eine Zigarette an, er wollte Josie noch den kürzesten Weg nach Sewarynka zeigen, da ging der Regen nieder, dicht und eintönig , und es war nicht abzusehen, wann er aufhören würde.
Sie suchten Schutz unter dem Dach der zerschlagenen Bretterbude. Die Pferde, nass vom Regen, den Schweif gestreckt, stierten die leere Gasse hinunter. Es wurde dunkel. Gleich nach dem Militärtransport kam ein Zug , Gendarmen stiegen aus, dann noch drei Männer in Zivil und ein Mädchen mit einem Schoßhund unterm Arm. Tombak sah sie später in der Kolejowa-Straße, in der Złota und der Zamkowa.
»Was stehst du hier rum?«, fragten sie.
»Bin Fiaker.«
»So? Pole oder Jude?«
»Pole.«
Sie wollten zum reichsten Juden von Szabasowa.
»Und der Kumpel von dir, wohl Jude?«, fragten sie. »Was zittert er denn so?«
»Ist alter Mann.«
»Du etwa nicht? Hol dich der Henker!«
Josie Propst hatte den Kopf in den Kragen geduckt. Sie rissen ein Zündholz an, dann trat der eine in der Sportjacke Josie in den Bauch und ließ sich nach dem Kahal fahren. In väterlichem Ton setzte er hinzu:
»Du könntest dir mal ’ne Decke zulegen fürs Pferd, das hat ja bald kein Mark mehr in den Knochen, so wird das nie was – ich sag’s im Guten.«
Aus dem Haufen Menschen hatte sich noch einer gelöst, er holte Josie ein, setzte sich in die Droschke. Eine Taschenlampe begleitete sie vom Gehweg aus recht weit durch das Dunkel.
»Wir warten noch auf Bulc, dann kann’s losgehen. Kennst du den Bernhaut?«, fragten sie Tombak.
»Schon.«
»Zu Bernhaut also«, sagte Bulc beim Einsteigen in die Droschke.
»Ich hab’s gleich gewusst«, erzählte Bulc, »wir müssen sie in den Kellern suchen, die ganze Nacht. Für eine Sekunde tauchen Judengesichter aus dem Dunkel, du knipst die Taschenlampe aus, dann geht das Gefummel los. Ich lass nichts aus den Augen, nicht die kleinste Bewegung. Die haben sich in den Kellern Verstecke gegraben, und es kommt darauf an, dass man sie auf dem Weg dorthin schnappt. Da hat man gleich zwei Dinge erledigt.«
Plötzlich hörten sie:
»Halt!«
»Kripo!«, brüllten sie zurück.
Die Gendarmen warfen die Gewehre wieder über die Schultern und zogen davon.
Sie hatten an die Tür geklopft.
»Was ist?«, fragte Bernhaut.
»Aufmachen!«
»Jesus Maria!«, schrie Turyca aus dem Dunkel, sie starb fast vor Bestürzung , drohte zu ersticken:
»Die Kinder! Nicht auf die Kinder schießen! Ihr seid selber Väter!«
Bernhaut rief nach jemandem mit lauter Stimme. Da kam ein Mann herzu, mit einem Gesicht wie ein Kürbis, und trat ihm in die Seite, dass es hallte.
»Was schreist du so, du Scheißer?«
Bernhaut wollte ihm zur Antwort einen Faustschlag versetzen, da war das Kürbisgesicht schon auf der Schwelle, feuerte aus seiner MP eine Garbe in Bernhauts Richtung. Er zielte auf die Brust, traf aber nicht, zu dunkel. Bernhaut hielt noch immer eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, rauchte. Die Frau kam zu ihm in die Diele, im bloßen Hemd, stämmig war sie, von kräftiger Statur. Sie betastete prüfend ihren Mann, warm fühlte er sich an, nur sein Atem ging , als würde er einen Eisenklotz auf den Dachboden hieven.
Die dickliche Hand mit der Flasche blieb wieder reglos über den Gläsern hängen.
»Pass auf, Tombak . . . weniger fragen, nicht gleich die Ohren spitzen. Alles gründlich bedacht. Der Brillant vom Bernstein, der ist noch in Szabasowa. Niemand hat ihn bis jetzt aus der Stadt geschafft. Dass es im Bethaus bei den Juden Verstecke gibt – das ist uns bekannt. Nur, einen Brillanten kannst du sonst wo verstecken, in einem hohlen Zahn etwa, in der Nase, im Darm. Stimmt’s?«
Tombak schien nicht zu hören, wollte nicht, dass das blöde Geschwätz versiegte; er schmatzte und saugte an seinem Schnurrbart, lief immer wieder rot an, öffnete dann die wattierte Weste über der breiten Brust. Der Spitzel zog eine neue Flasche Wodka aus der Tasche seines Wachstuchmantels, er schenkte ein, stopfte sich große, gelbliche Stücke ranzigen Specks in den Mund, das Brot ließ er weg.
»Oder?«
»Was denn . . . oder?«
»Du weißt doch, wo Bernstein steckt.«
Tombak hatte Mühe, den Abscheu zu verbergen, den dieser grässliche, vertierte Mensch in ihm erregte.
»Keine Lust«, gab er zur Antwort, als man zu guter Letzt zu der Sache etwas sagen musste.
»Na?«
»Nichts ›na‹, sonst trifft dich noch der Schlag!«
Mit eingezogenen Schultern ging er nachsehen, ob die Decke über dem Pferderücken noch da war. Zurück in der Stube, setzte er sich auf seinen alten Platz, kramte die »Krakauer Zeitung« aus der Tasche, schob sie an die Kerze. »Feuer legen . . . dem Hurensohn an die Augen«, kam ihm in den Sinn.
Auf einmal knarrte die Tür in der Diele, ein vorsichtiges Quietschen in der Küche, und draußen, hinter dem schwarzen Fenster, stand die Nacht, zäh und undurchdringlich wie die Ewigkeit. Tombak ging vors Haus, nahm dem Pferd den Futtersack vom Maul.
»Gut, dass Sie gewartet haben.« Ein Mädchen trat an die Droschke. In dem Lichtstreifen, der vom Fenster fiel, war zu sehen, wie sie ihre Baskenmütze abnahm und das Schulabzeichen entfernte. »Die haben meinen Vater getötet.«
»Oh Gott!«
»Sie bringen mich in den Speckbetrieb, ich will nach der Leiche suchen.«
Bulc und Ciszka traten aus der Wache. Schulter an Schulter, stumm.
»Hier«, flüsterte Bulc. »Kommt näher! Was suchen Sie hier, junge Frau? Ciszka, leuchte mal her.«
»Wie?«
»Rózia.«
»Und weiter?«
»Arnstein.«
»Sie kommen mit«, sagte Bulc.
Tombak hörte ihr Herz schlagen, schlich sich von hinten leise heran, schob ihr einen Axialschlüssel in die Hand. Sie holte aus, als wäre ihr die ganze Wucht ihrer Verzweiflung in den Arm gefahren. Bulc flog gegen die Wand. Ciszka bekam sie zu fassen, dabei fiel ihr der Mantel von den Schultern, sie riss sich los und rannte davon. Man hörte, wie sie vom Beton auf die Wiese hinuntersprang.
Später kam sie in der Nacht zur alten Szerucka. Unbändig regte sich in ihr die Sorge, Szerucki würde den Krieg nicht überleben. Sie legte ihren Wuschelkopf in den Schoss der Alten und schlief ein, aus dem Mund floss ihr der Speichel, wie der Saft einer aufgeschnittenen Frucht.
»Rauf aufn Bock!«, donnerte Ciszka und machte eine ausladende Geste. »Nach der Kolejowa.«
Nur wenige wussten, dass Tombak, wenn es darauf ankam, sich auch zahm geben konnte. Ein gerissener Mann, verschlossen, aalglatt. Der Kopf wimmelt von gehässigen Gedanken. Er verstand es zu trinken, ohne die Besinnung zu verlieren, das Auge scharf, das Ohr spitz – wusste alles, über alle!
Er ballte die trockene Hand und trieb das Pferd an. Ciszka, knotig , kahl, winzig von Wuchs, wie ohne Lunge in der flachen Brust, rauchte mit kräftigen Zügen, lehnte sich geschickt vornüber, um zu sehen, ob Tombak richtig fuhr.
»Ein verkommenes Subjekt bist du, Tombak.«
»Was willst du?«
»Der Landkommissar braucht den Brillanten. Springt auch für dich was raus, du musst dich nur etwas umtun wegen der Sache. Fahr mich jetzt in die Jurydyka-Straße.«
Sie kamen in das Schlafzimmer der Arnsteinowa. Auf den Fensterbrettern standen Topfblumen. Arnsteinowa öffnete den Schrank, an der Tür hingen Krawatten. Ciszka befühlte alles sachverständig. Sie hoben den Deckel des Flügels hoch: Arnsteins letzter Brief lag dort. Das Cello und das Radio hatten sie gleich mitgenommen.
Die Nacht ging zur Neige; nur einmal hatte eine Maschinenpistole in der Nowa geknattert. Kein Stern am Himmel. Nicht mal ein Funke war über der schwarzen Stadt zu sehen. Nur bei der Kripo brannte Licht auf der Wache.
Es ist keine Freude, in dunkler Herbstnacht draußen zu stehen. Man hörte einen Menschen schreien. Die traktieren seinen Rücken mit Füßen.
Bulc saß hinten, die Pistole auf den Knien. Das Pferd hob hin und wieder das lahme Bein, das Hufeisen klirrte.
»Du katholisch? Den Teufel bist du katholisch! Du Schabbesgoi!«
»Jeeesus!«, brüllte der Geprügelte.
»Du spuckst mir gleich den Jesus aus!«
Kein Stern am Himmel. Wąskopyskis Mutter trat näher heran, lauschte. Ihr Sohn war es, den sie prügelten. Gebeugt befühlte sie mit der Hand die dreckige Schwelle, feine Kieselsteine mit Matsch vermengt. Dann klopfte sie an die Tür.
»Mach, dass du wegkommst, Frau, oder du kriegst ’ne Kugel verpasst. Du störst bei der Ermittlung. Sind wir hier fertig , wirst du deinen Sohn sehen. Die Augen werden wir dem nicht ausschlagen. Na, pack dich von der Tür.«
»Mach auf, Ciszka. Du bist ihr Büttel. Hast wohl Angst zu öffnen?«
»Du sollst hier nicht an der Tür rumlungern. Bringt nichts.«
»Wieso machst du nicht auf? Ich will meinen Sohn sehen und hab mit dem Deutschen zu sprechen.«
»Ist nichts für Weiber. Ein Fall für die Kripo. Verstanden?«
»Mach auf!«, schrie sie und schlug mit der Faust gegen die Tür.
Tombak rieb sich die Nase, hörte noch, wie Bulc die Frau von der Treppe stieß. Sie zappelte kurz am Zaun, sackte wieder zusammen.
Bulc kam erneut zur Droschke, schnaufte.
»Na, Tombak, wie geht’s?«
»Kann nicht klagen. Es zieht ein wenig , ich spür’s im Kreuz.«
»Ja, ich spür’s auch, dass es zieht. Was glaubst du, weiß der was von Bernstein und dem Brillanten?«
»Mein Gott. Wer weiß das schon?«
»Wie?«
»Wer kann das schon wissen!«
»Tu nicht so blöd, du Trottel! Du kriegst gleich heute die Fresse poliert, das kann für dich arg werden.«
Tombak schwieg , presste die Fäuste zusammen, dass die Handflächen feucht wurden.
»Wąskopyski . . . Wer ist der Mann?«
»Aus einer armen Familie. Lastenträger.«
»Was weißt du über ihn?«