Der Schwarze Dienstag - Christoph von Marschall - E-Book

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Christoph von Marschall

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Beschreibung

Ein furchtbares Szenario: Russland fühlt sich 2028 mächtig genug, Litauen anzugreifen, und deutsche Soldaten stecken mittendrin. Durchaus plausibel, meint der Journalist und Osteuropa-Historiker von Marschall, aber: Ein drohender Krieg lässt sich verhindern. Das tiefschwarze Szenario wird zum Sinnbild dafür, warum die Deutschen mit ihren Erwartungen so oft falsch lagen, Gefahren nicht kommen sehen wollten und behäbig wurden. Dabei bleibt von Marschall eher optimistisch und befindet: Deutschland kann Krise, wenn es will.

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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christoph von Marschall

DER SCHWARZE DIENSTAG

Warum ein Krieg mit Russland drohtund wie die Bundesregierung ihn verhindern kann

Für Zofia

in Dankbarkeit, dass sie alle Abenteuer,

Herausforderungen und Freuden

des Lebens im In- und Ausland

seit mehr als 40 Jahren mit mir teilt.

INHALT

Vorwort

Schrecken und Mut

Olaf „Chamberlain“ Scholz

Warum 2028 ein Krieg mit Russland droht

Deutschland fällt zurück

Die Wirtschaft stagniert seit Jahren

Im Blindflug

Was wir nicht haben kommen sehen

Zwölf deutsche Legenden

Warum wir es nicht kommen sehen wollten

Die Megakrise hinter den Großkrisen

Zerfall der regelbasierten Ordnung: Deutschland verliert seine Erfolgsbasis

Deutschland kann Krise, wenn es will

Gute Gründe für Zuversicht

Mentale Zeitenwende

Sieben Lösungsansätze für die Krise

Dank

VORWORT – SCHRECKEN UND MUT

Dieses Buch will wachrütteln. Und Mut machen. Es beginnt deshalb mit einem Schreckensszenario.

Die Deutschen stehen vor einer schicksalhaften Weggabelung. Entweder machen sie so weiter wie in den Regierungsjahren von Angela Merkel und Olaf Scholz. Sie leisten sich den Luxus, so zu tun, als müssten sie nicht groß darauf achten, was um sie herum vor sich geht. Sie richten ihr Verhalten mehr danach, wie die Welt nach ihren Vorstellungen sein sollte, und weniger danach, wie sie tatsächlich ist.

Wenn sie diesen Weg wählen, wird sich der Abstieg der deutschen Wirtschaft weiter fortsetzen und werden die Mittel fehlen, um den Wohlstand und den Sozialstaat, wie wir ihn bisher kannten, zu finanzieren und für künftige Generationen zu sichern. Zudem werden wir uns mit hoher Wahrscheinlichkeit in wenigen Jahren in einem direkten Krieg mit Russland befinden, ohne mental und militärisch auf diesen Konflikt vorbereitet zu sein.

Oder die Deutschen öffnen ihre Augen und Gedanken dafür, wie die internationalen Koordinaten sich zum Nachteil ihres bisherigen Erfolgsmodells verschieben. In den Jahren nach dem Mauerfall und der Wiedererlangung der deutschen Einheit mochte es so scheinen, als habe sich das liberale Modell des Westens und seiner regelbasierten Ordnung durchgesetzt. Doch der Einfluss des Westens auf die Geopolitik und die Weltwirtschaft sinkt inzwischen kontinuierlich. Autoritäre Staaten gewinnen an Macht. Die Konflikte nehmen zu und werden härter. Darunter leidet die Bundesrepublik Deutschland ganz besonders. Ihr Erfolg und ihr Aufstieg zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Erde hinter den USA und China verdankt sich der regelbasierten Ordnung.

Diese Veränderungen sind seit Jahren zu beobachten. Die deutsche Politik und Gesellschaft nimmt sie jedoch nicht ernst genug und passt sich, soweit sie es überhaupt tut, nicht rasch genug an die veränderten geostrategischen und geoökonomischen Bedingungen an. Sie nimmt sich Zeit, die sie nicht hat.

Dieses Buch möchte dazu ermuntern, es besser zu machen. Und Hilfestellung leisten, damit es auch tatsächlich geschieht und die neue Bundesregierung, die aus der Wahl am 23. Februar 2025 hervorgegangen ist, sich daran macht, die Versäumnisse aufzuholen. Deshalb schildere ich zunächst schonungslos, wie nahe am Abgrund Deutschland mittlerweile steht. Weshalb die Gefahr eines Kriegs in Litauen so groß ist, wo die Bundeswehr die Schutztruppe der Nato führt. Warum das Risiko für Wladimir Putin, wenn er die Kriegstüchtigkeit der Nato und speziell der Deutschen dort auf die Probe stellt, gering ist. Und warum die Entgegnung „Aber er wird sich doch nicht mit der Nato anlegen!“ kein Ausdruck von Vernunft und Besonnenheit ist, sondern von Blindheit.

Ich fahre fort mit einer ebenso schonungslosen Beschreibung der tiefen Krise der deutschen Wirtschaft; sie ist keine konjunkturelle, sondern eine strukturelle Krise. Und mit den politischen Fehlern und Illusionen, die sie begünstigt haben. Denn ein ungetrübter Blick auf die Ursachen des Abstiegs ist die Voraussetzung dafür, dass Politik und Gesellschaft die Voraussetzungen für die Wende zu einem erneuten Aufschwung schaffen.

Persönlich bin ich fest überzeugt, dass beides gelingen kann: den drohenden Krieg abzuwenden und die Wirtschaft zurück auf Erfolgskurs zu bringen. Dafür braucht es freilich eine mentale Zeitenwende einer ganzen Gesellschaft – oder zumindest einer hinreichenden Mehrheit in der Gesellschaft.

Damit tun sich die Deutschen bisher schwer – nach meiner Beobachtung schwerer als ihre Nachbarn und Partner in der Europäischen Union. Sie pflegen recht eigenwillige Vorstellungen und Glaubenssätze, mit denen sie die politischen Vorgänge im In- und Ausland zu deuten versuchen. Viele davon beruhen aus meiner Sicht eher auf Legenden oder gar Lebenslügen als auf der Realität. Diese speziellen Sichtweisen, die in Diskrepanz zu den Wahrnehmungen anderer Europäer stehen, haben mit der deutschen Geschichte und unserem speziell deutschen Erleben dieser Geschichte zu tun. Wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, wenn wir einen klaren und nüchternen Blick auf die internationalen Herausforderungen gewinnen wollen.

Mut machen und Lösungsansätze

Und wo bleibt da das Positive? Das versprochene Mut-Machen?

Deutschland kann Krise, wenn es will. Ich begründe diese hoffnungsvolle Sicht in einem weiteren Kapitel mit praktischen Beispielen und beschreibe im Abschlusskapitel Lösungsansätze.

Ursprünglich sollte dieses Buch Ende August 2025 erscheinen, im Schlussspurt vor der Bundestagswahl, die damals für den 28. September geplant war. Doch dann brach die Regierungskoalition auseinander. Der auf Februar vorgezogene Wahltermin ließ es ratsam erscheinen, auch die Pläne für die Publikation dieses Buchs zu beschleunigen und einen Erscheinungstermin im Frühjahr 2025 anzupeilen. Dieser „Stresstest“ wirkt wie eine Parabel im Kleinen für die großen Herausforderungen, vor denen Deutschland steht: auf veränderte Rahmenbedingungen rasch und entschlossen zu reagieren.

Der Faktor Zeit ist zu einer Schicksalsfrage für Deutschland geworden. Die neue Bundesregierung kann nicht früh genug mit dem Aufbau einer glaubwürdigen Abschreckung beginnen, wenn sie den drohenden Krieg in Litauen verhindern will. Auch die Korrektur der Wirtschaftspolitik duldet keinen Aufschub, wenn Deutschland nicht weitere Jahre ökonomisch auf der Stelle treten möchte.

Washington, Mitte Februar 2025

Christoph von Marschall

OLAF „CHAMBERLAIN“ SCHOLZ

Warum 2028 ein Krieg mit Russland droht

Dienstag, 3. November 2028: Wahltag in den USA. Es ist ein sonniger Spätherbsttag in Washington mit blauem Himmel, kaum Wolken – so wie vier Jahre zuvor, als die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten Donald Trump zum Präsidenten gewählt hatten. Damals waren viele Menschen in den USA und noch viel mehr in Deutschland über das klare Votum für Trump überrascht. Nun, vier Jahre später, sind sie hier wie dort nicht darauf vorbereitet, was Wladimir Putin seit Monaten, wenn nicht Jahren für diesen Tag plant: den Befehl an seine Truppen, in Litauen einzumarschieren. So wie er auf die Welt blickt, stehen die Chancen gut, dass er alle drei baltischen Staaten – Estland, Lettland, Litauen – binnen kurzem wieder unter russische Kontrolle bringen wird.

Litauen bietet sich als erstes Angriffsziel aus mehreren Gründen an. Deutschland hat dort den Oberbefehl über die Nato-Schutztruppe, aus Putins Sicht das schwache Glied in der europäischen Sicherheitspolitik. Die Nato-Schutztruppe mit der Litauen-Brigade der Bundeswehr als ihrem Kern besteht aus nur wenigen tausend Soldaten. Kann das reichen, um die Russen aufzuhalten? Zudem ist die Bundeswehr sechseinhalb Jahre nach Russlands Angriff auf die Ukraine immer noch nicht kriegstüchtig. Ihre Munitionsvorräte reichen für ein paar Tage, nicht für Wochen, Monate oder gar Jahre. Auch die mentale Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, Verbündete zu verteidigen, wie es der Nato-Vertrag verlangt, schätzt Putin nicht sehr hoch ein. Das hat Folgen. Die Bundeswehr ist schließlich eine Parlamentsarmee. Ohne Rückendeckung der Volksvertreter darf sie gar nichts.

Putin hat generell wenig Respekt vor europäischen Streitkräften. Die EU verfügt zwar über eine sieben Mal so große Wirtschaftskraft wie Russland. Aber die entscheidenden EU-Staaten zeigen eine in Putins Augen absonderliche Scheu, ihre Ressourcen in militärische Ausrüstung zu investieren. Wenn er einen Gegner fürchten muss, dann die US-Streitkräfte. Doch Donald Trump hat wiederholt Zweifel gesät, ob die USA in seiner Präsidentschaft Verbündeten zu Hilfe kommen. Die Alliierten sollen militärisch erst mal selbst für sich sorgen, dann vielleicht.

Erst kommt die Selbsthilfe, dann die Bündniszusage: Das ist übrigens auch die Reihenfolge und Logik im Nato-Vertrag. Erst nach dem Artikel 3 zur „Selbsthilfe“ folgt Artikel 5, demzufolge „ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie angesehen werden wird“. In Artikel 3 verpflichten sich die Mitglieder, „einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe“ zu erhalten und fortzuentwickeln.

Die im deutschen Sprachgebrauch gern benutzte Formulierung „Beistandsgarantie“ weckt zudem Erwartungen, die weit über das hinaus gehen, was der Nato-Vertrag an Zusicherungen enthält. Selbst wenn der Bündnisfall festgestellt wird, folgt daraus nicht zwingend, dass die Alliierten Truppen in ausreichender Zahl schicken, um den Angriff abzuwehren. Jedes Mitglied kann für sich entscheiden, in welcher Form es Beistand leistet und in welcher nicht. „Garantiert“ ist da nichts.

Selbst wenn Putin sich in der Frage verkalkuliert, ob Trump Litauen zu Hilfe kommt, ist es für ihn einen Versuch wert. Der Praxistest der Bündnistreue in der Nato ist aus seiner Sicht nahezu risikofrei. Sollten die Nato-Partner sich wider Erwarten zu einer für ihn gefährlichen Gegenwehr entschlossen zeigen, kann er sich jederzeit konziliant und kompromissbereit geben und behaupten, es sei ihm nur um den Schutz der russischen Minderheit in Litauen gegangen. Deshalb habe er seine Soldaten in Marsch gesetzt. Man könne verhandeln, welche Teile Litauens unter russischer Kontrolle verbleiben sollen und auf welche er bereit sei zu verzichten. Mit solchen Angeboten hat er den Westen schon in früheren Konflikten gespalten oder zumindest hingehalten, sodass keine unmittelbare harte Reaktion folgte.

Desinformation zur Ablenkung

Auf die Eskalation in Litauen im Verlauf der letzten Wochen haben die EU-Staaten mit der erwarteten Unentschlossenheit reagiert. Die Amerikaner sind durch ihre innenpolitischen Turbulenzen in ihrem Wahlkampf abgelenkt. Zwischen ihnen und Litauen liegen zudem mehrere tausend Kilometer Atlantik. Der Konflikt ist im November 2028 sowohl geografisch als auch politisch weit weg vom US-Alltag. Soweit außenpolitische Ereignisse überhaupt Aufmerksamkeit finden in diesem dramatischen Präsidentschaftswahlkampf, sind es eher die Spannungen um Taiwan. Und für den Fall, dass Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping sich abgesprochen haben, gleichzeitig loszuschlagen – Russland gegen das Baltikum, China gegen Taiwan –, sind die Prioritäten in Washington eindeutig: Die USA kümmern sich um den Krieg in Asien, die Herausforderung an der Ostfront der Nato müssen die Europäer ohne US-Truppen meistern.

Die russischen Dienste haben die Eskalation mit Desinformationskampagnen vorbereitet. Seit Wochen verbreiteten sie die Behauptung, die russische Minderheit in Litauen werde diskriminiert. Eine konservative Partei in Litauens Regierungskoalition, die Putin beharrlich als „Nationalfaschisten“ beschimpft, habe sich angeblich darauf verständigt, Renten an russischstämmige Einwohner nur dann weiter auszuzahlen, wenn sie ein Loyalitätsbekenntnis zu Litauen abgeben. Zwei litauische Soldaten, so eine weitere Desinformation, haben angeblich ein russisches Mädchen, Tatjana S., vergewaltigt.

Die Deutschen sollten solche Desinformationskampagnen aus eigener Erfahrung kennen, aber das Gedächtnis ist kurz. In der Flüchtlingskrise kursierte 2016 das folgende Gerücht: Ein 13-jähriges Mädchen, die Russlanddeutsche Lisa, sei verschwunden – und angeblich von arabischen Flüchtlingen verschleppt und vergewaltigt worden. Russische Staatsmedien stilisierten „den Fall Lisa“ zum Beispiel für ein Versagen der deutschen Behörden; diese wollten die Geschichte angeblich unter den Teppich kehren. Aufgebrachte Russlanddeutschen gingen auf die Straße und skandierten „Merkel muss weg“, auch in Berlin vor dem Kanzleramt.

Die russische Ablenkungs- und Verwirrungsstrategie ist bis zu diesem 3. November 2028 genauso verlässlich aufgegangen wie 2016 in Deutschland und in den Tagen vor dem Angriff auf die Ukraine 2022. Putin begründete den Truppenaufmarsch damals und begründet ihn nun damit, dass er sie nur für den Notfall bereithalte, falls russische Bürger in Litauen geschützt werden müssten.

2022, als 100.000 russische Soldaten seit Monaten an den ukrainischen Grenzen standen, war Kanzler Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau zu Gast. Die SPD hoffte, dass Diplomatie den Angriff verhindern könne. Die SPD-Co-Parteichefin Saskia Esken twitterte damals in erschreckender Naivität: „Putin zieht Truppen teilweise ab und zeigt sich bereit, den Weg der Verhandlungen zu gehen. Das ist das erste Ergebnis einer beeindruckenden Krisendiplomatie der Ampelregierung und des @Bundeskanzlers. Well done @OlafScholz.“ Wenige Tage später begann Putins Angriff auf die Ukraine.

2028 wiederholt Putin dieses Schauspiel. Er tarnt den Aufmarsch in Westrussland und Belarus mit Manövern, verlegt Truppen erst hierhin, dann dorthin und provoziert so einen Streit unter Nato-Staaten, ob ein russischer Angriff bevorstehe oder nicht. Die deutschen Linken verunglimpfen die Warnungen aus Polen und den Baltischen Staaten und die Forderungen, rasch Nato-Kräfte zur Verstärkung ins Baltikum zu verlegen, als „Kriegsgeheul“, „Säbelrasseln“ und „gefährliche Provokation“. Anders als bei Putins Tarnmanövern 2021/22 vor dem Angriff auf die Ukraine veröffentlichen die amerikanischen Nachrichtendienste diesmal keine eindeutigen Warnungen vor einer imminenten Attacke. Ihre Aufmerksamkeit liegt auf Ostasien. Seit Trump die Geheimdienste in seiner zweiten Amtszeit reorganisiert und bei der Auswahl der Leitung mehr Wert auf persönliche Loyalität als auf Sachkenntnis und Effektivität gelegt hat, ist die Aufklärung gerade gegenüber Russland schlechter geworden. Der Bundesnachrichtendienst (BND) kann sich keinen Reim auf die russischen Absichten machen. Ihm fehlen Einblicke in die inneren russischen Führungskreise.

Angriff auf Litauen aus drei Richtungen

2028 nehmen Putins Verbände Litauen von drei Seiten in die Zange: von Nordosten mit der 2. und der 6. Russischen Armee, die auf Daugavpils, einen Eisenbahnknotenpunkt im Südosten Lettlands, vorrücken, um von dort aus den Nordosten Litauens einzunehmen; von Osten mit der nach Belarus verlegten 20. Armee, die Kurs auf Vilnius nimmt, um die Hauptstadt einzukreisen, unterstützt von der 41. Armee als zweiter Angriffswelle; vom Westen mit der 11. Russischen Armee aus dem Oblast Kaliningrad heraus, dem früheren Königsberg, das eine russische Exklave an der Ostsee bildet ohne direkte Landverbindung zur Russischen Föderation. Diese 11. Armee hat Putin in den drei Jahren seit 2025, als die Einheit offiziell noch die Größe eines Korps hatte, zügig aufgebaut.

Im Süden ist Litauen nur durch einen 60 Kilometer breiten Landstreifen mit Polen und dem übrigen Nato-Gebiet verbunden: den Suwalki-Korridor zwischen Belarus und Kaliningrad. Den könnte Putin mit seinen Armeen besetzen, doch das muss er gar nicht. Er kann ihn mit weit reichender Artillerie von beiden Seiten kontrollieren.

Um den Verteidigern jede Hoffnung auf baldige Verstärkung durch die Nato-Partner zu nehmen, zerstört Putin die Häfen mit ihren Ladeanlagen sowie die Start- und Landebahnen der Flughäfen in der Umgebung Litauens mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern aus Russland heraus.

Der geschilderte Angriff auf Litauen ist nicht das Produkt meiner Fantasie – also der eines deutschen Journalisten, der seit Jahren immer wieder vor Putins Plänen gewarnt hat und deshalb von einem Teil des Publikums als „Kriegstreiber“ bezeichnet worden ist.

Professionelle War-Gamer vom Center for the Study of the New Generation Warfare in Washington haben 2024 für litauische Auftraggeber durchgespielt, wie sich die Situation in den Tagen nach einem russischen Angriff entwickeln würde. Sie simulierten vier verschiedene Szenarien. Diese unterschieden sich in den Annahmen, ob die litauische Armee und die Bundeswehr-Brigade Litauen, die 2027 einsatzbereit sein soll, auf sich gestellt sind und über welche Waffensysteme sie verfügen, oder ob und wann sie mit der Unterstützung von Nato-Partnern rechnen können.

Nach zehn Tagen ist Putin nahe seinem Ziel

Die Erkenntnisse, wie die ersten Kriegstage unter den heute absehbaren Voraussetzungen verlaufen würden, sind niederschmetternd. Nach zehn Tagen hätte Putin große Teile Litauens besetzt und wäre nahe an seinem Ziel, eine Landverbindung nach Kaliningrad mit den strategischen Eisenbahnlinien und Straßen zu kontrollieren. Die litauischen und deutschen Einheiten wären weitgehend aufgerieben, viele hätten bestenfalls noch 40 Prozent der ursprünglichen Kampfkraft. Auch die russischen Streitkräfte hätten zwar schwere Verluste erlitten, verfügten aber über genügend Reserven in der zweiten Angriffslinie, um ihre Offensive fortzusetzen.

Andererseits führten diese Übungen im „War Room“ auch zu einer mutmachenden Erkenntnis. Eine andere der vier Varianten ergab: Wenn Litauen seinen Verteidigungsetat von drei auf sechs Prozent des BIP verdoppelt, wenn es 15 Milliarden Dollar verteilt über mehrere Jahre in leistungsfähige Waffensysteme investiert und seine Soldaten an ihnen ausbildet und wenn zugleich die Bundeswehr in Litauen über eine schlagkräftigere Ausrüstung verfügen würde, als das bisher geplant ist, könnten sie einen russischen Angriff aufhalten und den Nato-Verbündeten Zeit verschaffen, zu Hilfe zu kommen. Zudem wären ihre Verluste deutlich geringer und die russischen signifikant höher. Und diese Aussicht könnte Putin eventuell abschrecken und vom Angriff abhalten. Auch er weiß ja, wie der Gegner aufgestellt und ausgerüstet ist. Und auch er lässt War-Gamer die potenziellen Varianten von Angriffen durchspielen.

Allerdings waren die deutschen und litauischen Verteidiger in dieser weniger düsteren Variante viel besser ausgestattet. Ihnen standen zum Beispiel drei Patriot-Luftabwehr-Bataillone zur Verfügung, zwei litauische und ein deutsches, sowie 3x8 HIMARS-Raketenwerfer, 24 Apache-Kampfhubschrauber mit unbegrenzter Anzahl von Hellfire-Raketen und 18 selbstfahrende Artilleriesysteme. Litauen hatte zudem – zusätzlich zur deutschen Brigade mit ihren 44 Pumas und 44 Leopard 2A7 – zwei weitere Panzer-Einheiten mit je 44 schweren Kampfpanzern. Jedes Bataillon verfügte über 176 panzerbrechende Abwehrlenkwaffen vom Typ Javelin. Die drei Luftabwehrsysteme hielten russische Flugzeuge so weit im russischen Hinterland auf Distanz, dass diese keine Gleitbomben einsetzen konnten.

„Mit überlegener Technik kann man einen russischen Angriff stoppen“, sagt mir Greg Melcher, der die Übung 2024 organisiert hatte, als er mir die mutmaßliche Kriegsentwicklung im University Club in Washington an der 16th Street NW unweit des Weißen Hauses erläutert. „Aber man muss die Systeme haben, dazu Personal, das sie bedienen kann, und deutlich größere Munitionsvorräte samt Nachschub, als die Nato-Partner heute produzieren.“

Ende November 2024 hat Putin angekündigt: „Russland stellt bereits heute zehn Mal mehr Raketen her als alle Nato-Staaten zusammen. Und wir werden die Produktion jedes Quartal weiter steigern.“ Er hat die Zeit seit 2025, als der Krieg in der Ukraine durch einen faulen Verhandlungskompromiss eingefroren worden war, genutzt, um seine Depots aufzufüllen: mit Panzern, Raketen, Drohnen, Artilleriewerfern und Munitionsmengen, wie man sie für einen langen Krieg braucht.

Militärexperten im Westen hatten gewarnt: Man müsse Putin in der Ukraine bekämpfen und dürfe ihm dort keinen Erfolg erlauben. Solange seine Truppen dort gebunden sind, kann er keine weiteren Kriege beginnen. Falls er den Eroberungskrieg dort aber 2025 durch eine „diplomatische Lösung“ mit Landgewinnen beenden oder in einen „eingefrorenen Krieg“ überführen kann, braucht er nur zwei, drei Jahre, um sich für den nächsten Angriff zu rüsten.

Diese Chance eröffnete Donald Trump Putin, als er Mitte Februar 2025 mit ihm telefonierte und anschließend der Ukraine und den Europäern seine Vorstellungen von einer „Friedenslösung“ diktierte: die Forderung nach Wiederherstellung der ukrainischen Vorkriegsgrenzen und einer Aufnahme in die Nato seien unrealistisch. Alle Sicherheitsgarantien müssten von Europa kommen. Das klang nach einem „Frieden“ zu Putins Bedingungen. Und deshalb fühlte Putin sich ermutigt, mit der Eroberungspolitik zur Wiederherstellung des Imperiums fortzufahren.

Im Westen und insbesondere in Deutschland war die Reaktion umgekehrt: Erleichterung, dass die offenen Kämpfe in der Ukraine gestoppt wurden, verbunden mit der Einschätzung, dass der „Frieden“ nach Europa zurückgekehrt sei und es keinen Grund gebe, sich auf einen weiteren Krieg vorzubereiten und die eigene Produktion von Waffen und Munition hochzufahren. So ging Russland hochgerüstet in den schwarzen Dienstag 2028, Deutschland, Litauen und Europa hingegen mit unzureichender militärischer Ausstattung, darunter viel zu wenig Munition.

Gustav Gressel bewertet das geschilderte Szenario als „beunruhigend realistisch“. Der österreichische Offizier war zehn Jahre lang ein vielgefragter Militärexperte beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin und ist seit Ende 2024 Hauptlehroffizier und Forscher an der Landesverteidigungsakademie Wien.

„Russland produziert etwa 3000 FPV-Drohnen täglich“, ergänzt Gressel. Das Kürzel steht für „First Person View“ und bedeutet, dass der Drohnenführer die Lage sieht, als wäre er vor Ort. „In der Bundeswehr sind jedoch Systeme zur elektromagnetischen Störung (Jamming), zur Erkennung und Abwehr solcher Systeme rar. Die Bundeswehr ist den russischen Streitkräften zwar in Ausbildung, Professionalität, Führung und auch Gerät überlegen. Aber die tödliche Wirkung der russischen Drohnentruppe würde viele dieser Vorteile zunichtemachen. Sie würden in kurzer Zeit so viele deutsche Kampffahrzeuge beschädigen, dass die Gefechtsführung der Bundeswehr erheblich erschwert würde.“

Zudem verfüge die russische Armee über „Einsatzerfahrung aus dem Ukrainekrieg“, analysiert Gressel. Das gelte speziell für den Einsatz von Drohnen und speziellen Lenkwaffen namens ‚Loitering Munition‘ sowie die taktische Erfahrung bei der Synchronisierung neuer Fähigkeiten wie Drohnen und elektronische Kampfführung mit traditionellen mechanisierten Verbänden.“ Wenn die Ukraine, wie sich das 2025 abzeichnete, zur Neutralität gezwungen werde, dürfte sich der Erfahrungsaustausch mit der Bundeswehr und anderen Nato-Armeen, die von der ukrainischen Einsatzerfahrung gegen die Russen lernen wollen, in engen Grenzen halten.

Wie lange reicht die Munition der Bundeswehr?

Diese dritte Variable wurde nicht detailliert in die Simulation einbezogen, um die Komplexität überschaubar zu halten: Wie groß sind die Munitionsvorräte der Verteidiger zu Kriegsbeginn und wie lange würden sie reichen? Die War-Gamer schätzten den Munitionsverbrauch freilich ab und kamen zu dem Ergebnis, dass die Verteidiger in den ersten sechs Kampftagen Munition im Wert von fünf Milliarden Dollar einsetzen würden. Das hieße, dass die reale Lage für die litauischen Streitkräfte und die Bundeswehr im Kriegsfall wohl schlecht wäre. Die heute kalkulierten Vorräte in den Depots erlauben keine nachhaltige Kriegsführung. Der Munitionsmangel würde die litauischen und deutschen Soldaten zusätzlich benachteiligen.

Auch die Vorschläge, welche Waffensysteme Litauen binnen weniger Jahre kaufen müsste – und welche Deutschland für die Bundeswehr –, sofern denn Regierung und Parlament die Finanzen bereitstellen, stoßen an praktische Grenzen. Die Patriot-Produktion ist schon heute bis in die 2030er Jahre verplant. Apaches kann man nicht einfach für eine Auslieferung nächstes Jahr bestellen – das ist eine generelle Herausforderung, falls sich Regierungen in Nato-Ländern endlich entschließen, die neuesten Waffensysteme in der erforderlichen Menge zu beschaffen: Die Konsolidierung der Rüstungsindustrie in Friedenszeiten hat zu begrenzten Produktionskapazitäten geführt. Und Disruptionen wie Covid haben weitere Probleme in der Lieferkette geschaffen, die die Reaktionsfähigkeit der Rüstungsindustrie einschränken.

Dennoch: Aus den Simulationen, wie hoffnungslos die Lage in einem Krieg um Litauen bei der aktuellen militärischen Planung aussähe, und wie viel hoffnungsvoller, wenn Politik und Gesellschaft die Gefahr als real einstuften und Vorkehrungen träfen, lässt sich einiges lernen. Sie sollten aufrütteln und die nächste Bundesregierung animieren, ähnliche Übungen zu beauftragen, damit das knappe Geld im Wehretat so ausgegeben wird, dass es einen möglichst großen Abschreckungseffekt auf Wladimir Putin hat.

Zu Jahresbeginn 2025 hat Generalmajor Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine und einer der höchsten deutschen Offiziere gewarnt: Putin rüstet aktuell in einem Ausmaß auf, das weit über seinen Bedarf für den Krieg in der Ukraine hinausgeht. Der grüne Spitzenkandidat für die Bundestagswahl Robert Habeck hatte vorgeschlagen, ab sofort 3,5 Prozent der BIP für Verteidigung auszugeben, „damit Putin es nicht wagt, uns anzugreifen“. Wer sich fragt, wofür die Bundeswehr so viel Geld benötigt: Das Litauen-Szenario gibt eine Antwort.

Und nochmals besser für Litauen und die Nato sähe das Szenario aus, wenn die westlichen Verbündeten sich entscheiden könnten, nicht nur die Verteidigungsfähigkeiten zu verbessern, sondern Putin mit Gegenangriffen zu drohen, die er für plausibel hält. Den Oblast Kaliningrad könnte er ohne gesicherte Nachschublinien maximal zehn Tage halten, schätzen Militärexperten. Doch diese Sorge wird sein Kalkül nur beeinflussen, wenn er erkennen kann, dass die Nato unmittelbar mit einer Operation zur Einnahme Kaliningrads antwortet, falls er sich zum Angriff auf Litauen entschließt.

Sind die Gesellschaften der Nato-Staaten zu solchen Überlegungen bereit? Gegenangriffe als Teil der Verteidigung zu planen und dem Gegner Land zu nehmen, um bei Verhandlungen nach einem Waffenstillstand den beiderseitigen Rückzug auf die Vorkriegsgrenzen durchsetzen zu können? Im Ukrainekrieg dauerte es zweieinhalb Jahre, ehe Kyjiw die Erlaubnis der westlichen Unterstützer bekam, russisches Gebiet bei Kursk zu besetzen, um eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen. Viele Kommentatoren in Deutschland bewerteten das als eine gefährliche Provokation, die eine Eskalation in Gang setze.

Militärexperte Gustav Gressel analysiert: „Die Diskussion um mögliche Schläge gegen Kaliningrad wird auch dadurch erschwert, dass Russland über weit mehr konventionelle Fernwaffen verfügt als die europäischen Nato-Staaten. Frankreich und Großbritannien haben die Produktion von SCALP und Storm Shadow aufgrund des höheren Bedarfs ausgeweitet. In Deutschland hingegen wurde nur politisch über den Taurus diskutiert, nicht aber über die Herstellung in größerer Zahl.“

Spielt man mein Gedankenexperiment eines Kriegs um Litauen 2028 unter der Annahme durch, dass es bis dahin bei den deutschen Gemütslagen und Gedankenwelten bleibt, wie wir sie aus den Jahren der Ampel-Regierung kennen, sind die Aussichten düster. Denn das hieße für das Szenario am 3. November 2028: Polen und Balten hatten zwar in den Tagen und Wochen vor Putins Attacke auf Litauen laut und unmissverständlich vor einem Einmarsch gewarnt, so wie sie das auch vor dem Angriff auf die Ukraine 2022 getan hatten. Aber in Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Spanien tat man das als Hirngespinste ab. Polen und Balten hätten nun einmal ein traumatisches historisches Verhältnis zu Russland, sagten die üblichen Abwiegler. Das müsse man verstehen – und der Ton, in dem sie es sagten, bedeutete: Man muss es nicht ernst nehmen.

Putin werde sich doch nicht mit der Nato anlegen, argumentierten die vermeintlich Klarsichtigen. Er wisse doch, dass die Allianz ihm militärisch überlegen sei. Selbst wenn die Nato in einer ersten Phase des Kriegs Gebiet aufgeben müsse, werde sie – so sieht es das „contingency planning“ vor –, bald überlegene Verbände an die Front verlegen und die Russen aus Litauen vertreiben.

Großteil der Nato-Pläne existiert nur auf Papier

Putin braucht keine westlichen War-Gamer, um zu wissen, wie groß sein militärischer Vorteil bei einer Fortschreibung der Lage, wie sich 2025 darstellt, wäre. Die nötigen Daten kennen er und seine Militärs auch. Ein Großteil der Nato-Planungen für den Ernstfall existiert lediglich auf dem Papier. Aus Putins Sicht beruht die behauptete Unantastbarkeit von Nato-Mitgliedern auf Amerikas Macht. Es würde Wochen, wenn nicht Monate dauern, US-Kampfverbände über den Atlantik nach Europa zu verlegen. Und auf dem Weg von den Atlantikhäfen an die litauische Front müssten die Panzer und anderes schweres Gerät in Deutschland von den Eisenbahnwaggons abgeladen werden und sich über teils enge Straßen quälen, weil deutsche Eisenbahnbrücken nicht für solche Militärtransporte ausgelegt sind.

Auch darauf hatten die Experten schon vor der Annexion der Krim 2014 immer wieder hingewiesen – und danach erst recht. Die deutsche Öffentlichkeit jedoch hatte sich darum nicht geschert. Die Bundesrepublik im direkten Krieg mit Russland? Das galt als absurd. Deutschland war nach dem Weltkrieg zu einem friedliebenden, ja: pazifistischen Land geworden. Und da die meisten Bürger und Politiker niemanden als „Feind“ im klassischen Sinne betrachteten, wollten sie sich auch nicht vorstellen, dass ein anderes Land die Deutschen zum „Feind“ erklären und Krieg gegen sie führen würde.

Doch nun stehen die europäischen Nato-Staaten im Herbst 2028 vor einem noch größeren Problem als der beharrlichen deutschen Weigerung, sich auf die Notwendigkeit der Verteidigung vorzubereiten und Eisenbahn- und Straßenbrücken so auszulegen, dass sie Panzertransporte aushalten. Was, wenn die USA unter ihrem derzeitigen Präsidenten Trump nicht bereit sind, Truppen zu schicken? Auf denen beruht die Planung für den Ernstfall. Liegt Putin womöglich richtig mit seinem Kalkül, dass er es bei einem Angriff auf das Baltikum nur mit den Europäern zu tun haben werde?

Die Europäer sind politisch zerstritten und nicht fähig zu raschen Entscheidungen. Trump hatte wiederholt geprahlt, er werde der erste Präsident seit langem sein, der die USA nicht in einen Krieg führe. Er verachtet die „forever wars“ und die Kosten an Menschenleben und US-Steuermilliarden, die sie mit sich bringen. Wie wahrscheinlich ist es da, dass er in den letzten Wochen seiner zweiten Amtszeit in einen Krieg um Litauen eingreifen wird?

Auf Putin wirkt diese Gesamtlage wie eine Einladung, es einfach mal zu testen und zu sehen, wie weit er kommt. Der Wahltag in den USA ist die ideale Gelegenheit. Wie vier Jahre zuvor zeigen die Umfragen ein Kopfan-Kopf-Rennen zwischen Demokraten und Republikanern – nach einem Wahlkampf voller Verwerfungen und Überraschungen, sogar versuchten Attentaten auf die Präsidentschaftsbewerber. Die Mehrheit der Amerikaner ist 2028 unzufrieden mit dem Zustand ihres Landes. Ihr Frust richtet sich wie vor den Wahlen 2016, 2020 und 2024 stärker gegen die Partei in der Regierungsverantwortung als gegen die Opposition.

2016 waren das die Demokraten nach acht Jahren Obama-Präsidentschaft gewesen; das half Trump bei seinem Sieg über Hillary Clinton. 2020 waren es die Republikaner nach den ersten vier Trump-Jahren plus der Pandemie. So siegte Joe Biden. 2024 richtete sich der Frust über das Regierungsteam wieder gegen die Demokraten. Und 2028, nach Trumps zweiter Amtszeit, erneut gegen die Republikaner und Vizepräsident J. D. Vance. Der hatte die Spitzenkandidatur erst im Sommer übernommen – als Präsident Trump körperliche Ausfallerscheinungen zeigte. Trump ist inzwischen 82 Jahre alt. Man merkt es ihm ebenso an wie 2024 Joe Biden.

Das beste Szenario für Putins Plan: ein knapper Wahlausgang in den USA mit wochenlangem Streit um Nachzählungen in mehreren Staaten, bei dem am Ende die Demokraten die Nase vorn haben. Dann sind die USA für längere Zeit handlungsunfähig. Influencer würden in den sozialen Medien behaupten, dass die Republikaner nach der Wahl kein Mandat mehr haben, eine so weitreichende Entscheidung wie den Kriegseintritt gegen die Atommacht Russland zu treffen. Und die Demokraten müssten nach der Inauguration ihres Präsidenten am 20. Januar 2029 erstmal eine Regierung bilden. Das könnte sich leicht bis in den März oder April 2029 hinziehen.

Genug Zeit also für Putin, um in Litauen einzumarschieren und eine Landverbindung von Russland nach Kaliningrad einzunehmen, ohne US-Soldaten fürchten zu müssen. Und für den Fall, dass er sich verrechnet haben sollte, meinte Putin, einen psychologischen Trumpf in der Hand zu haben. Falls Nato-Truppen tatsächlich die Rückeroberung Litauens und des übrigen Baltikums versuchten, würde er drohen, Berlin, Hamburg oder eine andere deutsche Großstadt mit einer Atomwaffe anzugreifen.

Die nukleare Drohung hatte schon in der Vergangenheit Wunder gewirkt, jedenfalls bei den Deutschen. Polen oder Briten haben andere Reflexe. Sie sehen in Putins nuklearen Drohungen Erpressungsversuche. Und sollte er durch die demonstrative Zündung einer kleinen atomaren Gefechtsfeldwaffe den Eindruck erwecken wollen, er schrecke auch vor dem Einsatz größerer Waffen nicht zurück, wäre das für sie ein ultimativer Grund, dass man ihm gegenüber Kompromisse keinesfalls auch nur in Erwägung ziehen dürfe. Sondern nun alles tun müsse, um Putin zu besiegen oder ihn anderweitig aus dem Weg zu räumen. Denn wenn er einmal mit der Atomdrohung Erfolg habe, mache sich der Westen erpressbar.

Die deutsche Gesellschaft reagiert anders. Die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hat auf die deutschen Täter und ihre Nachkommen die entgegengesetzte Wirkung als auf die Nachkommen der Opfer. Soweit europäische Juden den Holocaust überlebt haben, war für sie, ihre Kinder und Enkel die Konsequenz: Nie wieder wehrlos sein! So tickten auch die meisten Polen, Tschechen und Balten. Sehr viele Deutsche hingegen haben aus der Schuld ihrer Vorfahren den Schluss gezogen, man müsse Krieg an sich für nicht führbar erklären, jedenfalls in Europa – was in der politischen Ableitung bedeutete, dass man sich auch nicht mehr praktisch auf Krieg vorbereiten musste.

„Mindset der Kapitulation“

Kurz vor Weihnachten 2024 ist der frühere Außenminister Finnlands Pekka Haavisto zu Gast in meinem Europa-Programm am Woodrow Wilson Center. Auch ihn beunruhigt der German mindset. „Wer als Parole ausgibt, dass man Krieg um jeden Preis vermeiden müsse, hat innerlich bereits kapituliert.“ In Finnland seien „alle Vorkehrungen für den Ernstfall aus dem Kalten Krieg noch in Kraft. Die Bürger sind aufgerufen, Lebensmittel und Wasservorräte für mehrere Tage zuhause zu haben. Die Bunker für den Zivilschutz werden in Stand gehalten. In Deutschland gibt es das alles nicht mehr“, sagt der finnische Grüne.

Generell haben grüne Politiker – oder jedenfalls die, die man zu den Realos zählt – offenbar besser als viele Sozialdemokraten verstanden, dass Militär als Faktor in den Machtkämpfen um Europa zurück ist. Der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer beschreibt die Lage in mehreren Gesprächen mit mir im Sommer und Herbst 2024 so: „Wir müssen viel mehr Geld in Verteidigung stecken. Daran führt kein Weg vorbei. Das ist traurig, weil das quasi totes Kapital ist und wir es für andere Zwecke gut gebrauchen könnten, darunter die Klimapolitik. Aber es hilft nichts. Putin lässt uns keine Wahl.“

Was Haavisto zur begrenzten deutschen Resilienz, was Fischer und Habeck zur drastischen Erhöhung des Wehretats sagen, war aber unter der Ampel-Regierung nicht herrschende Meinung. Für Putin ist diese deutsche Gemütslage wie ein Geschenk. Er ist geübt darin, den Deutschen ein schlechtes Gewissen zu machen, indem er an den Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion erinnerte und von 22 Millionen russischen Opfern sprach. Das stimmte zwar so nicht, denn die Opfer waren zwar Sowjetbürger, aber zu einem Gutteil nicht ethnische Russen. In der Ukraine, in Belarus, in Polen und im Baltikum war der prozentuale Blutzoll an der Gesamtbevölkerung größer als in Russland.

Eine seriöse historische Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, aus dem Hitler-Stalin-Pakt und der Aufteilung Mitteleuropas zwischen der braunen und der roten Diktatur samt ihrem mörderischen Umgang mit den Völkern, die zwischen Deutschen und Russen lebten, müsste ganz anders lauten: nämlich Putin nicht gewähren zu lassen bei der Wiederherstellung des Imperiums. Sondern sich ihm in den Weg zu stellen bei seinem erneuten Versuch, die Nachbarn in Ost- und Mitteleuropa unter russische Hegemonie zu zwingen.

Viele Deutsche fühlten sich jedoch in einer bemerkenswerten moralischen Verdrehung nicht etwa berufen, schamvoll zuzuhören, wenn die Opfer ihrer Vorfahren über die Lehren des Weltkriegs sprachen. Sondern sie meinten, aus der Größe der deutschen Schuld ableiten zu dürfen, dass sie als Nachfahren der Täter viel besser wüssten, was nun geboten sei: Rücksichtnahme auf Russland. Das hinderte sie daran, Putins Kriegspläne ernst zu nehmen.

Sie sind zudem gefangen in einer binären Vorstellung von Krieg und Frieden. Solange sie sich offiziell nicht im Krieg befinden, herrscht demnach Frieden. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Obwohl Russland und China offiziell nicht im Krieg mit europäischen Staaten sind, greifen sie westliche Infrastruktur regelmäßig an, zum Beispiel Unterseekabel und Pipelines in der Ostsee. Das sind Kriegsakte – aber da sie sich unterhalb des Niveaus eines Schießkriegs abspielen und die Täter angeblich offiziell nicht festzumachen sind, obwohl die Hinweise auf die Urheber offenkundig sind, weigert sich die deutsche Öffentlichkeit, das als Angriff auf sie und ihre Verbündeten einzuordnen.

Der Präsident beharrt auf einer dritten Amtszeit

Trump ist im Wahljahr 2028 82 Jahre alt, hatte aber dennoch zu Jahresbeginn darauf bestanden, dass er für eine weitere Amtszeit antritt – auch wenn das seinen Vizepräsidenten J. D. Vance zur Weißglut brachte. Der wollte Trump in den Ruhestand schicken und selbst Präsident werden. Oder vielleicht beharrte Trump gerade deshalb auf einer erneuten Kandidatur. Um Vance zu ärgern.

Es gehörte schon immer zu seinen liebsten Manövern, Freund wie Feind mit überraschenden Entscheidungen und kalkuliertem Regelbruch zu provozieren, und einmal mehr zu beweisen, dass er Herr des Verfahrens ist. Nur er. Das freut ihn diebisch. Und deshalb lag es nahe, dass er sich um das traditionelle Verständnis der Amtszeitbegrenzung für Präsidenten nach Roosevelt – maximal zwei Amtszeiten à vier Jahre – nicht scheren und seine eigene Interpretation anbieten würde.

Die Vorgabe beziehe sich auf zwei konsekutive Amtszeiten, behauptete Trump. Da er jedoch nach seiner ersten von Januar 2017 bis Januar 2021 das Weiße Haus geräumt habe, habe mit seinem Wahlsieg 2024 und der Amtseinführung 2025 eine neue Rechnung begonnen. In der Hinsicht fürchtete er weder Einsprüche aus der Republikanischen Partei, die hatte er zu einem loyalen Trump-Fanclub gemacht, noch vom Supreme Court, denn dort verließ er sich ebenfalls auf „seine Mehrheit“ unter den neun Richterinnen und Richtern. In der ersten Amtszeit hatte er drei vakante Stellen nachbesetzen können und die konservative Mehrheit unter den Obersten Richtern ausgebaut.

Hinter den Kulissen des Weißen Hauses wurde schon länger gemunkelt, dass seine Kräfte nachgelassen hätten und er sich jetzt immer öfter executive time gönne. So nennt er das – und so steht es im offiziellen Terminkalender des Präsidenten –, wenn er im Oval Office auf der Couch liegt und durch die TV-Kanäle zappt, um zu prüfen, ob seine Verdienste auch genügend gewürdigt werden. Zufrieden ist er im Grunde nur mit seinem Lieblingssender Fox News, da verweilt er gerne. Und in seinem sozialen Netzwerk Truth Social.

Die Öffentlichkeit hingegen bekam lange Zeit nicht mit, dass Trump physisch abbaut – noch weniger als vier Jahre zuvor bei seinem Amtsvorgänger Joe Biden. Denn Trumps Energie reichte in den ersten Wahlkampfmonaten 2028 immer noch, um bei ein oder zwei MAGA-Rallyes am Tag einen kraftstrotzenden Eindruck zu machen, so wie früher. Wenn er bei diesen Auftritten tausende begeisterte Fans vor sich hat mit den typischen knallroten „Make America Great Again“-Kappen, schießt das Adrenalin in seine Adern und setzt zusätzliche Energie frei. Dann wird er zur Rampensau, zieht über seine Feinde her und verspricht ein goldenes Zeitalter für die USA. In welchem Zustand Trump in den übrigen Stunden des Tages ist, blieb der Öffentlichkeit lange verborgen.

Auch das Team von Joe Biden hatte vier Jahre zuvor für sich behalten, in welcher physischen und mentalen Verfassung der damalige Präsident war. Erst das katastrophale TV-Duell gegen Trump Ende Juni 2024 hatte den Wählerinnen und Wählern die Augen geöffnet. Der rasche Wechsel zu Kamala Harris als neuer Präsidentschaftskandidatin der Demokraten löste nur vorübergehende Euphorie aus, konnte die Niederlage am Wahltag aber nicht verhindern. Die Republikaner gewannen alle Machtpositionen: das Weiße Haus, das Repräsentantenhaus und den US-Senat, der über die Ernennung von Richtern und die Bestätigung aller Anwärter für Regierungsämter entscheidet.

Es gibt einige Bonmots zu der Frage, ob sich Geschichte wiederholt. Mark Twain wird zugeschrieben: „Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.“ Karl Marx predigte in einer Anleihe beim Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte ereignet sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Wer auch immer von beiden Recht hat: Der Verlauf des US-Präsidentschaftsjahres 2028 wirkt in einigen Belangen wie eine Wiederholung von 2024.

Als Joe Bidens physischer wie mentaler Abbau 2024 offensichtlich wurde, hatte er seine Bewerbung um eine Wiederwahl zurückziehen und die Kandidatur seiner