Der Schwarze Schwan - Nassim Nicholas Taleb - E-Book
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Der Schwarze Schwan E-Book

Nassim Nicholas Taleb

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Beschreibung

Die Weltbestseller des großen Zufallsforschers

Ein “Schwarzer Schwan” ist ein Ereignis, auf das drei Dinge zutreffen: Es ist erstens ein Ausreißer – es liegt außerhalb der regulären Erwartungen, nichts in der Vergangenheit weist darauf hin. Es hat zweitens enorme Auswirkungen. Drittens bringt uns die menschliche Natur dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu konstruieren, um es erklärbar und vorhersagbar zu machen.

In diesem bahnbrechenden Buch, das mittlerweile weltweit zum Klassiker geworden ist, entwickelt Taleb seine einflussreiche Denkfigur und Maxime für die ungewisse Realität, in der wir leben und handeln.

Talebs Weltbestseller – „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“ und „Der Schwarze Schwan: Konsequenzen aus der Krise“ – in einem Band und eingeleitet mit einem neuen Essay des Autors

  • »Eines der zwölf einflussreichsten Bücher seit dem Zweiten Weltkrieg.« (Sunday Times)
  • »›Der Schwarze Schwan‹ hat meine Sicht auf die Welt verändert.« (Daniel Kahneman, Nobelpreisträger)
  • Der Weltbestseller: übersetzt in 33 Sprachen mit über 3 Millionen verkauften Exemplaren
  • »Taleb zerpflückt mit großer Lust und einem guten Schuss Polemik unseren offenbar unerschütterlichen Glauben an die Vorhersehbarkeit von Ereignissen.« (SWR)

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Seitenzahl: 958

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»DER SCHWARZE SCHWAN hat meine Sicht auf die Welt verändert.« Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Ökonomie

»Ein Meisterwerk.« Chris Anderson, Wired

»Brillant.« Niall Ferguson, Los Angeles Times

»Höchst unterhaltsam und spannend.« Financial Times

»(Taleb ist) tatsächlich ein Philosoph … Jemand, der in der Lage ist, unser Weltbild durch die Kraft seiner Ideen zu verändern.« GQ

»Gelehrt und anregend … ein Lektüreschatz mit einer bedeutenden Botschaft.« Business Week

»Ein brillant geschriebenes Buch über den Unsinn von Wirtschaftsprognosen.« Manager Magazin

»Ein Klassiker.« Süddeutsche Zeitung

Nassim Nicholas Taleb

DER SCHWARZE SCHWAN

Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse

Aus dem Englischenvon Ingrid Proß-Gill

Der vorliegende Band ist die erste deutsche Gesamtausgabe des bisher in zwei Bänden vorliegenden Werks Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse und dem Postscript Essay Konsequenzen aus der Krise. Die Ausgabe wurde vollständig durchgesehen und bezieht sich auf die 2010 erschienene Second Edition der amerikanischen Originalausgabe, die unter dem Titel The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable 2007 erstmals bei Random House, einem Verlag der Random House, Inc., New York erschien.

Mit Vorwort des Autors zur deutschen Gesamtausgabe.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2007, 2010 by Nassim Nicholas Taleb Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Gesetzt aus der Sabon von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28177-9V006

www.knaus-verlag.de

Benoît Mandelbrot gewidmet,einem Griechen unter Römern

Inhalt

Genealogie des Incerto

Vorwort zur neuen deutschsprachigen Ausgabe

Prolog

Über das Gefieder von Vögeln

Eine neue Art von Undankbarkeit

Das Leben ist sehr ungewöhnlich

Wo die Schwarzen Schwäne herkommen

Zu langweilig, um darüber zu schreiben

Resümee

Teil 1 Umberto Ecos Antibibliothek Oder: Unsere Suche nach Bestätigung

Kapitel I Lehrjahre eines empirischen Skeptikers

Anatomie eines Schwarzen Schwans

Die Geschichte und das Triplett der Opazität

Cluster

Fast acht Pfund später

Kapitel II Yevgenias Schwarzer Schwan

Kapitel III Spekulanten und Prostituierte

Der beste (schlechteste) Ratschlag

Hüten Sie sich vor dem Skalierbaren!

Skalierbarkeit und Globalisierung

Kapitel IV Tausendundein Tag Oder: Bloß kein Dummkopf sein!

Was wir vom Truthahn lernen können

Das Problem des Schwarzen Schwans: Eine kurze geschichtliche Betrachtung

Kapitel V Der unstillbare Durst nach Bestätigung

Negativer Empirismus

Kapitel VI Die narrative Verzerrung

Weshalb ich nichts von Ursachen halte

Gespaltene Gehirne

Erinnerung an Dinge, die noch nicht ganz vorbei sind

Sich mit unendlicher Genauigkeit irren

Sensationen und der Schwarze Schwan

Die Abkürzungen

Kapitel VII Leben im Vorzimmer der Hoffnung

Die Grausamkeit der Kollegen

El desierto de los tártaros

Kapitel VIII Das nie versagende Glück des Giacomo Casanova: Das Problem der stummen Zeugnisse

Die Geschichte von den ertrunkenen Anbetern

Der Friedhof der Buchstaben

Fitnesstraining für Ratten

Was wir sehen und was nicht

Die Teflonschicht des Giacomo Casanova

Ich bin ein Schwarzer Schwan: Der anthropische Fehler

Kapitel IX Die ludische Verzerrung Oder: Die Unsicherheit von Nerds

Fat Tony

Mittagessen am Comer See

Zum Abschluss von Teil 1

Teil 2 Wir können einfach keine Vorhersagen machen

Kapitel X Der Skandal bei den Vorhersagen

Über die Unbestimmtheit der Zahl von Katharinas Liebhabern

Noch einmal: Blindheit gegenüber Schwarzen Schwänen

Weshalb Informationen schlecht für das Wissen sind

Das Expertenproblem: Die Tragödie des leeren Anzugs

»Abgesehen davon« war es in Ordnung

Durchqueren Sie keinen Fluss, der (im Schnitt) 1,20 Meter tief ist

Kapitel XI Auf der Suche nach Vogeldreck

Auf der Suche nach Vogeldreck

Vorhersage von Vorhersagen

Die n-te Billardkugel

Die Gläue von Smaragden

Die große Antizipationsmaschinerie

Kapitel XII Epistemokratie – ein Traum

Vergangenheit und Zukunft der Vergangenheit

Kapitel XIII Der Maler Apelles Oder: Was kann man tun, wenn man keine Vorhersagen machen kann?

Guter Rat ist überhaupt nicht teuer!

Positive Zufälle

Teil 3 Die Grauen Schwäne von Extremistan

Kapitel XIV Von Mediokristan nach Extremistan und wieder zurück

In Extremistan ist niemand sicher

Was können wir tun?

Kapitel XV Die Glockenkurve, der große intellektuelle Betrug

Gaußsche und mandelbrotsche Mathematik

Quetelets Durchschnittsmonstrum

Woher die Glockenkurve kommt

Kapitel XVI Die Ästhetik der Zufälligkeit

Der Poet des Zufalls

Die Platonität von Dreiecken

Die Logik der fraktalen Zufälligkeit (mit einer Warnung)

Noch einmal: Vorsicht vor den Vorhersagern!

Wo ist der Graue Schwan?

Kapitel XVII Lockes Verrückte Oder: Glockenkurven am falschen Ort

Es war doch nur ein Schwarzer Schwan!

Kapitel XVIII Alles Schwindel!

Mehr zur ludischen Verzerrung

Wie viele Wittgensteins können auf einem Stecknadelkopf tanzen?

Teil 4 Schluss

Kapitel XIX Halb und halb Oder: Wie man es dem Schwarzen Schwan heimzahlen kann

Wann es nicht wehtut, einen Zug zu verpassen

Schluss

Epilog Yevgenias Weiße Schwäne

Postskript Essay Konsequenzen aus der Krise

Kapitel I Weshalb die Natur das beste Vorbild ist

Über gemächliche, aber lange Spaziergänge

Robustheit und Fragilität

Eine Gesellschaft, die Fehlern gegenüber robust ist

Kapitel II Weshalb ich so viele Spaziergänge mache Oder: Wie Systeme fragil werden

Noch ein paar Hanteln

Kapitel III Margaritas ante porcos

Die Hauptfehler beim Verstehen meiner Botschaft

Kapitel IV Asperger und der ontologische Schwarze Schwan

Asperger-Wahrscheinlichkeit

Blindheit gegenüber der Zukunft

Wahrscheinlichkeit muss subjektiv sein

Kapitel V (Vielleicht) Das nützlichste Problem in der Geschichte der modernen Philosophie

Leben in zwei Dimensionen

Die Abhängigkeit von Theorien über seltene Ereignisse

Falsche Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit einzelner Ereignisse

Das Induktions- und Verursachungsproblem in der komplexen Domäne

Kapitel VI Der vierte Quadrant, die Lösung für das nützlichste aller Probleme

Entscheidungen

Der vierte Quadrant, eine Karte

Kapitel VII Was wir mit dem vierten Quadranten machen können

Nicht die falsche Karte benutzen: Das Konzept der Iatrogenie

Phronetische Regeln: Was sollte man im wirklichen Leben tun (oder nicht tun), um den vierten Quadranten abzumildern, wenn man die Hantel-Strategie nicht einsetzen kann?

Kapitel VIII Zehn Prinzipien für Robustheit von Gesellschaften gegenüber Schwarzen Schwänen

Kapitel IX Amor fati: Wie man unzerstörbar wird

Dank

Glossar

Anmerkungen

Bibliografie

Register

Genealogie des Incerto

Diese Karte des Incerto zeigt die verschiedenen Disziplinen und Bereiche, die sich mit der Unsicherheit und insbesondere mit dem Problem der großen und folgenschweren seltenen Ereignisse, den »Fat Tails« (die unverhältnismäßig großen Auswirkungen von Minderheitsereignissen auf die Gesamteigenschaften), befasst haben.

Vorwort zur neuen deutschsprachigen Ausgabe

Die Infographik auf den ersten Seiten des Buches ist ein Versuch, die Genealogie des Incerto darzustellen und eine kulturelle Karte dafür zu präsentieren. Warum gerade diese Form?

Als ich 50 wurde, begann ich zwei neue Aktivitäten: Gewichtheben und eine (gewissermaßen) ernsthafte wissenschaftliche Karriere im Bereich der angewandten Wahrscheinlichkeits- und Risikotheorie. Bis dahin hatte ich die akademische Welt nur ab und zu besucht und dabei vor allem die Gelegenheit genutzt, die Ökonomen zu irritieren.

Die Akademiker verbinden die Dinge gern mit bereits existierenden Disziplinen, die sich schon mit einem bestimmten Problem befasst haben, zum einen als Anerkennung (damit sie selbst ebenfalls Anerkennung bekommen können), zum anderen, um über den Stammbaum zu zeigen, dass ihre eigenen Ideen nicht völlig verrückt sind. Akademiker sind gewöhnlich sehr um ihren Ruf besorgt und haben große Angst davor, für Spinner gehalten zu werden; sie werden zwischen der Notwendigkeit, etwas Neues zu sagen, und der Angst, sich zu weit aus der Terra cognita herauszuwagen, hin und her gerissen. Zum Glück habe ich im Incerto einen Weg gefunden, unnötige direkte Verweise auf die Forschungstraditionen außerhalb dieser Karte zu umgehen und meine Arbeit in einen akademischen Rahmen zu stellen, ohne den Text zu korrumpieren und den Leser zu langweilen. Wie? Ich habe es mir zur Mission gemacht, parallel eine technische Version des Incerto anzufertigen, indem ich meine entscheidenden Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlichte und sie in einem frei erhältlichen technischen Begleiter, Silent Risk, synthetisierte. Die angewandte Wahrscheinlichkeit gefiel mir als Unterhaltung besser als Bridge am Nachmittag oder Schach; allerdings fand ich sie weniger unerbittlich. (Ich ziehe das Gewichtheben der akademischen Welt bei Weitem vor, obwohl ich mir dabei schon schlimme Rückenverletzungen zugezogen habe.)

Historisch betrachtet waren fünf Disziplinen an der Entwicklung des Themas beteiligt. Der Kreis in der Mitte zeigt, welche Forschungstraditionen mit dem Incerto im Zusammenhang stehen und welche Überschneidungen zwischen ihnen existieren. Diese Disziplinen sind: Philosophie, Mathematik, Sozialwissenschaften, Rechtstheorie und die »reale Welt« oder der Fat-Tonyismus, der natürlich durch Fat Tony und sein rigoroses, aber anti-intellektuelles Vorgehen bei Entscheidungen repräsentiert wird – man kann dies als Teil der »Entscheidungstheorie« betrachten, doch »Fat-Tonyismus« passt viel besser zu diesem Stil und den Zielen. Bei den meisten Disziplinen gibt es Unterdisziplinen, die hier mit eigenem Namen oder mit dem Namen der Person, die eine bestimmte Denkschule repräsentiert, bezeichnet werden. Der Pfeil an den Grenzen weist darauf hin, dass viele Disziplinen, Denkschulen und leider auch Unterdisziplinen überhaupt nicht miteinander reden. Damit will ich sagen, dass sie wirklich nicht das geringste Interesse aneinander haben.

Ich möchte den Leser bitten, sich die Einzelheiten auf der Karte erst anzusehen während er im Incerto liest und danach – aber nicht vorher irgendwelche Teile daraus einzeln zu betrachten! Das Incerto ist mehr wie ein GPS-System gedacht und weniger wie eine konventionelle Landkarte zu lesen.

Die Farben kennzeichnen die Disziplinen, die Kreise (oder Kästchen) zeigen die Positionen der Unterdisziplinen, und die Pfeile verweisen auf das (vollständige oder partielle) Fehlen einer Überschneidung zwischen benachbarten Einheiten. Es gibt beispielsweise Kreise, die sich nur teilweise mit einer Disziplin überschneiden. Nehmen wir die Tradition des Skeptischen Empirismus im Nordwesten. Die Werke von Montaigne lassen eine partielle Überlappung erkennen, da Montaigne dank seiner (finanziellen) Unabhängigkeit nur tangential in dieser Tradition stand; er war außerdem Stoiker – und vor allem Mensch. Seine Unabhängigkeit war größtenteils der Tatsache zuzuschreiben, dass er kein Gelehrter war, denn Gelehrte (die professionellen zumal) neigen dazu, beharrlich in den bereits existierenden Disziplinen zu bleiben. Professionellen Gelehrten fehlt es an dem Abenteuergeist von uns Menschen – daher das niedrige Niveau der Gelehrsamkeit, das man bei den Herren Professoren Doktoren auf der ganzen Welt findet. Der Leser kann interdisziplinäre Aktivitäten mit der Vertragstheorie erkennen, die die Ethik, das Recht, die Versicherungen und die Psychologie der Unsicherheit überspannten – doch das ist selten.

Zunächst möchte ich dieses Schubladendenken hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit geschichtlich verdeutlichen. Wenn man einen Mathematiker fragt – oder auch einen Durchschnittsmenschen, der einige Zeit damit verbracht hat, den Vorträgen seiner Professoren über die Ursprünge der Wahrscheinlichkeit zu lauschen –, wird er sagen, alles habe in der Mathematik angefangen. Angeblich waren die Alten dafür noch nicht hoch genug entwickelt. Es wird jedoch in den verschiedenen Teilen des Incerto mehrfach erläutert, dass die Alten sich möglicherweise deshalb nicht für die Wahrscheinlichkeitsrechnung interessierten, weil es ihnen mehr um das umfassendere Problem der Entscheidungsfindung unter der Opazität und die Entwicklung der Heuristik und des »Aberglaubens« als entsprechende Werkzeuge ging. In Wider die Götter wiederholt (und propagiert) Peter Bernstein die irrtümliche Ansicht, dass die Araber zwar die Algebra entwickelten, die Wahrscheinlichkeit aber nicht entdeckten. Das ist nicht wahr. In der Levante benutzten die Menschen während der Ära der Omaijaden, rund acht Jahrhunderte vor Fermat, weit entwickelte mathematische Methoden, um Botschaften auf Grundlage der Häufigkeit von Wörtern zu entschlüsseln. Es hat sich herausgestellt, dass Al-Kindi (Alkindus) in einer seiner Abhandlungen (Fi fakk rassal at-tashfir, was sich am besten mit »Die Wissenschaft der Wahrscheinlichkeit« übersetzen lässt) die Wahrscheinlichkeit erörtert und uns eine ausgefeilte numerische Vorgehensweise für Häufigkeiten liefert.

Im Mittelalter richtete man sein Augenmerk ganz einfach auf die größere Kugel und unterlag der ludischen Verzerrung für gewöhnlich nicht. Die Menschen damals mussten raffiniert sein, da es in ihrer Welt von täglichen Gefahren wimmelte; für Messungen interessierten sie sich schlichtweg nicht, da sie keinen zwingenden Nutzen darin sahen. Wenn sie die Unsicherheit verstanden, konnten sie überleben, verhungerten nicht und schlugen den Roulettetisch in Las Vegas nicht durch eine Reihe gut definierter Wetten. Die Messungen stellen auch heute nur eine sehr kleine Untermenge der probabilistischen Unsicherheit dar – die strengen Mathematiker setzen sich eher mit »Grenzen« als mit der genauen Wahrscheinlichkeit auseinander und machen diesen Gegenstand daher zu einer Form des qualitativen Rationalismus. Es ist wichtiger zu wissen, ob eine Domäne einen Fat Tail hat, als probabilistische Schätzungen zu produzieren.

Jetzt zur Interaktion zwischen den Disziplinen. Lassen Sie uns mit dem am wenigsten Offensichtlichen beginnen. Wer kannte sich mit den Schattierungen der Wahrscheinlichkeit am besten aus? Nicht die Mathematiker. Auch nicht die Sozialwissenschaftler. Und auch nicht so recht die Philosophen. Nein – die Juristen! Ein großer Teil der Rechtstheorie ist dazu gedacht, die Unsicherheit und die Auswirkungen der Zufälligkeit auf konkrete und allgemeine Vertreter zu mildern. Sie verfügten über hoch entwickelte Methoden und eine gesunde Auffassung bezüglich dieses Problems. So hatte Pierre de Jean Olivi, ein scholastischer Denker, ein beeindruckend detailliertes Verständnis von der Zufälligkeit und Risikoverteilung, welches man in der heutigen Zeit kaum noch findet. Risikoverteilung? Das führt uns zur Vertragstheorie.

Weshalb zur Vertragstheorie? Weil sie Schutz vor Schwarzen Schwänen bietet.

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit Unsicherheit umzugehen: Man kann versuchen, die Welt besser zu verstehen in einer Weise, die es erlaubt, präzise Vorhersagen zu formulieren; man kann aber auch versuchen, dafür zu sorgen, dass man keinen Schaden durch Dinge erleidet, die man nicht versteht.

Mit der ersten Vorgehensweise haben wir kaum etwas erreicht, vielleicht sogar gravierende Verschlechterungen erfahren, doch mit dem zweiten Ansatz sind uns außerordentliche Sprünge gelungen. Inwiefern? Hier kommen die Rechts- und die Vertragstheorie ins Spiel. Beachten Sie, in der zweiten Vorgehensweise verbirgt sich die Antifragilität: wie man damit umgeht, etwas ausgesetzt zu sein, statt sich auf dieses Etwas zu konzentrieren. Wenn man keine Vorhersagen machen kann, ist es besser, von zufälligen Ereignissen zu profitieren und den Zufall als Treibstoff für Verbesserungen zu nutzen. So ermöglicht die Abbildung der Fragilität die Schaffung von Verträgen, welche die Fragilität aufheben.

Ich war 21 Jahre lang Optionshändler (Optionen werden oft als »Derivate« bezeichnet). Mein Fachgebiet, die Optionstheorie, bei der man Strukturen entwickelt, die unter Bedingungen von Unsicherheit einen gewissen Profit bringen, liegt der Vertragstheorie am nächsten. »Tail-Ereignisse« verstehen Sie nicht? Machen Sie sich nichts vor! Reduzieren Sie das Ausgesetztsein, indem Sie sicherstellen, dass Sie einen Vertrag dafür haben. Und schlaue Firmen wussten, dass es besser war, für jeden Mathematiker drei Anwälte zu beschäftigen (oder zu benutzen) – durch Anwälte erhält man nämlich Schutz, während man durch Mathematiker leicht in die Luft fliegt.

Ich hoffe, der Leser wird bemerken, dass das Verstehen von Zufälligkeit nicht etwa heißt, Fat Tails zu verstehen. Zwischen dem skeptischen Empirismus und der Mathematik der großen Abweichungen sind keine Überlappungen zu erkennen. Es gibt einen technischen Aspekt, der nicht innerhalb des Incerto selbst entwickelt wird, sondern durch parallele Forschung: Nicht einmal bei der sogenannten Theorie der großen Abweichungen in der Mathematik gibt es Überschneidungen mit den durch die Cramér-Bedingung verursachten Fat Tails.

Auch zwischen der »Tradition der Heuristik und Bias« in der Psychologie und der Entscheidungstheorie mit den Pionieren Kahneman und Tversky und den Fat Tails gibt es keine Überlappung, was eine Tragödie ist: Viele Forschungsarbeiten schrecken die Leute massiv davon ab, sich wegen der Fat Tails Sorgen zu machen – doch, bemerkenswerterweise, erklären die ursprünglichen Kahneman-Tversky-Arbeiten und nachfolgende Forschungen dieser Art, dass Menschen, die Verzerrungen unterliegen, die Tails unterschätzen, gerade weil sie Zufälligkeit und Selbstüberschätzung unterschätzen, was uns in den Tails dann um die Ohren fliegt. Genauso wie Ökonomen, die von den Fat Tails zwar wissen, sie aber nicht verstehen, enorme inferentielle Fehler unterlaufen. Manche Psychologen finden es leider irrational, dass wir mehr Angst vor Flugzeugabstürzen haben als vor Autounfällen. Das ist ja berechtigt. Sie finden es aber auch irrational, dass Ebola uns stärker beunruhigt als Stürze von Leitern, die weit mehr Todesopfer gefordert haben als Ebola. Doch Ebola ist multiplikativ: Im Zeitalter der Konnektivität besteht eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer sehr großen unkontrollierbaren Ausbreitung kommt. Stürze von Leitern dagegen gehören zu Mediokristan. Sie können die europäische Population nicht dezimieren. Irrational sind folglich die Psychologen, die die falschen Modelle verwenden, nicht die Menschen.

Logik behandelt die Verwechslung des Fehlens von Beweisen mit Beweisen für das Fehlen – dem Kern der popperschen Asymmetrie. Keine Arbeit wurde bisher unternommen zu zeigen, dass der Unterschied, mathematisch betrachtet, zwischen dem Fehlen von Beweisen und Beweisen für das Fehlen in Extremistan größer ist. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, dass gerade Psychologen der Ungewissheit, die sich nicht auf die Fat Tails konzentrieren, typischerweise diese beiden verwechseln – und verheerende analytische Fehler machen.

Außerdem benötigt man unter Fat Tails mehr Daten, um erkennen zu können, was vor sich geht, und uns mit dem Problem des Skeptizismus verbindet. Das Gesetz der großen Zahlen ist das mathematische Pendant zum Induktionsproblem der Philosophie, doch in der Tradition gibt es keine Verbindung zwischen beiden.

Lassen Sie uns abschließend noch den eingehend bearbeiteten Punkt des Zusammenhangs von Statistik und skeptischer Philosophie in Narren des Zufalls betrachten. Im Gegensatz zu dem, was wir nach Ansicht der Vertreter der »großen Daten« denken sollen, gibt es die Statistik, um einen rationalen Mechanismus für die Beseitigung von Gewissheiten bereitzustellen – und um zu verhindern, dass wir uns vom Zufall narren lassen, indem wir an zufällige Zusammenhänge und falsche Verbindungen glauben. Sie ist von Anfang bis Ende die Anwendung des skeptischen Empirismus auf weltliche Dinge – und daraus folgende.

Ich danke den Lesern für ihr Interesse und wünsche mir, dass die Karte nicht jenen Nervenkitzel beseitigen wird, der entsteht, wenn wir uns gelegentlich im Bereich der Ungewissheit verloren fühlen – der Mutter aller Disziplinen aus meiner Sicht.

Nassim Nicholas Taleb im Sommer 2015

Prolog

Über das Gefieder von Vögeln

Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, mag das eine interessante Überraschung für ein paar Ornithologen (und andere Leute, denen die Farbe von Vögeln extrem wichtig war) gewesen sein, doch dort liegt die Bedeutung der Geschichte nicht. Sie veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres Wissens. Eine einzige Beobachtung kann eine allgemeine Feststellung, die aus Jahrtausenden von bestätigenden Sichtungen von Millionen weißer Schwäne abgeleitet wurde, ungültig machen. Alles, was dafür nötig ist, ist ein einziger (und, wie ich gehört habe, ausgesprochen hässlicher) schwarzer Vogel.1

Ich möchte einen Schritt über diese philosophisch-logische Frage hinausgehen und in eine empirische Realität vorstoßen, von der ich seit meiner Kindheit besessen bin. Was wir hier einen Schwarzen Schwan nennen (mit einem Großbuchstaben am Anfang), ist ein Ereignis mit den drei folgenden Attributen.

Es ist erstens ein Ausreißer – es liegt außerhalb des Bereichs der regulären Erwartungen, da nichts in der Vergangenheit überzeugend auf seine Möglichkeit verweisen kann. Es hat zweitens enorme Auswirkungen. Drittens bringt die menschliche Natur uns trotz seines Status als Ausreißer dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu konstruieren, um es erklärbar und vorhersagbar zu machen.

Die drei Attribute sind also Seltenheit, massive Auswirkungen und Vorhersagbarkeit im Rückblick (allerdings nicht in der Vorausschau).2 Eine kleine Zahl Schwarzer Schwäne erklärt so ziemlich alles in unserer Welt, vom Erfolg von Ideen und Religionen über die Dynamik geschichtlicher Ereignisse bis zu Elementen unseres persönlichen Lebens. Seit wir vor rund 10 000 Jahren das Pleistozän hinter uns gelassen haben, hat der Effekt dieser Schwarzen Schwäne sich verstärkt. Er hat während der industriellen Revolution begonnen, sich zu beschleunigen, da die Welt damals komplizierter wurde; alltägliche Ereignisse – diejenigen, mit denen wir uns befassen, über die wir sprechen und die wir nach der Lektüre der Zeitungen vorherzusagen versuchen – haben dagegen immer mehr an Bedeutung verloren.

Denken Sie nur daran, wie wenig unser Verständnis der Welt am Vorabend der Ereignisse des Jahres 1914 uns dabei geholfen hätte, zu erraten, was als Nächstes passieren würde! (Sie dürfen natürlich nicht mogeln und die Erklärungen benutzen, die Ihnen Ihr langweiliger Lehrer in der Schule eingetrichtert hat!) Wie steht es mit dem Aufstieg von Hitler und dem nachfolgenden Krieg? Und mit dem jähen Zerfall des Ostblocks? Mit dem Aufkommen des islamischen Fundamentalismus? Der Verbreitung des Internets? Dem Zusammenbruch des Marktes im Jahre 1987 (und der unerwarteteren Erholung)? Fimmel, Epidemien, die Mode, Ideen, die Entstehung von Gattungen und Schulen in der Kunst – all das erfolgt nach der Dynamik der Schwarzen Schwäne. Ich könnte hier so ziemlich alles in unserer Umgebung, was von Bedeutung ist, anführen.

Die Kombination von geringer Vorhersagbarkeit und starken Auswirkungen macht den Schwarzen Schwan zu einem großen Rätsel, doch auch das ist noch nicht das Kernthema dieses Buchs. Es kommt nämlich hinzu, dass wir dazu neigen, so zu handeln, als würde dieses Phänomen gar nicht existieren! Mit »wir« meine ich nicht nur Sie, Ihren Cousin Robert und mich selbst, sondern so ziemlich alle »Sozialwissenschaftler«, die seit über einem Jahrhundert von der falschen Überzeugung ausgehen, sie könnten die Unsicherheit mit ihren Tools messen. Die Anwendung der Wissenschaften der Ungewissheit auf Probleme der realen Welt hatte nämlich lächerliche Auswirkungen; ich durfte sie in der Finanzwelt und der Wirtschaft selbst erleben. Fragen Sie Ihren Portfoliomanager doch mal, wie er »Risiko« definiert – er wird Ihnen sehr wahrscheinlich eine Messgröße präsentieren, die die Möglichkeit Schwarzer Schwäne ausschließt; man hat für die Schätzung des Gesamtrisikos also keinen besseren prädiktiven Wert als die Astrologie (wir werden noch sehen, wie der intellektuelle Betrug durch die Mathematik verbrämt wird). Dieses Problem ist bei sozialen Dingen sehr verbreitet.

Bei der zentralen Idee in diesem Buch geht es um unsere Blindheit gegenüber dem Zufall, insbesondere gegenüber großen Abweichungen: Wieso sehen wir – Wissenschaftler oder nicht, Koryphäen oder Normalbürger – eher die Cent- als die Dollarbeträge? Weshalb konzentrieren wir uns weiter auf die Kleinigkeiten, nicht auf die möglichen großen bedeutungsvollen Ereignisse, trotz der offensichtlichen Beweise für ihren starken Einfluss? Und, falls Sie meinem Gedankengang folgen: Weshalb verringert das Lesen der Zeitung unser Wissen über die Welt sogar?

Es ist leicht zu erkennen, dass das Leben der kumulative Effekt einer Handvoll signifikanter Erschütterungen ist. Wenn man in seinem Lehnstuhl (oder auf einem Barhocker) sitzt, ist es nicht besonders schwierig, die Rolle der Schwarzen Schwäne zu erkennen. Machen Sie doch mal folgende Übung: Betrachten Sie Ihr eigenes Dasein. Zählen Sie die signifikanten Ereignisse, die technologischen Veränderungen und die Erfindungen, zu denen es seit Ihrer Geburt in Ihrer Umgebung gekommen ist, und vergleichen Sie sie mit dem, was vor ihrem Auftreten erwartet wurde. Wie viele von ihnen waren so geplant? Sehen Sie sich Ihr eigenes Leben an, Ihre Berufswahl, die Begegnung mit Ihrem Lebenspartner, Ihr Exil aus Ihrem Herkunftsland, den Verrat, dem Sie ausgesetzt waren, Ihren plötzlichen Aufstieg zum Wohlstand oder Ihre schlagartige Verarmung. Wie oft sind diese Dinge planmäßig eingetreten?

Was wir nicht wissen

Die Logik des Schwarzen Schwans macht das, was wir nicht wissen, viel bedeutungsvoller als das, was wir wissen. Schwarze Schwäne werden nämlich oft dadurch verursacht und verschlimmert, dass sie unerwartet kommen.

Denken Sie an den Terrorangriff in den USA am 11. September 2001: Wenn die Gefahr am 10. September vorstellbar gewesen wäre, hätte dieser Angriff nicht stattgefunden. Wenn man so eine Möglichkeit der Aufmerksamkeit für wert erachtet hätte, hätten Kampfflugzeuge die Twin Towers umkreist, alle Passagierflugzeuge hätten verschlossene, kugelsichere Cockpittüren gehabt, und der Angriff hätte nicht stattgefunden – Punktum! Dann hätte sich vielleicht etwas anderes ereignet. Was? Das weiß ich nicht.

Ist es nicht erstaunlich, dass ein Ereignis gerade deshalb eintreten kann, weil niemand davon ausgeht, dass es passieren könnte? Wie können wir uns gegen so etwas verteidigen? Alles, was man erfährt (beispielsweise, dass New York für Terroristen ein leichtes Ziel ist), kann bedeutungslos werden, wenn der Feind weiß, dass man es weiß. Bei solchen strategischen Spielen kann das, was man weiß, seltsamerweise wirklich bedeutungslos sein.

Das gilt auch für die gesamte Wirtschaft. Denken Sie nur an das »Geheimrezept« für durchschlagenden Erfolg in der Gastronomie. Wenn es bekannt und offensichtlich wäre, hätte irgendjemand die Idee schon gehabt und umgesetzt, und sie wäre Allgemeingut geworden. Die nächste grandiose Idee in der Gastronomie muss etwas sein, was die derzeitige Population der Restaurantbetreiber sich nicht leicht vorstellen kann. Sie muss ein gutes Stück von den Erwartungen entfernt sein. Je unerwarteter der Erfolg eines derartigen Projekts ist, desto kleiner ist die Zahl der Konkurrenten und desto erfolgreicher ist der Unternehmer, der es verwirklicht. Für das Schuh- und Buchgeschäft gilt das Gleiche – überhaupt für alle Branchen. Und für wissenschaftliche Theorien auch – niemand ist daran interessiert, sich Banalitäten anzuhören. Wie stark ein Unterfangen sich auszahlt, ist im Allgemeinen umgekehrt proportional zu dem, was man davon erwartet.

Nehmen wir den Tsunami, der im Dezember 2004 die Pazifikregion überrollte. Wäre er erwartet worden, hätte er keinen so immensen Schaden angerichtet – die betroffenen Gebiete wären nicht so dicht bevölkert gewesen, und man hätte ein Frühwarnsystem eingerichtet. Was wir wissen, kann uns nicht wirklich verletzen.

Experten und »leere Anzüge«

Dass wir Ausreißer nicht vorhersagen können, bedeutet angesichts ihres großen Anteils an der Dynamik der Ereignisse, dass wir den Lauf der Geschichte nicht vorhersagen können.

Wir verhalten uns aber so, als könnten wir geschichtliche Ereignisse vorhersagen oder, was noch schlimmer ist, als könnten wir den Lauf der Geschichte ändern. Wir produzieren Projektionen für die Ölpreise und die Defizite bei der Sozialversicherung, die sich über 30 Jahre erstrecken, ohne zu erkennen, dass wir nicht mal die Entwicklung im nächsten Sommer vorhersagen können. Die Summe unserer Fehler bei der Vorhersage politischer und wirtschaftlicher Ereignisse ist so gigantisch, dass ich mich beim Blick darauf immer kneifen muss, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume. Das Überraschende ist nicht das Ausmaß unserer Fehler bei den Vorhersagen, sondern dass wir uns dessen überhaupt nicht bewusst sind. Wenn es um tödliche Konflikte geht, ist das noch viel beunruhigender: Kriege sind völlig unvorhersehbar (und wir wissen das nicht). Da wir die Kausalketten zwischen Politik und Handlungen nicht verstehen, können wir aufgrund unserer aggressiven Ignoranz leicht Schwarze Schwäne auslösen – wie Kinder, die mit einem Chemiebaukasten spielen.

Dass wir in Umgebungen, in denen es zu Schwarzen Schwänen kommen kann, keine Vorhersagen machen können und das nicht einmal erkennen, bedeutet, dass gewisse »Experten« in Wirklichkeit gar keine Experten sind, auch wenn sie das glauben. Wenn man sich ihre Ergebnisse ansieht, kann man nur den Schluss ziehen, dass sie auch nicht mehr über ihr Fachgebiet wissen als die Gesamtbevölkerung, sondern nur viel bessere Erzähler sind – oder, was noch schlimmer ist, uns meisterlich mit komplizierten mathematischen Modellen einnebeln. Außerdem tragen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit Krawatten.

Da Schwarze Schwäne sich nicht vorhersagen lassen, müssen wir uns auf ihre Existenz einstellen (statt so naiv zu sein, sie vorhersagen zu wollen). Wenn wir uns auf das Antiwissen konzentrieren, auf das, was wir nicht wissen, können wir wirklich viel tun. Wir können uns beispielsweise möglichst stark Schwarzen Schwänen vom positiven Typ aussetzen, die günstige Umstände bringen. Auf manchen Gebieten – wie bei den wissenschaftlichen Entdeckungen und der Investition von Risikokapital – zahlt das, was wir nicht wissen, sich unverhältnismäßig stark aus, da wir dort durch ein seltenes Ereignis gewöhnlich wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen haben. Wir werden noch sehen, dass – entgegen den gängigen Annahmen im Bereich der Sozialwissenschaften – kaum eine bemerkenswerte Entdeckung oder Technologie aus Absicht und Planung resultierte; die weitaus meisten waren schlicht Schwarze Schwäne. Entdecker und Unternehmer sollten bei ihrer Strategie daher weniger auf Top-down-Planung setzen, sondern sich auf maximales Herumprobieren und das Erkennen der Chancen, die sich ihnen bieten, konzentrieren. Ich stimme nicht mit den Anhängern von Marx und Adam Smith überein: Freie Märkte funktionieren, weil sie es den Leuten erlauben, dank aggressivem Trial and Error Glück zu haben, nicht, weil sie ihnen Belohnungen oder »Anreize« für ihre Fähigkeiten bieten. Die beste Strategie besteht also darin, möglichst viel auszuprobieren und möglichst viele Chancen, aus denen sich Schwarze Schwäne ergeben könnten, zu ergreifen.

Lernen, zu lernen

Leider konzentrieren wir uns zu stark auf das, was wir wissen: Wir neigen dazu, nicht das Allgemeine zu lernen, sondern das Präzise. Und das ist eine große Behinderung.

Was haben die Leute denn aus den Ereignissen am 11. September gelernt? Dass manche Ereignisse aufgrund ihrer Dynamik größtenteils außerhalb des Rahmens der Vorhersagbarkeit liegen? Nein. Dass die traditionellen Ansichten einen eingebauten Mangel haben? Nein. Was haben sie daraus gelernt? Präzise Regeln dafür, islamische Prototerroristen und große Gebäude zu meiden. Ich werde immer wieder darauf hingewiesen, dass es doch wichtig für uns sei, praktisch zu denken und greifbare Maßnahmen umzusetzen, statt über das Wissen zu »theoretisieren«. Die Geschichte der Maginot-Linie zeigt, dass wir darauf konditioniert sind, spezifisch zu sein. Nach dem Ersten Weltkrieg errichteten die Franzosen entlang dem Weg, auf dem die Deutschen in ihr Land eingefallen waren, ein Befestigungssystem, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholte. Doch Hitler umging es (beinahe) mühelos. Die Franzosen hatten sich sehr eingehend mit der Geschichte befasst, aber leider mit zu viel Präzision gelernt. Sie waren zu praxisbezogen und übermäßig auf ihre eigene Sicherheit fokussiert.

Wir lernen nicht spontan, dass wir nicht lernen, dass wir nicht lernen. Das Problem liegt in der Struktur unseres Verstands: Wir lernen keine Regeln, sondern nur Fakten. Wir sind offenbar nicht gut darin, uns Metaregeln (wie die Regel, dass wir dazu neigen, keine Regeln zu lernen) anzueignen. Wir verachten das Abstrakte, und zwar leidenschaftlich.

Weshalb ist das so? Hier muss ich, wie auch sonst in diesem Buch, die traditionellen Ansichten auf den Kopf stellen und zeigen, dass sie auf unsere moderne, komplexe und zunehmend rekursive Umgebung einfach nicht anwendbar sind.3

Es gibt jedoch eine tiefere Frage: Wofür ist unser Verstand gemacht? Es sieht so aus, als hätten wir die falsche Bedienungsanleitung. Unser Verstand ist offenbar nicht für das Denken und die Introspektion gemacht. Sonst wären die Dinge heute für uns einfacher, aber dann wären wir gar nicht hier, und ich könnte nicht darüber sprechen – mein introspektiver und intensiv nachdenkender Vorfahr, der nicht viel auf die Tatsachen gab, wäre dann nämlich von einem Löwen gefressen worden, während sein nicht denkender, aber schneller reagierender Cousin die Beine in die Hand genommen und Schutz gesucht hätte. Denken ist ja schließlich eine zeitraubende Aktivität und generell eine große Energieverschwendung; unsere Vorfahren brachten über 100 Millionen Jahre als nicht denkende Säugetiere zu, und wir haben unseren Verstand in der Millisekunde unserer Geschichte, in der wir ihn benutzt haben, für Themen eingesetzt, die zu sehr am Rande lagen, um von Bedeutung zu sein. Die Evidenz zeigt, dass wir viel weniger denken, als wir glauben – außer natürlich, wenn wir darüber nachdenken.

Eine neue Art von Undankbarkeit

Es stimmt mich sehr traurig, an die Menschen zu denken, die von der Geschichte schlecht behandelt wurden. Die Poètes maudits, wie Edgar Allan Poe und Arthur Rimbaud, wurden von der Gesellschaft verachtet, später aber verehrt und den Schulkindern eingetrichtert. (Es gibt sogar Schulen, die nach Schulabbrechern benannt wurden.) Diese Anerkennung kam leider ein bisschen zu spät, um den Dichtern einen Serotoninstoß zu verschaffen oder ihrem Liebesleben auf der Erde einen Schub zu geben. Manche Helden wurden allerdings noch schlechter behandelt – die ganz traurige Kategorie der Menschen, die uns das Leben gerettet oder uns vor Katastrophen bewahrt haben, ohne dass wir das wissen. Sie haben keine Spuren hinterlassen und wussten nicht einmal, was sie vollbrachten. Wir erinnern uns an die Märtyrer, die für eine Sache gestorben sind, von der wir wissen, aber nie an diejenigen, deren Beitrag genauso effektiv war, uns aber nicht bekannt ist – gerade weil sie Erfolg hatten. Angesichts dieser anderen Art von Undankbarkeit verblasst unsere Undankbarkeit gegenüber den Poètes maudits völlig. Hier handelt es sich nämlich um eine viel schlimmere Form: das Gefühl der Nutzlosigkeit seitens des verkannten Helden. Das möchte ich durch ein Gedankenexperiment verdeutlichen.

Lassen Sie uns annehmen, dass es einem Gesetzgeber mit Mut, Einfluss, Verstand, Weitblick und Beharrlichkeit gelingt, ein Gesetz zu erlassen, das am 10. September 2001 in Kraft tritt. Für alle Cockpits sind jetzt kugelsichere Türen vorgeschrieben (was die Fluggesellschaften, die ohnehin zu kämpfen haben, eine ziemliche Stange Geld kosten wird), die ständig verschlossen zu halten sind – für den Fall, dass Terroristen beschließen, das World Trade Center in New York mit Flugzeugen anzugreifen. Ich weiß, dass das verrückt ist, aber es ist ja nur ein Gedankenexperiment (mir ist bewusst, dass es einen Gesetzgeber mit Mut, Einfluss, Verstand, Weitblick und Beharrlichkeit vielleicht gar nicht gibt; darum geht es mir hier doch). Beim Personal der Fluggesellschaften stößt dieses Gesetz nicht auf Begeisterung, da es ihm die Arbeit erschwert. Es hätte das, was dann am 11. September geschah, aber mit Sicherheit verhindert.

Der Person, die die Schlösser an den Cockpittüren durchsetzte, werden keine Denkmäler auf öffentlichen Plätzen errichtet, und ihr Verdienst wird auch nicht in ihrem Nachruf erwähnt: »Joe Smith, der dazu beigetragen hat, die Katastrophe vom 11. September zu verhindern, ist einem Leberleiden erlegen.« Die Öffentlichkeit, die ja sehen wird, dass seine Maßnahme völlig überflüssig und reine Geld- und Energieverschwendung war, könnte ihn – mit massiver Unterstützung der Piloten – sogar aus seinem Amt jagen. Vox clamantis in deserto. Er wird deprimiert abtreten, mit dem Gefühl, völlig versagt zu haben, und wird unter dem Eindruck sterben, nichts Nützliches getan zu haben. Ich würde ja gern zu seiner Beerdigung gehen, liebe Leser, aber ich kann ihn nicht finden. Dabei kann Anerkennung so viel Auftrieb geben. Sie können mir glauben: Selbst diejenigen, die ehrlich sagen, sie würden nichts von Anerkennung halten und die Arbeit von ihren Früchten unterscheiden, bekommen davon einen Serotoninstoß. So schlecht wird der stille Held behandelt: Nicht einmal sein eigenes Hormonsystem liefert ihm eine Belohnung!

Denken Sie jetzt noch einmal an die Ereignisse vom 11. September 2001. Wer heimste danach die Anerkennung ein? Die Leute, die man im Fernsehen bei der Vollbringung heroischer Taten sah, und diejenigen, die sich bemühten, dort den Eindruck zu erwecken, sie würden heroische Taten vollbringen. Zur zweiten Kategorie gehören Menschen wie Richard Grasso, Chairman der New Yorker Aktienbörse, der »die Börse rettete« und dafür eine gigantische Prämie bekam (eine Summe, die mehreren Tausend Durchschnittsgehältern entsprach). Er brauchte nichts anderes zu tun, als vor den Fernsehkameras die Eröffnungsglocke läuten zu lassen. Wir werden noch sehen, dass das Fernsehen der Träger von Ungerechtigkeit und eine der Hauptursachen für die Blindheit gegenüber Schwarzen Schwänen ist.

Wer wird belohnt, der Notenbankchef, der eine Rezession verhindert, oder derjenige, der kommt, um die Fehler seines Vorgängers »auszubügeln«, und zufällig während einer wirtschaftlichen Erholung im Amt ist? Wer ist wertvoller, der Politiker, der einen Krieg vermeiden kann, oder derjenige, der einen neuen anfängt (und das Glück hat, ihn zu gewinnen)?

Das ist die gleiche logische Umkehrung, die wir schon beim Wert von dem, was wir nicht wissen, gesehen haben: Jeder weiß, dass wir mehr Vorbeugung als Behandlung brauchen, doch kaum jemand belohnt Vorbeugungsmaßnahmen. Wir glorifizieren jene, deren Namen in die Geschichtsbücher eingegangen sind, auf Kosten derjenigen, über die unsere Bücher schweigen. Wir sind nicht nur eine oberflächliche Rasse (das ließe sich wohl bis zu einem gewissen Grad ändern), sondern zudem eine sehr ungerechte.

Das Leben ist sehr ungewöhnlich

In diesem Buch geht es um Ungewissheit. Für mich bedeutet das seltene Ereignis Ungewissheit. Es mag übertrieben klingen, dass wir grundsätzlich die seltenen und extremen Ereignisse untersuchen müssen, um die häufigen verstehen zu können, doch ich sehe das so: Man kann sich Phänomenen auf zwei Weisen nähern. Zum einen kann man das Außergewöhnliche ausschließen und sich auf das »Normale« konzentrieren, also »Ausreißer« beiseitelassen und sich mit den üblichen Fällen befassen. Die zweite Methode beruht auf der Überzeugung, dass man Phänomene nur verstehen kann, wenn man sich zuerst mit den Extremfällen beschäftigt – vor allem, wenn sie, wie Schwarze Schwäne, eine enorme kumulative Wirkung haben.

Das Übliche interessiert mich nicht besonders. Wenn man etwas über das Temperament, die ethischen Grundsätze und die persönliche Eleganz eines Freundes wissen möchte, muss man sich ansehen, wie er sich unter schwierigen Umständen verhält, nicht im rosigen Glanz des täglichen Lebens. Welche Gefahr ein Verbrecher darstellt, kann man nicht nur danach beurteilen, was er an einem normalen Tag tut. Die Gesundheit können wir nur verstehen, wenn wir uns auch mit schweren Krankheiten und Epidemien befassen. Das Normale ist oft ohne Bedeutung.

Nahezu alles im sozialen Leben wird durch die seltenen, aber folgenschweren Erschütterungen und Sprünge hervorgerufen. Dennoch konzentrieren sich fast alle, die sich eingehender mit dem sozialen Leben befassen, auf das »Normale« und benutzen für ihre Schlussfolgerungen »Glockenkurven«-Methoden, die uns so gut wie gar nichts sagen. Weshalb das so ist? Weil die Glockenkurve große Abweichungen ignoriert und nicht mit ihnen umgehen kann, uns aber das Gefühl gibt, wir hätten die Ungewissheit gebändigt. Ich werde sie in diesem Buch auch GIB nennen, Großer Intellektueller Betrug.

Wo die Schwarzen Schwäne herkommen

Als im ersten Jahrhundert nach Christus der Aufstand der Juden begann, beruhte deren Zorn zu einem erheblichen Teil darauf, dass die Römer unbedingt eine Statue von Caligula in ihrem Tempel in Jerusalem aufstellen wollten, im Gegenzug für die Platzierung einer Statue des jüdischen Gottes Jahwe in ihren eigenen Tempeln. Die Römer erkannten nicht, dass das, was die Juden (und die späteren levantinischen Monotheisten) unter Gott verstanden, abstrakt und allumfassend war und nichts mit der anthropomorphen, zu menschlichen Darstellung zu tun hatte, die die Römer im Kopf hatten, wenn sie deus sagten. Der entscheidende Punkt war, dass der Gott der Juden sich nicht symbolisch darstellen ließ. Und das, was viele Leute als »unbekannt«, »unwahrscheinlich« oder »ungewiss« bezeichnen, ist für mich auch nicht dasselbe; es ist keine konkrete, präzise Wissenskategorie, sondern das Gegenteil: das Fehlen (und die Beschränkungen) der Erkenntnis. Wir müssen lernen, Begriffe, die zur Beschreibung des Wissens dienen sollen, nicht zur Beschreibung seines Gegenteils zu benutzen.

Was ich Platonität nenne, nach den Ideen (und der Persönlichkeit) des Philosophen Plato, ist unsere Neigung, die Karte fälschlich für das Territorium zu halten, uns auf reine und gut definierte »Formen« zu konzentrieren, ob es sich nun um Objekte (wie Dreiecke), soziale Konzepte (wie Utopien, Gesellschaften, die nach einem Plan von dem, was »sinnvoll ist«, aufgebaut sind) oder sogar Nationalitäten handelt. Wenn diese fest umrissenen Konstrukte unseren Kopf bevölkern, geben wir ihnen den Vorzug vor nicht so eleganten Objekten, vor den Objekten mit unordentlicheren Strukturen, die sich nicht so leicht nachziehen lassen (diese Idee werde ich das ganze Buch hindurch weiter ausarbeiten).

Die Platonität lässt uns glauben, wir würden mehr verstehen, als der Fall ist. Das geschieht allerdings nicht überall. Ich will nicht sagen, dass Platos Formen nicht existieren. Modelle und Konstruktionen, die intellektuellen Karten der Realität, sind nicht immer falsch, sondern nur bei manchen spezifischen Anwendungen. Das Problem ist zum einen, dass wir nicht vorher (sondern erst hinterher) wissen, wo die Karte falsch ist, und zum anderen, dass die Fehler schwerwiegende Konsequenzen haben können. Diese Modelle sind wie Medikamente, die durchaus helfen können, aber zufällige, sehr schlimme Nebenwirkungen haben.

Der platonische Graben ist die explosive Grenze, wo die platonische Denkweise mit der unordentlichen Realität in Kontakt kommt, wo die Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir zu wissen glauben, gefährlich groß wird. Genau hier werden Schwarze Schwäne produziert.

Zu langweilig, um darüber zu schreiben

Der berühmte Regisseur Luchino Visconti soll darauf geachtet haben, dass geschlossene Schachteln, in denen sich Schmuck befinden sollte, in seinen Filmen und Inszenierungen tatsächlich echten Schmuck enthielten. Das könnte eine effektive Weise sein, dafür zu sorgen, dass die Schauspieler wirklich in ihrer Rolle aufgehen. Meiner Ansicht nach könnte Viscontis Geste auch auf einem schlichten Gefühl für Ästhetik und dem Streben nach Authentizität beruhen – vielleicht fühlt es sich nicht richtig an, den Zuschauer zu täuschen.

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Essay, in dem eine primäre Idee zum Ausdruck gebracht wird, nicht um das Recycling oder die Neuverpackung der Gedanken von anderen. Ein Essay ist eine impulsive Meditation, kein wissenschaftlicher Bericht. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich hier einige an sich naheliegende Themen auslasse; ich finde, dass das, was mir zu langweilig ist, um darüber zu schreiben, dem Leser auch zu langweilig sein könnte. (Außerdem kann ich so vielleicht das nicht Wesentliche herausfiltern.)

Talk is cheap. Jemand, der an der Universität zu viele Philosophiekurse (oder vielleicht auch nicht genug) belegt hat, könnte einwenden, die Sichtung eines Schwarzen Schwans würde die Theorie, dass alle Schwäne weiß sind, nicht widerlegen; so ein Vogel sei nämlich gar kein Schwan, da das Weißsein die essenzielle Eigenschaft eines Schwans sei. Wer zu viel Wittgenstein (und Werke über Kommentare zu Wittgenstein) liest, könnte tatsächlich den Eindruck haben, dass Sprachprobleme wichtig sind. Sie können mit Sicherheit wichtig sein, wenn man in den philosophischen Fakultäten bekannt werden will. Wir, die Praktiker und Entscheider in der realen Welt, beschäftigen uns damit nur am Wochenende. Wie ich in Kapitel XVIII erläutern werde, haben diese Feinheiten trotz ihres intellektuellen Reizes im Gegensatz zu substanzielleren (aber vernachlässigten) Dingen von Montag bis Freitag keine schwerwiegenden Auswirkungen. Die Leute im Klassenzimmer oder Hörsaal, die bisher nicht viele wirkliche Situationen erlebt haben, in denen angesichts von Ungewissheit Entscheidungen gefällt werden mussten, erkennen nicht, was wichtig ist und was nicht – nicht einmal diejenigen, die sich auf die Unsicherheit spezialisiert haben (oder gerade diejenigen, die sich auf die Unsicherheit spezialisiert haben).

Was ich die Praxis der Ungewissheit nenne, kann Piraterie, Spekulation mit Gütern, professionelles Glücksspiel, die Arbeit in manchen Zweigen der Mafia oder schlicht serielles Unternehmertum sein. Daher wende ich mich nachdrücklich gegen »sterilen Skeptizismus«, die Art, gegen die wir nichts machen können, und gegen die extrem theoretischen Sprachprobleme, die einen großen Teil der modernen Philosophie für das, was man spöttisch die »breite Öffentlichkeit« nennt, weitgehend bedeutungslos gemacht haben. (Früher waren die wenigen Philosophen und Denker, die sich nicht selbst ernähren konnten, auf die Unterstützung eines Förderers angewiesen. Heute sind die Akademiker in den abstrakten Disziplinen von der Ansicht ihrer Kollegen abhängig, ohne Überprüfung von außen, was hin und wieder zu dem gravierenden pathologischen Ergebnis führt, dass ihre Arbeit zu engstirnigen Tüchtigkeitswettbewerben wird. Das alte System hatte zwar durchaus seine Mängel, sorgte aber zumindest für einen gewissen Relevanzstandard.)

Die Philosophin Edna Ullmann-Margalit hat in diesem Buch einen inneren Widerspruch entdeckt und mich aufgefordert, die Verwendung der präzisen Metapher des Schwarzen Schwans zur Beschreibung des Unbekannten, des Abstrakten und des unpräzise Unsicheren zu rechtfertigen – weißer Raben, rosafarbener Elefanten oder verdampfender Bewohner eines fernen Planeten, der Tau Ceti umkreist. Sie hat mich tatsächlich auf frischer Tat ertappt. Es gibt hier einen Widerspruch! Dieses Buch ist eine Geschichte, und ich ziehe es vor, Geschichten und Metaphern zu benutzen, um zu zeigen, wie leichtgläubig wir im Hinblick auf Geschichten sind und dass wir die gefährliche Verdichtung von Erzählungen bevorzugen.

Um eine Geschichte zu ersetzen, braucht man eine Geschichte. Metaphern und Geschichten sind (leider) viel stärker als Ideen. Außerdem kann man sie leichter behalten, und es macht mehr Spaß, sie zu lesen. Wenn ich mich gegen das wenden muss, was ich die narrativen Disziplinen nenne, ist die Erzählung meine beste Waffe.

Ideen kommen und gehen, Geschichten bleiben.

Resümee

Das Untier in diesem Buch ist weder die Glockenkurve noch der Statistiker, der sich selbst betrügt, und auch nicht der platonisierte Geisteswissenschaftler, der Theorien braucht, um sich etwas vorzumachen. Nein, es ist der Drang, uns auf das zu »fokussieren«, was für uns einen Sinn ergibt. Das heutige Leben auf unserem Planeten erfordert viel mehr Fantasie, als uns mitgegeben wurde. Es fehlt uns an Fantasie, und wir unterdrücken sie bei anderen.

Beachten Sie bitte, dass ich bei diesem Buch nicht mit der bestialischen Methode arbeite, zur Bestätigung selektive »Beweise« anzuführen. Aus Gründen, die ich in Kapitel V erklären werde, bezeichne ich eine derartige Flut von Beispielen als naiven Empirismus – Reihen von Anekdoten, die ausgewählt wurden, weil sie zu einer Geschichte passen, stellen keine Beweise dar. Wer nach Bestätigung sucht, wird immer genug finden, um sich selbst zu täuschen4 – und seine Kollegen zweifellos auch. Die Idee vom Schwarzen Schwan beruht auf der Struktur der Zufälligkeit in der empirischen Realität.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: In diesem (persönlichen) Essay riskiere ich meinen Kopf und stelle eine Behauptung auf, die vielen unserer Denkgewohnheiten zuwiderläuft: dass unsere Welt vom Extremen, Unbekannten und sehr Unwahrscheinlichen (unwahrscheinlich nach unserem jetzigen Wissensstand) beherrscht wird. Leider wenden wir unsere Zeit ständig für oberflächliche Gespräche auf und konzentrieren uns auf das Bekannte und das, was sich wiederholt. Wir müssen jedoch den Extremfall als Ausgangspunkt benutzen, wir dürfen ihn nicht als Ausnahme behandeln, die man unter den Teppich kehren kann. Ich stelle außerdem die kühnere (und ärgerlichere) Behauptung auf, dass die Zukunft sich trotz unserer Fortschritte und unseres wachsenden Wissens – oder vielleicht wegen unserer Fortschritte und unseres wachsenden Wissens – immer weniger vorhersagen lassen wird. Die menschliche Natur und die Gesellschafts-«Wissenschaften« scheinen sich aber dazu verschworen zu haben, das vor uns zu verbergen.

Überblick

Dieses Buch ist nach einer einfachen Logik aufgebaut: Ich bewege mich von dem, was man als (vom Thema und von der Behandlung her) rein literarisch bezeichnen kann, zu dem, was man als völlig wissenschaftlich (vom Thema, wenn auch nicht von der Behandlung her) betrachten kann. Die Psychologie wird besonders in Teil 1 und am Anfang von Teil 2 eine Rolle spielen; mit der Wirtschaft und den Naturwissenschaften befasse ich mich überwiegend in der zweiten Hälfte von Teil 2 und in Teil 3. In Teil 1, »Umberto Ecos Antibibliothek«, geht es vor allem darum, wie wir historische und aktuelle Ereignisse wahrnehmen und zu welchen Verzerrungen es dabei kommt. In Teil 2, »Wir können einfach keine Vorhersagen machen«, befasse ich mich mit unseren Fehlern beim Umgang mit der Zukunft und den unter der Decke gehaltenen Beschränkungen mancher »Wissenschaften« – und damit, was wir dagegen tun können. In Teil 3, »Die Grauen Schwäne von Extremistan«, dringe ich tiefer in das Thema der Extremfälle ein, erläutere, wie die Glockenkurve (der große intellektuelle Betrug) erzeugt wird, und beschäftige mich mit den Ideen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften, die in die Schublade mit dem Etikett »Komplexität« gestopft werden. Teil 4, »Schluss«, ist ganz kurz.

Dieses Buch zu schreiben hat mir unerwartet viel Freude gemacht – im Grunde hat es sich selbst geschrieben. Ich hoffe, dass es dem Leser auch viel Freude machen wird. Ich muss zugeben, dass ich nach den Zwängen, die ein aktives und geschäftiges Leben mit sich bringt, süchtig nach diesem Rückzug in reine Ideen wurde. Nach dem Erscheinen des Buchs möchte ich den Lärm der öffentlichen Aktivitäten hinter mir lassen und in völliger Stille über meine philosophisch-wissenschaftliche Idee nachdenken.

1 Dank des Siegeszugs der Fotohandys besitze ich eine große Sammlung von Bildern schwarzer Schwäne, die mir reisende Leser geschickt haben. Letztes Jahr habe ich zu Weihnachten sogar eine Kiste Black Swan Wine (gehört nicht zu meinen Lieblingssorten), ein Videoband (ich sehe mir keine Videos an) und zwei Bücher bekommen. Die Fotos sind mir am liebsten.

2 Wenn etwas, was stark erwartet wurde, nicht eintritt, handelt es sich ebenfalls um einen Schwarzen Schwan. Von der Symmetrie her ist das Eintreten eines ausgesprochen unwahrscheinlichen Ereignisses das Äquivalent zum Ausbleiben eines ausgesprochen wahrscheinlichen.

3 »Rekursiv« bedeutet hier, dass es in der Welt, in der wir leben, immer mehr Rückkopplungsschleifen gibt, sodass Ereignisse zur Ursache weiterer Ereignisse werden (ein Beispiel: Leute kaufen ein Buch, weil andere Leute es gekauft haben), und Schneeball- und willkürliche, unvorhersehbare globale »Der Gewinner bekommt alles«-Effekte entstehen. In unserer heutigen Umgebung fließen die Informationen zu schnell und beschleunigen solche Epidemien. Ereignisse können auch eintreten, weil wir das nicht erwarten. (Unsere Intuition wurde für eine Umgebung mit einfacheren Ursachen und Wirkungen und sich langsam bewegenden Informationen gemacht.) Im Pleistozän war das sozioökonomische Leben viel einfacher, damals war diese Form der Zufälligkeit noch nicht vorherrschend.

4 Es ist auch naiver Empirismus, zur Untermauerung irgendeiner Argumentation Reihen beredsamer bestätigender Zitate von toten Autoritäten anzuführen. Wenn man danach sucht, kann man immer jemand finden, der eine wohlklingende Feststellung gemacht hat, die den eigenen Standpunkt stützt; außerdem ist es bei jedem Thema möglich, einen anderen toten Denker zu finden, der genau das Gegenteil gesagt hat. Fast alle meine Zitate, die nicht von Yogi Berra sind, stammen von Menschen, deren Ansichten ich nicht teile.

Teil 1

Umberto Ecos Antibibliothek Oder: Unsere Suche nach Bestätigung

Der Schriftsteller Umberto Eco gehört zu der kleinen Klasse von Akademikern, die enzyklopädisch, erkenntnisreich und nicht langweilig sind. Er besitzt eine große Privatbibliothek mit 30 000 Büchern und unterteilt seine Besucher in zwei Kategorien: diejenigen, die mit »Oooooh! Signore professore dottore Eco, was für eine Bibliothek! Wie viele von diesen Büchern haben Sie denn gelesen?« reagieren, und die anderen (eine sehr kleine Minderheit), die begreifen, dass eine Privatbibliothek kein Anhängsel zum Aufpolieren des Egos ist, sondern der Forschung dient. Gelesene Bücher sind längst nicht so wertvoll wie ungelesene. Eine Bibliothek sollte so viel von dem, was man nicht weiß, enthalten, wie der Besitzer angesichts seiner finanziellen Mittel, der Hypothekenzahlungen und des derzeit angespannten Immobilienmarkts hineinstellen kann. Je älter er wird, desto mehr Wissen und Bücher wird er anhäufen, und die wachsende Zahl der ungelesenen Bücher in den Regalen wird ihn drohend anblicken. Die Reihen der ungelesenen Bücher werden sogar umso länger, je mehr er weiß. Eine derartige Sammlung ungelesener Bücher wollen wir eine Antibibliothek nennen.

Wir behandeln unser Wissen gern als persönliches Eigentum, das es zu schützen und zu verteidigen gilt. Es ist ein Ornament, das es uns erlaubt, in der Hackordnung aufzusteigen. Die Neigung, Ecos Einstellung gegenüber seiner Bibliothek durch die Fokussierung auf das Bekannte zu verkennen, ist also ein Bias, der sich auf unsere geistigen Prozesse erstreckt. Die Leute laufen ja nicht mit Antilebensläufen herum, in denen sie angeben, was sie nicht studiert und womit sie keine Erfahrung haben (das ist die Aufgabe ihrer Konkurrenten) – aber es wäre schön, wenn sie das machen würden. Wir müssen nicht nur die Logik der Bibliotheken auf den Kopf stellen, sondern auch das Wissen selbst. Schwarze Schwäne entstehen dadurch, dass wir die Wahrscheinlichkeit von Überraschungen, jene ungelesenen Bücher, nicht richtig verstehen, weil wir das, was wir wissen, ein bisschen zu ernst nehmen.

Menschen, die sich auf die ungelesenen Bücher konzentrieren und sich bemühen, ihr Wissen nicht als Schatz, als Besitz oder als Mittel zur Steigerung ihrer Selbstachtung zu behandeln, wollen wir als skeptische Empiriker bezeichnen.

In diesem Teil befasse ich mich mit der Frage, wie wir Menschen mit Wissen umgehen – und damit, dass wir das Anekdotische dem Empirischen vorziehen. Kapitel I präsentiert den Schwarzen Schwan im Rahmen der Geschichte meiner eigenen Besessenheit. In Kapitel III werde ich einen zentralen Unterschied zwischen den beiden Arten der Zufälligkeit herausarbeiten. In Kapitel IV kehre ich kurz zum Problem des Schwarzen Schwans in seiner ursprünglichen Form zurück: dass wir aus dem, was wir sehen, allzu gern allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. Dann präsentiere ich die wichtigsten Facetten dieses Problems: dass wir dazu neigen, den jungfräulichen Teil der Bibliothek unverdientermaßen zu verachten (die Tendenz, das zu betrachten, was unser Wissen bestätigt, nicht unsere Unwissenheit; Bestätigungsfehler, Kapitel V); dass wir uns durch Geschichten und Anekdoten selbst täuschen (narrative Verzerrung, Kapitel VI); dass unsere Gefühle uns bei unseren Schlussfolgerungen in die Quere kommen (Kapitel VII); und die Tricks, durch die die Geschichte Schwarze Schwäne vor uns verbirgt (Problem der stummen Zeugnisse, Kapitel VIII). In Kapitel IX geht es dann um den tödlichen Irrtum, Wissen auf der Welt der Spiele aufzubauen.

Kapitel I

Lehrjahre eines empirischen Skeptikers

Anatomie eines Schwarzen Schwans – Das Triplett der Opazität – Bücher rückwärts lesen – Der Rückspiegel – Alles wird erklärbar – Sprechen Sie immer mit dem Fahrer (mit Vorsicht!) – Die Geschichte kriecht nicht dahin, sie springt – »Es kam so unerwartet!« – Zwölf Stunden Schlaf

Da dieses Buch keine Autobiografie ist, werde ich die Kriegsszenen auslassen. Das würde ich sogar machen, wenn es sich um eine Autobiografie handeln würde. Mit Actionfilmen und den Memoiren von Abenteurern, die besser und geschickter waren als ich selbst, kann ich nicht mithalten. Deshalb werde ich mich auf meine Spezialgebiete beschränken: Zufall und Ungewissheit.

Anatomie eines Schwarzen Schwans

An der östlichen Mittelmeerküste, Syria Libanensis oder Libanongebirge genannt, hatte über ein Jahrtausend lang mindestens ein Dutzend verschiedener Religionsgemeinschaften und Volksgruppen friedlich zusammengelebt – das funktionierte wie von Zauberhand. Das Gebiet glich mehr den großen Städten im östlichen Mittelmeerraum (der Levante) als den anderen Teilen im Inneren des Nahen Ostens (durch das gebirgige Terrain konnte man sich leichter per Schiff als über Land bewegen). Die levantinischen Städte trieben regen Handel. Die Menschen hielten sich beim Umgang miteinander an ein klares Protokoll. Sie bewahrten einen Frieden, der für den Handel förderlich war, und die verschiedenen Gemeinden unterhielten freundschaftliche Beziehungen. Dieses Jahrtausend des Friedens wurde nur durch gelegentliche kleine Reibereien innerhalb der moslemischen und christlichen Gemeinden unterbrochen, kaum zwischen Christen und Moslems. Während die Städte Handel trieben und überwiegend hellenistisch waren, hatten sich in den Bergen religiöse Minderheiten niedergelassen, die behaupteten, sowohl vor der byzantinischen als auch vor der moslemischen Orthodoxie geflohen zu sein. Gebirgsgebiete sind ideale Zufluchtsorte für Minderheiten. Der Feind ist dann allerdings der andere Flüchtling, der das zerklüftete Land ebenfalls für sich beansprucht. Das dortige Mosaik der Kulturen und Religionen galt als Paradebeispiel für Koexistenz: Christen aller Art (Maroniten, Armenier, griechisch-syrische Byzantinisch-Orthodoxe, sogar byzantinische Katholiken sowie die wenigen Römisch-Katholischen, die von den Kreuzzügen übrig geblieben waren), Moslems (Schiiten und Sunniten), Drusen und ein paar Juden. Es galt als selbstverständlich, dass die Menschen dort lernten, tolerant zu sein. Ich erinnere mich noch gut daran, dass man uns in der Schule lehrte, wir seien viel zivilisierter und klüger als die Leute auf dem Balkan, die nicht nur nicht badeten, sondern auch Opfer von störrischen Kämpfen wurden. Es schien ein stabiles Gleichgewicht zu herrschen, das sich aus einer historischen Neigung zu Verbesserung und Toleranz entwickelt hatte. Die Wörter Balance und Gleichgewicht wurden oft benutzt.

Beide Seiten meiner Familie stammen aus der griechisch-syrischen Gemeinde, dem letzten byzantinischen Vorposten im nördlichen Syrien, zu dem auch das Land gehörte, das heute Libanon genannt wird. Die Byzantiner bezeichneten sich in den lokalen Sprachen als »Römer« – Roumi (Plural Roum). Wir kommen aus dem Olivenanbaugebiet am Fuße des Libanongebirges – wir jagten die maronitischen Christen in der berühmten Schlacht von Amioun, dem Dorf meiner Vorfahren, in die Berge. Seit dem Einfall der Araber im siebten Jahrhundert hatten wir in Frieden mit den Moslems gelebt und Handel mit ihnen getrieben. Es hatte lediglich hin und wieder Scharmützel mit den libanesischen maronitischen Christen aus den Bergen gegeben. Aufgrund einer entwürdigenden Übereinkunft zwischen den arabischen Herrschern und den byzantinischen Kaisern schafften wir es, an beide Seiten Steuern zu zahlen und von beiden Seiten Schutz gewährt zu bekommen. So gelang es uns, über ein Jahrtausend in Frieden und fast ohne Blutvergießen zu leben. Unser letztes wirkliches Problem waren die späteren Kreuzfahrer, die viel Unruhe stifteten, nicht die moslemischen Araber. Die Araber, die sich offenbar nur für die Kriegführung (und die Poesie) interessierten, und später die osmanischen Türken, die sich offenbar nur für die Kriegführung (und ihr Vergnügen) interessierten, überließen uns die uninteressante Durchführung des Handels und die ungefährlichere Ausübung der Gelehrsamkeit (wie die Übersetzung aramäischer und griechischer Texte).

Das Libanon genannte Land, zu dem wir im frühen 20. Jahrhundert nach dem Fall des Osmanischen Reiches plötzlich gehörten, schien nach allen Maßstäben ein stabiles Paradies zu sein. Es wurde außerdem so zugeschnitten, dass die Bevölkerung überwiegend aus Christen bestand. Man redete den Menschen dort ein, der Nationalstaat sei eine Einheit.5 Die Christen hegten die Überzeugung, sie seien Ursprung und Zentrum von dem, was unscharf als westliche Kultur bezeichnet wird, noch dazu mit einem Fenster zum Osten. In einem klassischen Fall von statischem Denken beachtete niemand die Unterschiede bei der Geburtenrate, die zwischen den Gemeinden bestanden. Man ging davon aus, dass es immer eine leichte christliche Mehrheit geben würde. Da man den Levantinern die römische Staatsbürgerschaft gewährt hatte, konnte Paulus, ein Syrer, uneingeschränkt durch die damalige Welt reisen. Die Menschen hatten das Gefühl, mit allem verbunden zu sein, zu dem sich eine Verbindung lohnte; die Gegend war ungemein weltoffen, mit einem sehr kultivierten Lebensstil, einer blühenden Wirtschaft und einem milden Klima wie in Kalifornien; über dem Mittelmeer ragten schneebedeckte Berge auf. Die Levante zog eine bunte Mischung von Menschen an: Spione (sowohl aus der Sowjetunion als auch aus dem Westen), Prostituierte (Blondinen), Schriftsteller, Dichter, Drogenhändler, Abenteurer, Spielsüchtige, Tennisspieler, Après-Skier und Händler – alles Berufe, die sich gegenseitig ergänzen. Viele Leute verhielten sich, als wären sie in einem alten James-Bond- Film oder in den Tagen, als Playboys rauchten, tranken und, statt ins Fitnessstudio zu gehen, Beziehungen zu guten Schneidern pflegten.

Das Hauptattribut von Paradiesen war vorhanden: Es hieß, die Taxifahrer seien höflich (zu mir allerdings nicht, falls mein Gedächtnis mich nicht trügt). Es könnte natürlich sein, dass der Ort im Rückblick, in der Erinnerung, verklärt wird.

Ich war noch zu jung, um die Freuden des Paradieses zu genießen; ich wurde ein rebellischer Idealist und entwickelte schon sehr früh einen asketischen Geschmack, dem die ostentative Zurschaustellung von Wohlstand und damit das unverblümte Streben nach Luxus in der levantinischen Kultur und ihre Besessenheit von monetären Dingen zuwider waren.

Als Jugendlicher konnte ich es nicht abwarten, in eine Großstadt zu gehen, wo es weniger James-Bond-Typen gab. Ich erinnere mich aber daran, dass ich in der intellektuellen Atmosphäre etwas Besonderes spürte. Ich ging auf das französische Lycée, das eine der höchsten Erfolgsraten beim baccalauréat (dem Gegenstück zum deutschen Abitur) aufwies, sogar beim Fach Französisch. Dort wurde ein ziemlich reines Französisch gesprochen: Wie im vorrevolutionären Russland sprach und schrieb die Klasse der levantinischen christlichen und jüdischen Patrizier (von Istanbul bis Alexandria) formales Französisch als Sprache der Abhebung. Die Privilegiertesten wurden auf Schulen in Frankreich geschickt, wie meine beiden Großväter – mein Namensvetter von der väterlichen Seite 1912, der Vater meiner Mutter 1929. Zwei Jahrtausende früher benutzten die versnobten levantinischen Patrizier, vom gleichen Instinkt der sprachlichen Abgrenzung getrieben, beim Schreiben statt der Umgangssprache Aramäisch das Griechische. (Das Neue Testament wurde im schlechten örtlichen Patriziergriechisch unserer Hauptstadt Antiochia verfasst, was Nietzsche zu dem Ausruf veranlasste, Gott habe schlechtes Griechisch gesprochen.) Nach dem Niedergang des Hellenismus benutzten sie dann das Arabische. Die Gegend galt daher nicht nur als »Paradies«, sondern auch als wundersamer Kreuzungspunkt der Kulturen, die oberflächlich als »östliche« und »westliche« bezeichnet werden.

Weshalb es gut ist, zu seinen Überzeugungen zu stehen

Mein Ethos wurde geprägt, als man mich mit 15 ins Gefängnis steckte, weil ich (angeblich) bei Schüler- und Studentenkrawallen einen Polizisten mit einer Betonplatte angegriffen hatte. Dieser Vorfall hatte seltsame Auswirkungen, da mein Großvater damals als Innenminister die Anordnung unterzeichnete, unseren Aufstand niederzuschlagen. Einer der Aufrührer wurde getötet, als ein Polizist, der von einem Stein am Kopf getroffen worden war, in Panik geriet und blindlings auf uns schoss. Ich erinnere mich daran, dass ich mich im Zentrum des Aufstands befand und von großer Befriedigung darüber erfüllt wurde, dass ich verhaftet worden war, während meine Freunde sowohl vor dem Gefängnis als auch vor ihren Eltern zitterten. Wir jagten der Regierung so viel Angst ein, dass sie uns eine Amnestie gewährte.

Ich hatte gezeigt, dass ich zu meiner Überzeugung stehen konnte, und war keinen Zentimeter zurückgewichen, um andere nicht zu »verletzen« oder ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Das hatte ein paar augenfällige Vorteile. Ich war sehr wütend, und es war mir gleichgültig, was meine Eltern (und mein Großvater) von mir hielten. Das führte dazu, dass sie große Angst vor mir hatten, und daher konnte ich es mir nicht leisten, einen Rückzieher zu machen oder auch nur zu blinzeln. Wenn ich meine Beteiligung an den Unruhen verheimlicht hätte (wie viele meiner Freunde) und dann aufgeflogen wäre, statt offen die Stirn zu bieten, hätte man mich mit Sicherheit als schwarzes Schaf behandelt. Es ist eine Sache, sich kosmetisch gegen Autorität aufzulehnen, indem man unkonventionelle Kleidung trägt (die Sozialwissenschaftler und Ökonomen nennen das »billige Signale setzen«), aber eine ganz andere, unter Beweis zu stellen, dass man bereit ist, gemäß seinen Überzeugungen zu handeln.

Mein Onkel väterlicherseits regte sich nicht besonders über meine politischen Ideen auf (sie kommen und gehen ja); er war darüber empört, dass ich sie als Rechtfertigung dafür benutzte, mich schlampig anzuziehen. Für ihn war das tödliche Vergehen mangelnde Eleganz seitens eines engen Familienmitglieds.

Dass meine Verhaftung öffentlich bekannt wurde, hatte noch einen anderen großen Vorteil: Ich konnte auf die üblichen äußerlichen Zeichen der Auflehnung von Jugendlichen verzichten. Ich entdeckte, dass es viel effektiver ist, sich »anständig« zu verhalten und »vernünftig« zu sein, wenn man bewiesen hat, dass man bereit ist, es nicht bei bloßen Worten zu belassen. Man kann es sich leisten, Mitgefühl zu zeigen, locker und höflich zu sein, solange man hin und wieder, wenn es am wenigsten von einem erwartet wird, aber vollkommen gerechtfertigt ist, jemanden verklagt oder einen Feind anfällt, einfach um zu demonstrieren, dass man sich nicht davor scheut.

Das Ende des »Paradieses«