Der schwarze Storch - Ilse Molzahn - E-Book

Der schwarze Storch E-Book

Ilse Molzahn

5,0

Beschreibung

Ein Kindheitsroman von bezwingender poetischer Kraft. Ein Jahr um 1900 in der damaligen deutschen Provinz Posen und ein kleines Mädchen, Katharina, etwa sechs Jahre alt, Tochter eines Gutsbesitzers. Dazu ein schwarzer ausgestopfter Storch, der unheilvoll über dem Esstisch der Familie schwebt. Katharina ist die Tochter des Gutsbesitzers und - ungewöhnlich genug - selbst die Erzählerin. Ilse Molzahn leiht ihr eine bezaubernde und einfache Sprache, die vieles offen lassen muss, denn das Mädchen ist mit einer Erwachsenenwelt und Vorgängen konfrontiert, die es nicht verstehen und nicht immer benennen kann: die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde, das archaisch ländliche Leben, aber auch Missbrauch, Schwangerschaft, Abhängigkeiten, Rohheit und Gewalt. Von den Eltern, der fromm-bigotten Mutter und dem draufgängerischen Vater, ist keine Erklärung zu erwarten. Einzig in dem Dienstmädchen Helene findet Katharina eine Vertrauensperson. Doch Helene ist plötzlich verschwunden, gestorben bei einem Abtreibungsversuch. Der Autorin ist etwas Seltenes gelungen: In einer verblüffend authentischen, zeitlosen Sprache erfasst sie die Welt des Kindes und sein magisch-inniges Erleben der Natur. Der Roman erschien erstmals 1936, eine zweite Auflage wurde von den Nazis wegen "Herabsetzung des deutschen Junkertums" verhindert. Die Neuausgabe wird von Thomas Ehrsam mit einem umfangreichen Nachwort zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte unter Berücksichtigung der Biografie der Autorin bereichert.

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Seitenzahl: 526

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ilse Molzahn

Der schwarze Storch

Roman

Herausgegeben

und mit einem Nachwort

von Thomas Ehrsam

Die Erstausgabe erschien 1936 bei Rowohlt, Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

© SG-Illustration

ISBN (Print) 978-3-8353-5135-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4816-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4815-8

Inhalt

Meine Mutter ist fromm

Helene erschrickt

Heilige Nacht

Ist das Haus blind?

Die Flinte holt ihn

Gespräche

Maryan erzählt

»Schöne Bonbons«

»Eine kleine Schwester«

Verbotener Spaziergang

Der Besuch

Der Riegel

Das Gewitter

Die Schere

Das Picknick

Johannisnacht

Dornröschen

Aus einer anderen Welt

Schuldig ohne Schuld

Die Totenuhr

Vater ist krank

»Sei mir gegrüßt!«

Die Storchenschlacht

Lamparskis letzter Fang

Ein artiges Kind

Es bläst der Wind

Der Abschied

Nachwort

Anmerkungen

Nachweise

»Das Los ist mir gefallen aufs lieblichste;

mir ist ein schön Erbteil worden.«

Ps. 16,6

Meine Mutter ist fromm

Deutlich erinnere ich mich des Tages, als der schwarze Storch bei uns auftauchte.

Eben war der Winter zu Ende. Die Luft war rauh. Meine Mutter hatte mir einen Mantel angezogen, aber er hing bereits am Zaun, während ich mich auf meinem Lieblingsplatz, dem Dunghaufen, der mit trockenem glänzendem Stroh zugedeckt war, lang ausgestreckt hatte und unverwandt in die Luft starrte.

Es hieß, die Störche würden kommen.

Kascha sagte es. Mein Vater blätterte in seinem Kalender. Ja, die Zeit der Störche war da!

Kascha glaubt nicht an den Kalender, sie glaubt nur an Träume. Sie hatte einen Traum und im Traumbuch stand: Ankunft von Zugvögeln, Störchen, Staren oder Schwalben … Sie erzählte es sofort in der Küche: »Hört, die Störche kommen!«

Die Mädchen kicherten, und meine Mutter wurde rot …

Jeden Abend betet meine Mutter mit mir: »Ich bin klein, mein Herz ist rein!«

Einmal fragte sie mich leise, ob ich nicht einen kleinen Bruder haben möchte.

»O ja, dann hätte ich jemanden zum Spielen!«

»Gut«, sagte sie, »dann bete weiter: Lieber Gott, schenke mir doch einen Bruder.«

Gestern fragte ich meine Mutter: »Wann wird der liebe Gott den Bruder schicken?«

»Die Störche werden ihn mitbringen.«

»Werden sie ihn mitbringen, Mutter, oder ist es so, wie Helene sagt, daß sie ihn aus dem Teiche holen?« – –

»Wenn sie hier sind, werden sie ihn aus dem Teiche holen.« Ich dachte nach.

»Aber der Teich ist doch zugefroren?« – – –

»Nun«, sagte meine Mutter, »es macht nichts. Die Störche werden ihn mit ihren langen Schnäbeln aufhacken.«

»Oh«, fiel mir ein, »es ist ja ein Loch im Teich, Lamparski hat es aufgehackt, als er die Karpfen fing …«

»Richtig!« sagte meine Mutter, »ich hatte es vergessen. Nun schlafe aber!« – – –

Jetzt warte ich auf die Störche. Der Wind summt im Stroh. Ferne Rufe der Pflüger kommen von den Feldern, sonst ist die Luft still. Ich richte mich auf und schaue auf das Scheunendach. Es ist mit Stroh gedeckt, das der Wind an vielen Stellen zerrupft hat. Überall gibt es Löcher. Am First sehe ich ein großes, schwarzes Rad. Stacho hat es hinaufgetragen. Es ist noch wie neu und die Störche sollen darin ihr Nest anlegen, das alte hat der Sturm heruntergerissen und wer weiß wohin getragen.

Viele Vögel kommen daher. Hoch und tief ziehen sie dahin, kleine und große. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht, fliegen weiter.

Aber die Störche, die Glück bringen sollen, kenne ich.

Sie waren lange fort. In Ägypten, sagt meine Mutter. Wenn sie wieder da sind, bauen sie ihr Nest und legen Eier. Dann kommen junge Störche. Auch junge Kühe kommen, junge Schafe, junge Pferde und junge Hühner. Immer, wenn der Winter vorbei ist, vermehrt sich alles. Einmal habe ich gesehen, wie ein Kalb ankam. Aber meine Mutter will nicht, daß ich das sehe …

Wie lange sitze ich hier schon? Leise knistert das Stroh und sticht mich. Auch riecht es nicht besonders gut, aber das macht nichts. Hier oben ist es immer trocken und warm. Die Sonne wird schon rot und kühl. Weshalb sind die Störche noch nicht da? Ob das mit Kaschas Traum wahr ist? Ich kann das Traumbuch nicht lesen, denn ich gehe noch nicht zur Schule, obgleich es längst Zeit wäre. Kascha behauptet, sie könne lesen, aber niemand glaubt es.

Wenn sie liest, legt sie ihren breiten Finger auf die Zeile, der rutscht so schnell davon, daß da kein Mensch mitkommen kann. Außerdem spricht sie falsch. Ich lerne es von ihr und soll mich deshalb nicht so viel in der Küche herumtreiben.

Der Baum neben der Scheune ist eine Pappel. Einmal gab es ein Feuer mitten in der Nacht. Vielleicht angezündet, man weiß es nicht. Da brannte die alte Scheune ab und die Pappeln waren so verkohlt, daß man sie umhauen mußte. Diese eine ist übriggeblieben, Gott sei Dank, denn wir haben nur wenig Bäume in Olanowo.

»Olanowo ist eine Sandbüchse«, sagt immer unser Besuch, oder auch, »in Olanowo sagen sich Wölfe und Füchse gute Nacht.«

»Der ewige Sand und die Trockenheit werden uns hier noch zugrunde richten«, sagt meine Mutter, »so Gott nicht ein Einsehen hat und Regen schickt.«

Ich mag Regen nicht. Ich muß dann in der Stube bleiben. Meine Mutter sitzt am Nähtisch vor dem Fenster und schneidet aus einem weißen Stück Stoff lauter kleine Hemdchen.

»Für wen machst du das, Mutter?« Sofort rafft meine Mutter alles zusammen und versteckt es in der Schublade. Darauf nimmt sie dann das Buch zur Hand. Es ist ein altes Buch mit schwarzem Deckel und goldenem Kreuz. Sie schlägt das Buch auf und macht ein frommes Gesicht. Lautlos bewegen sich ihre Lippen. Mit mir spricht sie kein Wort. Nur die große Wanduhr, die man Regulator nennt, tickt. Manchmal knackt sie, schabbert, rollt und dann schlägt sie. Das schallt durch das ganze Haus: Bam! Bam! Dann sieht meine Mutter auf, starrt auf die Uhr, schaut aus dem Fenster und macht ein Gesicht, als erwarte sie etwas Hübsches. Sie lächelt ein wenig. Ihre Backenknochen treten spitz hervor. »Freust du dich, Mutter? Auf was freust du dich?«

O nein. Ihr Gesicht ist schon wieder ernst und feierlich … Ein großer Vogel sitzt mit einem Male auf der Pappel. Ich habe geträumt und nicht gesehen, woher er kam. Er sitzt in dem steilen, kahlen Geäst und braucht viel Platz. Der Wind schaukelt ihn ein wenig, der ganze Baum schwankt.

»Wer bist du?« fragte ich zitternd vor Freude und Aufregung über das Neue und Unbekannte, das mit einem Male in Olanowo eingezogen ist.

Ist es ein Storch? Einer, der aus Versehen schwarz geraten ist? Nun, ganz gleich. Freude, Freude, daß er da ist und ich nicht mehr allein bin!

Ich wage es. Ich steige auf den Baum. Ich will, ich möchte einmal seine Federn streicheln!

Aber da steht bereits meine Mutter in der Haustür. So weit es auch ist, ich erkenne sie sofort. Ihr Gesicht ist klein und von einer Hand beschattet. Sie sucht mich. Ich rufe ihr zu: »Mutter, komm, komm schnell!«

Ich stürze ihr entgegen. Ich ergreife ihre heiße Hand. Sie wehrt ab, sie mag mein ungestümes Wesen nicht. Nur langsam läßt sie sich vorwärts ziehen und geht so vorsichtig, als habe sie Angst über irgend etwas zu stolpern.

Nun sind wir bei der Pappel.

»Schau, Mutter, ein fremder Vogel, oder ist es ein Storch?«

Meine Mutter zieht den Mantel fester um sich. Ihr ist immer kalt. Sie hebt den Kopf, ihre Wangen wölben sich ganz nach innen. Ihre schrägen, glänzenden Augen sind fast geschlossen.

»Nein, das ist kein Storch«, sagt sie, wie mir scheint ein wenig enttäuscht. »Was das ist, weiß ich nicht, ich kenne so wenig Vögel. Wir werden Vater fragen. Komm, zieh deinen Mantel an, es wird kühl.«

Gehorsam schlüpfe ich in den Mantel, den sie gleich am Zaun entdeckt hat. Dann geht sie. Ihr langer Rocksaum schleppt Stroh und Staub mit sich. Ich schaue ihr nach, bis sie ganz klein geworden ist. Dann sehe ich sie noch auf der Terrasse, und nun ist sie verschwunden.

Wieder bin ich allein. Nun, ich kenne es nicht anders. Ich lehne mich gegen die Scheunenwand, die rauh ist. Unten sind unbehauene Feldsteine, die mich in den Rücken stoßen. Strohhalme, die ich vom Dunghaufen mitgebracht habe, kitzeln mich.

Allmählich kommen sie alle vom Felde. Die Kühe, die Wagen, die Pferde. Knechte brüllen und knallen mit den Peitschen. Alles wird noch einmal munter. Die Frauen stolpern zum Melken und schelten mit den Kühen, die ihnen die Schwänze ins Gesicht schlagen. So ist es alle Tage. Am Brunnen lärmen sie wegen des Wassers. Jeder will zuerst seinen Eimer füllen.

Und da ist auch der Vogt. Er schikaniert die Leute, sagt Kascha. Er hat gelbe Reithosen an. In der Mitte sitzt ein Stück Leder, das macht immer: rips, rips, wenn er geht. Er hat eine Peitsche in seinen langen Stiefeln stecken. Er schläft mit der Peitsche, sagen die Mägde. Ab und zu klopft er sich damit den Mist von den Absätzen. Manchmal sehe ich sie auch hoch in der Luft, auf irgend etwas hinabsausen. Aber von weitem sieht man nicht alles.

Ich darf nicht allein aufs Feld gehen.

»Im Westen«, sagt mein Vater, »hat man andere Methoden.« Da haben die Landarbeiter mehr Bildung. Das hier sind alles ›Polacken‹. Eine Peitsche sei da oft durchaus am Platz.

»Wozu brauchst du die Peitsche, Vater?« frage ich, »wozu braucht der Vogt die Peitsche? Weshalb heißt es, daß er mit der Peitsche ins Bett geht?«

Mein Vater will mir antworten, aber meine Mutter macht ein unglückliches Gesicht. So sagt er nur: »Frag nicht so viel!«

Ich schaue den Weg hinab. Aber niemand kommt. Erst wenn es ganz dunkel ist, kommen sie. Dann gehen sie an dem großen Steinhaufen vorbei, den Resten der alten, abgebrannten Scheune, zu ihren Hütten. Die Wände sind aus Lehm, die Dächer aus Stroh. Manche Fenster sind mit Lumpen zugestopft. Der Weg dahin führt durch Sand und Lehm. Kaninchen haben sich Löcher gegraben. Am Tage, wenn die Kinder draußen sind, verstecken sich die Kaninchen. Aber sie werden doch gejagt und getötet. Ein schöner Sonntagsbraten für jedermann.

Die Hütten heißen »das Dorf«. Dort wohnen unsere Zugeher. Sie arbeiten auf Deputat. Wir wohnen im »Schloß«. Aber es ist gar kein Schloß, sondern ein langgestreckter, flacher Bau, der wie eine Scheune aussieht.

Zwei hohe Tannen stehen davor. Unten sind sie mächtig und breit, packen sich gegenseitig mit den Zweigen. Man weiß nicht, wo die eine anfängt und die andere aufhört. Nach oben zu werden sie schmal und spitz. Immer mehr rücken sie voneinander ab, je höher sie steigen. Zuletzt sind es nur noch zwei Spitzen, wie zwei Finger, die in den Himmel zeigen.

Jetzt fegt der Wind um die Scheune. Strohhalme fliegen durch die Luft. Dann knallt eine Peitsche zweimal und dann ist es still.

Etwas Großes, Schwarzes schwebt durch die Luft zu den Tannen. Es ist der fremde Vogel, der auf unserer Pappel ausruhte.

Helene erschrickt

Und am Abend sitzen wir unter der Hängelampe.

Mein Vater läßt den Daumen tanzen und schiebt sein Soldatenkinn vor. Das heißt, er hat schlechte Laune. Schlechte Laune heißt, er hat Sorgen! Dann gibt es »etwas«, und ich fürchte mich vor ihm. Wenn er so aussieht, als wolle er gleich auseinanderspringen, möchte ich mich am liebsten unter dem Tisch verstecken. Dann hat er vergessen, daß ich mit ihm im Sattel saß, wir über Felder und Gräben preschten und uns die Erdklumpen um den Kopf flogen. Wenn wir in den Wind hineinritten, brannte der Atem meines Vaters wie Feuer auf meinem Gesicht. Ich hatte keine Angst und schrie, was ich schreien konnte: »Hallo! Juchhe! Juchhe! Hallo!!« Und mein Vater lachte, daß die Luft vor meinen Ohren zitterte und rauschte.

Jetzt beachtet er mich nicht.

Die Suppe fließt ihm über den Löffel. Seine Augen starren auf das Brot, als würde es unter seinen Blicken kleiner und kleiner.

Meine Mutter streicht mir ein Butterbrot und schiebt mir den Teller Suppe hin. Sie sitzt ganz gerade und aufrecht, bewegt krümelnd ihre dünnen Finger. An einem blitzt ein kleiner Stern und glitzert, so oft sie die Hand rührt. Sie achtet darauf, daß ich keine Suppe verschütte. Habe ich einen Bissen Brot im Mund, so denkt sie gleich, ich will etwas erzählen, und legt den Zeigefinger auf die Lippen. Das heißt: mit vollem Munde spricht man nicht.

Aber ich fürchte mich ja, den Mund aufzumachen.

Jetzt hat mein Vater seine Suppe gegessen und wischt sich den Schnurrbart ab, streicht ihn nach oben, dreht die Spitzen zu feinen Enden und drückt sie fest. Ich lasse den letzten Bissen Brot unter den Tisch fallen. Meine Mutter schaut mich an, ich weiß, was das zu bedeuten hat, und falte die Hände.

Ich soll beten, kann aber den Anfang nicht finden.

Die Hängelampe scheint mir gelb ins Gesicht. Ich biege mich ein wenig nach hinten, gleich drückt mich die Stuhllehne wieder nach vorn.

Meine Mutter sagt: »Bete!«

Ich flechte Finger um Finger. Meine Stimme ist ganz laut:

»Lieber Gott, für Speis’ und Trank

nimm von Herzen unseren Dank!«

Alle Teller klirren mit einem Male. Die Hängelampe zittert an ihren Bronzeketten. Die nackten Jungfrauen mit den Fischschwänzen, die um sie herumschweben, fangen leise an zu wippen. – Was ist los?

Nun, mein Vater hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen, mitten in das »Amen« hinein.

Meine Mutter bleibt ruhig. Sie macht ein frommes, gottergebenes Gesicht und sitzt steif da. Mein Vater beginnt zu schreien. Sicher kann man es wieder in der Küche hören. Ich soll das alberne Beten sein lassen und meine Mutter möchte endlich um Geld nach Hause schreiben, sonst käme Olanowo »unter den Hammer« …

Meine Mutter sagt leise und heftig, daß ihre Eltern genug getan hätten. Außerdem habe sie ja eine schöne Aussteuer mitbekommen. Mein Vater schreit dagegen, daß er auf die Aussteuer pfeife und daß ihn die Sorgen umbringen würden.

Meine Mutter schaut die niedrige Decke an, die schiefen Wände.

»Du sprachst immer von einem Schloß, und daß wir standesgemäß auftreten müßten.«

Mein Vater behauptet dagegen, daß Olanowo auch ein Schloß sei, nur die nötige Kraft, in Gestalt einer tatkräftigen Frau, fehle ihm. Aber er wäre ja mit einer Nonne verheiratet. Statt ihre Hände in das Schweinefutter zu tauchen, säße seine Frau über frommen Traktätchen, mit denen man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.

»Das Kind!« fährt meine Mutter dazwischen und zeigt auf mich. Aber mein Vater kaut weiter an bösen Worten, spuckt sie in die Stube, ganz gleich wohin.

»Nimm doch Rücksicht auf meinen Zustand!« sagt schließlich meine Mutter ernst und bedeutungsvoll. In diesem Augenblick geht die Tür auf. Helene steht auf der Schwelle.

»Schlafen gehen, Kater!« sagt sie, aber es klingt wie: »Aufstehen, Kater!«

Niemand sieht Helene an. Aber Helene läßt ihre flinken Augen wandern. Einmal betrachtet sie meinen Vater, dann meine Mutter. Mich sieht sie nicht, obgleich sie meinen Stuhl zur Seite schiebt.

»Gute Nacht«, sage ich leise. Mein Vater hört es nicht, nur meine Mutter hebt den Kopf und wirft mir einen langen, traurigen Blick zu.

Sofort zerschmilzt mein Herz.

Draußen fange ich heftig an zu schluchzen.

»Nun, nun«, beruhigt mich Helene, »was gibt es denn wieder? Was hat denn der gnädige Herr zu schelten?«

Ihre langen Wimpern flattern und ihre Augen spielen Verstecken. Ich gebe ihr keine Antwort. Ich bin sterbenstraurig und weiß nicht warum. Irgend etwas stimmt bei uns nicht. Wer ist schuld? Meine Mutter, die gut und fromm ist, oder mein Vater, den ich liebe, und der doch immer wieder alles vergißt und es mit seiner harten Faust zerschlägt.

»Wer ist schuld?« frage ich Helene, weil ich sie immer so viel frage, obgleich sie mir niemals die richtige Antwort gibt, »Vater oder Mutter?«

Natürlich schweigt sie. Vorsichtig zieht sie mir das Kleid über den Kopf und macht ein Häkchen los, das sich verfangen hat. Ich schaue sie an, ihre zuckenden Wimpern, ihre roten Lippen, über die sie manchmal ganz schnell mit der Zunge fährt.

Keine Antwort. Niemals. Deshalb frage ich weiter.

»Oder ist das Geld an allem schuld?«

Helene zuckt mit den Achseln, schweigt. Ihr Gesicht ist ernst. Oft ist es spöttisch, ihr Mund klein und zusammengepreßt. Dann sieht er rund aus, rot und leuchtend wie eine Kirsche. Geht Helene, so zieht sie ein wenig die Schultern hoch … »Lahme Krähe«, sagte Kascha bissig. »Bachstelze«, meinte mein Vater, der ihr nachsah.

Meine Mutter hörte es, und von dem Tage an kann sie Helene nicht mehr so richtig leiden.

Das Fenster ist geöffnet. Frisch und kühl weht es herein. Ich liege bereits im Bett und Helene steht vor dem Spiegel und betrachtet sich. Das tut sie jeden Abend. Während ich Kleid und Leibchen über einen Stuhl breite, zieht sich Helene alle Haarnadeln aus den Zöpfen.

Sie spielt gern mit ihren Zöpfen, wickelt sie sich um den Finger. Dann steckt sie sie wieder ordentlich und fest um den Kopf.

Der Lichtschein der Lampe fällt nach draußen und da sehe ich ihn zum zweiten Male, den unbekannten Vogel. Er sitzt in der Tanne, dicht neben meinem Fenster, das Licht hat ihn geweckt. Er blinzelt und streckt einmal kurz seine Flügel aus.

Vor Freude springe ich aus dem Bett.

»Da ist er, Helene«, schreie ich, »da ist er wieder!«

Aber Helene reißt mich zurück. Sie wird blaß wie ein Handtuch und fällt auf einen Stuhl. Helene ist abergläubisch, das ist es. Sie glaubt an den Totenvogel, von dem sie in der Küche schwatzen.

Ich aber will zum Fenster, reiße mich los, doch mein Schatten ist früher da und legt sich breit um die Tanne und ihren Gast. Er ist unsichtbar geworden.

Aber was ist mit Helene? Sie weint plötzlich. Ihre Schultern beben, doch ich sehe keine Träne. Dann, sich besinnend, springt sie auf und sammelt die Haarnadeln, die alle auf den Boden fielen.

Wie alle Abende klebt sie sich die Zöpfe um den Kopf. Ehe sie hinausgeht, schlägt sie das Fenster zu, alle Scheiben klirren.

Nun warte ich auf meine Mutter. Sie kommt bestimmt, um mit mir zu beten. Nie habe ich sie so erwartet. Arme Mutter! Sie will mir niemals zeigen, daß sie weint. Aber ihre Lippen verraten sie. Ich werde meine Arme um ihren Nacken legen und sie auf den Mund küssen, auch wenn sie mir, wie immer, die Wange hinhält.

Da ist sie. Ich springe auf. Das Nachtlämpchen wirft einen kleinen Schein auf ihr Gesicht.

Ihr Gesicht ist traurig.

»Mutter!« rufe ich leidenschaftlich und laut. Sie ist erstaunt und fast ärgerlich. »Beherrsche dich!« Ja, ich weiß. Aber sie sagt es nicht. »Bete!« Dieses eine höre ich.

»Ich bin klein«, bleiern plappere ich es nach.

Dann beugt sich meine Mutter zu mir. Ich küsse sie nicht auf den Mund. Sie küßt mich auf die Stirn.

Ihr Körper scheint zu dampfen und ihr Leib ist schwer, wie ein Berg, der sich auf meine Bettdecke senkt und mich erdrückt.

Heilige Nacht

Meine Mutter ist gegangen. Die Treppe, die unter ihren müden Schritten ächzte, hat sich beruhigt. Nun höre ich den Wind durch die Dachluken fahren. Er zerrt an den Säcken mit trocknen Kräutern, die Kascha gesammelt hat, und mit denen sie alle Krankheiten heilt. Sie tanzen um die Pfosten, knistern und rascheln. Oder sind es Mäuse, die an den Sonnenblumenkernen nagen?

In meiner Kammer riecht es nach Mutter. In meinem Zudeck ist eine Mulde, dort lag ihr Leib. Ein Berg drückt mich und ich kann nicht schlafen. Ich versuche über dieses und jenes nachzudenken, verwirre mich aber, und dann kommt der Sturm und brüllt wie ein Stier, dem man die Augen verbunden hat.

Seine Hufe stampfen auf unseren Schindeln, sein Atem faucht um die Giebel, mit seinen Hörnern stößt er in die Tannen, daß sie jammern und stöhnen.

Jetzt rast er schnaubend über den Hof. Donnert gegen die Stalltüren, rennt gegen die Bretterwagen und ist wirklich blind.

Im Kuhstall wird es lebendig. Ketten spannen sich und klirren, als wollten sie zerreißen.

Und nun stürzt er sich wieder auf das Haus. Die Dielen zittern, schwingen leise auf und nieder von Schritten. Jemand schleicht über den Boden.

Ich richte mich auf. Wer ist das?

Die Schritte sind jetzt an meiner Tür, halten dort ein wenig an und wandern weiter. Jetzt knarrt die Treppe, und ich höre Diana hin und her fahren, die unten vor der Schwelle wacht. Ich höre sie deutlich winseln, auf den Fliesen hin und her patschen, sich beim Gleiten schabend mit den Krallen festhalten. Sie umspringt jemanden, den sie kennt, über dessen Erscheinen sie sich freut.

Die Haustür wird nun leise geöffnet. Ein Pfiff. Und dann wandern Schritte ums Haus.

Der Sturm macht eine kleine Pause. Ich springe aus dem Bett und gehe ans Fenster. Trockne Geißblattranken drohen, wehren meinem Blick. Draußen ist es Nacht. Nichts sehe ich, niemanden! Und doch ist da ein Licht. Strahlt aus einem Fenster des Gesindehauses. Es ist Helenes Fenster. Helene hat Licht, liest sie wieder Romane?

Nein, sie liest keine Romane. Alles lachte, als meine Mutter Helene deswegen einmal zur Rede stellte. Meine Mutter behauptete, daß ihr ein Buch abhanden gekommen, und Helene habe dieses Buch mitgenommen, um darin nachts zu lesen und sich die Augen daran zu verderben.

Kascha platzte nur so heraus, als sie es hörte und nachher sagte sie zu Josefa, Helene habe etwas Besseres zu tun, als in der Nacht Bücher zu studieren.

Aber meine Mutter blieb bei ihrer Meinung. Denn wozu brennt Helene oft die halbe Nacht Licht? …

Wieder fängt der Sturm an. Ein sonderbares Pfeifen entsteht über dem Dache. Unter meiner Tür fährt es sausend durch, peitscht meine nackten Füße. Ich krieche ins Bett zurück und bin beruhigt, weil Helene Licht hat. Ihr Licht schimmert freundlich bis zu mir und verdrängt allen Spuk. Ranken und Blätter, wehende Wipfel und fächelnde Tannenzweige scheinen sich vor ihm zu verneigen.

Ich blinzele noch ein wenig und schlafe ein. Da träume ich, daß sich Helenes Licht in viele Lichter verwandelt hat. Ich höre die Stimme meiner Mutter, die leise sagt: »Heute ist Weihnachten.«

Kein Berg drückt mich mehr. Froh ist mir zumute und leicht. Der Schellenbogen schüttelt seine Glocken, und ich sitze im Schlitten, in einen hohen Fußsack versteckt, der mit Pelz gefüttert ist.

Wir gleiten durch Nacht. Ich spüre Stöße und Schwanken und manchmal die warmen Knie meiner Mutter. Wir sausen durch den Schnee, als flögen wir mitten in den Himmel hinein.

Dann gibt es einen Stoß, und wir halten. Glocken dröhnen nah über meinem vermummten Kopfe. Eine knarrende Stimme fällt in eine kalte Höhle, in die ich geführt werde, und ich höre das, was meine Mutter so oft, so viel erzählt hat, die Geschichte vom Jesuskind, das im Stalle geboren wurde.

Das Wort verhallt. Viele Menschen stehen wie eine Mauer. Chöre singen hoch über mir. Ich versuche die Bank, auf der ich sitze, zu erklettern, aber meine Mutter drängt mich energisch zurück. Sie singt mir so laut in die Ohren, daß ich, eingeschüchtert, mich nicht mehr bewege. Hier und da erhasche ich ein bekanntes Gesicht. Ich nicke ihm zu, bekomme aber keinen Gegengruß. Weit von mir entfernt steht ein Baum, geschmückt mit vielen Lichtern. – – –

»Heilige Nacht«, so hat meine Mutter sie genannt. Einmal im Jahr. Ich darf dann aufbleiben. Die Türen zum großen Saal werden feierlich geöffnet. Ganz hinten steht der Tannenbaum, über und über mit brennenden Lichtern geschmückt. Silberfäden hängen an ihm nieder. In der Tür drängen sich unsere Leute, singen Weihnachtslieder und scharren mit den Füßen. Unter dem Baum liegen Geschenke. Für mich. Alle für mich? Ich fange an zu weinen. Sie sind neu und so schön! Ich wage es nicht, sie anzufassen. Vorsichtig greife ich zu. Aber was ich auch berühre, es bewegt sich nicht. Ich kann alles noch so viel stoßen, drehen, schaukeln, es bleibt, was es ist, langweiliges und totes Zeug.

Mein Vater setzt sich nun an den Flügel und spielt: »Die Tiroler sind lustig.« Er hämmert es mit einem Daumen hin und ist vergnügt.

Meine Mutter liest Briefe, über die sie lächelt. Manchmal probiert sie etwas an, ein Paar Handschuhe, ein Kleid. Dann sagt sie: »Seht nur, wie schön der Baum in diesem Jahre gewachsen ist.« Das sagt sie jedes Jahr. Dieser Spruch kehrt immer wieder. Alle betrachten den Baum, sehen in seine brennenden Lichter, auf seine silbernen Kugeln und machen gerührte Gesichter.

Und doch! Ich glaube, der Baum ist nicht echt.

Wohl brachte ihn der Förster vor ein paar Tagen, schüttelte ihn tüchtig, damit der Schnee nicht mit ins Haus geschleppt wurde. Aber neben den »Riesen« ist er nur ein Zwerg, wenn er hier auch bis zur Decke reicht.

Ich gehe um ihn herum, fühle seine Zweige. Ja, sie sind echt. Sie sind so frisch und grün, wie das Sofa, auf dem meine Mutter sitzt und liest. Seine Nadeln sind ganz fest. So fest, wie der Daumen meines Vaters, der immer noch über die Tasten hüpft. – – –

Auf einmal kniet Helene neben mir. Mit ihren roten Händen nimmt sie ein Wollschäfchen und legt es sich in den Schoß. Sie betrachtet es staunend, streichelt es, dessen Beine nur aus Holz sind.

Dumme Helene! Sieht sie nicht, daß das ganze Schaf unecht ist? »Willst du es haben, Helene? Da, nimm es dir!«

O nein! Helene wird rot, rafft den Stoff zusammen, den sie bekommen hat, und verschwindet.

Nach und nach verschwinden alle, wir sind allein.

Draußen höre ich noch ihre Schritte und ihre Stimmen.

Der Saal ist mit einem Male groß und leer.

Zwar brennen noch alle Lichter am Tannenbaum und doch ist es viel dunkler geworden. Ihre bunten Tücher haben alles Helle und Vertraute mit fortgenommen. Da ist nur noch meine Mutter in ihrem schwarzen, seidenen Kleid.

Aber schimmert es nicht durch den Spalt der Fensterläden? Ein geheimnisvolles, weißes Licht fällt in den gelben Schein der Kerzen. Ich schaue durch einen Ritz und sehe Eiszapfen. Es gleißt und glitzert, wolkt auf wie Rauch.

Oder winken mir weiße Hände? Ist es der Schnee oder sind es Engel, von denen meine Mutter sagt, daß sie in der Heiligen Nacht erscheinen? Mich drängt’s nach draußen. Niemand sieht mich aus der Tür schlüpfen. Im Flur ist es dunkel und kalt, aber mich friert’s nicht. Die Tür zur Terrasse ist leicht zu finden. Ich drücke die Klinke hinunter, die Tür ist nur angelehnt.

Wer hat sie aufgeschlossen, jetzt, mitten im Winter?

Helle strömt auf schmaler Bahn herein, Schneestaub sprüht in Bogen über die Schwelle und liegt in feinen Rillen auf den Fliesen.

Dann überschüttet mich weißes Licht. Ich muß die Augen schließen. Als ich sie wieder öffne, laufen Spuren über die schneeverwehten Stufen hinab in den Garten.

Da sind Schritte, die nicht anhielten, Füße, die, obgleich sie immer tiefer einsanken, immer weiter hasteten.

Der volle Mond spiegelt sich in den glitzernden, festangedrückten Sohlen. Und quer durch den Garten, von der Hofseite her, läuft ein anderes Paar Schuhe, traf sich mit dem, welches vom Hause herkam.

Manchmal hat der Wind die Schritte verweht, desto deutlicher erscheinen sie an einer anderen Stelle.

Zwei und zwei, so trafen sie sich hier. Aber wohin gingen sie?

Vorsichtig trete ich in die hier flüchtigen und dort deutlichen Spuren. Steige in tiefe Stapfen und muß große Schritte nehmen, um ihre Spannweite zu erreichen. Ich springe bis an die Knie in den tiefen Schnee. Verfolge fremde Spuren, die mutig Schneewälle überquerten, als müßten sie weiter und weiter, vorwärts! Eiskalt rieselt es in meine Strümpfe. Eiskalt wird auch mein Herz. Als sei da eine warnende Stimme, als wäre da Helene, die mit mir schilt, weil meine Strümpfe naß werden. Und doch zieht es mich unaufhaltsam weiter, ich kann nicht mehr zurück.

Auf einmal ist es mir, als bekäme ich einen Stoß. Jemand schüttelt mich heftig. Erschrocken wende ich mich um, aber niemand ist da. Ich bin ganz allein. Keine Engel schwingen sich über die schimmernde Weite. Da ist nur Schnee, und aus ihm ragen, frierend, in weiße Mäntel gehüllt, meine »Riesen«, die beiden Tannen. Über ihren Spitzen schweben flammende Lichter. Viele, viele Sterne brennen unbeweglich zu ihren Häuptern. Der Himmel trägt sie in seinem blauen Mund. Zu ihm werde ich emporgehoben, und auch mich saugt er auf. Ganz nahe brennen die Sterne. Goldene Augen, so erscheinen sie mir, die meine Wimpern zärtlich streicheln. Breite Flügel umfangen mich. Zwei Engel stehen vor unserem Haus und lächeln.

In dichte Mäntel eingehüllt, berühren sie sich mit den Flügelspitzen und heften ihren unverwandten Blick auf mich.

Engel! Meine Mutter hat es gewußt. Sie gingen vor mir über die Terrasse. Sie glitten die Stufen hinab in den Schnee und bahnten mir den Weg.

Sie sind erschienen, um mir das Geheimnis dieser Nacht zu verkünden, das ich noch nicht erfassen konnte.

Sie singen. Alles ist davon erfüllt. Der Schnee beginnt zu brennen. Mir scheint, Feuergarben schießen ringsum hoch. Eine Flamme fährt auch durch mich und entzündet mich vom Kopf bis zu den Füßen. In meinem erkalteten Gesicht starren die Augen wie Eiskugeln. Ich bin wie blind, und Schneestaub sprüht mit spitzen Nadeln. Dennoch lächele ich: Engel! Engel! …

Ich greife nach ihren Schleppen. Ich taste nach ihren Flügeln, stoße an Zweige und Nadeln, die mich stechen. Eine dichte Schneelast poltert über mich.

Ich reibe meine Augen. Fühle zwei warme Tropfen an meinen Fingern. Ich betrachte sie verwundert und schüttele sie ab. Ach was! Es sind die Riesen und keine Engel! Frierend krieche ich unter ihr schützendes Zweigdach. Ihre Dunkelheit umfängt mich, aber sie ist nicht beruhigend. Die vertrauten Äste starren fremd. Es knistert und raschelt in der Nacht der Zweige. Es bedrängt mich unheimlich und gewaltig. Ein fremder Atem mischt sich in den Duft der trocknen Nadeln. Ich horche und höre wispernde Laute. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Gleich wird es meine Schultern umklammern und mich zu Boden drücken. Ich will aufstehen, davonlaufen, aber wie gebannt sind meine Glieder. Ich kann mich nicht mehr rühren, und es ist nur der eine Schrei, der sich aus meiner Kehle ringt: »Mutter! Mutter!« …

Der Ruf schwebt noch in meiner Kammer. Ich weiß nicht, daß ich ihn ausgestoßen habe. Ich bin wach und allein. Ich liege im Bett und nicht unter den Tannen. Niemand wandert mehr umher. Der Wind faucht, als wolle er das ganze Haus auseinanderreißen. Mein Körper ist heiß und die Haare kleben feucht an meinen Schläfen.

Ich habe geträumt und finde das Ende des Traums nicht wieder. Draußen wird es allmählich Tag. Ein Wecker wird rasseln, und Helene wird aufstehen. Werden heute die Störche kommen?

Es rauscht in der Luft wie von Flügeln … Nein, niemandem kann ich es sagen! Das erlebte ich in der Heiligen Nacht:

Ich saß unter den Riesen und da hörte ich Stimmen. Dicht neben mir flüsterten sie, aber ich konnte kein Wort verstehen. Einmal lachte es, aber jemand legte eine Hand auf das Lachen. Auch seufzen hörte ich es, aber das war nicht der Wind.

Und mit einem Male schrie es: »Nein, nein – – – nein!«

Und eine andere Stimme keuchte dagegen: »Ja – – – ja – – – jaaa!«

Und dann hörte ich Atemstöße wie Wind, Flüstern wie Blätter im Sommer, Wimmern und Schreie, wie von kleinen Kindern oder Nachtvögeln. Ein Winseln, wie das eines Hundes. Und dann kam nur noch ein einziger, runder Laut, wie ein »Oh«, dem die Luft ausging. Und nun war es still …

Jetzt hörte ich mein Herz. Das zerschlug mir wie ein Hammer die Brust. Aber ich konnte nicht schreien. Nur die Zähne schlugen mir aufeinander. Ich wollte fort, aufspringen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich packte die Riesen, um sie zu schütteln, aber sie waren unbeweglich, eisenhart und fest.

Da stürzte ich hoch und rannte mitten in den Schneeberg hinein. Blind stieß ich mich vorwärts. Schluchzen riß meine Lippen auseinander und mein Mund füllte sich mit Schnee. Die Tränen erstarrten auf meinem Gesicht. Immer noch stand die Haustür offen. Die Schneestreifen waren kleine Wellen geworden, die sich weit in den Flur hineinzogen. Ich zertrat sie mit meinen schweren Schuhen.

Erst an der Tür zum Saal kam ich wieder zur Besinnung. Meine Mutter saß noch auf ihrem alten Platz. Sie schaute in den Baum. Fast alle Lichter waren inzwischen ausgebrannt.

»Warum hast du dich wieder in der Küche herumgetrieben? Du bist ein schreckliches Kind! Schnell ins Bett mit dir, es ist schon spät … Weshalb ist Helene noch nicht da?« Und, – fragt meine Mutter weiter: »War Helene in der Küche?«

»Ja«, sage ich leise, »sicher ist Helene in der Küche, ich werde sie holen.«

»Nein, bleib da!« sagt meine Mutter, »wer weiß, was dort heute für Gäste sind.« Und sie steht auf.

Aber da ist Helene, gerade ging das letzte Licht am Tannenbaum aus.

»Komm zu Bett, Kater!« sagt sie.

Wir gehen zusammen die Treppe hinauf, wie alle Tage.

Als Helene die Kammertür öffnet, sehe ich einen großen Riß unter ihrem Arm. Weiß leuchtet das Hemd unter dem schwarzen Stoff hervor.

»Du hast ja dein Sonntagskleid zerrissen, Helene!«

Aber da wird sie böse.

»Unsinn!« sagt sie, und greift sofort an die richtige Stelle. »Das macht nichts! Da ist nur eine Naht, die aufgeplatzt ist. Red bloß nicht darüber. Morgen ist das wieder in Ordnung …«

Da schlüpfe ich ins Bett und bin gleich eingeschlafen …

Ist das Haus blind?

Unser Haus ist manchmal blind. Und doch hat es viele Augen. Langgestreckte Fenster, die fast bis zur Erde reichen und in deren Nischen man sich verstecken kann. Habe ich mich dort versteckt und schaue hinaus, dann ist unser Haus ein einziges Auge. Bin ich aber draußen und schaue hinein, weil ich sehen will, was im Haus geschieht, dann ist es blind. Nichts sehe ich. Niemanden! Weder meine Mutter, noch Helene, die die Stuben bohnert. Noch Kascha, die in der Küche mit den Töpfen lärmt und immer allerlei erzählt. Ich gehe von Fenster zu Fenster. Blind! Blind! Sie sind nichts als Spiegel, diese Fenster. Was sich vor ihnen zeigt, das halten sie fest, aber was hinter ihnen geschieht, das bleibt verborgen.

Mich, in meinem roten Kleid, sehe ich als einen roten Punkt, der hin und her tanzt.

Wolken ziehen über die Scheiben. Das Glas wird schwarz. Dann wird es grau und zuletzt wieder blau, ganz blau.

Manchmal fangen die Scheiben an zu zittern. Ein gelbes Feuerrad dreht sich so schnell, daß mir die Augen weh tun. Ich glaube, das ganze Haus wird brennen. Auf einmal erlischt es. Die Sonne ist über die Ställe gewandert.

Die Leute nennen unser Haus »Schloß«.

Aber es hat keinen einzigen Turm. Nur ein Dach mit Schindeln und kleinen, welligen Luken. Winzige Fenster sitzen darin und fächerartig gespannte Stäbe liegen wie gespreizte Hände darüber. Das ist oben, wo wir schlafen.

Die Zimmer sind alle niedrig, und ich hörte einmal, wie meine Mutter sagte, die Decke würde ihr noch auf den Kopf fallen. Unser Haus ist sehr alt, sagt man. Es spukt darin. Manchmal zeigen sich Gespenster, die kommen unter der Treppe hervor, nur Gesichter, keine Körper.

Ich habe es nie gesehen. Außerdem sagt mein Vater, dieser Spuk ginge uns nichts an. Das wären fremde Gespenster von der Familie, die vorher hier gewohnt hat.

Mein Vater hat auch alles neu tapezieren lassen, als er mit meiner Mutter hierherkam. Sie ist aus einer großen Stadt, sagen sie. Darum ist bei uns alles so fein. Schöne Teppiche haben wir und viele blanke Möbel. Das Büfett ist eine richtige Burg mit Türmen.

Aber wegen der niedrigen Decke mußte man die Türme absägen. Nun hat es nur noch zwei Ritter mit Lanzen. Die treten immer zur Seite, wenn meine Mutter ein Glas aus dem Schranke holt. Dann gehen sie wieder an ihren alten Platz.

Jeden Sonnabend steigt Helene auf einen Stuhl und pinselt den Rittern das Gesicht. Es setzt sich immer viel Staub in ihre Augenhöhlen und auf ihre geschwungenen Helme.

Dann fächelt ihnen Helene zuletzt mit dem Tuch über die Nasen. Ich glaube, sie tut es gern. Ihr gefallen die Ritter, auch wenn sie nur aus Holz sind. Sie nimmt sich immer Zeit, wenn sie da oben vor ihnen auf einem Stuhle kniet. Besonders dann, wenn mein Vater nebenan in der Bauernstube ist.

Diese Bauernstube gehört nicht mit zur Aussteuer meiner Mutter. Mein Vater und Tante Eveline haben sie eigenhändig zusammengezimmert. Tante Eveline kam einmal angebraust. Sie war sehr nett, schenkte mir Schokolade, von der ich das Silberpapier aufheben mußte. Damit überzogen wir ganz gewöhnliche Steine und bauten Wasserfälle. Auch Glasscherben suchten wir zusammen, daraus wurden Seen.

Meiner Tante fiel immer alles mögliche ein. Und da sie unsere Zimmer, trotz Teppichen, Portieren, Plüschmöbeln nicht »originell« genug fand, so brachte sie meinen Vater dazu, diese Bauernstube einzurichten.

Alles arbeitete daran herum. Der Tischler sägte und hobelte Bretter, mein Vater schnitzte, und meine Tante lief mit einem komischen Apparat umher, der mit einem Gummiball bedient wurde. Wenn man darauf drückte, fuhr eine spitze Nadel zischend und sengend über die schönen, weißen Holzflächen. Es roch brenzelig und scharf, aber was entstand, waren viele Gestalten. Derbe Mädchen und kräftige Männer, die alle auf einem Bein hüpften. Meine Tante hatte sie sorgfältig durchgepaust und nachgezeichnet, und nun brannte sie den zarten Bleistiftstrich mit Feuereifer und für alle Zeiten ins Holz ein.

Ich sah zu. Es wurden immer mehr Menschen, das ganze Zimmer wimmelte davon. Die Mädchen, in roten Strümpfen, mit blonden Zöpfen, trugen Blumenkränze auf dem Haar. Alle hielten sich an hocherhobenen Händen und lachten über das ganze Gesicht. Und die Männer trugen bunte Bänder an ihren schiefen, runden Hüten. Sie tanzten über die Stuhllehnen, sie tanzten über die Börte, sie zogen rings an den Wänden entlang und wanderten sogar bis hinauf zur Decke.

Ich fragte meinen Vater, was das für Leute wären. Er sagte: »Bauern!« Ich fand sie lustig. In Wirklichkeit hatte ich solche »Bauern« noch nicht gesehen.

Tante Eveline war sehr befriedigt von ihrem Werk.

»Da habt ihr mal was Originelles!« sagte sie mit einem Seitenblick auf meine Mutter. »Eine Bauernstube gehört in jedes ordentliche Landhaus.« Und sie malte an die Stallaterne, die als Beleuchtung von der Decke herabhing, eine Riesenähre, dick und schwer. »Symbol des Landmanns!« sagte sie und packte ihre Zauberstäbchen wieder ein.

Nun hält sich mein Vater viel in der Bauernstube auf. Oft schließt er sich dort ein. Sie gehört ihm ganz allein, und deshalb fühlt er sich dort auch am wohlsten. Selbst wenn meine Mutter kommt, ihn etwas fragen will, öffnet er nicht die Tür.

Helene pinselt am Büfett und sieht meine Mutter unverrichteter Sache wieder fortgehen …

Helene hat viel Zeit. Nicht, weil sie wenig zu tun hat, nein, weil ihr alle Arbeit so schnell von der Hand geht.

Was sie anfaßt, wird sauber. Was sie einmal überbohnert, ist schon blank. Und so leicht rutschen ihre Besen, fächern ihre Pinsel, wedeln ihre Tücher, husch, husch, ist das ganze Haus blitzblank. Meine Mutter steht oft dabei und runzelt die Stirn. Sie nennt das flüchtig, reibt mit dem Finger die Ecken nach. Der Finger bleibt sauber. Helene hat schon allen Staub entfernt und macht ihr spöttisches Gesicht. Mein Vater sagte einmal: »Diese Helene ist doch ein verdammt tüchtiges Mädchen!« Meine Mutter schwieg.

Kascha schimpft viel mit Helene. Ganz laut. Wenn ich in die Küche komme, ist sie still.

Einmal aber hörte ich doch etwas.

»Schande macht dir dein Blut!« sagte sie zu Helene, »ich bin alt, ich lege mich zu meinen eignen Knochen schlafen, brauche niemanden, der mir die Nacht vertreibt.«

Ich kam, Kascha schwieg. Helene machte ihr spöttisches Gesicht und sagte keinen Ton …

Es ist Samstag. Helene pinselt den Rittern die Bärte. Im Eßzimmer, unter der Hängelampe, steht mein Frühstück. Im Rokokozimmer höre ich meine Mutter. Ihre Feder kratzt. Ich will ihr »guten Morgen« sagen, lasse es aber. Wenn sie schreibt, will sie nicht gestört sein. Ich weiß, sie schreibt jetzt den Brief. Sie schreibt an die Großeltern, daß sie Geld schicken.

Ich schaue von meinem Platz durch die halbgeöffnete Tür und sehe von meiner Mutter eine Hälfte. Sie dreht mir den Rücken zu. Ihr Arm liegt auf der Platte des Schreibtisches, der ganz krumme Beine hat.

Sie sind mit putzigen, goldenen Blättern und Schnörkeleien verziert. Im Rokokozimmer haben alle Möbel krumme Beine, alle Stühle und alle Tische. Alles ist verziert und poliert. Die Stühle sind ganz aus Gold, klein und zierlich. Ich darf mich niemals darauf setzen, gleich heißt es: »Du brichst mir noch beim Räkeln die Beine ab.«

Erschrocken glaubte ich, meine eignen Beine wären gemeint, aber meine Mutter meinte die Beine des Stuhls.

Ein kleines Sofa steht auch im Rokokozimmer. Darauf können gerade zwei Menschen sitzen. Aber es wird nie benutzt. Über seiner Lehne hängen alte Männer, mit hohen, weißen Kragen. Das sind meine Ahnen, sagt meine Mutter. Sie sind lange tot, aber ihr Geist begleitet mich durch das ganze Leben. Daran soll ich immer denken und hübsch brav sein … Jetzt hört die Feder einen Augenblick auf zu kratzen. Die Hand mit dem Federhalter taucht in die Luft. Meine Mutter blickt hoch, als flögen die Worte dort umher, und man brauchte sie bloß aufzuspießen. Sie zögert ein wenig und jetzt hat sie es. Die Feder läuft pausenlos weiter.

Helenes Pinsel läuft mit, und ich seufze.

Mir fällt etwas ein. Ich werde Helene ein wenig ärgern. Es ist so schön, ihr zuzusehen, ohne daß sie es bemerkt. Einmal wird sie sich umdrehen, und dann werde ich anfangen. Über die Schulter wirft mir Helene nun einen versteckten, blinzelnden Blick zu.

»Helene«, sage ich, »weshalb hast du in der Nacht wieder Romane gelesen?«

Hat sie es gehört oder nicht? Ich sehe wieder ihren Rücken und rechts und links die beiden Ritter. Sonderbar, sie scheinen zu lachen, weil Helene mit einem Male an ihnen vorbeipinselt. Wirklich, Helene pinselt die Luft.

Das Pult, an dem meine Mutter schreibt, quietscht, als würden junge Katzen ersäuft.

Nun dreht sich Helene um, böse:

»Lüg nicht, Kater!« sagt sie leise. »Ich habe nicht gelesen, ich hab’ geschlafen …«

»Lenka«, fange ich an zu schmeicheln und stopfe tüchtig Brot in den Mund, »ich glaube, Vater war selbst unten, um nachzusehen, wer von euch Licht brannte.«

Jetzt ist es nebenan still. Ich nehme einen großen Schluck Milch. Furchtbarer Durst quält mich. Über den Becherrand schaue ich nach meiner Mutter. Sie hat einen Arm quer über das Pult gelegt, als müsse sie das Blatt Papier festhalten, auf dem sie schreibt.

Auch Helene rührt sich nicht und hat den Pinsel in die Schürzentasche gleiten lassen. Ich mag nicht mehr essen. Bin satt und lege das Brot hin. Ich will den Engel nicht stören, der durch das Zimmer fliegt. Aber es fliegt wohl gar kein Engel durch das Zimmer. Was nebenan zur Erde flattert, ist der Brief, auf den meine Mutter achtlos tritt, während sie zu uns herüberkommt.

»Fang an«, sagt sie zu mir. »Was hast du gesehen und gehört?«

Weiter ermahnt mich meine Mutter, die nackte Wahrheit zu sagen. Sie will den »Spukgeschichten« endlich einmal auf den Grund kommen.

Und so erzählte ich alles, was ich in der Nacht hörte und sah. Aber nicht nur das erzähle ich, auch den Traum. Leider auch den Traum, der ja einmal wahr war.

Ich beichte meiner Mutter, obgleich es so lange her ist, von der »Heiligen Nacht«. Ich habe Angst vor meiner Mutter, muß alles, alles sagen! Erzähle von dem Flüstern und Seufzen. Und auch von Helenes zerrissenem Kleid.

Meine Mutter reißt entsetzt die Augen auf. Dann schaut sie mich starr an, ohne sich zu rühren. Ihr Mund faltet sich zusammen, ihre Lippen sind ein Strich. Ich kann nicht mehr weiter erzählen. Nun nicht mehr. Eben fiel mein Blick auf Helene, die noch immer auf ihrem Stuhle vor den Rittern kniet. Hin und her streicht sie mit dem Pinsel, obgleich doch aller Staub längst verschwunden ist.

Aber sie sieht nicht hin, sondern schaut mich an. Ihre Wimpern zucken nicht mehr, flattern nicht, stehen still.

Überall fühle ich ihre Augen. Sie hängen fest an mir. Ich betrachte meine Schuhe, meine Strümpfe. Ich bewege die Arme und schaue sie an. Überall sind Helenes Augen, die wie graues, undurchsichtiges Wasser sind, das an den Rändern blank und lichtblau wird. Ich bringe kein Wort mehr heraus.

»Weiter, weiter«, befiehlt meine Mutter.

»Wer saß unter den Tannen? Du wirst doch wissen, wer es war.«

Ich klammere mich an die Decke, an die Wände. Sehe ein paar Flecke an der Tapete. Das sind meine schmutzigen Finger gewesen! Da kleben sie für alle Zeiten fest und kommen nicht mehr los.

Angstvoll suche ich das Fenster.

Aber das Fenster ist beschlagen. Ich kann nirgends durchschlüpfen und bin gefangen.

Tropfen rieseln langsam nieder. Dünne Rinnsale entstehen, die aber gleich wieder zusammenlaufen.

Fast vergesse ich, daß meine Mutter mich verhört.

»Besinne dich nicht lange«, höre ich meine Mutter, »ich will wissen, wer dich erschreckte. Es kann doch nur eine Person sein, und die kennst du doch!«

Da bricht es aus mir heraus:

»Es ist alles nicht wahr! Ich habe gelogen!«

Ich stürze meiner Mutter in die Rockfalten. Doch sie stößt mich zurück. Es gibt ein schreckliches Gepolter.

Der Stuhl, auf dem Helene kniete, schlug um. Helene ist ohnmächtig geworden.

Die Flinte holt ihn

Meine Mutter hat sich über Helene gebeugt. Das erste, was sie zu mir sagt, ist:

»Geh, geh! Du hast hier jetzt nichts mehr zu suchen!«

»Ist Helene tot?« frage ich und fühle, daß ich eiskalt werde.

»Nein, keineswegs«, sagt meine Mutter fast unfreundlich. Aber es beruhigt mich doch.

Jetzt will ich Polenka suchen …

Sie hat eine Gerte in der Hand und treibt eine weiße »Wolke« vor sich her. Sie treibt sie langsam über den weiten Hof, zu den Wiesen und Gräben, zu den Feldrainen und Grasnarben, und da werdens Gänse, die schnattern und raufen.

Polenka strickt an einem Strumpf und ihre Nadeln klappern. Ab und zu schaut sie auf. Sie muß aufpassen, daß sich keines an der grünen Saat vergreift, oder, wenn es Sommer ist, sich nicht im Getreide verirrt.

Kommt der Herbst, ist die »Wolke« ganz groß geworden. Polenka wird von ihr hin und her geschoben, kreuz und quer über die Stoppeln. Dann kommt mitunter ein Wind, und die ganze Wolke auf zwei Beinen steigt hoch. Meilenweit hört man das Kreischen. Nur Polenka muß unten bleiben. Wütend flattert sie hinterher und wirft ihre Gerte den Ausreißern nach.

Nun, nun, sie kommen alle wieder! Sind nicht halbwegs bis in den Himmel gekommen. Bis dorthin, wo die Vögelschwärme dahinziehen, »nach dem Süden«, wie meine Mutter sagt. Polenka gibt ihnen eins über die Schnäbel, und gleich sind sie wieder brav.

Wird es Herbst, so ist Kascha immer hinter den Gänsen her. Sie macht scharfe Augen. Polenka weiß, was das zu bedeuten hat. Man wird ihr von ihrer Herde die besten fortnehmen, in den Stall sperren und so lange »nudeln«, bis ihnen das Fett auf dem Boden nachschleift, oder, bis sie vom Nudeln erstickt sind. Beides kommt vor. Dann weint Polenka, Kascha schimpft über die mageren Stoppelgänse, Polenka schnattert etwas Unverständliches dagegen, und so zanken sie sich beide, bis Kascha ihre Mastgänse geschlachtet hat und Polenka in der Küche sitzt und von Morgen bis Abend Federn schleißen muß. Die Federn ihrer Besten!

»Wozu die vielen Federn?«

Für meine Aussteuer, sagt Kascha, für meinen Mann, damit er einmal weich liegt, der Prinz! …

Ich will keinen Mann, auch wenn er ein Prinz ist. Ich werde Soldat wie mein Vater! …

Polenka kriegt keinen Mann, sagt Kascha, auch wenn sie möchte. Sie ist taubstumm. Auch Helene kriegt keinen Mann, »weil sie sich nicht gut hält«. Das verstehe ich nicht. Helene geht so aufrecht, als habe sie eine Elle verschluckt.

Die Gänse laufen kreuz und quer über den Hof, und Polenka, als ginge sie das gar nichts an, steht inmitten der ganzen Unordnung und schaut unverwandt auf das Scheunendach.

Da sehe ich es, die Störche, die Störche sind da!!

Endlich sind sie gekommen. Oh, ihr Lieben, ich grüße euch tausendmal! Wo wart ihr so lange? Wie war die Reise? Und was bringt ihr mit? Den Bruder … Den Bruder … Den Bruder! …

Ich singe es in die Luft. Ich klatsche in die Hände. Ich reiße Polenka an der Schulter herum.

»Die Störche, die Störche, Polenka, was sagst du dazu?!«

Wer über den Hof kommt, bleibt stehen. Den Störchen zuzusehen, dafür haben sie alle Zeit. Da machen sie einmal ihre krummen Rücken gerade, stützen eine Hand ins Kreuz, legen die andere über die Stirn, weil die Sonne blendet und noch unter das dunkle Dach ihrer Tücher scheint.

Niemals war es so wie heute!

Frühling! Frühling!

Es tropft aus der Traufe: »Pink, pink!« Es tropft auf einen kleinen Eisblock, der morgen ein See sein wird. Und die Pappel hinter der Scheune weht mit grünen Tüchern.

Polenkas Gesicht ist ein sperrangelweit aufgerissener Mund. Über ihrer kurzen, breiten Nase leuchten die Sommersprossen. Ein einziges Lachen zieht sich von einem Ohr bis um anderen. Und jetzt, als sie mich erblickt, läßt sie ihre Pantoffeln fliegen und tanzt mit nackten Füßen über den holprigen Boden. Ihr verschossener Kattunrock wippt. Die roten Zacken vom Unterrock schlängeln sich wie eine feurige Schlange um ihre nackten Knie. Ihre Jacke flattert. Die bunten Würfel darauf tanzen. In den Fransen schaukeln sich lustig Kletten und Strohhalme, Federn und Reiser, kurz alles, was sie mit sich herumschleppt.

Sie tippt mit der Hand auf meine Schulter. Sie trillert mit den Fingern. Sie braucht keinen Mund, um reden zu können.

»Macht nichts!« heißt das.

Und die Gänse verteilen sich über den ganzen Hof. Sie schnattern und kreischen, kommen den Gespannen in die Quere.

»Macht nichts! Macht nichts!«

Sie fliegen bereits über die Hecke zu dem Pfau in unseren feinen Garten.

»Macht nichts!«

Und jetzt gehen sie schon, wie ganz vornehme Gäste, die Terrasse hinauf, langsam und feierlich. Wenn sie dort meine Mutter sieht! … Aber Polenka lacht.

Macht nichts! Macht nichts! …

Und die Störche schweben über uns im Kreise. Sie lassen sich zu uns nieder, sammeln Strohhalme und Reiser und beginnen fleißig, damit das Rad auszustopfen. Und wir schauen ihnen zu. Und es ist so, als glitten mit einem Male Dach, Störche, Nest und Rad weit, weit fort! … Aber es sind nur die Wolken, die schwimmen und gleiten.

Und da sehe ich den Vogt. Hinten zum Tore kommt er herein. Seine schwefelgelben Hosen leuchten von weitem. Ich gebe Polenka einen Stoß. Wie der Wind saust sie zu ihren Pantoffeln. Sie stolpert, so schnell findet sie den Einschlupf nicht. Vor dem Vogt hat auch Polenka Angst. Jetzt schwingt sie die Gerte und braust ab. Der Vogt hat es eilig. Immer ist sein Gesicht finster. Nur mich blinkert er zuweilen freundlich an, aber ich weiß, auch auf mich ist er nicht gut zu sprechen. Sieht er mich? Nein, er bleibt plötzlich stehen. Zum Scheunendach schaut er. Die Störche sieht er, die endlich angekommen sind. Ich folge seinem Blick. Aber wo sind sie, die Lieben? Zu den Wiesen geflogen?

Sie sind nicht im Nest, dafür aber jener andere, den ich den »Schwarzen« getauft habe. Er, der Vogel Unbekannt, der Helene erschreckte, und von dem meine Mutter den Namen nicht wußte. Nun weiß ich ihn.

Ich fragte meinen Vater, der horchte auf.

»Ei«, sagte er, »das muß ein Waldstorch sein. Aber was sucht denn der hier? Er nistet meist einsam in Wäldern, auf hohen, alten Bäumen.«

»Wird er den Bruder bringen?« wollte ich wissen.

»O nein, dieser Wildling bringt keine Kinder«, sagte mein Vater, »er ist in dieser Hinsicht ganz und gar unnütz. Immerhin, ein seltener Vogel, der sich da zu uns verflogen hat. Ich werde sehen, daß ich ihn erwische.«

Was das heißt, »erwischen«, das weiß ich. Alles Seltene möchte mein Vater haben, ganz gleich, wie. Er nimmt dann einfach seine Flinte, und die holt es ihm schon … Ich schaue starr auf das Nest. Sieht mich der fremde Vogel? Ich glaube fast, er blickt mich an. Steif steht er da, ein ganz und gar geharnischter Ritter. Bräunlichschwarz schillert sein Federkleid.

Nein, nein! Vater soll ihn nicht erwischen!

Mein Entschluß ist gefaßt. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, bücke mich und sammle Erdklumpen, die ich nach dem Nest schleudern will, um ihn zu vertreiben.

Aber mein Wurf ist zu schwach. Nicht einmal bis zum Giebel reiche ich mit meinen Warnungszeichen. Hinter mir höre ich das meckernde Lachen des Vogtes. Dann rauscht es in der Luft. Die weißen Störche kehren zurück. Auf dem Dachfirst machen sie halt, dann gehen sie mit ausgebreiteten Flügeln und spitzen Schnäbeln auf den Eindringling los … Kaum sah ich, daß unsere Störche sich mit ihren roten, scharfen Schnäbeln über den schwarzen hermachten, stürzte ich zu meiner Mutter. Sie stand bereits auf der Terrasse. Hatte ein weißes Tuch um ihre Schultern gelegt und sich fest darin eingewickelt. Alles an ihr war gespannt. Sie rührte sich nicht und ich sah nur, wie sie heftig atmete, an den Fransen ihres Tuches, das leise bebte. Ich packte ihre Hand.

»Sie werden ihm doch nichts tun?«

»Wem?« fragte sie, ohne mich anzusehen. Daran merkte ich, daß meine Mutter mit ihren Gedanken ganz woanders war. Da es Mittag geläutet hatte, kamen die Leute vom Felde. Kaum sahen sie, was auf der Scheune geschah, ließen sie alles stehen und liegen, eilten mit Leitern und gefüllten Wassereimern herbei, um die kämpfenden Vögel auseinanderzutreiben. Natürlich fürchteten sie, daß den »Glücksbringern« etwas geschehen könnte, daß der andere, der Fremde, sie für immer vertreiben würde. Ich aber fürchtete nur für das Leben des Schwarzen! Und nicht nur unten auf dem Hofe war ein plötzliches Gerenne und Gelaufe, Gelächter und Geschrei, auch in den Lüften wurde es lebendig. Von allen Seiten kamen sie herbei, die Zeisige und Finken, die Sperlinge und Hänflinge, die Drosseln und die Stare. Wo nur ein Platz war, auf den Dächern der Gebäude, im Gezweig der Pappel, ließen sie sich nieder und übertönten mit ihrem Geschrei die Stimmen der Menschen.

Auf der Scheune flogen jetzt Federn. Wild hieben die Schnäbel. Aber tapfer hielt sich der Schwarze auf seinem Platz.

Fester faßte ich die Hand meiner Mutter, die aber, als ginge sie das alles gar nichts an, schaute in eine andere Richtung.

Ich folgte ihrem Blick und sah Helene über den Hof gehen. Helene, die ohnmächtig gewesen war. Sie trug ein Bündel in der Hand und hielt den Kopf gesenkt. Sie sah nicht zur Scheune, merkte nicht, was los war, sondern ging auf das Vogthaus zu. Dort zögerte sie, ehe sie die Steinstufen hinaufging. Sie drückte die Klinke nieder und war verschwunden. Ich habe nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Denn da ist mein Vater. Wie aus dem Boden gewachsen, steht er vor uns. Die Flinte gegen die Wange gepreßt. Der eiserne Lauf ist aufgerichtet. Ich sehe in das schwarze, kleine Schußloch.

Meine Mutter drängt mich zur Seite. Ich fange an zu schreien, reiße mich los, stürze auf meinen Vater zu und umklammere seinen erhobenen Arm.

»Vater, Vater, nicht schießen! Bitte, bitte, töte ihn nicht!!« Knall und Feuer. Rauch …

Große, weiße Flügel schwingen sich in den Himmel, etwas Schwarzes gleitet vom Dach. Mein Vater hat gut getroffen.

Alles rennt zur Scheune. Ich laufe mit, ohne es zu wissen. Zu einem Klumpen geballt stehen sie zusammen und recken die Hälse. Ein kleiner Platz ist geblieben, dort muß er liegen. Ich dränge mich durch. Streife verschwitzte Röcke und schmutzige Jacken. Ich zwänge mich an breiten, schweren Stiefeln vorbei, die ganze Mistbrocken mit sich herumschleppen. Und dann sehe ich ihn. Seine Flügel zucken kurz, dann strecken sie sich weit und klappen zusammen. Etwas Dunkelrotes kriecht unter den Federn hervor, kriecht und kriecht wie etwas Lebendiges, das sich Platz sucht, das einen weiten, großen Platz braucht, um sich ausdehnen zu können. Schmutzige Hände greifen nach dunkel glänzenden Federn. Neugierige Finger schieben sich unter Hals und Balg. Ich fange an zu brüllen. Ich stoße mit den Füßen nach den zupackenden Händen. Ich schlage mit den Armen um mich, ganz gleich, wen ich treffe.

Ich spucke ihnen vor die Füße, ich kratze Hände, die mich oft getragen, ins Haus zurückbrachten, wenn es finster war.

Ich habe vergessen, wer mich reiten ließ und wer mich auf seinem Wagen mitnahm. Wer mich mit seinem Rechen harken ließ und wer mir frische, warme Milch zu trinken gab.

Das da sind nicht mehr meine Freunde! Fremde, höhnische Gesichter sind das, die lachen, wo es mir ernst ist.

Da trillert eine Pfeife. Alle stieben auseinander. Jetzt sehe ich ihn, um den all das geschah. Er ist jetzt nur noch ein Bündel Federn, der einmal ein Vogel war.

Still! Still! Er rührt sich nun nicht wieder. Aber wenn ich ihn berühre, wenn ich ihn aufrichte? Ich nehme das Kleid und drücke es gegen das Loch, wo es strömt und strömt.

Ich knie mich hin, streichle die glänzenden Federn. Ich taste nach dem langen Hals, aber er schnellt mir aus der Hand. Der Kopf schlägt auf und es gibt einen kurzen, harten Ton.

Ein Auge sieht mich an, das nur noch Glas ist. Trübes, blindes Glas. Und wie ich mich ganz dicht darüber beuge, sehe ich mich selbst, wie durch Nebel undeutlich und verschleiert.

Eine Hand reißt mich hoch. Ich bekomme einen Schlag. Mein Vater sieht mich wütend an.

»Scher dich sofort ins Haus!«

Er drängt mich zur Seite, bückt sich, um den toten Storch aufzuheben. Nun, er will sich wohl damit nicht schmutzig machen. Und so trillert wieder die Pfeife. Ein Junge kommt gelaufen. Mein Vater mit der Flinte über den Rücken, der Junge, die Hände an die zerlöcherten Hosen gepreßt, die nackten Fersen zusammengeklappt, so stehen sie voreinander.

»Stillgestanden! Anfassen! Aufheben – – – Marsch!« Wie eine Fahne zieht das Kommando über den Hof. Als wenn jetzt tausend Füße anfangen müßten zu marschieren … aber es sind nur vier …

Ich stehe da und rühre mich nicht.

Meine Hände sind blutig. Ich fürchte mich vor Blut und wische es an meinem Kleide ab. Nichts mehr ist da, als eine dunkelrote Lache, die der Staub langsam aufsaugt. Eine glänzende, schwarze Feder ragt heraus. Ich hebe sie auf, will sie behalten. Ich reibe sie, bis sie ganz blank und heiß ist. Dann schiebe ich sie oben am Hals unter mein Kleid.

Gespräche

Unten im Keller liegt der schwarze Storch. Mein Vater hat etwas Geheimnisvolles mit ihm vor. Er kramt in Schubladen, fragt nach einem scharfen Messer und läuft mit Büchsen und Tiegeln nach unten. Dort höre ich ihn pfeifen: »Die Tiroler sind lustig!«

Auch bei Tisch hat er gute Laune. Er bemerkt nicht, daß meine Mutter ein strenges, verschlossenes Gesicht macht und gar nicht zuhört, was er ihr erzählt.

»Paß auf, Kater«, sagt er zu mir, »der Schwarze bekommt einen Ehrenplatz in diesem Zimmer.«

Kascha trägt heute die Speisen auf. Schon von weitem höre ich ihren keuchenden Atem, ihre quietschenden Schuhe. Die weiße Schürze, die sie über den Rock gebunden hat, klafft weit auseinander.

Ich suche den Blick meiner Mutter. Wo ist Helene? Aber meine Mutter sieht nicht von ihrem Teller auf.

Mein Vater spricht behaglich von seinem guten Schuß.

»Keine Bange, Kater«, sagt er zu mir. »Der Feind ist erledigt. Nun wird es nicht mehr lange dauern und die Störche kommen mit dem Brüderchen.«

Jetzt erst bemerkt er, daß es Kascha ist und nicht Helene, die den Tisch abräumt.

»Ist Helene krank?«

»Nein, entlassen!« sagt meine Mutter ruhig. Dann mit erhobener Stimme, schlimmen Dingen sei sie endlich auf die Spur gekommen. Aber es wäre jetzt nicht der geeignete Moment, um darüber zu reden.

Ihr Blick streift mich. Sie wünsche nur, daß Helene möglichst bald vom Hofe verschwände. Eine Heimat, ein Zuhause würde sie ja wohl haben. Das Gehalt für einen Monat im voraus sei ihr bereits ausgezahlt worden.

Ja, ein Zuhause hat Helene. Hier, in Olanowo. Der Vogt ist nämlich ihr Vater.

Ich kann’s nicht fassen. Aber mein Vater muß es ja wissen. Er hat Helene zu uns gebracht, aber da lag ich noch im Steckkissen.

Meine Mutter steht auf und verläßt das Zimmer. Mein Vater sieht ihr finster nach. Dann stellt er sich vor das Fenster.

Plötzlich dreht er sich zu mir um.