Der Sektor - Michael Hudson - E-Book

Der Sektor E-Book

Michael Hudson

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Beschreibung

Der Weltökonom Michael Hudson übt eine Fundamentalkritik am kapitalistischen Finanzsystem, die unser Denken verändern wird. Die Weltgeschichte beweist: Die Banken führen einen neuartigen Krieg gegen die Demokratie. Hudsons Prognosen erregen weltweit Aufmerksamkeit: als Erster und Einziger hat er den genauen Zeitpunkt vorausgesagt, an dem die fatale Immobilienblase platzen sollte. Eindringlich analysiert er, wie die internationale Finanzwelt die Errungenschaften der klassischen Ökonomie verspielt. An Beispielen aus der Geschichte zeigt er, was "Schulden" sind, und eröffnet neue Perspektiven auf dieses Menschheitsproblem. Schonungslos entlarvt Hudson die Vorstellung, die Verschuldung könne gemanagt werden, wenn man sie den Bürgern aufbürdet. Das Bankensystem muss wieder der Wirtschaft dienen und nicht umgekehrt. Doch nun betreibt die Finanzwelt eine neue Art der Kriegsführung gegen das Volk, die unsere Gesellschaften polarisiert. Hudsons historisch fundierte Analyse belegt: Weltweit werden Bürger revoltieren. Denn die Interessen von Gläubigern sind nicht die der Demokratie. Für den Autor ist die heutige Krise noch immer eine Frage des politischen Wollens und keine schicksalhafte Notwendigkeit. "Michael Hudsons brillant-scharf sinniges Buch über das Versagen des modernen Kapitalismus ist Pflichtlektüre." David Graeber Die Wall Street besitzt heute eine Finanzmacht, mit der sie den Ausgang von Wahlen und die Besetzung von Schlüsselpositionen bei Finanzmarktregulierungs- und Strafverfolgungsbehörden maßgeblich beeinflusst.

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Seitenzahl: 1066

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MICHAEL HUDSON

DER SEKTOR

WARUM DIE GLOBALE FINANZWIRTSCHAFTUNS ZERSTÖRT

Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer, Dorothee Merkel und Thorsten Schmidt

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»Killing the Host. How Financial Parasites and Debt Destroy the Global Economy« im ISLET-Verlag, Glashütte 2015

© 2015 by Michael Hudson

© 2015 ISLET-Verlag, Glashütte

Für die deutsche Ausgabe

© 2016, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Redaktion: Ulf Müller, Köln

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung einer Abbildung von © Volker Möhrke/Corbis

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN978-3-608-94748-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10582-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort für die deutsche Ausgabe

Einleitung – das Thema unseres Zeitalters

Der Parasit, der Wirt und die Kontrolle über das wirtschaftliche Gehirn

Teil I

Von der Aufklärung zu einer Wirtschaft der Neo-Rentiers

Kapitel 1

Der Finanzsektor und sein Aufstieg zur Macht

Kapitel 2

Der lange Kampf, um Volkswirtschaften vom Rentier-Erbe des Feudalismus zu befreien

Kapitel 3

Kritiker und Apologeten der ökonomischen Rente, von John Locke bis John Stuart Mill

Kapitel 4

Die alles verschlingende Macht des Zinseszinses

Kapitel 5

Wie das Eine Prozent die übrigen 99 Prozent in exponentiell wachsender Verschuldung hält

Kapitel 6

Wie die Rentiers ihre Einkünfte aus den volkswirtschaftlichen Einkommensstatistiken verbannten

Kapitel 7

Der vergebliche Versuch, die Hochfinanz zu industrialisieren

Teil II

Die Wall Street als zentrale Planungsabteilung

Kapitel 8

Die Börse als Schauplatz rücksichtsloser Finanzmachenschaften

Kapitel 9

Von den Anfängen des Aktienmarkts zur Ausgabe von Ramschpapieren

Kapitel 10

Finanz kontra Industrie: Die zwei Seiten der Bilanzaufstellung

Kapitel 11

Die Blasenökonomie: von der Vermögenspreisinflation zur Schuldendeflation

Kapitel 12

Die Banker haben es kommen sehen, aber die Ökonomen schauten weg

Kapitel 13

Der Coup von 2008: Wie die Banken gerettet wurden, aber nicht die Wirtschaft

Kapitel 14

Die staatlichen Geschenke werden immer mehr von Politik und Korruption beherrscht

Kapitel 15

Die Scheinversicherung der Wall Street gegen den Crash

Kapitel 16

AIG

wird gerettet, um Goldman durchzufüttern

Kapitel 17

Die Wall Street übernimmt das Ruder und verhindert Schuldenerleichterungen

Kapitel 18

Von der Demokratie zur Oligarchie

Teil III

Die selbstauferlegte Sparpolitik als Griff nach den Gemeingütern

Kapitel 19

Die selbstauferlegte Sparpolitik Europas

Kapitel 20

Die finanzielle Eroberung Lettlands: von der sowjetischen Planwirtschaft zur neoliberalen Austerität

Kapitel 21

Die Gründung der Troika: ihre bankenfreundliche, arbeiterfeindliche Agenda

Kapitel 22

Die Hochfinanz »verramscht« die Demokratie

Kapitel 23

Die Hochfinanz installiert Technokraten als Statthalter

Kapitel 24

Der Weg der Troika in die Schuldknechtschaft

Kapitel 25

US

-Gerichte blockieren Schuldenschnitte

Kapitel 26

Sparpolitik oder Neuanfang?

Kapitel 27

Der Finanzkapitalismus als Krieg

Kapitel 28

Werden die ökonomischen Produktivkräfte durch Rentenextraktion gelähmt?

Teil IV

Es gibt eine Alternative!

Kapitel 29

Der Kampf um das 21. Jahrhundert

Schluss

Die griechische Tragödie könnte das Ende des Euro bedeuten

Nachwort für die deutsche Ausgabe von 2016

Anhang

Anmerkungen

Länderregister

Personenregister

Sachregister

Vorwort für die deutsche Ausgabe

Vor einhundert Jahren schien Deutschland(1) Europa(1) in die Zukunft zu führen. Obwohl Großbritannien(1) das Heimatland der Industriellen Revolution war, spielten deutsche Großbanken eine führende Rolle bei der Finanzierung von Industrieunternehmen. Gemeinsam mit Behörden und der Schwerindustrie förderten sie langfristige Projekte, statt auf kurzfristige Erträge zu drängen. Britische Banken dagegen konzentrierten sich auf Handelsfinanzierung und Spekulation, hauptsächlich mit Staatsanleihen(1). Auch die britischen Aktienmärkte zeigten wenig Interesse, industrielle Investitionen zu finanzieren, da es dabei überwiegend um windige Eisenbahn- und Kanalbauprojekte ging, die anfällig für Betrug und Insidergeschäfte waren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs(1) im Jahr 1914 riefen diese Unterschiede bei britischen Ökonomen die Sorge hervor, das deutsche Bankensystem könne dem Feind einen militärischen Vorteil verschaffen.

Fast alle Ökonomen glaubten, der Krieg werde nur ein paar Monate dauern. Aber sämtliche Seiten entdeckten schon bald das Grundprinzip der öffentlichen Finanzwirtschaft: Staaten können ihr eigenes Geld drucken, wie es die Vereinigten Staaten in ihrem Bürgerkrieg fünfzig Jahre zuvor getan hatten, und wie es Georg Friedrich Knapp in seiner Staatlichen Theorie des Geldes (1905) beschrieb.

Die Wende brachte allerdings weder das Bankwesen noch die Geldschöpfung(1), sondern der Kriegseintritt der USA im Jahr 1917. Nach dem militärischen Sieg über die Achsenmächte strebten die Vereinigten Staaten die finanzielle Vorherrschaft über ihre Alliierten an, indem sie die Bezahlung jener Rüstungsgüter verlangten, die diese vor dem Kriegseintritt der USA gekauft hatten.

In Versailles forderten die Alliierten von Deutschland(2), ihre Schulden gegenüber den Vereinigten Staaten zu übernehmen. Deutschland wurden im Versailler Vertrag Fremdwährungsschulden auferlegt, die seine Zahlungsfähigkeit weit überstiegen. Anders als die Kosten der inländischen Kriegsanstrengungen konnten Reparationsforderungen in Fremdwährungen nicht durch staatliches Gelddrucken beglichen werden. Auslandsschulden konnten nur mithilfe eines Exportüberschusses, durch den sich Pfund Sterling, französische Francs und andere Devisen erwirtschaften ließen, zurückgezahlt werden.

Deutschland(3) wurde seiner wichtigsten Exportgüter beraubt, dennoch vertraten der französische Monetarist Jacques Rueff und andere gläubigerfreundliche Ökonomen die Auffassung, Staaten könnten Auslandsschulden in beliebiger Höhe dadurch zurückzahlen, dass sie ihre inländischen Arbeitskräfte und ihre Industrie besteuerten. Das Problem bestand jedoch darin, dass die deutschen Steuern in inländischen Mark, nicht in Devisen gezahlt wurden. Wie sollte Deutschland inländische Steuereinnahmen in die Fremdwährungen konvertieren, mit denen die Reparationsforderungen beglichen werden mussten? In dem verzweifelten Versuch, Devisen zu kaufen, um die Ansprüche der Alliierten zu erfüllen, warf die Reichsbank Mark auf Devisenmärkte. Dadurch brach der Wechselkurs(1) der Mark zusammen, was die inländischen Kosten für Einfuhren und damit die Preise in die Höhe trieb.

Wir haben diese tragische Epoche der deutschen Geschichte jedoch in falscher Erinnerung behalten. Obwohl Deutschland(4) zur Begleichung ausländischer Reparationsforderungen riesige Mengen an Mark druckte, kam es zu einer fiskalischen und finanziellen Deflation. Geld wurde nicht geschöpft, um inländische Ausgaben zu finanzieren und so die brutale Sparpolitik abzumildern, die zu schweren sozialen Verwerfungen führte.

Der Erste Weltkrieg(2) und seine Nachwirkungen zeigen, wie kurzsichtig die Vorstellung ist, eine strenge Sparpolitik könne Output für den Export »freisetzen«. John Maynard Keynes(1) war derjenige, der die gängige Vermengung des fiskalischen Problems (wie viel inländische Währung kann ein Staat besteuern?) mit dem Transfer-Problem am verständlichsten erklärte: Wie viel Fremdwährung kann bezahlt werden?

Alle Hyperinflationen (außer in Simbabwe) sind eine Folge des Bestrebens, eine höhere Summe an Auslandsschulden zurückzuzahlen, als die entsprechende Volkswirtschaft an Devisen zu erwirtschaften vermag. Ein strenger Sparkurs der öffentlichen Hand kann dieses Transferproblem nicht lösen, weil Austerität(1) und Schuldendeflation(1) Produktionskapazitäten zerstören und Arbeitnehmer dazu bewegen, auf der Suche nach Arbeit ins Ausland abzuwandern. Die Umlenkung von Einkommen weg von der inländischen Produktion hin zur Befriedigung von Gläubigern gleicht dem »therapeutischen« Vorgehen eines mittelalterlichen Quacksalbers, der seine Patienten umso häufiger zu Ader lässt, je kränker sie werden.

Der IWF hat diese zerstörerische Dynamik über fünfzig Jahre lang Schuldnerländern der Dritten Welt(1) auferlegt, und die Europäische Zentralbank und die Europäische Union(1) wenden sie seit 2012 in Griechenland(1) an. Wenn an einer verfehlten wirtschaftspolitischen Strategie von solcher Tragweite festgehalten wird, obwohl sie ganz offensichtlich nicht den versprochenen Erfolg zeitigt, stehen dahinter immer mächtige Sonderinteressen. Eine rigorose Sparpolitik führt zwangsläufig zu Wirtschaftskrisen und stellt somit eine Art »Kriegserklärung« an Arbeitnehmer und Industrie dar. Sie erhöht zudem den Druck auf Regierungen, öffentliche Vermögenswerte(1) und Staatsbetriebe zu privatisieren. Diese Vermögenswerte bieten Anleiheinhabern, Investoren und Spekulanten dadurch Gelegenheiten zur Abschöpfung ökonomischer Renten, die größtenteils mit zinstragenden Krediten finanziert werden.

Die Tatsache, dass diese Ideologie der Austerität(2) vor allem in Deutschland(5) auf so fruchtbaren Boden fiel, zeigt, dass hier kaum etwas von den finanzpolitischen Kontroversen der 1920er-Jahre in Erinnerung geblieben ist. Deutsche Banken und Banken anderer Länder behandeln Volkswirtschaften der Eurozone(1) genau so, wie die Gläubiger damals Deutschland behandelten.

Verschlimmert werden die Auswirkungen der Austeritätspolitik dadurch, dass es gemäß den Statuten der Europäische Zentralbank den Mitgliedstaaten der Eurozone(2) untersagt ist, eigenes Geld zu drucken, um Haushaltsdefizite(1) zu finanzieren. Dies zwingt Staaten in die Abhängigkeit von Anleihegläubigern. Der Schuldendienst(1) bekommt dadurch den Charakter der Bedienung von Auslandsschulden. Außerdem beanspruchen die Zinszahlungen auf diese Schulden den gesamten Zuwachs des Volkseinkommens(1) für einen Staat wie Griechenland(2) – und bald wohl auch für Italien(1), Spanien(1) und Portugal(1).

Die monetäre Zwangsjacke der Eurozone(3)

Durch das geldpolitische Instrument der quantitativen Lockerung hat die Europäische Zentralbank (»so viel wie notwendig ist«, sagte Mario Draghi(1)) Geld geschöpft, um die Forderungen von Banken und Anleihegläubigern aus notleidenden Krediten und Investitionen zu erfüllen. Aber sie schöpft kein Geld zur Ankurbelung der Konjunktur in Europa(2). Im Gegenteil: Die Regierungen der Eurozone(4) verfolgen eine strenge Sparpolitik und opfern die Wirtschaft auf dem Altar der Gläubigerforderungen, denen sie Vorrang einräumen.

Anders als eine staatliche Defizitfinanzierung(1), die das Wachstum der Wirtschaft und der Märkte ankurbelt, schöpfen Banken Kredit in Form zinstragender Darlehen für ihre Kunden – hauptsächlich Käufer von Immobilien(1), Aktien(1) und Anleihen(1) sowie Finanzinvestoren. Diese Kreditvergabe durch die Banken treibt zwar Preise für diese Vermögenswerte(2) in die Höhe, dient aber nicht zur Finanzierung von Sachanlageinvestitionen und Arbeitsplätzen, Löhnen oder Verbraucherpreisen. Aus diesem Grund hat die quantitative Lockerung(1) der US-Notenbank (Fed(1)) und der Europäischen Zentralbank – das Ausreichen von Krediten an US-amerikanische und europäische Banken, nicht an Firmen oder Verbraucher – die Güterpreise nicht erhöht. Auf diese Weise wächst die Überschuldung(1) der Wirtschaft, die in zunehmendem Maße unter einer Schuldendeflation(2) leidet. Dieser Gegensatz zwischen einer Vermögenspreisinflation(1) und Schuldendeflation ist ein zentrales Thema dieses Buches.

Die Frage, vor der Europa(3) heute steht, ist die gleiche, vor der die Vereinigten Staaten im Jahr 2008 standen: Soll der Finanzsektor oder soll die Wirtschaft gerettet werden?

Die Regierung Obama(1) entschied sich, die Banken zu retten. Sie setzte die Macht zur Geldschöpfung(2), über die das Finanzministerium und die Fed(2) verfügen, nur dazu ein, Banken und Anleihegläubigern Verluste zu ersparen, während Eigenheimbesitzer und andere Schuldner die Last ihrer Hypothekenverbindlichkeiten allein stemmen mussten. Zentralbanken(1) überall auf der Welt retten den Finanzsektor und dessen gigantischen Bestand an Forderungen – das heißt, sie sichern die finanziellen und Eigentumsansprüche des Einen Prozents gegen die verschuldeten 99 Prozent ab.

Dies wird zwangsläufig mit einem Zusammenbruch des Finanzsystems enden, während die Wirtschaft unter der Schuldenlast begraben wird. Die Erkenntnis dieser mathematischen Gewissheit sollte der Ausgangspunkt jeder wirtschaftspolitischen Diskussion unserer Zeit sein. Wenn die Summe der Schulden von Unternehmen, privaten Haushalten und der öffentlichen Hand so groß ist wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – ein Normalfall in der heutigen Welt – und wenn die Zinsen auf diese Schulden, zum Beispiel, 5 Prozent betragen, dann muss die Wirtschaft jedes Jahr um 5 Prozent wachsen, um die Zinskosten überhaupt bezahlen zu können.

Aber Volkswirtschaften wachsen nicht mit dieser Rate. Dies bedeutet, dass ihre wachsenden Schulden gegenüber Banken und Anleihegläubigern nach und nach die Substanz der Volkswirtschaften aufzehren, so dass weniger Einkommen für Produktion und Konsum zur Verfügung steht. Im Fall Griechenlands(3) beläuft sich die Verschuldung(1) auf 180 Prozent des BIP. Um Schuldzinsen in Höhe von 5 Prozent zahlen zu können, müsste Griechenland jährlich 9 Prozent seines BIP aufwenden. Ein finanzieller Aderlass in dieser Größenordnung führt zur Schrumpfung der Binnenmärkte und damit der Beschäftigung sowie neuer produktiver Investitionen. Das ist die Dynamik der Schuldendeflation(3). Volkswirtschaften verarmen und zerfallen, wenn Einkommen und Vermögen an Gläubiger übergehen.

In hochverschuldeten Volkswirtschaften kommt es zu einer politischen Polarisierung, für gewöhnlich einem Erstarken nationalistischer Kräfte, wenn sozialistische Politiker keine Alternative anbieten. Dies geschah in Deutschland(6) im Jahr 1931, als verspätet ein Moratorium auf die deutschen Reparationszahlungen erklärt wurde. Ein ähnlicher nationalistischer Widerstand gegen die deflatorische Sparpolitik der Eurozone(5) wiederholt sich heute. So, wie die Deutschen in dem Maße, wie die Bezahlung ihrer Reparationsschulden nach dem Ersten Weltkrieg(3) ihre Volkswirtschaft zerstörte, immer ausländerfeindlicher wurden, so entwickeln heute Griechen und andere Südeuropäer eine wachsende Animosität gegen Deutschland und die französische und niederländische Regierung, die ebenfalls eine strenge Sparpolitik befürworten.

Kurzfristig lautet die vordringlichste Frage: Wie lässt sich die heutige Abwärtsspirale der Schuldendeflation(4) aufhalten? Die Weigerung der Eurozone(6), dem Wirtschaftswachstum Vorrang zu geben, droht diese auseinanderbrechen zu lassen, da die hochverschuldeten Mitgliedstaaten versuchen, sich deren deflatorischen, arbeitnehmerfeindlichen Ideologie der »inneren Abwertung«(1), die nichts anderes als Lohn- und Rentenkürzungen bedeutet, zu entziehen.

Diese Sparpolitik und das Schrumpfen der Wirtschaftsleistung(1) sind kontraproduktiv. Wenn Staaten Geld schöpfen können, um Kriege zu finanzieren oder den Finanzsektor zu retten, dann können sie auch Geld schöpfen, um es in die Wirtschaft zu pumpen und die Investitionstätigkeit und die Beschäftigung anzukurbeln. Das ist die zentrale Einsicht der Modernen Monetären Theorie (MMT), die die Geldschöpfung(3) als eine grundlegende öffentliche Dienstleistung behandelt.

Das politische Problem besteht darin, dass die Schuldendeflation(5) nicht ohne Erlass jener Schulden überwunden werden kann, die die Zahlungsfähigkeit von Volkswirtschaften übersteigen – das heißt, ihre Fähigkeit, ihre Schulden zurückzuzahlen, ohne in eine tiefe Depression zu geraten. Die Reparationsforderungen und die interalliierten Schulden im Gefolge des Ersten Weltkriegs(4) verdeutlichten die Grenzen des Schuldendienstes, der geleistet werden konnte, ohne Volkswirtschaften zu zerstören, und folglich ihrer Fähigkeit, einen Überschuss zur Bedienung der Schulden zu erwirtschaften. Wenn man Länder dazu zwingt, »ihren Verhältnissen entsprechend zu leben«, indem sie die Forderungen von Banken und Anleihegläubigern vollumfänglich befriedigen – und es zulässt, dass Banken gegen verschuldete Firmen und Privatpersonen Zwangsvollstreckungen(1) betreiben –, führt dies unweigerlich zu Instabilität und wirtschaftlicher Polarisierung zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern sowie zwischen Gläubigern und Schuldnern innerhalb jedes Landes.

Ein Schuldenerlass(1) zur Konjunkturbelebung ist das wichtigste wirtschaftspolitische Gebot der Stunde für die Vereinigten Staaten und Europa(4) – dennoch behaupten Banken und Anleihegläubiger, dies werde die Realwirtschaft in eine Krise stürzen. Dabei blenden sie die Erfahrungen Deutschlands(7) im Gefolge des Zweiten Weltkriegs(1) aus. Die von den Alliierten durchgeführte Währungsreform von 1948 strich alle inländischen Schulden, außer für Mindestgeschäftsguthaben von Banken und für Lohnschulden von Arbeitgebern. Das machte die deutsche Wirtschaft schuldenfrei. Das Ergebnis war das deutsche Wirtschaftswunder.

Es war leicht, Schulden in einer Situation zu streichen, wo der größte Teil dieser Verbindlichkeiten ehemaligen Nazis oder deren Unternehmen geschuldet wurde. Aber in den Kopf der Europäer wurde eine falsche Erinnerung eingepflanzt: Die Vorstellung, dass es sich um »marktwirtschaftliche« Reformen handele, zu denen gläubigerfreundliche Regeln und die Unantastbarkeit von Schulden gehören sollen. Das ist das Gegenteil des deutschen Modells des Schuldenerlasses(2) von 1948.

Die heutige ökonomische Ideologie macht die Reformen der Progressiven Ära(1) rückgängig

Lobbyisten jener Interessengruppen, die es auf die Abschöpfung ökonomischer Renten abgesehen haben, sowie deren Banken haben die ökonomischen und steuerlichen Reformen, auf die die französischen Physiokraten(1), Adam Smith(1), John Stuart Mill(1) und ihre Anhänger im Namen freier Märkte drängten, bewusst falsch dargestellt. Diese klassischen Ökonomen forderten die Gesellschaft auf, Märkte von »unverdientem« (nicht durch eigene Arbeit erworbenem) Einkommen und der Rentier(1)-Schuldenlast zu befreien. Die heutige steuerliche Begünstigung des Finanzsektors verkehrt diese Doktrin ins Gegenteil; sie fördert das Abschöpfen ökonomischer Renten (Rent-Seeking(1)) durch Banken, Anleiheinhaber und ihre Kunden im Immobilien(2)- und Rohstoffsektor sowie die Entstehung von Monopolen und Finanzkonzernen.

Die klassische Arbeitstheorie der Wertschöpfung(1) definierte die ökonomische Rente(1) als der Betrag, um den der Preis die technologisch notwendigen Produktionskosten übersteigt. Der Begriff umfasst Bodenrenten, Monopolrenten und Zinsen, die von Grundeigentümern und anderen Eigentümern natürlicher Ressourcen, von Monopolisten und Banken abgeschöpft werden. Diese Rente verdankte sich nicht der Produktion »realen« Outputs, sie war vielmehr »leistungsloses« Einkommen. Das meiste davon war ein Überbleibsel steuerähnlicher Privilegien, die ihren Ursprung in den mittelalterlichen Eroberungskriegen Europas(5), den Kreuzzügen und christlicher Bankdynastien haben.

Deutsche Ökonomen wie Wilhelm Roscher(1), Karl Heinrich Rau und Karl Marx(1), die sich auf die politische Ökonomie von Adam Smith(2), David Ricardo(1) und der Ricardianischen Sozialisten(1) im Gefolge von John Stuart Mill(2) stützten, wollten die Wertschöpfung(2) in Einklang mit dem Preis bringen, um Volkswirtschaften auf diese Weise von »unverdientem« Rentier(2)-Einkommen zu befreien.

Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands(8) (SPD) schloss sich diesem Reformziel von sozialdemokratischen und Arbeiterparteien in ganz Europa(6) an: Volkswirtschaften von dem Vermächtnis des Feudalismus – seiner Bodenrente, der Monopolrente(1) und dem ausbeuterischen Kreditgewerbe – zu befreien und elementare Infrastrukturdienstleistungen kostenlos oder zumindest zu subventionierten Preisen als öffentliches Gut zur Verfügung zu stellen. Straßen und andere Verkehrswege, Post, Telekommunikation, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, das Gesundheits- und Schulwesen sollten öffentliche Versorgungseinrichtungen sein und nicht an Monopolisten verkauft werden, die durch Preiserhöhungen ihre Erträge maximieren. Wo Land, Bodenschätze und Infrastrukturmonopole in privaten Händen blieben, sollte ihre ökonomische Rente(2) besteuert werden.

Industrielle Arbeitgeber und Lohnempfänger sowie Verbraucher wären die Nutznießer, weil die Besteuerung von Renten und die Subventionierung öffentlicher Dienstleistungen die betreffenden Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger machen würden. Niedrige Preise für den Zugang zu Grund und Boden sowie anderen grundlegenden Dienstleistungen würden die Lebenshaltungskosten und damit auch die Kosten unternehmerischer Tätigkeit senken. Grundeigentum wäre kein Gemeinkostenfaktor mehr, der die Wirtschaft insgesamt belastete.

Die angestrebte staatliche Abschöpfung ökonomischer Renten blieb aus. Bankenlobbyisten, die einen hundertjährigen Kampf gegen die Besteuerung ökonomischer Renten führten, haben eine »Gegenrevolution« unterstützt, die sozialdemokratische Parteien in ganz Europa(7) dazu veranlasste, ihre ursprünglichen Reformvorhaben aufzugeben. Sie sind auf den Privatisierungszug aufgesprungen und unterstützen sogar eine harte Sparpolitik, die darauf abzielt, die Anleihegläubiger auszuzahlen. In Großbritannien(2) hat (1)Tony Blair eine »thatcheristischere« Politik betrieben als die Konservativen, und auf ihn folgte Gordon Brown(1) mit seiner »legeren Regulierungspolitik«. Französische, spanische und andere Sozialisten(2) schlossen sich dem Rechtsschwenk zu einer Austeritätspolitik an. In Griechenland(4) verfolgte die sozialistische Partei (Pasok) eine strenge Sparpolitik und erklärte sich zur Rückzahlung von Schulden bereit, was die griechische Wirtschaft seit 2010 in einem permanenten Krisenzustand hält. Der Pasok-Vorsitzende Giorgos Papandreou(1) wurde just zu dem Zeitpunkt zum Vorsitzenden der Sozialistischen Internationalen gewählt, als seine Partei ihren Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verlor.

Nachdem die Demokratische Partei im Jahr 2008 im US-Kongress für Bankenrettungspakete kämpfte, berief Präsident Obama(2) das Wall-Street-Faktotum Tim Geithner(1) (der durchweg eine Schurkenrolle in diesem Buch spielt) als Finanzminister in sein Kabinett. Das Justizministerium wurde den Wall-Street-Anwälten Eric Holder(1) und Lanny Breuer(1) anvertraut, die darauf verzichteten, auch nur einen einzigen korrupten Banker vor Gericht zu bringen.

Im Jahr 2008 wäre eine Anpassung der Schuldenlast an die Zahlungsfähigkeit der Schuldner angezeigt gewesen, und dies hätte bedeutet, dass faule Kredite hätten abgeschrieben werden müssen. Stattdessen wurden Citigroup(1) und andere Großbanken, die im Zentrum des Betrugs mit Ramschhypotheken standen, gerettet und subventioniert, sodass sie heute noch viel größer sind als im Jahr 2008, obwohl sie damals insolvent waren. Die Fed(3) hat im Rahmen der quantitativen Lockerung über 4 Billionen Dollar gedruckt, um die Vermögenspreise erneut künstlich aufzublähen und die Überschuldung(2) der Wirtschaft aufrechtzuerhalten. In ähnlicher Weise rettet auch die Europäische Zentralbank die Privatbanken und nicht etwa die Wirtschaft, die Arbeitnehmer und deren Lebensstandard.

Das Finanzsystem vom industriellen Wachstum abkoppeln und es »parasitär« machen

Dieses Buch beschreibt, wie sich die heutigen Bankensysteme und Aktienmärkte von der Finanzierung von Investitionen in Sachanlagen(1) abgekoppelt haben und sogar die Entwicklung des industriellen Sektors regelrecht hemmen. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Banken und Anleihe-Inhaber Corporate Raiders(1) mit hochverzinslichen Ramschanleihen(1) finanzieren, die durch Veräußerung einzelner, wertvoller Unternehmensteile zurückgezahlt werden. Aber das Problem liegt tiefer. Banken haben entdeckt, dass ihr ertragsstärkstes Geschäftsfeld Kredite für Immobilienkäufer, monopolistische Rohstoffkonzerne und natürliche Monopole sind. Die sind die Sektoren, die hohe ökonomische Rente(3)n generieren und die nach Ansicht der klassischen marktliberalen Ökonomen die natürliche Basis der Besteuerung werden sollten. Stattdessen sind sie zur Hauptquelle der Zinseinnahmen von Banken und Anleihegläubigern geworden. Da sie erkennen, dass das, worauf der Fiskus verzichtet, von den Banken als Zinsen vereinnahmt werden kann, drängen Bankenlobbyisten und die ihnen ergebenen Wirtschaftswissenschaftler darauf, Rentier(3)-Einkommen steuerfrei zu lassen und die Steuerlast auf Arbeitnehmer und Konsumentenkäufe abzuwälzen. Aus diesem Grund sind finanzialisierte Volkswirtschaften in der heutigen Welt so kostenintensiv und nicht wettbewerbsfähig.

Während Rentenabschöpfung und eine Verschiebung der Steuerlast von Rentier(4)-Einkommen auf Löhne und Verbraucherausgaben Volkswirtschaften kostenintensiv machen, zehrt die Schuldendeflation(6) an der Substanz von Volkswirtschaften und ruft eine soziale Polarisierung hervor; sie führt zu Konkursen und letztlich zur Unfähigkeit, faule Kredite einzutreiben. Das macht die heutige monetaristische Austerität(3) so kontraproduktiv. Der Weg für diese zerstörerische Politik wurde dadurch geebnet, dass die klassische Volkswirtschaftslehre ihres Kerns beraubt wurde: ihrer Definition freier Märkte als Märkte, die frei sind von unverdientem Einkommen, frei von Immobilienspekulation, unregulierten Monopolen und ausbeuterischen Finanzpraktiken.

Die Aufklärung, die klassische Volkswirtschaftslehre Europas(8) und sozialdemokratische Reformen wollten etwas anderes erreichen. Bankensysteme und Aktienmärkte sollten restrukturiert werden, um industrielles Wachstum zu finanzieren, wie es die Reichsbank und andere mitteleuropäische Banken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts getan hatten. Besteuert werden sollten Rentier(5)-Einkommen aus Eigentum an Grund und Bodenschätzen, von Banken und Monopolen, nicht dagegen Löhne und Gewinne von Industrieunternehmen. Wenn man die heutigen Störungen des Wirtschaftsgeschehens in diesen historischen Kontext stellt, erkennt man, vor welcher grundlegenden wirtschaftspolitischen Frage Europa heute steht: Wird es der Kontinent zulassen, durch eine neoliberale Steuerverlagerung von Renteneinkommen auf den Faktor Arbeit, die weitere Privatisierung(1) der öffentlichen Infrastruktur, Rentenextraktion(1), Schuldendeflation(7) und Sparpolitik zerstört zu werden? Oder wird er seine Unabhängigkeit von den Rentier-Lobbyisten zurückerlangen, die es darauf anlegen, finanzielle Forderungen exponentiell zu vermehren und Volkswirtschaften in eine immer tiefere Schuldendeflation zu treiben?

Einleitung – das Thema unseres Zeitalters

Eigentlich hatte ich gar nicht vor, Ökonom zu werden. An der Universität von Chicago, an der ich studierte, belegte ich keinen einzigen Kurs in Wirtschaftswissenschaften und machte auch um die Gebäude dieser Fakultät immer einen weiten Bogen. Mein Interesse galt vielmehr der Musik und der Kulturgeschichte. 1961 zog ich nach New York und wollte in diesem Bereich im Verlagswesen tätig werden. Ich hatte bereits als Assistent für Jerry Kaplan bei der Free Press Chicago gearbeitet und dachte gerade darüber nach, einen eigenen Verlag zu gründen, als mir der ungarische Literaturkritiker Georg Lukács(1) die englischsprachigen Rechte an seinen Schriften übertrug. Und als 1962 Leo Trotzkis(1) Witwe Natalja Sedowa starb, überließ mir Max Shachtman(1), der als ihr Nachlassverwalter fungierte, die Rechte an Trotzkis Schriften und Archiv. Es gelang mir jedoch nicht, einen Verlag für die Veröffentlichung dieser Werke zu gewinnen. Wie sich herausstellen sollte, sah meine Zukunft anders aus. Die Werke fremder Leute zu veröffentlichen, gehörte nicht dazu.

Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Leben bereits eine sehr plötzliche Wende genommen, und zwar an einem einzigen Abend. Mein bester Freund aus Chicago hatte mich gedrängt, Terence McCarthy(1) aufzusuchen, den Vater eines seiner Schulkameraden. Terence hatte früher als Ökonom für General Electric(1) gearbeitet und den sogenannten »Forgash(1) Plan« verfasst. Dieser Plan war nach dem Senator von Florida, Morris Forgash, benannt und enthielt den Vorschlag, eine »Weltbank(1) für den wirtschaftlichen Aufschwung« zu gründen, als politische Alternative zu der bereits bestehenden Weltbank. Teil dieses Plans war, die Kreditvergabe in der jeweiligen Landeswährung abzuwickeln, um so die Landwirtschaft zu reformieren und eine stärkere Unabhängigkeit in der Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten, statt hauptsächlich für den Export zu produzieren.

Schon am ersten Abend, an dem ich Terence McCarthy(2) besuchte, wurde ich mit zwei Ideen oder Leitgedanken konfrontiert, die mich so sehr fesselten, dass sie zu meinem Lebenswerk wurden. An erster Stelle stand seine fast poetische Beschreibung des Weges, den der Geldstrom(1) durch das Wirtschaftssystem nimmt. Er erklärte mir, warum im Verlauf der amerikanischen Geschichte die meisten Finanzkrisen im Herbst stattfanden – also zu der Zeit, in der die Ernte eingefahren wird. Wenn im Mittleren Westen oder anderswo in den USA Schwankungen im Grundwasserspiegel oder Klimaturbulenzen auftraten, kam es regelmäßig zu Dürren, die wiederum zu Ernteausfällen führten. Dies belastete den Bankensektor derart, dass die Institute sich gezwungen sahen, ihre ausstehenden Kredite zurückzufordern. Finanzen, natürliche Ressourcen und Industrie waren eng miteinander vernetzt, ganz ähnlich wie Sonnensysteme in der Astronomie – ein Phänomen, dessen Schönheit mich schon immer faszinierte. Doch anders als in der Astronomie führen die mathematischen Regeln von Zins und Zinseszins(1) in der Wirtschaft unweigerlich in eine Schuldenkrise(1), weil auf mathematischen Kalkuationen basierende finanzielle Forderungen schneller wachsen als die Volkswirtschaft selber. Somit verschärft die Schuldenlast die Krise weiter. Wenn die Kette der Verbindlichkeiten an irgendeiner Stelle wegen Zahlungsunfähigkeit bricht, kann das dazu führen, dass die gesamte Wirtschaft kollabiert.

An diesem Abend beschloss ich, Ökonom zu werden. Ich schrieb mich an der Universität ein und suchte mir einen Job an der Wall Street(1), denn das war die einzige Möglichkeit, die Funktionsweisen einer Volkswirtschaft praktisch zu erfahren. Während der nächsten zwanzig Jahre unterhielten Terence und ich uns jeden Tag etwa eine Stunde lang über die aktuelle Wirtschaftslage. Er hatte die Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen ins Englische übersetzt – eine von Karl Kautsky(1) zusammengestellte Ausgabe einiger Schriften von Karl Marx(2). In diesem Band war auch die erste englische Version der Theorien über den Mehrwert enthalten, ein Werk, das man mit Fug und Recht als die erste nennenswerte Geschichte des ökonomischen Denkens bezeichnen kann. Terence empfahl mir, zunächst sämtliche Bücher zu lesen, die in der Bibliographie dieses Bandes aufgelistet waren – die Physiokraten(2), John Locke(1), Adam Smith(3), David Ricardo(2), Thomas Malthus(1), John Stuart Mill(3) und so weiter.

Die Themen, die mich am meisten interessierten – und die im vorliegenden Buch im Mittelpunkt stehen –, wurden an der New York University, an der ich mein Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte, nicht unterrichtet. Genau genommen werden sie an keiner einzigen Universität unterrichtet. Diese Themen waren: die Schuldendynamik, die Frage, wie die Kreditvergabepraxis der Banken die Immobilienpreise aufbläht, die Prinzipien der Volkswirtschaftsstatistik sowie der steigende Anteil an Kapitalerträgen im Finanz-, Versicherungs- und Immobilien(3)- (FVI-)Sektor(1)(2). Es gab nur einen Weg, diese Themen eingehend zu untersuchen: Ich musste in einer Bank arbeiten. Damals, in den sechziger Jahren, fanden sich kaum Anzeichen, dass die erwähnten Tendenzen zu einer gigantischen Finanzblase führen würden. Aber die grundlegende Dynamik war auch zu dieser Zeit schon vorhanden, und ich hatte das Glück, eine Anstellung zu bekommen, in der es eine meiner Aufgaben war, eben diese Dynamik statistisch zu erfassen.

Mein erster Job war absolut banal: Ich wurde als Wirtschaftsexperte bei der Savings Banks Trust Company eingestellt, einer Treuhandgesellschaft, die es heute nicht mehr gibt. Sie war von den 127 Sparkassen gegründet worden, die damals in New York existierten (und die es heute ebenfalls nicht mehr gibt, weil sie von Geschäftsbanken geschluckt, privatisiert und zerschlagen wurden). Meine Aufgabe dort sah folgendermaßen aus: Ich sollte untersuchen, wie viel Zinsen die Spareinlagen einbrachten und in welchem Umfang dieses Geld in die Vergabe neuer Hypothekendarlehen floss. Das Diagramm, das ich zur Entwicklung dieser Spareinlagen erstellte, sah aus wie Hokusais »Große Welle von Kanagawa«, mit dem Unterschied, dass sich der Höchststand alle drei Monate wiederholte – wie der Herzschlag in einem Kardiogramm –, nämlich immer dann, wenn die vierteljährlichen Dividenden den Anlegern gutgeschrieben wurden.

Der Zuwachs an Sparguthaben wurde in Form von Krediten an die Eigenheimkäufer weitergereicht und trug so erheblich zu dem Preisanstieg im Immobiliensektor nach Ende des Zweiten Weltkriegs(2) bei. Damals hielt man das noch für einen endlos funktionierenden Wohlstandsmotor, der das Reinvermögen der Mittelklasse unablässig steigern würde. Je mehr Kredite die Banken vergaben, desto höher kletterten die Preise für die Immobilien(4), die auf Hypothekenbasis erworben wurden. Und je höher diese Preise kletterten, desto mehr Kredite waren die Banken bereit zu vergeben – es mussten sich nur genügend Leute finden, die an dieser wie ein Perpetuum Mobile anmutenden Wohlstandsmaschine teilhaben wollten.

Aber dieser Prozess funktioniert nur so lange, wie auch die Einkommen wachsen. Selbst dann machen sich die wenigsten Menschen klar, dass sie den überwiegenden Teil ihres Einkommenszuwachses für ihre Wohn- und Lebenshaltungskosten aufwenden müssen. Sie haben stattdessen das Gefühl reicher zu werden, etwas auf die hohe Kante zu legen, indem sie Geld in etwas investieren, dessen Wert immer weiter wachsen wird. Zumindest hat das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs(3) sechzig Jahre lang genau so funktioniert.

Aber jede Blase platzt irgendwann, weil Blasen immer durch Schulden finanziert werden, die sich gesamtwirtschaftlich gesehen nach dem Schneeballprinzip vermehren. Die Hypothekenschulden(1) zu bedienen beansprucht einen immer größeren Anteil vom Einkommen der Hausbesitzer. Unterdessen häufen neue Käufer weitere Schulden an, um Häuser zu erwerben, deren Preise bereits gestiegen sind und stetig steigen werden. Wie sich herausstellte, war die Statistik, die ich vom Zusammenhang zwischen Spareinlagen und kreditfinanziertem Anstieg der Immobilienpreise erstellte, die beste Methode, um zu verstehen, wie es im 20. Jahrhundert zur Entstehung und immer weiteren Aufblähung von »Papiervermögen(1)(1)« kam. Doch obwohl Immobilien(5) der größte Vermögenswert einer Volkswirtschaft sind – und ebenso der wichtigste Vermögenswert und Schuldgrund für die meisten Familien –, war die Analyse von Boden- oder Grundrente(1) und Grundstücksbewertung in keinem einzigen der Kurse, die ich abends im Rahmen meines wirtschaftswissenschaftlichen Promotionsstudiums besuchte, überhaupt ein Thema.

Nach Abschluss meines Studiums 1964 nahm ich eine Stelle in der ökonomischen Forschungsabteilung der Chase Manhattan Bank an, wo ich Zahlungsbilanzen(1) analysierte. Dieser Job stellte sich als weiterer Glücksfall heraus, denn er bot mir die Gelegenheit, reichlich neue Erfahrungen zu sammeln. Die Arbeit für eine Bank oder eine staatliche Statistikbehörde ist meiner Ansicht nach die einzige Möglichkeit, wirklich etwas über dieses Thema zu lernen. Meine erste Aufgabe in diesem neuen Job bestand darin, die Entwicklung der Zahlungsbilanzen von Argentinien(1), Brasilien(1) und Chile(1) einzuschätzen. Dabei untersuchte ich die Exporteinnahmen und andere Deviseneinkünfte(1) der genannten Länder, um die Einnahmen veranschlagen zu können, die der amerikanische Staat aus dem Schuldendienst(2) für die bei US-Banken neu aufgenommenen Kredite erzielen würde.

Genau wie man sich bei der Vergabe von Hypotheken(1) die Mieteinnahmen als Grundlage für die Zinszahlung ansieht, rechnen internationale Banken damit, dass die Deviseneinkünfte(2), die in anderen Ländern zu erwarten sind, in die Staatsanleihen(2) fließen und ihnen somit als Zinsen zukommen. Unausgesprochenes Ziel der Marketingabteilung einer Bank – und von Kreditgebern generell – ist es, den gesamten wirtschaftlichen Mehrwert(1) im Schuldendienst(3) zu binden.

Ich fand schon bald heraus, dass die lateinamerikanischen Länder, für deren Analyse ich zuständig war, ihre Kreditmöglichkeiten komplett ausgeschöpft hatten und somit »kreditgesättigt(1)« waren. Es gab keinen Zustrom von harter Währung mehr, den man für Zinszahlungen auf neue Kredite oder Anleiheemissionen(1) hätte einsetzen können. Im Gegenteil, es kam zu einer Kapitalflucht(1). Die besagten Länder konnten ihre bestehenden Schulden nur dann bedienen, wenn ihre Banken (oder der Internationale Währungsfonds) ihnen Geld für die immer höheren Zinsaufwendungen liehen. So wurden die Kredite, die während der siebziger Jahre an souveräne Staaten vergeben worden waren, stets aufs Neue verlängert. Die Auslandsschulden nahmen aber aufgrund des Zinseszinseffekts(1) exponentiell zu, was schließlich zur Krise von 1982 führte, als Mexiko(1) bekanntgab, seine Schulden nicht mehr bezahlen zu können.

In dieser Hinsicht nahm die Kreditvergabe an Länder der Dritten Welt(2) die Immobilienblase vorweg, die 2008 platzte. Doch in den achtziger Jahren wurden diesen Ländern die Schulden mithilfe der Brady Bonds(1) zumindest teilweise erlassen – anders als später den Hauseigentümern die Hypothekenschulden(2).

Die wichtigste Erfahrung, machte ich bei der Chase Manhattan Bank, als ich eine Methode für Statistiken entwickelte, mit der sich die Zahlungsbilanz(2) der US-amerikanischen Ölindustrie analysieren ließ. Mehrere Führungskräfte der Standard Oil(1) Company erklärten mir den Unterschied zwischen Wirtschaftsstatistik und Realität und setzten mir auseinander, wie die Benutzung von »Billigflaggen« aus Liberia(1) und Panama(1) es ihnen ermöglichte, Steuern sowohl im Produktions- als auch im Abnehmerland zu umgehen. Man brauchte nur die Illusion zu schaffen, es würde keinerlei Profit erzielt. Der Trick lag darin, einen »Verrechnungspreis« zu benutzen. Man nahm eine konzerneigene Transportgesellschaft mit Sitz in einer Steueroase und kaufte unter ihrem Namen in den ölproduzierenden Ländern des Nahen Ostens oder in Venezuela das Rohöl zu einem niedrigen Preis ein. Dann wurde das Öl aus diesen Verschiffungs- und Bankenzentren – wo Gewinne nicht besteuert wurden – zu erhöhten Preisen an die eigenen Raffinerien in Europa(9) oder anderswo weiterverkauft. Man musste nur den ursprünglichen Verrechnungspreis hoch genug ansetzen, damit ein Profit, den man hätte versteuern müssen, gar nicht erst entstand.

Was die Zahlungsbilanz(3) anging, wurde jeder Dollar, der von der Ölindustrie im Ausland ausgegeben wurde, innerhalb von nur 18 Monaten wieder in die US-Wirtschaft zurückgeführt. Mein Bericht landete auf dem Schreibtisch jedes Senators und Mitglieds des US-amerikanischen Kongresses und sorgte dafür, dass die Ölindustrie von der Zahlungsbilanz-Kontrolle ausgenommen wurde, die Präsident Lyndon B. Johnson(1) der Wirtschaft während des Vietnamkriegs auferlegt hatte, um den Abfluss von Devisen zu unterbinden.

Die letzte Aufgabe, die ich bei Chase erhielt, war eng mit dem Dollar-Problem verknüpft. Man bat mich, eine Schätzung vorzunehmen, in welchem Umfang illegales Geld auf Sparkonten in der Schweiz(1) und in anderen Steuerschlupfwinkeln floss. Das amerikanische Außenministerium hatte Chase und auch andere Banken angehalten, in der Karibik Zweigniederlassungen zu gründen, um auf diesem Weg das Geld der von Drogenhändler Drogendealern und Schmugglern sowie ähnlicher Personenkreise anzulocken. Man hoffte, damit den Dollar zu stärken, der durch die überbordenden Militärausgaben unter Druck geraten war. Der Kongress unterstützte diese Maßnahme und verzichtete darauf, die üblichen 15 Prozent Quellensteuer auf die Zinsen von US-Schatzwechseln Staatsanleihen(3) zu erheben. Meine damaligen Berechnungen ergaben, dass für die Festsetzung der Wechselkurse weder der Handel noch die Direktinvestitionen die wichtigste Rolle spielten, sondern die Rubrik der »Fehler und Nicht-Erfasstes« – ein Euphemismus für »heißes Geld(1)«. Und es gibt niemanden, der »flüssiger« ist oder über mehr heißes Geld(2) verfügt als Drogenhändler und korrupte Beamte, die die Exporteinnahmen ihres Landes unterschlagen. Sowohl das Außen- als auch das Finanzministerium der USA waren bemüht, diesen illegalen Einnahmen einen sicheren Hafen zu bieten, als einen verzweifelten Versuch, die durch die Militärausgaben schwer belastete Zahlungsbilanz(4) auszugleichen.

1968 weitete ich meine Analyse des Geldflusses auf die gesamte US-amerikanische Wirtschaft im Rahmen eines einjährigen Projekts aus, das ich für die heute nicht mehr existierende Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen(1) umsetzte. Meine Statistik zeigte, dass während der gesamten sechziger Jahre ausschließlich die Militärausgaben für das Zahlungsdefizit(1) der USA verantwortlich waren. Der private Sektor – Außenhandel und Investitionen – wies Jahr für Jahr eine vollkommen ausgeglichene Bilanz auf, und die Entwicklungshilfe erwirtschaftete sogar einen Dollar-Überschuss (wozu sie nach US-amerikanischem Recht aber auch verpflichtet war).

Aufgrund meiner Veröffentlichung zu diesem Thema lud man mich 1969 ein, einen Vortrag an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der New School (New York) zu halten. Damals suchte man dort einen Dozenten für internationalen Handel und Finanzen. Nach meinem Vortrag bot man mir diesen Job sofort an. Da ich auf der New York University nie einen Kurs zu diesem Thema belegt hatte, beschloss ich, Unterrichten sei die beste Möglichkeit herauszufinden, was die akademischen Theorien dazu zu sagen hatten.

Ich erkannte sehr bald, dass von allen Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaften die Außenhandelstheorie zweifellos die absurdeste war. In diesem Geflecht abstrakter Theorien tauchten weder Kanonenboote noch sonst irgendwelche Militärausgaben auf, geschweige denn die wirtschaftlich so schwerwiegenden »Fehler und Nicht-Erfasstes«, die Kapitalflucht(2), der Schmuggel oder die fiktiven Verrechnungspreise zur Steuervermeidung und -hinterziehung. Nur indem man diese Phänomene ausgeklammerte, konnte man zu der so abwegigen wie folgenreichen Schlussfolgerung gelangen, ein jedes Land könne jede auch noch so große Schuldenlast begleichen, wenn es nur die Löhne weit genug senkte. Alles, was man dafür brauche, so wurde suggeriert, seien eine hinreichende Abwertung(2) der Landeswährung (was vor allem die lokalen Arbeitskosten abwertet) oder Lohnsenkungen durch Arbeitsmarkt-»Reformen« und Sparprogramme(1). Diese Theorie hat sich überall dort, wo man sie in die Praxis umsetzte, als kontraproduktiv erwiesen. Dennoch ist sie nach wie vor das Kernstück jener Doktrin, die etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) vertritt.

Die akademische Theorie des Geldes ist noch barbarischer. Die »Chicagoer Schule« von Milton Friedman(1) erörtert die Frage der Geldmenge(1) einzig und allein im Kontext von Rohstoffpreisen und Löhnen und klammert Vermögenswerte(3) wie Immobilien(6), Aktien(2) und Anleihen(2) völlig aus. Sie tut so, als dienten die Kredite, die an Unternehmen vergeben werden, lediglich dazu, Investitionsgüter zu kaufen und Löhne zu bezahlen. Der Versuch, den Schuldendienst(4) in die Statistik mit einzubeziehen, findet so gut wie nicht statt. Ich musste also feststellen, dass die akademischen Theorien genau das Gegenteil von dem besagten, was tatsächlich in der Welt geschah. Und keiner meiner Professoren besaß genug praktische Erfahrung im Bankensektor oder an der Wall Street(2), um diese Diskrepanz zu bemerken.

Während meiner Tätigkeit an der New School suchte ich drei Jahre lang nach einer Antwort auf die Frage, warum die Weltwirtschaft nicht konvergiert, sondern sich stattdessen immer weiter polarisiert. Ich entdeckte, dass die »merkantilistischen« Wirtschaftstheorien des 18. Jahrhunderts dem heutigen Mainstream einiges voraus hatten. Und ich stellte fest, um wie viel klarer die Ökonomen früherer Zeiten erkannt hatten, wie problematisch es ist, wenn sich Regierungen (und andere Instanzen) auf die politische Beratung durch Gläubiger verlassen. Darauf hat schon Adam Smith(4) aufmerksam gemacht:

Doch hat ein Kreditgeber des Staates an sich kein Interesse daran, ob irgendein Stück Land gut angebaut oder ein bestimmtes Kapital wirtschaftlich eingesetzt wird. … Er kann diese Dinge nicht beaufsichtigen und kann sich auch nicht um sie kümmern. Über den Zusammenbruch eines einzelnen Projektes erfährt er in vielen Fällen überhaupt nichts, und er berührt ihn auch nicht direkt.1

Anleihegläubiger sind einzig und allein daran interessiert, schnellstmöglich so viel Geld wie möglich zu erbeuten, ohne Rücksicht auf die Schäden, die sie in der Gesellschaft damit anrichten. Und dennoch ist es ihnen gelungen, den Glauben zu verbreiten, souveräne Staaten seien ebenso wie Individuen moralisch dazu verpflichtet, ihre Schulden zurückzuzahlen und sogar die Interessen der Gläubiger vor die ihrer eigenen Bevölkerung zu stellen.

Meine Warnung, die Länder der Dritten Welt(3) würden ihre Schulden nicht zurückzahlen können, war dem damaligen Dekan der Fakultät, Robert Heilbroner(1), ein Dorn im Auge. Er fand, dies sei absolut undenkbar, und beschwerte sich, dass der Schwerpunkt, den ich auf die Frage der finanziellen Gemeinkosten legte, die Studenten von der wichtigsten Form der Ausbeutung ablenke: nämlich die der Lohnarbeiter durch die Arbeitgeber. Selbst die marxistisch orientierten Dozenten, die er einstellte, interessierten sich nicht sonderlich für Themen wie Zinsen, Schulden oder Kapitalerträge.

Eine ähnliche Aversion der politischen Linken gegenüber dem Schuldenproblem begegnete mir, als ich zu verschiedenen Konferenzen am Institute for Policy Studies in Washington eingeladen wurde. Als ich anregte, den Weg für einen Schuldenerlass(3) der Dritten Welt(4) zu ebnen, sagte Marcus Raskin(1), der Kodirektor des Instituts, eine derart verschrobene Idee könnten sie unmöglich unterstützen. (Es sollte noch ein ganzes Jahrzehnt dauern, bis diese Problematik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, genauer gesagt bis 1982, als Mexiko(2) die lateinamerikanische Schuldenkrise(2) auslöste, indem es, wie oben bereits erwähnt, bekanntgab, seine Schulden nicht begleichen zu können.)

1972 veröffentlichte ich mein erstes umfangreicheres Buch mit dem Titel Super Imperialism: The Economic Strategy of American Empire. Darin legte ich dar, wie die Abkopplung des US-Dollars vom Goldstandard von 1971 dazu führte, dass nur noch die US-amerikanischen Staatsanleihen(4) als globale Geldreservedienten. Das Zahlungsbilanzdefizit der USA, durch die amerikanischen Militärausgaben verursacht, führte zu einem verstärkten Dollarabfluss ins Ausland. Dieses Geld landete bei den ausländischen Zentralbanken(2), die es wieder zurück in die Vereinigten Staaten leiteten, indem sie US-Staatsanleihen kauften. Dies glich das amerikanische Haushaltsdefizit(2) wieder aus. Dieses System verschafft den USA einen einzigartigen finanziellen Vorteil. Sie können ihr Defizit scheinbar ad infinitum selbst finanzieren, denn das Zahlungsbilanzdefizit gleicht letztendlich das Haushaltsdefizit wieder aus. Die Abkopplung des Dollars vom Goldstandard etabliert ein internationales Finanzsystem, das andere Länder dazu zwingt, die US-amerikanischen Militärausgaben zu finanzieren – ob sie das nun wollen oder nicht.

Einige meiner Freunde an der Wall Street(3) halfen mir, mich aus der engen akademischen Welt zu befreien und in die Welt der Ideenschmieden zu wechseln. Ich nahm eine Anstellung an dem von Herman Kahn(1) gegründeten Hudson Institute an. Bald darauf erhielt das Institut vom Verteidigungsministerium folgenden Großauftrag: Wie genau war es dazu gekommen, sollte ich erklären, dass die USA den oben erwähnten Freibrief für ein Haushalts- und Zahlungsbilanzdefizit erhalten hatten? Außerdem schrieb ich einen regelmäßig erscheinenden Börsenbrief für eine Investitionsfirma in Montreal. Mehr als die politische Linke war also die Wall Street an meiner Analyse des Geldflusses interessiert! 1979 erschien mein Buch Global Fracture: The New International Economic Order: In diesem Buch sagte ich vorher, wie die US-amerikanische Dominanz im Finanzsystem zu einer Spaltung der Welt führen würde. Diese Spaltung ähnelt der gegenwärtigen, an der die Weltwirtschaft heute zu zerbrechen droht. Dies behandle ich in den Kapiteln, die ich im vorliegenden Buch den internationalen Themen widme.

Ebenfalls Ende der siebziger Jahre wurde ich Berater des Ausbildungs- und Forschungsinstituts der Vereinten Nationen UNITAR. Auch hier warnte ich immer wieder davor, dass die Länder der Dritten Welt(5) ihre Auslandsschulden nicht würden zurückzahlen können.2 Denn sie hatten die meisten Kredite aufgenommen, aber damit bestehende Handelsabhängigkeiten fortgeschrieben, anstatt den Umbau ihrer Wirtschaft zu finanzieren und ihre Länder wieder zahlungsfähig zu machen. Die Sparprogramme(2) des IWF mit ihren sogenannten »Strukturanpassungen(1)« – so wie sie gegenwärtig auch in der Eurozone(7) angewandt werden – verschlimmerten die Schuldensituation erheblich: Sie erhöhten die Leitzinsen, besteuerten die Arbeitskraft stärker, kürzten Renten und Sozialausgaben und leiteten einen Ausverkauf der öffentlichen Infrastruktur an ausbeuterische Monopolisten ein (insbesondere für das Bankwesen, die Wasser- und Abbaurechte, sowie das Kommunikations- und Transportwesen). Diese Art von »Anpassung« führt auf direktem Wege zu einer Wiederbelebung des Klassenkampfs auf internationaler Ebene.

Das UNITAR-Projekt wurde 1980 mit einer Konferenz in Mexiko(3) abgeschlossen, deren Gastgeber der ehemalige mexikanische Präsident Luis Echeverria war. Unter den Konferenzteilnehmern entbrannte ein Streit, weil ich auf meiner Meinung beharrte, die Schuldner der Dritten Welt(6) würden schon bald ihre Zahlungsunfähigkeit erklären müssen. Normalerweise wissen die Banker der Wall Street(4), die Zeichen der Zeit zu deuten und ein drohendes Debakel zu erkennen. Doch in diesem Fall waren die Lobbyisten einhellig der Meinung, alle Schulden könnten bezahlt werden, wenn man nur den Gürtel eng genug schnallt. Banken haben generell ein eigennütziges Interesse, die offensichtlichen Probleme zu leugnen, die entstehen, wenn ein »Kapitaltransfer« in harter Währung bezahlt werden muss.

Meine Erfahrungen mit einer derart wirklichkeitsfremden ökonomischen Theorie, die von den Banken unterstützt und in die staatlichen Behörden getragen wird, brachten mich auf die Idee zu untersuchen, wie verschiedene Gesellschaften im Wandel der Zeit mit ihren Schuldenproblemen umgegangen sind. Ich brauchte ungefähr ein Jahr, um die Geschichte der Schuldenkrisen bis ins antike Griechenland(5) und Rom(1) zurückzuverfolgen und auch den biblischen Hintergrund des Sabbatjahres zu untersuchen. Doch dann stieß ich auf Schuldenpraktiken, die bis ins sumerische Reich im dritten Jahrtausend v. Chr. zurückreichten. Die Quellen zu diesem Thema waren weit verstreut. Niemand hatte bis dahin das Wissen über diese entscheidende Epoche – den Vorläufer der westlichen Wirtschaftskultur im Nahen Osten – unter ökonomischen Gesichtspunkten zusammengefasst.

Bis 1984 war ich mit der Rekonstruktion beschäftigt, wie der verzinsliche Kredit entstanden war. Er geht auf Praktiken in den Tempeln und Palästen zurück und nicht etwa auf den Tauschhandel zwischen Individuen. Die meisten Forderungen wurden diesen Institutionen(1) oder ihren Schuldeneintreibern geschuldet, weshalb die Herrscher überhaupt in die Lage gesetzt waren, einen Schuldenerlass(4) zu gewähren. Sie erließen ihren Schuldnern die Schulden, um Verwerfungen in ihrer Gesellschaft zu verhindern. Ich zeigte einigen Universitätskollegen meine Entdeckungen, worauf man mir ein Forschungsstipendium im Fachbereich Babylonische Wirtschaftsgeschichte an der Anthropologisch-Archäologischen Abteilung des Harvard Peabody Museum anbot.

Nach wie vor war ich aber auch als Finanzberater tätig. 1999 stellte mich die Firma Scudder, Stevens & Clark(1) ein. Ich sollte den ersten Fonds auf Basis von Staatsanleihen(5) errichten. Da ich in Bezug auf die Schulden der Dritten Welt(7) als »Dr. Doom« – als Untergangsverkünder – bekannt war, fungierte ich als eine Art Prüfstein. Man sagte mir, die Firma würde die Einrichtung des Fonds davon abhängig machen, ob es ihren Geschäftsführern gelänge, mich zu überzeugen, dass die betroffenen Länder für mindestens fünf weitere Jahre ihre Schulden zahlen könnten. Nach der genannten Laufzeit würde der Fonds automatisch aufgelöst. Aus diesem Projekt wurde der erste Staatsanleihenfonds (Sovereign Wealth Fund(1)) überhaupt. Es war ein in den Niederländischen Antillen registrierter Offshore-Fonds, der an der Londoner Börse gehandelt wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war die Kreditvergabe an lateinamerikanische Staaten zum Erliegen gekommen. Die Schuldnerländer waren daher so verzweifelt auf der Suche nach Finanzmitteln, dass die argentinischen und brasilianischen Dollaranleihen einen Jahreszinssatz von 45 Prozent abwarfen und die mexikanischen mittelfristigen tessobonos einen Zinssatz von über 22 Prozent. Doch alle Versuche, die Fondsanteile an US-amerikanische oder europäische Investoren zu verkaufen, scheiterten. Stattdessen wurden sie in Buenos Aires und São Paulo verkauft, hauptsächlich an die Angehörigen der dortigen Finanzelite, die auf ihren Offshore-Konten ohnehin die renditestarken Dollaranleihen ihrer eigenen Länder deponiert hatten. Daraus schlossen wir, dass die Finanzmanager tatsächlich noch einige Zeit dafür sorgen würden, dass die Auslandsschulden ihrer Länder bedient würden, zumindest solange sie selbst auf ihren Auslandskonten mit amerikanischen Anleihen(3) Gewinne machen konnten. Der Scudder-Fonds erwirtschaftete 1990 die zweithöchste Rendite(1) weltweit.

In dieser Zeit trat ich an einige kommerzielle Verleger heran und schlug ihnen vor, ein Buch zu schreiben, in dem ich vor dem unweigerlichen Platzen der gegenwärtigen Spekulationsblase(1) warnen wollte. Man sagte mir, das sei ungefähr so, als würde ich verkünden, dass es mit gutem Sex schon recht früh im Leben vorbei sei. Ob ich nicht meine düsteren Voraussagen mit irgendwelchen erfreulichen Informationen versüßen und den Lesern erklären könne, wie sich aus dem Zusammenbruch Profit schlagen ließe? Ich schloss daraus, dass sich ein Großteil der Öffentlichkeit einen Finanzkrach eher im Nachhinein erklären lassen möchte und nicht schon vorher, wenn man noch damit beschäftigt ist, die bestmögliche Rendite(2) einzufahren. »Dr. Doom« in der Schuldenfrage zu sein hatte ungefähr den gleichen Stellenwert, wie sich angeblich zu früh dem Antifaschismus zu verschreiben.

Daher konzentrierte ich mich auf meine historischen Forschungen. Im März 1990 stellte ich meinen ersten Forschungsbericht mit drei wesentlichen Erkenntnissen vor. Diese waren auf anthropologischer Ebene nicht weniger radikal als alles, was ich bisher im ökonomischen Bereich geschrieben hatte. Die vorherrschende Meinung in den Wirtschaftswissenschaften folgte immer noch der individualistischen Theorie der Österreichischen Schule, der zufolge die Zinsnahme ein weitverbreitetes Phänomen aus der Altsteinzeit sei und angeblich vorkam, wenn einzelne Personen anderen Vieh, Saatgut oder Geld liehen. Hingegen fand ich heraus, dass die ersten und wichtigsten Gläubiger die Tempel und Paläste Mesopotamiens in der Bronzezeit gewesen sind und eben keine Privatleute, die auf eigene Rechnung handelten. Das Erheben eines bestimmten Zinsbetrages scheint sich von Mesopotamien aus ungefähr im 8. Jahrhundert v. Chr. ins antike Griechenland(6) und dann ins Römische Reich ausgebreitet zu haben. Dabei richtete sich der Zinssatz in den verschiedenen Regionen nicht etwa nach der Produktivität. Er basierte vielmehr auf dem jeweils einfachsten mathematischen Berechnungssystem: 1/60 pro Monat in Mesopotamien (das heißt 20 Prozent pro Jahr), später 1/10 pro Jahr in Griechenland und 1/12 in Rom(2).3

Heute sind diese Ideen sowohl in der assyriologischen als auch in der archäologischen Forschung anerkannt. 2012 erschien David Graebers Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre, in dem er meine Forschungen zur frühen Entwicklungsgeschichte der Schulden und den damals so oft gewährten Schuldenerlassen zusammenfasst. Ich hatte zu Beginn der neunziger Jahre selbst eine Übersicht zu diesem Thema geschrieben, konnte aber keinen Verlag überzeugen, dass es hinreichende Beweise für die Tradition eines biblischen Schuldenerlasses(5) im Nahen Osten gab. Noch vor zwei Jahrzehnten glaubten die meisten Wirtschaftshistoriker und viele Bibelforscher, das Sabbatjahr sei eine rein literarische Erfindung, eine utopische Flucht vor der Realität. Mit meiner Behauptung, diese Praxis sei durch die immer detaillierter ausgeführten staatlichen Proklamationen zu Schuldenerlassen belegt, stieß ich auf eine Mauer von Unverständnis.

Jede Region hatte ihren eigenen Begriff für derartige Proklamationen: So gab es zum Beispiel das sumerische amargi, das eine Rückkehr zur »Mutter« (ama), zu einer Welt im Gleichgewicht bedeutete; das babylonische misharum oder auch andurarum, von dem sich das judäische deror ableitet; und das hurritische shudutu. Auch der ägyptische Stein von Rosetta erwähnt eine Schuldenamnestie und die Begnadigung von Verbannten und Gefangenen. Nicht die Schulden waren heilig und unantastbar, sondern deren regelmäßige Aufhebung, die Annullierung der in Naturalien denominierten Schulden und die Befreiung der in Schuldknechtschaft(1) Geratenen. Auf diese Weise sollte das gesellschaftliche Gleichgewicht aufrechterhalten werden. Die Schuldenerlasse gefährdeten also nicht die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität, sondern waren im Gegenteil unerlässlich für ihren Erhalt.

Um die Unterstützung der Assyriologen und Archäologen zu gewinnen, gründete ich zusammen mit der Harvard-Universität und einer privaten Stiftung das Institute for the Study of Long-term Economic Trends (Institut zur Erforschung langfristiger wirtschaftlicher Entwicklungen). Wir wollten eine Reihe von Konferenzen alle zwei oder drei Jahre abhalten, welche die historischen Ursprünge von Wirtschaftsinstitutionen und deren Privatisierung(2) behandeln sollten und daneben Themen wie Landbesitz, Schulden und die Geschichte des Geldes. Unsere erste Konferenz fand 1984 in New York statt und hatte die Privatisierung im Alten Orient und der klassischen Antike zum Thema. Heute, drei Jahrzehnte später, können wir auf fünf Buchveröffentlichungen zurückschauen; diese stellten die Wirtschaftsgeschichte der westlichen Zivilisation in ein vollkommen neues Licht. Ich werde mich in diesem Buch häufiger auf die genannten früheren Gesellschaftsformen und ihren Umgang mit der Schuldenfrage beziehen und den Kontrast dieser Praktiken zu der heutigen Vorgehensweise verdeutlichen, die den Gläubiger immer an oberste Stelle stellt und zulässt, dass Volkswirtschaften durch Schulden polarisiert und erheblich geschwächt werden.

Mitte der 1990er Jahren entwickelte Hyman Minsky(1) zusammen mit seinen Kollegen, zunächst am Levy Institute(1) des Bard College und später an der University of Missouri – Kansas City (UMKC), eine moderne Finanztheorie, die auf realistischeren Parametern beruhte. Ich wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Levy Institute und verfasste Schriften zu Immobilien(7)- und Finanzthemen. Bald darauf tat ich mich mit Randy Wray(1), Stephanie Kelton(1) und anderen Kollegen zusammen, die man eingeladen hatte, an der UMKC ein volkswirtschaftliches Curriculum zur Modernen Geldtheorie(1) zu erarbeiten. Während der letzten zwanzig Jahre versuchten wir, die notwendigen Schritte aufzuzeigen, um der Arbeitslosigkeit und den gewaltigen Eigentumsverschiebungen von den Schuldnern hin zu den Gläubigern entgegenzuwirken, die die heutigen Volkswirtschaften zu zerreißen drohen.

Im Jahr 2004 stellte ich in Kansas City mein eigenes finanzielles Grundmodell vor.4 Dazu entwarf ich ein Diagramm, das ich auch in dem im Mai 2006 als Titelgeschichte im Harper’s Magazine erschienen Artikel verwendete. Die Financial Times druckte dieses Diagramm 2009 abermals ab, als sie mich als einen der acht Ökonomen würdigte, die die Finanzkrise(1) von 2008 vorhergesehen hatten.5 Aber es ging mir nicht nur darum, die Krise vorherzusagen. Schließlich hatte jeder andere außer den Ökonomen sie kommen sehen. Mein Diagramm erklärt vielmehr auch die exponentielle Finanzdynamik, durch die solche Zusammenbrüche unausweichlich werden. In der Folge schrieb ich eine Reihe von Kolumnen für die Financial Times, in denen ich mich mit Lettland(1) und Island(1) auseinandersetzte und die jeweiligen Krisen dieser Länder als Generalprobe für das restliche Europa(10) und die Vereinigten Staaten bezeichnete.

Welch lähmende Wirkung Schulden haben, erkannte man im 18. und 19. Jahrhundert sehr viel deutlicher. Das hat dazu geführt, dass Ökonomen, die gewohnheitsmäßig die Partei der Gläubiger ergreifen, die Entwicklungsgeschichte des ökonomischen Denkens aus dem Lehrplan ausklammern. Die vorherrschende ökonomische Meinung zensiert alles, was nicht pro Gläubiger, pro Austerität(4) (also für Sparmaßnahmen(1) und gegen die Arbeitnehmer) und gegen staatliche Einmischung ist (mit Ausnahme der Rettungsmaßnahmen(1), mit denen ihrer Ansicht nach der Steuerzahler die größten Banken und Anleger vor dem Bankrott bewahren muss). Dennoch hat diese ökonomische Sichtweise die Politik des amerikanischen Kongresses, die Universitäten und die Massenmedien für sich eingenommen und sie dazu gebracht, ein vollkommen verfälschtes Bild von der Funktionsweise einer Volkswirtschaft zu zeichnen. Das ist der Grund, warum die meisten Menschen die Realität so sehen, wie sie von dem »Einen Prozent« der Reichsten festgeschrieben – und verzerrt – wird. Es handelt sich um eine Entstellung der Wirklichkeit.

Obwohl er scheinbar die Ideologie des freien Marktes vertritt, verwirft der pro Gläubiger eingestellte Mainstream alles, was die klassischen ökonomischen Reformer tatsächlich angestrebt haben. Angeblich bleibt einem nur noch die Wahl zwischen der zentralistischen Planung einer öffentlichen Bürokratie oder der noch sehr viel zentralistischeren Planung der Finanzbürokratie an der Wall Street(5). Die Alternative eines Mittelwegs zwischen privater und öffentlicher Wirtschaft ist fast vollkommen in Vergessenheit geraten – oder wird als »Sozialismus(1)« diffamiert. Und doch war jede erfolgreiche Volkswirtschaft der Geschichte eine solche Mischwirtschaft.

Dieses Buch will Abhilfe schaffen, indem es darlegt, wie der Anstieg der Verschuldung(2) und der Sparvermögen politisiert wird, um komplette Regierungen zu kontrollieren. Ein Schuldenberg wächst meist immer so lange an, bis es zum Zusammenbruch, zu Krieg oder einer politisch gewollten Abschreibung(1) kommt. Nicht nur die Schulden sind das Problem. Es sind auch die angehäuften Vermögenswerte(4) – also das, was in der Bilanzaufstellung auf der Seite der Aktiva(1) steht. Dieses Vermögen befindet sich zum Großteil in den Händen des Einen Prozents, wird dann aber zu den Schulden, indem es meistens als Kredite an die restlichen 99 Prozent weiterverliehen wird.

Was die Finanzdynamik im Unternehmensbereich anbetrifft, so haben »aktivistische Aktionäre(1)« und Corporate Raiders(2) oder »Finanzheuschrecken(1)« die Industrie in einem Maßstab »finanzialisiert«, der den Arbeitsmarkt und eine Kapitalbildung zu produktiven Zwecken unterhöhlt, statt sie zu fördern. Die Kreditvergabe wird immer aggressiver und ausbeuterischer. Und man kümmert sich meist gar nicht mehr darum, ob die betroffenen Personen, Unternehmen und Regierungen das Geld überhaupt zurückzahlen können.

Dieses Verschuldungsmuster ist genau das, was die klassischen Ökonomen einst als unproduktiv definierten: ein System, das nicht durch Arbeitskraft verdiente Kapitaleinkünfte (die ökonomische Rente(4)) bevorzugt und spekulative Gewinne über die Profite stellt, die man durch Beschäftigung von Arbeitskräften im Dienstleistungs- und Produktionsbereich erwirtschaftet. Ich werde also zunächst dem Leser einen Überblick verschaffen, wie die Denker der Aufklärung und die ersten Ökonomen des freien Marktes zwei Jahrhunderte lang versucht haben, genau die Art von Rentier(6)-Herrschaft zu verhindern, durch die heutige Volkswirtschaften erstickt, Demokratien unterhöhlt und Finanzoligarchien(1) geschaffen werden.

Um die Grundlage für diese Diskussion zu schaffen, muss man zunächst einmal klarstellen, dass hier eine Orwell’sche Strategie der rhetorischen Täuschung am Werk ist. Diese zielt darauf ab, den Finanzsektor und alle sonstigen Rentiers(7) als einen unabdingbaren Teil der Volkswirtschaft darzustellen. Das ist genau die Strategie, die in der Natur auch die Parasiten anwenden, um ihre Wirte darüber hinwegzutäuschen, dass sie in Wirklichkeit nur Schmarotzer sind und keineswegs ein Teil des zu schützenden Wirtskörpers.

Der Parasit, der Wirt und die Kontrolle über das wirtschaftliche Gehirn

Der biologische Gebrauch des Wortes »Parasit« beruht auf einer aus dem Griechischem übernommenen Metapher. Damals waren die griechischen Beamten, deren Aufgabe es war, das Getreide für die kommunalen Feste einzusammeln, oft zusammen mit Helfern unterwegs. Diese nahmen sie auch zu den Mahlzeiten mit, die den Beamten auf Kosten der Allgemeinheit gewährt wurden, und waren daher als Parasiten bekannt. Der Begriff war damals gar nicht abwertend gemeint, sondern bedeutete einfach nur »Tischgenosse«, von den altgriechischen Wörtern para (neben) und sitos (Mahl).

Zu Zeiten der Römer hatte dieser Begriff bereits die Bedeutung eines überflüssigen Schmarotzers angenommen. Der »Parasit« verlor seinen Status als Person, die bei der Ausführung einer öffentlichen Aufgabe half, und wurde stattdessen zum ungeladenen Gast, der sich in ein privates Mahl drängte: ein stereotyper Charakter in der Komödie. Er verschaffte sich mithilfe von Lügen und Schmeicheleien Zutritt.1

Später dann, im Mittelalter, wurden Wucherer von den Predigern und Reformern als Parasiten und Blutsauger bezeichnet. Seitdem bezeichneten zahlreiche Autoren ökonomischer Schriften die Vertreter des Bankwesens als Parasiten, besonders diejenigen, die auf internationaler Ebene tätig waren. Schließlich übernahmen die Biologen den Begriff und benutzten ihn für Lebewesen wie den Bandwurm oder den Blutegel, die sich von größeren Wirten ernähren.

Doch war auch seit langem unbestritten, dass Blutegel zudem eine nützliche medizinische Funktion erfüllen: Sowohl George Washington als auch Josef Stalin wurden auf ihrem Totenbett mit Blutegeln behandelt. Nicht nur, weil man glaubte, der Aderlass an sich habe eine heilende Wirkung (in einer ähnlichen Weise, wie es heutige Monetaristen(1) für finanzielle Sparmaßnahmen(2) annehmen), sondern auch, weil Blutegel – mit dem Stoffgemisch, das sie in den Wirtskörper injizieren – Entzündungen lindern und daher zur Genesung beitragen können.

Die Vorstellung des Parasitismus als positive Symbiose findet in der Bezeichnung von Volkswirtschaften als Wirtswirtschaften(1) (host economies(1)) ihren Höhepunkt – Wirtschaftssysteme, die ausländische Investoren willkommen heißen. Die betreffenden Regierungen laden Banker und Investoren ein, die Infrastruktur, natürliche Ressourcen und Industriebetriebe ihrer Länder aufzukaufen oder sie zumindest zu finanzieren. Die einheimische Elite und die angehenden Staatsbeamten solcher Länder schickt man für ihre Ausbildung gewöhnlich in das imperiale oder finanzielle »Kern«-Land. Dort werden sie mit der entsprechenden Ideologie indoktriniert und akzeptieren das Abhängigkeitssystem als natürliche, für beide Seiten vorteilhafte Einrichtung. Der erzieherische und ideologische Apparat des Heimatlandes wird dann so umgeformt, dass auch er dieses Gläubiger/Schuldner-Verhältnis als ein System darstellt, von dem alle profitieren.

Kluger versus selbstzerstörerischer Parasitismus in Natur und Wirtschaft

In der Natur überleben Parasiten nur selten, wenn sie sich nur bedienen und nicht auch etwas geben. Das Überleben des Stärkeren kann nicht bedeuten, dass nur der Stärkere überlebt. Parasiten brauchen Wirte. Das Ergebnis ist oft eine wechselseitig vorteilhafte Symbiose. Manche dieser Parasiten helfen ihrem Wirt im Überlebenskampf, indem sie ihm neue Nahrungsquellen erschließen, andere schützen ihn vor Krankheiten. Schließlich ist es nur zu ihrem Vorteil, wenn der Wirt wächst und gedeiht.

Im 19. Jahrhundert gab es im Finanzbereich eine Parallele zu dieser Form der Symbiose. Damals taten sich Hochfinanz und Regierung zusammen, um die öffentlichen Versorgungsbetriebe, die Infrastruktur und den kapitalintensiven Teil des Produktionssektors zu finanzieren, insbesondere die Schwerindustrie. Das Bankwesen war nicht mehr der rücksichtslose Schmarotzer, der es bisher gewesen war, sondern sorgte nun dafür, dass die Industrie so effizient wie möglich funktionierte. Die Länder, in denen sich diese nützliche Verschmelzung am erfolgreichsten vollzog, waren Deutschland(9) und seine zentraleuropäischen Nachbarstaaten, die über demokratische Strukturen verfügten. Quer durch das politische Spektrum, von den Befürwortern der Sozialgesetzgebungen unter Bismarck(1) bis hin zu marxistischen Theoretikern, erwartete man von den Bankern, dass sie ihren Platz im Zentrum der Wirtschaftsplanung einnahmen, indem sie Kredite für die profitabelsten und für die Gesellschaft vorteilhaftesten Verwendungszwecke bereitstellten. Auf diese Weise entstand eine dreifache Symbiose, die eine »Mischwirtschaft« aus Staat, Hochfinanz und Industrie erschuf.

Während einer Zeitspanne von Tausenden von Jahren, vom antiken Mesopotamien über das klassische Altertum Griechenlands(7) und Roms(3), waren die wichtigsten Kreditgeber die Tempel und Paläste. Sie waren für die Münzprägung und Bereitstellung von Geldmitteln verantwortlich, schufen die grundlegende Infrastruktur und trieben Nutzungsgebühren und Steuern ein. Im Mittelalter leiteten die Templer- und Hospitaliter-Orden eine Wiederbelebung des Bankwesens in Europa(11) ein. In der Renaissance wurden öffentliche Investitionen auf produktive Weise mit privaten Finanzierungen verknüpft, und dann erneut in der sogenannten »Progressiven Ära(2)« der USA.

Damit diese Symbiose erfolgreich war und nicht durch Sonderprivilegien oder Korruption belastet wurde, versuchten die Ökonomen des 19. Jahrhunderts, die Parlamente vor dem Einfluss der besitzenden Klasse zu schützen, die in den jeweiligen Ländern im Oberhaus dominierten. Das britische House of Lords und auch die Senatshäuser der übrigen Welt verteidigten ihre ureigensten Interessen gegen die demokratischeren Regelungen und Steuern, die die unteren Parlamentskammern umzusetzen versuchten. Die parlamentarischen Reformen, die das Wahlrecht auf die Gesamtbevölkerung ausgeweitet hatten, sollten die Wahl von Regierungen ermöglichen, die im langfristigen Interesse der Gesellschaft handelten. Die öffentlichen Behörden waren für die wichtigsten Kapitalinvestitionen im Bereich von Straßenbau, Häfen und übrigem Transportwesen, im Nachrichtenwesen, in der Energieversorgung sowie in anderen Bereichen der Grundversorgung verantwortlich. Dazu gehörte auch das Bankwesen – und zwar ohne die private Rentenextraktion(2), die den finanziellen Ablauf stört.