Der Sommer der Freiheit 4 - Heidi Rehn - E-Book

Der Sommer der Freiheit 4 E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Liebe in schwierigen Zeiten - Teil 4 des sechsteiligen Serials »Der Sommer der Freiheit« Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle. Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen. Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …

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Heidi Rehn

Der Sommer der Freiheit 4

Serial Teil 4

Knaur e-books

Über dieses Buch

Es begann im Sommer 1913

Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle, Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen.

Inhaltsübersicht

Zweiter Teil6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel
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Zweiter Teil

Ausbruch

Sommer 1915 bis Spätsommer 1917

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6

Längst war die Musik aus dem Grammophon verklungen, Hedda und Joseph verabschiedeten die letzten Gäste, und Großmutter Meta saß allein an der Tafel. Beim Anblick der bis auf den letzten Krümel leer gegessenen Teller und bis auf den allerletzten Tropfen ausgetrunkenen Gläser konnte Selma sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Selbst auf dem weißen Damasttischtuch schien kein Fitzel Brot vergessen worden zu sein. Fehlte nur noch, dass selbst die Messerschneiden und die Löffel sauber abgeschleckt worden wären! Im dritten Kriegswinter war eben jeder Bissen Essen viel zu kostbar, um ihn wie früher achtlos mit den Fingern wegzuschnippen. Sogar so honorige Herrschaften wie der Bonner Oberbürgermeister Wilhelm Spiritus nebst Gattin sowie sein Godesberger Amtskollege Josef Zander hatten sich ebenso wenig wie der Kölner Kardinal Felix von Hartmann geschämt, dafür Sorge zu tragen, dass keine Reste übrig blieben. Bei der Erinnerung daran, wie hungrig die Festgäste über das bodenständige Menü aus roten Rüben mit Meerrettichschaum, Dörrgemüsesuppe, Hering mit Pellkartoffeln, Frikadellen mit Rübenpudding und Dampfnudeln mit Kaffee hergefallen waren, musste Selma sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischen.

Noch vor wenigen Jahren hätte keiner der Anwesenden auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass sich der angesehene Bonner Zeitungsverleger und Berliner Reichstagsabgeordnete Joseph Rosenbaum an seinem sechzigsten Geburtstag glücklich schätzen musste, seine dreißig geladenen Gäste überhaupt einigermaßen satt gekriegt zu haben. Sinnierend strich sie sich eine Locke ihres brünetten Haars aus dem Gesicht, fuhr die Bögen der Augenbrauen mit der angefeuchteten Fingerkuppe nach. Selbst bei den Toiletten- und Schminkartikeln herrschte inzwischen großer Mangel. Amüsiert über diesen Gedankensprung griff sie nach einer der Karten, die auf dem Tisch lagen, und überflog noch einmal die Speisenfolge. Dem Koch des legendären Rheinhotels Dreesen war mit dem augenzwinkernd »Rheinisches Rübenmenü« titulierten Essen eine wahre Meisterleistung gelungen. Noch dazu passte es ausgezeichnet zum berühmten Steckrübenwinter. Selma beschloss, sich nachher in der Küche dafür zu bedanken. Hedda würde das gewiss nicht tun. Dazu fand sie es zu blamabel, dass Joseph darauf bestanden hatte, bei dem Fest mit der einfachen Speisenauswahl Solidarität mit der notleidenden Bevölkerung zu demonstrieren. Trotz Heddas verzweifeltem Flehen hatte er sich standhaft geweigert, zwielichtige Kanäle anzuzapfen, um schwer zu beschaffende Köstlichkeiten wie Lachs, Rinderfilet oder feines Weißbrot zu servieren.

»Wenigstens der Wein wird einem im Rheinland nie ausgehen«, hatte Hoteldirektor Fritz Dreesen schelmisch gefrotzelt und höchstpersönlich dafür gesorgt, ausreichend flüssigen Nachschub zur Verfügung zu stellen. Seinem Bruder und Mitinhaber Georg war es sogar gelungen, eine Kiste Champagner zu organisieren. Oder steckte gar jemand ganz anderer hinter diesem fragwürdigen Präsent? Selma mochte das lieber nicht so genau wissen. Die Bekanntschaft mit Robert hatte sie seit der unglückseligen Begegnung im Sommer 1915 ganz aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Zumindest nahm sie sich das jeden Tag aufs Neue vor. Kurz schweifte ihr Blick zum Fenster, von dem aus Gero seit einer halben Ewigkeit stur auf den Rhein blickte. Zu gern wüsste sie, warum er so schweigsam war. Dabei hatte ihn das Wiedersehen mit der kleinen Alma sichtlich gefreut.

»Ein wirklich schönes Fest«, riss Meta sie aus ihren Gedanken. Umständlich erhob sie sich von ihrem Platz. Es war ihr deutlich anzusehen, wie viel Kraft und Schmerzen sie das kostete. Mangels ausgewogener Ernährung und passender Medikamente quälte sie ihr Hüftleiden heftig. Dazu kam die unerbittliche Kälte, die seit gut einer Woche das Land im eisigen Griff hielt und der Großmutter ebenfalls nicht guttat. Rasch eilte einer der Ober herbei, um den Stuhl wegzurücken, so dass sie sich auf den Stock gestützt ungehindert zu den anderen umdrehen konnte.

»Das ist dir wirklich bestens gelungen.« In langsamen Schritten trat sie zu ihrem gerade einmal neun Jahre jüngeren Schwiegersohn und tätschelte ihm die Wange. »Noch an deinem Siebzigsten werden alle mit leuchtenden Augen von dem Fest heute schwärmen.«

»Weil es nur diese grässlichen Rüben gab und man in abgetragenen Fräcken und längst aus der Mode gekommenen Kleidern dasaß«, konnte Hedda sich nicht verkneifen zu ergänzen. »Der Kaiser wird an seinem gestrigen achtundfünfzigsten Geburtstag auch ohne große Feier weitaus fürstlicher gespeist haben als du an deinem großen Tag heute. Dabei bist du nicht nur der Verleger der traditionsreichen Bonner Neuesten Nachrichten, sondern sitzt auch seit mehr als fünfzehn Jahren für deine Heimat im Reichstag.«

»Das ist eben der kleine Unterschied zwischen dem Kaiser und seinen treuen Untertanen.« Lächelnd wandte sich Meta ihrer Tochter zu, maß sie ausführlich von oben bis unten. »Dir ist gar nicht bewusst, warum dein verehrter Gemahl trotz seiner angesehenen Stellung als Verleger und Politiker seine Festivität nicht im Grand Hotel Royal in Bonn, sondern im Dreesen hier in Godesberg begangen hat. Wie ich ihn kenne, liegt dem eine sehr wohl überlegte Entscheidung zugrunde. Er hat eben einfach ein hervorragendes Gespür für den gewissen Unterschied.«

Augenzwinkernd sah sie zu ihrem Schwiegersohn. Dem sprachen ihre Worte einerseits zwar aus der Seele, fühlte er sich dadurch doch von ihr verstanden. Jeder in der Familie wusste, wie sehr es ihm als aufrechtem Zentrumspolitiker gegen den Strich ging, sich im Royal unter adeligen und deutsch-national gesinnten Gästen zu bewegen. Da behagte ihm das Dreesen mit seinem liberaleren, internationaleren Publikum weitaus mehr. Andererseits haderte er sichtlich mit sich, ob er die offenkundige Maßregelung seiner Ehefrau kommentarlos hinnehmen durfte. Verlegen wippte er auf den Fußspitzen, räusperte sich mehrmals. Selma beobachtete ihn amüsiert. Der Frack, den er trug, hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Endlich erlöste ihn Meta aus der Bredouille und wandte sich mit einem schelmischen Gesichtsausdruck wieder ganz ihrer Tochter zu.

»In diesem Vorkriegsensemble aus nachtblauem Taft machst du übrigens nach wie vor eine hervorragende Figur, mein Kind. Eine ausgezeichnete Idee deiner Schneiderin, den Rock höher in der Taille anzusetzen und weiter auszustellen. Der Krieg hat eben auch seine guten Seiten. Die Abkehr von der französischen Mode mit ihrer Sans-Ventre-Linie ist eine wunderbare Erfindung für uns Frauen jenseits der gertenschlanken Jugend. In unserem Alter droht uns die einstige Wespentaille buchstäblich wegzurutschen.«

Zustimmung heischend hakte sich die zierliche alte Dame bei der etwas größeren und trotz Mangelwirtschaft um die Hüften kräftiger gewordenen Tochter unter. Es war reinster Hohn, in Metas Fall von verrutschter Wespentaille zu sprechen. Ihre Figur ähnelte mehr der einer jungen Frau denn einer fast Siebzigjährigen. Seit Jahren trug sie das immer gleiche Modell eines schlichten schwarzen Kostüms, das aus einer taillierten Jacke mit rüschenverzierten Schößen sowie einem schmalen, langen Rock bestand. Es kleidete sie so vorteilhaft wie ehedem.

»Du solltest dich glücklich schätzen, dass an der Front nach wie vor die groben Strickwaren bevorzugt werden, die du und deine ehrbaren Mitstreiterinnen in den hochgeschätzten Reichswollwochen so fleißig sammeln. So bleiben euch an der Heimatfront die feinen Stoffe aus Vorkriegsbeständen erhalten, um euch selbst im dritten Kriegsjahr so prächtig herauszuputzen wie ein Weihnachtsbaum.«

»Mama, bitte!«, versuchte Joseph nun doch zaghaft, dem drohenden Zwist der beiden Frauen Einhalt zu gebieten. Wie so oft aber blieb es ein zwar ehrbares, allerdings vergebliches Unterfangen. Boshaft platzte es aus Hedda heraus: »Weißt du, was du bist, Mama? Eine verbitterte, einsame, alte, bemitleidenswerte Frau. Wahrscheinlich liegt es an deinen Hüftschmerzen oder an dem nie überwundenen Groll über deinen früh verstorbenen Mann, den du seit Jahrzehnten hegst und pflegst wie eine kostbare Orchidee. Jeden Tag bete ich zu Gott, dass ich eines fernen Tages nicht so werde wie du. Doch ich habe Hoffnung. Zum einen bin ich seit sechsundzwanzig Jahren mit diesem wundervollen Mann verheiratet, der weder spielt noch trinkt noch hurt, und zum anderen habe ich meinesgleichen um mich versammelt. Ob es dir passt oder nicht, wir Bürgerfrauen tun etwas Sinnvolles für unsere Helden an der Front, sammeln Geld, Wolle, Kupfer und Eisen und was sonst noch alles vonnöten ist. Denk nur nicht, dass es mich stört, wenn du dich darüber lustig machst. Du tust mir leid, weil du nur noch an jedem herumkritteln kannst, der anderer Meinung ist als du. Es war ein großer Fehler von dir, dich schon zu Beginn des zweiten Kriegsjahres von deinen früheren Mitstreiterinnen loszusagen, nur weil sie ihre Forderung nach dem Frauenwahlrecht zugunsten derzeit wichtigerer Ziele haben fallenlassen. Warum musst du eigentlich weiter stur auf deinem Standpunkt beharren? Die anderen Frauen haben doch auch eingesehen, wie viel wichtiger es jetzt ist, nach innen einig mit den anderen Parteien zu sein, um nach außen stark gegen den Feind zu kämpfen. Nur so gelingt der Siegfrieden wirklich. Das ist wahrer Pazifismus, aber das willst du natürlich nicht einsehen. Kein Wunder, dass auch dein Kokettieren mit dem inzwischen glücklicherweise verbotenen Bund Neues Vaterland gescheitert ist. Du hältst dich zwar für eine Pazifistin, in Wahrheit aber suchst du immer nur Streit. Ich wünsche dir von Herzen, dass du eines Tages doch noch begreifst, wie wertvoll Einrichtungen wie die Reichswollwoche oder der Nationale Frauendienst sind, um von zu Hause den Männern im Feld den Rücken zu stärken. Genau dazu sind wir Frauen derzeit gefordert, das bringt uns in Zeiten wie diesen am Ende wirklich alle weiter.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, lauschte Meta der langen Tirade geduldig, während Selma ebenso wie Joseph ob der darin innewohnenden Häme erblassten. Die Großmutter gab ihnen beiden mit der freien Hand ein beschwichtigendes Zeichen. Offenbar wollte sie nicht, dass einer von ihnen für sie Partei gegen Hedda ergriff.

»Was uns in Kriegszeiten wirklich weiterbringt, werden wir wohl leider erst erfahren, wenn alles zu spät ist, mein Kind«, erwiderte sie mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme. »Deshalb ist es mir wichtig, nicht vorschnell die Waffen zu strecken und die eigenen Ideale zugunsten eines vermeintlich größeren, hehreren Zieles aufzugeben. Doch lassen wir das jetzt lieber. Ich sehe, wie unbehaglich es meinem Schwiegersohn bei diesem Thema wird. Davon weiß er als Reichstagsabgeordneter besser gar nichts.«

Verschmitzt zwinkerte sie Joseph zu, dessen zunächst erschrockene Miene sich bei ihren letzten Worten langsam entspannte.

»Die sogenannte Heimatfront scheint wichtig, um die Moral der Truppen auf den Schlachtfeldern zu stärken«, fuhr sie fort. »Dennoch ist es nach wie vor ebenso bedeutsam, immer wieder laut zu fragen, was es über die vorherrschende Moral aussagt, wenn die Soldaten im Auftrag der Regierung die Menschlichkeit an den Nagel hängen, andere töten und ihr Leben für etwas riskieren, was uns selbst alles andere als dienlich ist. Noch dazu, wo nur der männliche Teil der Menschheit diese Moral definiert. Gerade mitten im Krieg muss deshalb das Wahlrecht für uns Frauen gefordert werden. Wenn wir schon die Konsequenzen tragen müssen, sollten wir zuvor auch an den Entscheidungen teilhaben.«

In Metas bernsteinfarbenen Augen blitzte trotz der ernsten Worte sogar so etwas wie Vergnügen auf. Genüsslich spitzte sie den von feinen Charakterfalten umrahmten Mund und senkte kurz den Blick, sortierte mit der Spitze des Gehstocks eine Staubfluse auf dem glänzenden Parkettboden, dann richtete sie sich wieder auf und lächelte die Tochter von unten herauf an. »Ein Weiteres muss ich dir noch sagen, mein Kind.«

Aufmerksam betrachtete sie Heddas Antlitz. Dabei sprach so viel Milde und Nachsicht aus ihrem Blick, dass Selma ganz warm ums Herz wurde. Heddas Miene dagegen versteinerte sichtlich. Mahnend legte Joseph ihr die Hand auf den Arm.

»Auch wenn wir sehr unterschiedliche Auffassungen haben, hat mich deine kleine Rede eben sehr stolz gemacht. Fast fünfzig Jahre musstest du werden, ehe du dich traust, mir vor anderen Familienmitgliedern deine Meinung zu sagen. Natürlich steht es dir jederzeit frei, für deinen Vater Partei zu ergreifen und mir als ewigen Groll vorzuwerfen, was letztlich nur dein Glück gewesen ist. Du warst viel zu klein, um zu begreifen, was er dir und mir mit seiner Spielsucht angetan hat. Welch einzigartiges Geschenk dir mit deinem Ehemann zuteilgeworden ist, weiß ich bis an mein Lebensende zu schätzen, auch wenn du für die frühe Heirat deine mathematische Begabung leider völlig ungenutzt hast versiegen lassen. Beruhigt stelle ich allerdings fest, dass auch in dir der Wille zum Widerspruch keimt. Vielleicht erlebe ich noch den Tag, da die Saat aufgeht. Doch jetzt entschuldigt mich, der Tag war lang, und ich bin erschöpft.«

Sie nickte erst Joseph, dann Hedda entschuldigend zu, bevor sie Selma sacht die Hand auf die Wange legte und ihr dabei bedeutete, sich näher zu ihr herunterzuneigen. »Mach dir um mich keine Gedanken, Liebes. Wer wie ich quasi auf den Barrikaden der Märzrevolution das Licht der Welt erblickt hat, bleibt zeit seines Lebens dem Aufbegehren verpflichtet, egal, wie viele er dabei mit auf seiner Seite weiß. Deine Mutter dagegen ist im unseligen Jahr des ersten Deutsch-Französischen Krieges geboren. Auch das muss Auswirkungen auf den Charakter gehabt haben. Trotzdem halten wir beide uns nun schon seit siebenundvierzig Jahren ganz gut aus. Sorge dich lieber um deinen Ehemann statt um uns.«

Mit einer leichten Kopfbewegung wies sie Richtung Fensterfront, wo Gero weiterhin reglos verharrte, um in die Dämmerung des Januarnachmittags hinauszustarren, als wollte er die Treibeisschollen auf dem Rhein allein mit seinem Blick zum Schmelzen bringen. Sein Anblick schmerzte Selma.

»Mehr als wir alle hat dein tapferer Held von der Westfront liebevollen Beistand nötig.«

Als Selma anhob, etwas zu sagen, kehrte Meta ihr den Rücken und spazierte, den Stock rhythmisch aufs Parkett aufstützend, hoch erhobenen Hauptes aus dem Festsaal hinaus.

»Sie schafft es immer wieder!«, platzte es aus Hedda heraus, kaum dass sie außer Sicht war. »Seit Jahr und Tag zerstört sie mir die schönsten Erlebnisse.«

»Eben hat es sich nicht so angehört, als würdest du das heutige Fest zu einem deiner schönsten Erlebnisse zählen«, widersprach Selma.

»Du also auch noch!« Hedda presste die Fingerkuppen gegen ihre Schläfen, begann sie zu massieren und schnitt dabei ein leidendes Gesicht.

»Reg dich nicht auf«, beschwichtigte Joseph sie und führte sie zu einem Stuhl an der inzwischen halb abgeräumten Tafel zurück. Sanft strich er ihr über die Schulter. »Denk an deine Migräne. Hier ist dein Pfefferminzöl. Tupf es dir auf die Schläfen, dann geht es dir gleich besser.«

Die Behutsamkeit, mit der er seiner Frau begegnete, imponierte Selma. Seit sechsundzwanzig Jahren ertrug Joseph Heddas Launen, ohne je einen Dank dafür von ihr zu hören. Kaum vorstellbar, dass sie einmal jung und verliebt gewesen und in ähnlich zügelloser Leidenschaft übereinander hergefallen waren wie Gero und sie in ihren besten Zeiten. Ein Stich fuhr ihr in die Magengrube.

Es stand ihr nicht an, über die Ehe ihrer Eltern zu urteilen. Viele Jahre schon erfreuten sie sich auf ihre Art aneinander und schienen ihren Weg zum persönlichen Glück gefunden zu haben. Sie sah zu Gero. Von einem gemeinsamen Weg zum Glück waren sie beide derzeit weiter entfernt denn je – und das nach gerade einmal zweieinhalb Jahren Ehe. Oder hatte sie für Liebe gehalten, was in Wahrheit nur zügellose Leidenschaft gewesen war? Warum aber konnten sie nach deren Abflauen trotzdem nicht voneinander lassen? Vielleicht wusste er eine Antwort. Langsam schlenderte sie zur Fensterfront.

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7

Längst war das elektrische Licht im Festsaal eingeschaltet, ein unverhoffter Luxus angesichts der sonst herrschenden Einschränkungen. Vor dem dunklen, trägen Band des Rheins und den schattigen Hügeln des Siebengebirges verwandelten sich die Glasscheiben der doppelflügeligen Fenster in bodentiefe Spiegel. Im Näherkommen betrachtete Selma die sich darin abzeichnende eigene Gestalt mit Neugier. Der kriegsbedingte Mangel an Nahrung wie auch die veränderte Mode taten ihr gut, wie sie zynisch feststellte. Ersteres sorgte naturgemäß für eine schlankere Figur und Letzteres für völlig neue Möglichkeiten, die hervorzuheben. Das champagnerfarbene Kleid aus Seide stammte noch aus Vorkriegsbeständen. Die Schneiderin hatte den Ballen des inzwischen in Deutschland verpönten Stoffes aus ihrem Lager gezaubert. Sie war sich mit Selma einig gewesen, nur daraus eine angemessene Festgarderobe für Josephs sechzigsten Geburtstag nähen zu können. Bis zu den Oberschenkeln war das Kleid schmal geschnitten, um danach in vier tief angesetzten Kellerfalten aufzuspringen. Der einfach gefasste V-Ausschnitt wie auch die eng gehaltenen, sich ab dem Ellbogen nach unten trichterförmig öffnenden Ärmel betonten die Schlichtheit, die den Reiz des Ensembles ausmachte. Eine lange, locker fallende Perlenkette sowie helle, farblich exakt auf das Kleid abgestimmte Schuhe, die ebenfalls noch aus besseren Zeiten übrig waren, unterstrichen das. Je näher Selma den Fenstern kam, desto deutlicher erkannte sie in den spiegelnden Glasscheiben auch ihr Gesicht. Dank der zu einer weichen Nackenrolle aufgesteckten Haare wirkte ihr Hals lang, die Haut elfenbeinfarben, was dem harten Licht im Raum zuzurechnen war. Die dunkel umrandeten hellblauen Augen hoben sich umso deutlicher aus dem schmal gewordenen Antlitz hervor.

»Lass uns nach oben gehen, Liebster, ich bin müde«, raunte sie Gero ins Ohr, legte ihm den Arm um die Hüfte und lehnte ihre Wange gegen seine Schulter.

Seinen Blick suchend, schaute sie ins Fenster. Er trug Zivil. In dem Smoking, den er sich im Frühjahr 1914 passgenau auf den Leib hatte schneidern lassen, wirkte er verloren. Seither hatte er wertvolle Pfunde verloren. Selbst der Kragen war ihm zwei Fingerbreit zu weit. Die Wangen waren eingefallen, die weichen, hellen Lippen blutleer, und das blonde Haar wirkte trotz Brillantine stumpf.

Ihre Blicke trafen sich. In seinen Augen lag ein verstörender Ausdruck. Nicht einmal an jenem Maiabend vor bald drei Jahren, als sie nach wochenlanger Entfremdung wieder zueinandergefunden hatten, hatte er derart apathisch ausgesehen. Oder sollte sie besser sagen: ausgebrannt? Ja, das traf es auf den Punkt. Sein Blick schien erloschen wie der Draht einer Glühbirne, der man den Strom abgedreht hatte. Dabei hatte er einmal vor Energie und Tatendrang nur so geglüht. Allzu lange war das noch nicht her. Kurz flackerte die Erinnerung an jenen letzten Sommer in Baden-Baden in ihr auf, in dem er den schmierigen Freiburger Doktor Schlüter im Tennis besiegt und anschließend einige berauschende Nächte lang im Bett ausgekostet hatte.

So bitter es für sie war, glaubte sie mittlerweile zu wissen, dass er solche Fluchten in die verbotene Welt der Männerliebe brauchte. Schließlich war er nach der Affäre mit Schlüter ebenso wie nach der mit Ansgar Grün wieder zu ihr zurückgekehrt, leidenschaftlicher und sinnlicher denn je, vor Lebens- wie vor Liebeslust gleichermaßen strotzend.

Was aber war in den knapp anderthalb Jahren danach mit ihm geschehen? Natürlich war es kein lustiges Abenteuer, als Soldat an der Westfront zu stehen. In seinem zweitägigen Fronturlaub im letzten Herbst hatte er so manches Üble angedeutet. Grausamkeiten hatte er zuvor schon von der Ostfront berichtet. Derart erschüttert wie in diesem Januar war er allerdings noch nie gewesen. Er musste inzwischen Unfassbares erlebt haben, anders war sein Verhalten nicht zu erklären. Sie fasste nach seinen Händen. Sie waren eiskalt.

»Lass uns tanzen«, wisperte sie ihm ins Ohr und zog ihn vom Fenster weg. Widerstrebend folgte er ihr. Ihre Finger umschlossen seine Hand fester, als fürchtete sie, er würde sich doch noch losreißen. Zielstrebig steuerte sie die hintere Ecke des Saales an, in der das Grammophon auf seinen Einsatz wartete. Ein Diener im schwarzen Frack erwartete ihren Musikwunsch. Eigentlich lag ihr der Tango schon auf der Zunge, dann aber entschied sie sich für einen Walzer aus der Csárdásfürstin.

»Erinnerst du dich an deinen letzten Fronturlaub?« Sie zwinkerte Gero zu. »Wie haben wir die Aufführung im Theater am Schiffbauerdamm genossen! Die ganze Nacht hast du die Melodien nachgepfiffen, und wir haben im Salon getanzt, bis uns die Füße schmerzten.«