Der Sommer der Freiheit 6 - Heidi Rehn - E-Book

Der Sommer der Freiheit 6 E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Liebe in schwierigen Zeiten - Der letzte Teil des sechsteiligen Serials »Der Sommer der Freiheit« Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle. Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen. Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …

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Heidi Rehn

Der Sommer der Freiheit 6

Serial Teil 6

Knaur e-books

Über dieses Buch

Es begann im Sommer 1913

Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle, Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen.

Inhaltsübersicht

Dritter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelEpilogAnhangÜbersetzung aus dem FranzösischenGlossarNachbemerkungZitate
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Dritter Teil

Umbruch

Sommer 1918 bis Frühjahr 1919

1

Schon nach dem ersten Blick in die Küche ahnte Selma in der Regel, welche Laune die Mutter beim Mittagstisch haben würde. Zwar gab Fina stets ihr Bestes, aus den kargen Beständen etwas zu zaubern, das zumindest annähernd die Bezeichnung »Sonntagsessen« verdiente, dennoch tat Hedda auch im dritten Jahr der Seeblockade gern so, als trüge die altgediente Köchin die alleinige Schuld an den ewigen Ersatzgerichten. Selma wäre es am liebsten gewesen, die Mutter verzichtete angesichts der schlechten Versorgungslage ganz darauf, sie und Alma einmal im Monat zum ausgiebigen Sonntagsessen einzuladen. Davon aber wollte Hedda nichts wissen. »Dann sehen wir dich und die Kleine bald gar nicht mehr«, jammerte sie los, sobald Selma das Gespräch darauf brachte. Also fügte sich Selma und putzte Alma seit ihrer Rückkehr aus dem Engadin im vergangenen Oktober jeden letzten Sonntag im Monat so fein wie möglich für den Besuch bei den Großeltern in Friedenau heraus. Dabei fuhren sie zudem mindestens einmal in der Woche nachmittags in die Wielandstraße zum Tee, und Hedda tauchte jeden zweiten Tag in der Wohnung am Charlottenburger Savignyplatz auf. »Damit dir als tapfere Leutnantsgattin nicht die Decke auf den Kopf fällt, während dein Mann seine Pflicht an der Westfront tut«, begründete sie die Besuche jedes Mal aufs Neue, obwohl sie eigentlich nur Alma sehen und so gut, wie es die Zeit zuließ, verwöhnen wollte.

An diesem letzten Junisonntag kurz vor Ende des vierten Kriegsjahres roch es jedoch nicht nach den üblichen Verlegenheitslösungen wie Grießsuppe oder Bücklinge. Stattdessen hing der lang vermisste Geruch nach Butter, Schmalz und Braten in der Luft. Selma meinte zunächst, sich das nur einzubilden, doch der stolze Blick, mit dem Fina am Herd stand und die dampfenden Töpfe beaufsichtigte, sprach Bände. An diesem Sonntag war etwas ganz entscheidend anders als sonst. Noch wusste Selma nicht, ob das gut oder schlecht war.

»Heute gibt es eine Überraschung«, posaunte Dienstmädchen Käthe in ihrem rheinischen Singsang freudestrahlend heraus, um sich sogleich einen mahnenden Schlag mit dem Küchentuch von Fina einzufangen.

»Ist Grischa wiederaufgetaucht? Sag schon, was ist mit ihm?« Selma klammerte sich mit den Fingern an der Stuhllehne fest, ihr Herz raste. Kaum wagte sie, Käthe anzuschauen, zu sehr fürchtete sie, in deren Miene die falsche Antwort zu lesen.

»Hättest du doch nur deinen Mund gehalten!«, raunzte Fina Käthe vom Herd her an. »Jetzt macht sich das arme Ding falsche Hoffnungen.«

»Warum soll ich immerzu den Mund halten? Selma erfährt es so oder so.«

»Eben drum«, beharrte Fina knapp und bückte sich nach dem Ofen, öffnete die gusseiserne Klappe einen Spaltbreit und sah mit kritischem Blick in dessen Inneres, bevor sie sich wieder aufrichtete und Selma mit tränenfeuchten Augen erklärte: »Von deinem Bruder gibt es jedenfalls nichts Neues. Leider.«

»Das heißt zum Glück aber auch, dass es nichts Schlimmes gibt«, beeilte sich Käthe hinzuzufügen. »Die Todesnachrichten verschicken sie nämlich immer noch sehr zuverlässig und schnell, auch wenn für die andere Post mal wieder eine Sperre gilt.«

»Hoffentlich hast du recht«, erwiderte Selma und legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern. Das ältliche Mädchen wie auch die Köchin waren seit Urzeiten bei den Rosenbaums in Diensten, deshalb stand sie auf vertrautem Fuß mit den beiden.

»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, winkte Käthe ab, entwand sich Selmas Arm und begann, am Tisch die für das Mittagessen bereitliegenden Damastservietten zusammenzurollen. Ordentlich steckte sie sie anschließend in die silbernen Serviettenringe.

»Also schon wieder eine Woche ohne Lebenszeichen von Grischa«, stellte Selma fest, schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und schlenderte zum Herd. Gerade wollte sie über Finas Schulter in die Töpfe spähen, da vertrieb die Köchin sie mit einem sanften Schubser. »Kindchen, du wirst auch nie erwachsen!«

»Nenn mir einen guten Grund, warum ich das tun sollte«, gab Selma zurück und setzte sich auf einen der weiß lackierten Stühle an dem Tisch in der Mitte der Küche. »Wenn ich mir die Welt der Erwachsenen anschaue, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als wieder so klein und unschuldig zu sein wie meine süße Alma. Da müsste ich wenigstens keine Angst mehr um meinen Mann und meinen Bruder haben.«

»Ewig Kind bleiben geht nun mal nicht«, stellte Fina lakonisch fest und rührte emsig Mehl in die Kasserolle.

»Mach dir mal nicht immer so viele Sorgen«, erklärte Käthe unterdessen und legte Selma tröstend die Hand an die Wange. »Wirst schon sehen: Bald spazieren beide quietschvergnügt zur Tür herein und haben einfach nur keine Zeit gehabt zum Schreiben. Wenn die an der Westfront jetzt wieder so eifrig die Franzosen angreifen, kommen sie einfach nicht dazu, was nach Hause zu schicken.«

»Käthe hat recht«, stimmte Fina zu. »Die haben alle Hände voll damit zu tun, doch noch den Sieg für den Kaiser zu erringen. Das kann man jetzt jeden Tag in der Zeitung lesen.«

»Wenn also von Grischa nichts kam, was gibt es dann als freudige Überraschung?«, kam Selma auf den Beginn ihres Gesprächs zurück und versuchte, alle anderen Gedanken an Gero und Grischa tatsächlich für eine Weile aus ihrem Kopf zu verbannen.

»Ach, Kindchen, wir wollen deinem Vater nicht die kleine Freude verderben. So viel bleibt ihm ja nicht mehr«, winkte Fina von neuem ab. »Nur eines kann ich dir verraten: Zur Feier des Tages gibt es etwas Ordentliches zu essen.«

»So?« Auf einmal fühlte Selma sich müde. Die Aussicht auf ein »ordentliches Essen«, wie Fina es nannte, weckte weder Freude noch Appetit bei ihr. Es gelang ihr einfach nicht, die quälenden Sorgen zu vergessen, nicht einmal für kurze Zeit. Seit fast zwei Wochen waren Geros Karten überfällig. Auch wenn er nur mehr knappe Nachrichten schrieb, so meldete er sich seit seiner Rückkehr an die Front im letzten September doch wenigstens regelmäßig. Grischa war da anders, aber der war auch weder Ehemann noch Familienvater und als Flieger ohnehin in einer weitaus besseren Position, zumindest behauptete er das selbst bei jeder Gelegenheit.

»Nun zieh mal nicht immerzu so ein trauriges Gesicht«, mahnte Fina, legte den Kochlöffel beiseite und kam, sich die geröteten, feuchten Hände an der Schürze abwischend, zum Tisch herüber. »Du hast wenigstens von deinem Gero ein süßes kleines Töchterchen, das dir jeden Tag aufs Neue Sonnenschein ins Haus bringt. Schon allein für die Kleine musst du mehr lachen, und erst recht für deine Eltern, denn die haben gerade wirklich nicht viel, woran sie sich noch freuen können.«

»Irgendetwas aber müssen sie doch gerade haben, wenn sie dich hier etwas Besonderes kochen lassen«, versuchte Selma erneut, ihr endlich das Geheimnis zu entlocken.

»Ach, so besonders ist das eigentlich nicht«, winkte Fina ab. »Vor dem Krieg hätte man da kein großes Aufheben von gemacht. Es sind einfach nur Kartoffeln mit Butter und ein Stück Fleisch, das man mit viel Nachsicht als Gulasch bezeichnen kann. Was hätte ich gern mal wieder einen richtig schönen Sauerbraten mit Rosinen und Klößen im Topf, aber daran ist die nächsten Jahre wohl nicht mehr zu denken.«

»Sosehr ich deinen Sauerbraten liebe, aber bei dir schmeckt selbst eine Brennsuppe wie ein Festmahl!« Selma fiel der grauhaarigen Köchin um den Hals und drückte ihr einen dicken Kuss auf die faltige Wange. Verschämt wischte sich Fina mit dem Zipfel des Handtuchs darüber, das beim Kochen immer an ihrer Schürze steckte.

»Ihr beide seid einfach wunderbar! Immer wenn ich bei euch in der Küche sitze, geht es mir besser.« Selma umarmte auch Käthe. Wie bei Fina so spürte sie auch bei ihr, wie stark sie in den letzten Jahren abgemagert war. Beide Frauen waren ursprünglich einmal recht füllig gewesen. In den letzten Jahren aber war ihnen nicht nur das Haar unter der Dienstmädchenhaube schütter geworden, auch der Speck auf den Rippen war wie bei fast allen anderen im Land nur so dahingeschmolzen. Ihren liebevoll-mütterlichen Wesen taten die hagereren Gestalten und eingefallenen Wangen keinerlei Abbruch. Sie hatten einfach immer die richtigen Worte parat, um Selma über den größten Kummer hinwegzutrösten.

»Wo steckt überhaupt dein Kindchen?«, erkundigte sich Fina und putzte sich übertrieben eifrig die Brillengläser, was, wie Selma wusste, eine reine Verlegenheitsgeste war, um ihre Rührung zu überspielen.

»Mama hat sie gleich an der Haustür in Beschlag genommen«, erwiderte Selma. »Sie wollte ihr mein altes Puppenhaus zeigen.«

»Wenn es nach deinem Vater gegangen wäre, hätte sie das erst zu Weihnachten bekommen.« Nach einem lauten Schneuzen steckte die Köchin das Taschentuch unter ihre weiße Spitzenschürze. »Das hätte ich auch richtig gefunden.«

Sie kehrte zu dem großen gusseisernen Herd zurück, der zwischen den beiden Fenstern unter einer riesigen Esse stand, und hob abermals die Deckel auf den Töpfen an, kontrollierte aufmerksam, damit keine der kostbaren Speisen anbrannte.

Das Essen war wie immer längst fertig. Einzig Heddas Befehl zum Auftragen stand noch aus. Der würde erst erfolgen, sobald Meta eingetroffen war. Die aber ließ gern auf sich warten, schon allein um die Geduld ihrer Tochter auf die Probe zu stellen und ihr die eigene Unangepasstheit an die preußische Genauigkeit zu demonstrieren. Als gebürtige Wiesbadenerin, die seit bald vierzig Jahren an der Spree lebte, betonte sie nach wie vor gern diesen kleinen, aber feinen Unterschied, noch dazu, wo sie sich als Künstlerin sah. »Seit wann halten sich Künstler an Termine?«, lautete einer ihrer Lieblingssprüche.

»Weihnachten wäre auch früh genug gewesen für ein so großes Geschenk«, unterstützte Käthe jetzt die etwa gleich alte Fina, stemmte die Hände in die Hüften und schaute Selma an. Sie reichte ihr gerade bis zur Schulter, was ihrem bestimmten Auftreten keinerlei Abbruch tat.

»Maßlos verwöhnen tut dem Kind gar nicht gut«, meldete sich Fina wieder zu Wort. »Auch wenn sein Vater jetzt schon so lang im Krieg ist, braucht es das nicht. Vermissen tut sie den eh nicht. Dafür hat sie ihn viel zu wenig gesehen. Erinnern tut sie sich bestimmt nicht an ihn. Aber wem sage ich das?«

Gedankenverloren ruhte ihr Blick auf Selma. Gegen ihren Willen traten Selma Tränen in die Augen, aus Kummer um Alma, die ganz ohne Vater aufwuchs, aber auch aus Kummer um sich, weil sie es nicht fertigbrachte, daran etwas zu ändern. Dazu müsste sie nur endlich der Wahrheit ins Gesicht sehen, wie Gero das bereits in Sils-Maria getan hatte.

»Als deine Mutter gestern beim Ausräumen vom Speicher das alte Puppenhaus wiederentdeckt hat, gab es kein Halten mehr«, nutzte Käthe unterdessen Finas Atempause, um sich mit wichtigen Informationen dazwischenzudrängen. »Auf der Stelle musste ich alles stehen und liegen lassen, um ihr zu helfen, das Puppenhaus herzurichten. Zum Glück hatte die Renate von Frohnbergers nebenan noch Zeit zum Anpacken. Sonst würden wir jetzt noch die winzigen Töpfchen putzen und die Gardinchen waschen und die Stühlchen neu anstreichen. Es reicht auch so schon, dass wir bis spät in die Nacht daran gebastelt haben. Kaum zu glauben, wie viel Arbeit so ein Puppenstübchen einem macht.«

Sie schüttelte den Kopf, ganz versunken in die Erinnerung an das Geleistete, während Fina sich missmutig wieder dem Herd zuwandte.

»Wieso habt ihr gestern überhaupt den Speicher ausgeräumt?«, hakte Selma nach, froh, damit ein neues Thema aufgeschnappt zu haben, das sie von den quälenden Überlegungen zu Gero und Robert ablenkte.

»Ach, du altes Schwatzweib!« Unerwartet flink drehte Fina sich am Herd um und schlug von neuem mit dem Geschirrtuch nach Käthe. »Jetzt war dein Mundwerk wieder schneller als dein Verstand, sofern der bei dir überhaupt vorhanden ist. Sei endlich ruhig, sonst ist dem Herrn Rosenbaum wirklich die ganze Überraschung verdorben.«

»Hättest du jetzt nicht losgeschimpft, hätte Selma gar nichts davon gemerkt«, rechtfertigte sich Käthe beleidigt und erklärte Selma mit ernster Miene. »Aber mehr sage ich jetzt auch nicht dazu. Das muss dein Vater bei Tisch nachher selbst übernehmen.«

Damit schob sie Selma energisch aus der Küche und scheuchte sie die Treppe aus dem Souterrain nach oben.

Im Wohnzimmer, das zum Garten lag und mit dem Speisezimmer im vorderen Teil des Hauses über eine offen stehende Durchgangstür verbunden war, traf Selma den Vater ganz allein an. Er saß in seinem Lieblingssessel am Fenster und studierte sicherlich nicht zum ersten Mal an diesem Tag die Bonner Neuesten Nachrichten. Als er Selma kommen hörte, faltete er die Zeitung zusammen und legte sie auf den Beistelltisch, auf dem bereits ein Glas Wein und eine gut gefüllte Bleikristallkaraffe standen. Unter leichtem Stöhnen schälte er sich aus dem Sessel.

»Selma, Liebes, wie schön, dich zu sehen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Statt sie zu nehmen, fiel Selma ihm um den Hals. Auch wenn Joseph es nie zugeben würde, genoss er es, von ihr so überschwenglich begrüßt zu werden, als wäre sie ein unbeschwerter Backfisch und keine Offiziersehefrau und Mutter einer dreieinhalbjährigen Tochter.

»Gibt es Neues von Gero?«, erkundigte er sich, sobald sie ihn wieder freigab.

»Leider nicht«, antwortete sie und musste sich räuspern, weil ihre Stimme gar zu kläglich klang. Was hätte sie darum gegeben, wie Käthe und Fina vorhin in der Küche Zuversicht verbreiten zu können. Josephs verzweifelter Gesichtsausdruck verriet, wie sehr er danach lechzte, Aufmunterndes zu hören.

»Vor zwei Wochen ist die Westoffensive an der Marne zum Stillstand gekommen«, versuchte er sich in einer halbherzigen Erklärung und legte ihr die Hand tröstend auf die Schulter. »Seither wird die Lage wohl immer unübersichtlicher. Offiziere wie Gero werden anderes zu tun haben, als lange Briefe nach Hause zu schicken.«

»Grischa wird es ähnlich gehen«, pflichtete sie ihm bei.

»Er war schon immer schreibfaul.« Dieses Mal musste Joseph sich räuspern, weil ihm die Stimme zu versagen drohte. Verlegen klopfte er mit den Händen die Taschen seines ausgebeulten Hausmantels ab. So gern Hedda ihm das altmodische Kleidungsstück abgewöhnen wollte, so beharrlich bestand er darauf, es in seinen eigenen vier Wänden zu tragen, ebenso wie die abgewetzten Hausschuhe, die ein weiterer Dorn in den Augen seiner Ehefrau darstellten. »Ich weiß nicht einmal, wo sein Jagdgeschwader derzeit stationiert ist. Das macht es noch schwieriger, etwas in Erfahrung zu bringen. Tu mir den Gefallen und erwähne Grischa im Beisein deiner Mutter nicht. Die Ärmste vergeht vor Sorge. Sein letzter Brief kam vor knapp zwei Wochen. Vielleicht gibt es wieder eine Postsperre. Eigentlich gibt es so viele gute Gründe, warum man mal ein paar Tage ohne Nachricht ist. Da muss man nicht immer gleich das Schlimmste befürchten. Aber sag das mal deiner Mutter.«

»Ich kann sie sehr gut verstehen. Mir geht es mit Gero genauso. Man wartet, bangt und hofft jeden Tag. Etwas anderes kann man auch nicht tun. Diese grässliche Untätigkeit ist das Schlimmste daran.«

»Ich bin schon froh, dass du dich nicht noch einmal auf den Weg machst, um auf eigene Faust nach Gero zu suchen.«

»Einmal reicht«, erwiderte sie knapp. Ihre Stimme zitterte. Sie hoffte, der Vater merkte nicht, dass nicht allein die Ungewissheit über Geros Verbleib sie so mitnahm. Es war auch das schlechte Gewissen. Bislang hatte sie niemandem von ihrem unversöhnlichen Auseinandergehen in Sils-Maria erzählt, ebenso wenig hatte sie Geros damalige schlechte seelische Verfassung erwähnt. Selbst Constanze, die ihn in Verdun und Basel erlebt hatte, ging davon aus, er hätte sich im Waldhaus erholt und würde sich der alten Tatkraft erfreuen, wie die Rückkehr an die Front und die spärlichen, bislang zumindest aber regelmäßigen Feldpostkarten bewiesen.

»Du hast recht, das Ärgste ist die eigene Hilflosigkeit und das Warten auf Nachricht.« Unbeholfen legte Joseph ihr den Arm um die Schulter, zog sie zum Fenster. Nur zu gern schmiegte sie sich an ihn, genoss es, wie in alten Zeiten von ihm umhegt zu werden. Einmal wollte auch sie alle Sorgen und Nöte einfach nur vergessen, wieder in die Rolle des kleinen, schutzbedürftigen Mädchens schlüpfen.

Die dünnen Gazegardinen vor den Scheiben waren beiseitegezogen, so dass der Blick auf den schmalen, langgezogenen Garten frei vor ihnen lag. Der Rasen war sorgfältig gestutzt, die Blumenkübel bunt mit Geranien, Rosen und allerlei anderen Blumen bepflanzt. Der seit Wochen grau verhangene Himmel ließ das alles trostlos wirken. Der kühlen Witterung wegen blieben die bunten Schmetterlinge aus, selbst die Vögel machten sich in diesem vierten Kriegssommer rar. Eine unheimliche Stille lag über dem Grün, nur gelegentlich unterbrochen von den Geräuschen der Straße auf der anderen Hausseite.

»Magst du einen Schluck Wein?«, fragte Joseph und versuchte auf seine unbeholfene Art, sie auf andere Gedanken zu bringen. »Dieses Mal habe ich einen Riesling aus Boppard da. Den solltest du probieren. Wahrscheinlich werde ich meinem Winzer aus dem Rheingau untreu, so gut schmeckt mir der. Bopparder Hamm heißt die Lage. Du kennst sie von unseren Schiffstouren. Das ist an der Rheinschleife zwischen Boppard und Spay.«

»Ist das deine freudige Überraschung, deretwegen Fina für uns heute ein besonderes Essen kocht?«

»Bitte?« Überrascht sah er sie an, bevor sich seine Miene verzog und er verärgert zurückfragte: »Was hat Fina da schon wieder …«

»Lass mich von dem neuen Wein kosten«, lenkte Selma hastig ab. Fina sollte ihretwegen keinen Rüffel bekommen, noch dazu, wo sich Käthe verplappert hatte. Zumindest wusste sie jetzt, dass der Vater tatsächlich etwas Wichtiges im Sinn hatte, sonst hätte er gelassener reagiert.

Geduldig wartete sie, bis er ein frisches Glas aus dem Vertiko im Speisezimmer geholt und ihr von dem Wein eingeschenkt hatte. Sie prostete ihm zu, dann trank sie einen Schluck. Der Riesling schmeckte herb, aber gut.

»Was hältst du davon, wenn ich Geros Eltern einige Kisten davon nach Rauschen schicke? In Ostpreußen werden sie einen guten Tropfen wie diesen sicherlich nicht verachten.«

»Darüber werden sie sich bestimmt freuen«, stimmte sie zu. »Einen guten Tropfen vom Rhein werden sie zu schätzen wissen.«

»Eine Schande, dass es derzeit so schwierig ist, den Kontakt zu ihnen zu halten. Gerade jetzt könntest du ihre Unterstützung gut gebrauchen, um nicht so allein zu sein.«

»Wie kommst du darauf? Ich habe doch Mama und dich.«

Verwundert sah Selma ihn an. Unbehagen überkam sie. Schon vorhin in der Küche, bei Fina und Käthe, war ihr klargeworden, wie stark die beiden Frauen während der Kriegsjahre gealtert waren. Auch bei Joseph hatten die Ereignisse der letzten Jahre deutliche Spuren hinterlassen, wie sie nun feststellte. Seit längerem trug er seine Brille ständig auf der Nase, wodurch die grauen Augen zwar weniger zwinkerten, aber auch undurchdringlicher wirkten. Sein ehedem so üppiger grauer Bart schien merklich lichter geworden. Ebenso hatte sich das Kopfhaar zu einem spärlichen Kranz am Hinterkopf zurückgezogen und entblößte die blanke, fleckige Haut auf dem Schädel nahezu vollständig. Der Kummer um den Sohn wie auch um die politische Lage ließ ihn merklich altern. Auf den Tag war er zwei Jahre älter als der Kaiser, der vor vierzehn Tagen sein dreißigjähriges Thronjubiläum gefeiert hatte. Trotz seines markigen Auftretens war Wilhelm II. ihr zu dieser Gelegenheit wie ein Greis erschienen. Anders als Joseph trug er keinen Backenbart mehr, dafür war sein Haar nach wie vor fülliger, wenn auch längst gänzlich weiß. Sah man dem Kaiser an, wie rasch die Jahre voranschritten, sollte sie das auch dem zwei Jahre älteren Joseph nachsichtig zugestehen.

Kein Zweifel: Etwas ging zu Ende. Sosehr Selma damit haderte, blieb ihr nichts anderes übrig, als das hinzunehmen. Auch wenn es den endgültigen Abschied von der Kindheit und der damit verbundenen Geborgenheit bedeutete. Hatte sie das nicht vorhin beim Betreten der Küche schon geahnt, als sie die ungewohnten Gerüche wahrgenommen hatte? Blieb die Frage, mit welcher Laune Hedda darauf reagierte.

2

Es läutete an der Tür. Für einen Moment zuckten Joseph wie auch Selma zusammen. Dann huschte ein Lächeln über Josephs Gesicht. Das Eintreffen eines Gastes enthob ihn der Verlegenheit, sich ausführlicher über seine Bemerkung zu Geros Eltern und ihr Verhalten Selma gegenüber zu erklären. Das fröhliche Hallo, mit dem Käthe den Besucher empfing, deutete auf das ersehnte Eintreffen von Großmutter Meta hin. Das regelmäßige Klacken ihres Gehstocks auf dem Steinboden in der Diele bestätigte die Vermutung.

»Kinder, was für ein erbärmlicher Sommer!«, rief sie noch in der offenen Tür zum Wohnzimmer. Ihre dunkle, kräftige Stimme, die so wenig zu ihrer zierlichen Gestalt passte, füllte sogleich den ganzen Raum aus. »Wahrscheinlich führt auch Petrus längst Krieg mit uns. Oder soll ich mir diese Bemerkung vor einem strenggläubigen Katholiken wie dir, mein lieber Joseph, besser verkneifen?«