Der Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte - Emily Walton - E-Book

Der Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte E-Book

Emily Walton

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Beschreibung

Was passiert, wenn F. Scott Fitzgerald, ­Ernest ­Hemingway, Dorothy Parker und ­Pablo Picasso ihren Sommerurlaub in ­einem südfranzösischen Fischer­dorf verbringen? Der Champagner fließt in Strömen, Eifersucht und Neid brodeln und die wilden ­Partys enden immer öfter im ­Exzess. Aus­gerechnet Fitzgerald, dem Chronisten der Goldenen Zwanziger, wird dieser Sommer zum Verhängnis. März 1926 in Juan-les-Pins, Süd­frankreich: F. Scott ­Fitzgerald steht auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Im Vorjahr ist sein Roman Der große Gatsby erschienen, nun läuft das Stück mit großem Erfolg am Broadway, auch eine Filman­frage aus Holly­wood steht in Aussicht. Hier, an der Côte d'Azur, nimmt er die Arbeit an seinem nächsten Buch auf, mit dem er endgültig zum größten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart avancieren will.

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Seitenzahl: 160

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Emily Walton

Der Sommer, in dem F. Scott Fitzgeraldbeinahe einen Kellner zersägte

EMILY WALTON

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2016

© 2016 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: shutterstock | Lucky Team Studio

Covergestaltung: Alexandra Schepelmann, schepelmann.at

Foto S. 165: HOTEL BELLES RIVES

ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-152-1

ISBN E-Book: 978-3-99200-153-8

Für Philipp

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Ausgewählte Bibliografie

1

Eine sanfte Windbrise bewegt die großen, wächsernen Blätter der Palmen im Garten. Möwen gurren in der Ferne. Die milchige Frühjahrssonne taucht das Draußen, die Côte d’Azur, in ein warmes, grüngelbes Licht.

F. Scott Fitzgerald sitzt an seinem Schreibtisch. Es ist höchste Zeit für einen Brief an Maxwell Perkins, auch wenn sein Verleger und Freund das Schreiben ohnehin erst gute zwei Wochen später auseinanderfalten wird. Fast 6500 Kilometer trennen Scotts neues Arbeitszimmer im südfranzösischen Nest Juan-les-Pins von New York, jener Metropole, die er vor zwei Jahren verließ, um in Europa länger und besser von seinem Geld leben zu können. Geld. Dieses merkwürdige, weltregierende Etwas, das ihm ständig zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint.

Draußen vor dem Fenster spendet die überdachte Veranda Schatten. Der Raum ist kühl und ein wenig zu dunkel, aber noch stört dies Scott nicht. Schließlich ist das Haus geräumig, es bietet genügend Platz für den Schriftsteller, seine Frau Zelda und Tochter Scottie, das viereinhalbjährige Ein und Alles.

„Ich bin glücklich wie seit Jahren nicht mehr“, schreibt er auf das Papier, das mit 15. März 1926 datiert ist. „Es ist einer dieser außergewöhnlichen, kostbaren und viel zu vergänglichen Momente, in denen alles im Leben gut zu laufen scheint.“

Hier in der Villa Paquita, einen kurzen Fußmarsch vom Meer entfernt, ist die Mühsal der vergangenen Monate in weite Ferne gerückt. Die Enttäuschungen des Vorjahres schmerzen weniger. Scott hat im letzten Halbjahr zu akzeptieren gelernt, dass der Traum, sich mit dem Großen Gatsby als Fixstern am literarischen Firmament zu positionieren, nicht in Erfüllung gegangen ist; dass das Buch nicht den Verkaufserfolg mit sich brachte, den er sich erhofft hatte. Selbst wenn befreundete Literaten und Kritiker die Form und den Inhalt in ihren Briefen loben und die Einzigartigkeit des Romans erkennen, gilt das knappe Werk für Buchhändler und Durchschnittsleser nur als ein weiteres Buch des Autors von Diesseits vom Paradies. Jenem Roman, der Scott vor sechs Jahren – er war gerade dreiundzwanzig Jahre alt – binnen weniger Wochen in Amerika zum Star machte: als Chronist des Jazz-Age, als Beobachter der Reichen, der Schillernden und der Jungen. Eine Zeit lang hat Scott sich mit diesen Beschreibungen identifiziert. Nun aber, da das 1920er-Jahrzehnt voranschreitet und er selbst älter wird, ist es Zeit, diese Rolle abzulegen. Seine Bücher sollen bloß nicht mit reißerischen Zitaten wie „noch ein fulminantes Buch des Autors von Diesseits vom Paradies“ geschmückt werden. Scott will in den Rang der besten und seriösesten amerikanischen Schriftsteller emporsteigen.

Sein Ego hat Monate gebraucht, um sich von der Gatsby-Enttäuschung zu erholen. Die Bedingungen im vergangenen Winter in Paris waren dafür nicht gerade förderlich, hier an der Riviera aber verschwimmen die Bilder der vielen durchzechten Nächte in der französischen Hauptstadt zu einem einzigen Grau. Die Erinnerungen an die kalte, uncharmante und nach Kirchensakristei riechende Wohnung verblassen langsam. Die Eindrücke der hässlichen gold-violetten Tapete und der sperrigen Möbel im Stil Louis XV. werden unscharf.

Kurz nachdem der übergroße Weihnachtsbaum, schwer behangen mit allem was glänzt und funkelt, in den ersten kalten Januartagen des Jahres 1926 aus der ungeliebten Wohnung befördert worden war, hatten Scott und Zelda die Koffer gepackt. Ein Tapetenwechsel musste her. Und ein besseres Klima. Heilende Quellen in der Provinz Béarn, nahe der Pyrenäen, sollten Zeldas fortwährende Magenprobleme lindern. Die Frühstückspension in Salies-de-Béarn war jedoch nicht wesentlich besser als die Pariser Wohnung. Was bei Schönwetter und in Broschüren ansprechend geklungen hatte, entpuppte sich als ein inspirationsloser Ort. Traurige Nebensaisonstimmung erschwert selbst im besten Kurort das Gesundwerden und das Fröhlichsein. Weder Ausflüge an die Küste nach Biarritz noch das Tragen lustiger Béret-Mützen konnten Scott und Zeldas Laune heben. Als zwei von insgesamt nur sieben Gästen waren die Fitzgeralds froh, als sie die Gegend verlassen konnten.

Nun, im Fischerdorf am französischen Mittelmeer, scheint die Zeit zum Glücklichsein gekommen. Juan-les-Pins ist eher ein Teil von Antibes als ein eigener Ort. In den vergangenen Tagen hat Scott sich hier akklimatisiert. Er ist spazieren gegangen, hat Tennis gespielt und einem neugierigen Reporter vom New Yorker Fragen beantwortet.

Zwischen den wenigen Verabredungen ist genug Zeit, um sich von jenen Gefühlen treiben zu lassen, die einen während der ersten Tage an einem Urlaubsort überkommen: Spannung. Vorfreude. Neugier. Kleider und Anzüge werden aus den unzähligen Koffern gezogen, die Möbel in der Villa nach dem eigenen Geschmack zurechtgeschoben. Selten wird ein Wetterbericht mit mehr Aufmerksamkeit gelesen.

Es sind erwartungsschwangere Tage, erfüllt von Gedanken an das, was die nächsten Monate bringen werden: türkisblaues Meer, sattgrüne Bäume, Spazierfahrten entlang der Corniche, kühle Cocktails in der Abendsonne. Von der leicht salzigen Luft, der milden Brise und den weiß glänzenden Steinklippen hat Scott die langen Wintermonate hindurch geträumt. Er liebt seine Rivierra, auch wenn er sie selten richtig buchstabiert. In sentimentalen Momenten, alleine mit Stift und Papier, sehnt er sich danach, für immer hier zu bleiben, gar seinen Lebensabend am Mittelmeer zu verbringen. Die Gedanken, das Leben mit dreißig enden zu lassen, die ihn noch vor Kurzem in finstereren Lebensphasen plagten, sind weit weg. Mit neunundzwanzigeinhalb fühlt Scott sich jung, dynamisch, optimistisch – durchaus gewappnet für den runden Geburtstag Ende September. Dreißig ist nicht das Ende, sondern ein Neuanfang.

Die Côte d’Azur ist Scotts persönliches Paradies. Hier ist er entspannt, losgelöst und frei von Verpflichtungen. Es gibt weniger Versuchungen als in Paris – kaum wilde Partys oder Dinnereinladungen. Die Riviera ist der perfekte Ort für kreative Ergüsse und Schreibwut. Das weiß er, seitdem er hier vor zwei Jahren seinen Roman Der große Gatsby vollendet hat. Er erinnert sich noch gut daran, als er das Manuskript von seinem Aufenthaltsort Saint-Raphaël, etwas weiter die Küste entlang, nach Nizza zum Abtippen brachte. Abgesehen von den Zentren Cannes und Nizza und weiter im Osten noch Monaco, ist die Küste nicht mehr als eine Kette kleiner Dörfer. Zu weit von Paris entfernt, um für Touristen attraktiv zu sein. Zu simpel, zu einfältig, zu unaufregend. – Noch.

Im Vorjahr haben Scott und Zelda sich zum ersten Mal in Juan-les-Pins, diesem unscheinbaren Nebenort von Antibes, für einen Monat eingemietet. Ihre guten Freunde Sara und Gerald Murphy haben sie hierher gelockt, um mit ihnen den Sommer zu feiern. Dieses schillernde amerikanische Paar, das Künstler wie Picasso, Léger und Strawinsky um sich sammelt, gilt als Verkörperung des guten Geschmacks. Der August 1925 wird Scott immer als der Sommer der 1000 Partys in Erinnerung bleiben. Die Losgelöstheit weckte seine Kreativität – er hatte zündende Eingebungen für einen neuen Roman. Endlich konnte er den Plot, an dem er schon ein paar Wochen tüftelte, genau vor Augen sehen.

Nun, sieben Monate später, ist er zurückgekehrt, um seine Ideen zu Papier zu bringen: Der neue Roman soll eine bewegte Geschichte über das Leben der amerikanischen Expats an der südfranzösischen Küste erzählen. Im Zentrum sieht Scott einen jungen Helden, einen Filmtechniker, der seine Mutter umbringt. Einen Arbeitstitel hat er schon: Our Type. Aber dieser wird nicht lange halten. Nach The World’s Fair und vielen weiteren Überlegungen wird der Roman unter dem endgültigen Titel Tender is the Night (Zärtlich ist die Nacht) veröffentlicht werden.

Mit der Aussicht auf einen lang gedehnten Sommer an der französischen Riviera ist es der beste Zeitpunkt, um einen Roman zu beginnen. Scott hat neuen Mut. Das Selbstbewusstsein ist zurückgekehrt. Dazu trägt auch die finanzielle Sicherheit bei. Obwohl die Verkaufszahlen des Großen Gatsby mäßig waren, wurde das Buch inzwischen auch in England publiziert und läuft nun mit überraschend großem Erfolg am New Yorker Broadway. Scott würde gerne selbst sehen, wie der berühmte Regisseur Owen Davis das Stück inszeniert hat und wie der Hauptdarsteller James Rennie sich als Gatsby macht, doch der Aufwand, mit einem Schiff den Atlantik zu überqueren, wäre zu groß. Stattdessen vertraut er auf die Meldungen von Bekannten; die überzeugendste Kritik ist vor wenigen Tagen von seinem Freund Ring Lardner eingetrudelt: Das Theater war selbst beim schlimmsten Unwetter fast ausverkauft. Und das, obwohl alle New Yorker Schulen und Ämter wegen des Schneesturms geschlossen hatten und einer der Hauptdarsteller sich verspätete und erst zu Beginn des zweiten Akts erschien.

Scott ist dankbar, dass er weit weg ist von der New Yorker Kälte und sein Konto aufgepolstert wird, ohne dass er dafür einen Finger rühren muss. Etwa 18.000 Dollar wird er bekommen, die hier in Frankreich aufgrund des Wechselkurses ein Vielfaches wert sind. Und es kommt noch besser. Der transatlantische Geldstrom verspricht bald schneller zu fließen: Hollywood hat sich zwar Zeit gelassen, nun aber hat Paramount Pictures um die Filmrechte des Großen Gatsby angefragt.

In all der Aufregung um die Gatsby-Verwertungen gehen die guten Rezensionen zu Scotts jüngstem Werk beinahe unter. Es ist fast schon Tradition beim Charles Scribner’s Sons Verlag, dass jedem Roman von Scott eine Sammlung mit Kurzgeschichten folgt. Im Februar wurde All the Sad Young Men mit neun Short Storys veröffentlicht. Seine Freunde schicken ihm aus Amerika ausgeschnittene Zeitungskritiken zu. Gutgesinnte Rezensionen tun seinem noch fragilen Ego gut. Die beste Medizin ist aber das Lob seines großen Idols: Vor ein paar Wochen hat er Post von T. S. Eliot bekommen, jenem Mann, den Scott für den größten Poeten der Gegenwart hält. Ausgerechnet diesem Schriftstellerkollegen hat er imponiert: Drei Mal habe er den Großen Gatsby gelesen, schreibt er. Und dass er glaube, das Buch sei für die amerikanische Literatur richtungsweisend. Wenn Der Große Gastby T. S. Eliot schon dermaßen beeindruckt hat, was wird er wohl von Scotts viertem Roman halten?

In seinen Tagträumen, hier in der noch milchigen Sonne der Riviera, malt Scott sich aus, welch große Sensation sein nächster Roman sein wird. Diese Veröffentlichung wird ihn zur wahren literarischen Größe emporheben; wird ihn berühmt machen wie James Joyce, von dem in Paris gerade alle schwärmen; wird den Wendepunkt seiner Karriere markieren. Dieser Roman wird ihn endgültig von der Qual erlösen, zeitraubende Kurzgeschichten schreiben zu müssen, um seinen Lebensstil aufrechtzuerhalten. Davon ist er überzeugt. F. Scott Fitzgerald träumt nicht im Konjunktiv.

Er hat keine Eile, seinen Brief zu verfassen. Draußen, in der kleinen Fußgängerzone rund um das örtliche Casino und im schattigen Park unter den Pinienbäumen, passiert nicht viel. Genug Ruhe, um noch eine Weile in Gedanken zu verharren. Scott ist halb in Paris, halb in New York; beim einen und beim anderen Freund. Sein Freund aus Paris, Ernest, ist gerade von einem Besuch bei Maxwell Perkins in New York zurückgekehrt – mit einem Verlagsvertrag und einem Vorschuss von 1500 Dollar in der Tasche.

„Ich bin froh, dass du Hemmingway bekommen hast“, schreibt Scott weiter an seinen Verleger. Er kann es nicht lassen, wieder und wieder in Erinnerung zu rufen, dass er für dieses neue Bündnis verantwortlich ist. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Frankreich 1924 – und noch bevor er Ernest persönlich kannte – hat Scott Maxwell geschrieben, um ihm von Ernest zu erzählen. „Er ist das Wahre“, schwärmt er seinem Verleger vor. Seit dem Kennenlernen des jungen Amerikaners in der Pariser Dingo Bar im Vorjahr hat er noch enthusiastischer Brief um Brief nach New York gesandt, um Maxwell von Ernest zu überzeugen. Nun ist es ihm endlich gelungen, den unbekannten Ernest in seinen „Stall“, den Charles Scribner’s Sons Verlag, zu holen. Und das, obwohl er seinen Nachnamen stets falsch buchstabiert. Hemmingway. Manchmal verzichtet er sogar auf das g.

Scott unterzeichnet den Brief mit „Dein Freund Scott“ und fügt noch einen Nachsatz hinzu, der einfach nicht unerwähnt bleiben kann. Zu lange wartet er schon darauf, endlich diese Worte schreiben zu können. „Zum ersten Mal seit vier Jahren bin ich meine Schulden bei dir los.“ Manche würden ans Ende ein Ausrufezeichen setzen. Scott lässt den Satz als nüchterne Aussage stehen, als ahne er bereits, wie flüchtig ein ausgeglichener Kontostand sein kann.

Oben auf dem Briefkopf steht seine neue Adresse:

Villa Paquita

Juan-les-Pins

Alpes Maritime

France

Gelegentlich versucht er, seinen Freunden auf der anderen Seite des großen Teichs seinen Aufenthaltsort zu erklären. Er zeichnet auf einer selbst skizzierten Karte einen kreisrunden Punkt zwischen Nizza und Cannes ein. Juan-les-Pins bildet das obere, westliche Stück des grünen, sonnigen Cap d’Antibes.

Früher, bei seinem ersten Aufenthalt an dieser Küste, lag der Punkt noch deutlich weiter im Westen. Zuerst in Hyères, 1924. Die Hitze, die verlassenen Straßen und das Ziegenfleisch, das man den Fitzgeralds im Hotel servierte, ließen sie allerdings rasch weiterziehen. Sie probierten eine luxuriöse Villa in Saint-Raphaël aus, 50 Kilometer von ihrem jetzigen Domizil. Damals machte es ihnen nichts aus, dass sie durch eine aussichts-, aber auch kurvenreiche Straße von ihren neuen Bekannten Gerald und Sara Murphy getrennt waren. Inzwischen, zwei Jahre später, sind die Murphys zu gute Freunde geworden, um weit weg zu wohnen. Sie haben in ihrer Villa America auf dem Cap, nur eine kurze Autofahrt von Scotts und Zeldas Sommerresidenz entfernt, schon sehnsüchtig auf die Fitzgeralds gewartet.

2

Gerald Murphy stützt seinen schlanken Körper auf einem Rechen ab. Einen großen Teil des Strands von La Garoupe hat er schon von Algen und Treibgut befreit. Täglich kommt er hinunter in die kleine Bucht, um den Strand präsentabel zu machen – für seine Frau Sara, für seine drei Kinder Honoria, Baoth und Patrick und für seine Gäste.

Er müsste es nicht tun. Der Strand gehört ihm nicht, er ist öffentlich zugänglich. Seine Familie und Freunde könnten auch in seinem riesigen, von mehreren Gärtnern gepflegten Garten entspannen, der in der Mitte des Caps oberhalb des Strands liegt. Ein 7500 Quadratmeter großes Grundstück, in dessen Herzen eine neu renovierte Villa steht, müsste ausreichen, um ein paar Decken auszubreiten und Liegen aufzustellen. Aber Gras ist eben nicht Sand. Gemüsebeete ersetzen kein Meer. Und wenn es schon eine kleine, menschenleere Bucht gibt, nur wenige Gehminuten vom Garten entfernt, wäre es wahrlich dumm, diese nicht zu nützen.

Gerald zieht mit dem Rechen saubere, gerade Linien in den Sand. Seine Bewegungen sind routiniert, haben geradezu etwas Meditatives an sich. Doch der Sohn eines renommierten, in New York ansässigen Lederwarenhändlers ist nicht der spirituelle Typ. Er ist ein Ordnungsliebhaber; ein Mann, der in Listen, Karten und Tagesplänen denkt, als würde er ein Skript für sein Leben schreiben.

Punkt 1 auf der Tagesordnung: Strand rechen.

Näher ist der achtunddreißigjährige Mann aus Boston der Landschaftsplanung, die er für eine kurze Zeit in Harvard studierte, nicht gekommen. Auch sein Yale-Studium braucht er für das Leben hier auf dem Cap nicht wirklich. Die Zeit an der Universität ist eine Phase in seinem Leben, an die er sich ungern erinnert. Gerald war weder ein herausragender Student noch Sportler und musste durch gesellschaftliche Aktivitäten auf sich aufmerksam machen: Er wurde Mitglied von Delta Kappa Epsilon, kurz DKE, der exklusivsten Studentenverbindung auf dem Campus. Auch als Manager der studentischen Schauspiel- und Musiktruppe Apollo Glee Club verschaffte er sich Ansehen. Er fand viele Bekanntschaften, schloss aber kaum Freundschaften und fühlte sich fremd. Vergeudete Jahre, findet er, wenn er jetzt, Jahre später, an das Studium an der amerikanischen Ostküste zurückdenkt.

Und doch verdankt er sein Glück hier, an diesem kleinen Strand von La Garoupe, in gewisser Weise Yale. Es ist schwer zu sagen, ob sich seine Wege sonst mit denen von Cole Porter gekreuzt hätten, jenem jungen, talentierten Musiker, den er für den Glee Club gewann. Ob sie jemals so gute Freunde geworden wären, dass sie gemeinsam auf Urlaub fahren würden?

1922 macht Cole gerade seine Anfänge als Musiker und ist noch weit entfernt von seinen großen Erfolgen am Broadway. Seinen Hang für ausgefallene Urlaubsziele hat er bereits und er entscheidet sich in diesem Sommer für einen Aufenthalt in Südfrankreich. Er kennt die Gegend aus seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg. Das Cap d’Antibes ist eine wesentlich klügere Wahl als jene der Murphys. Gerald und Sara folgen in diesem Sommer, ganz entgegen ihrem sonst so avantgardistischen Stil, der Masse. Wer in Paris etwas auf sich hält, „übersommert“ und verbringt die heißen Monate am Ärmelkanal. Die Normandie ist die französische Version von New Yorks Hamptons – ein Ferienparadies der Gutsituierten am Ostzipfel von Long Island, das Gerald und Sara beide nur zu gut aus Jugendjahren kennen. Saras Vater, Frank Wiborg, hat schon früh ein riesiges Anwesen in dieser vielversprechenden Sommerdestination erworben und Gerald war ein häufiger Gast der Wiborg-Schwestern. Der Unterschied zwischen den Hamptons und der französischen Atlantikküste ist unübersehbar: In der Normandie sind die Chancen auf ungetrübten blauen Himmel, wärmende Sonnenstrahlen und ruhiges Meer deutlich geringer als an den amerikanischen Ufern.

Honoria, viereinhalb Jahre alt, Baoth, drei, und Patrick, noch nicht einmal zwei, werden mit Eselreiten und Sandburgbauen trotz wolkenverhangenem Himmel bei Laune gehalten. Doch wenn es am Strand zu regnen und zu winden beginnt, fällt selbst den größten Optimisten Urlaubsstimmung schwer. Wie gerufen kommt da die Einladung von Cole und seiner Frau Linda aus Südfrankreich: Wer sagt schon Nein zu einer Urlaubswoche umgeben von Palmen, Meer und Sonnenschein?

Die meisten. In der Sonne sitzen und schwitzen ist Anfang der 1920er-Jahre nicht chic. Demzufolge ist die Côte d’Azur im Sommer nicht chic. Zwar haben sich die Zentren Cannes, Nizza und Monte Carlo schon als Touristendestinationen etabliert – allerdings nur während des Winters. Die Hivernants, überwiegend Engländer, fliehen spätestens Ende April, wenn das Quecksilber im Thermometer steigt, zurück zu ihren eigenen kühlen Temperaturen.

Die Murphys fühlen sich am Mittelmeer, das so viel freundlicher wirkt als der stürmische Ärmelkanal, auf Anhieb wohl. Selbst wenn die Einheimischen über die sonnenhungrigen Amerikaner die Stirn runzeln und den Kopf schütteln. Fou. Verrückt. Bête. Dumm.

In den frühen 1920er-Jahren ist Antibes ein verschlafener, weitgehend unbekannter Ort. Wenn man den Namen gehört hat, dann vielleicht im Zusammenhang mit Napoleon, der hier gelandet war, nachdem er seinen Verbannungsort, die Mittelmeerinsel Elba, 1815 verlassen hatte.

Viel zu bieten hat das Fischerdorf nicht: einen Bahnhof, einen Marktplatz und eine zitronengelbe Kirche. Ein Kreuz und Quer aus engen Gassen, in denen sich pastellfarbene Häuser aneinanderreihen, vor den Fenstern prall bepflanzte Blumenkästen mit den buntesten Blüten. Pittoresk, aber langweilig und abgeschieden. Wer von Antibes aus telefonieren will, muss dies während begrenzter Stunden tun: In der Telefonzentrale genießen die Mitarbeiter eine mehrstündige Mittagspause, pünktlich um 19 Uhr ist Feierabend. Zu viel Unterhaltung darf man sich auch nicht erwarten: Das Kino öffnet nur einmal in der Woche die Pforten für all jene, die bereit sind, für einen neuen Film den muffigen Geruch im Saal zu ertragen.

Auf dem Cap d’Antibes, der Halbinsel südwestlich des Ortes, weilt der Luxus: Eine Handvoll mehr oder weniger schlichter Villen steht hier. Das Château de la Garoupe