Der Sommer mit dir - Adriana Popescu - E-Book

Der Sommer mit dir E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Wie ich unterwegs mein Herz verlor und mein Zuhause fand

Als Cleo an einem schönen Sommerabend mit ihrem Rucksack in den Nachtzug nach Süden steigt, will sie nur eines: weg von allem, was sie kennt. Gabriel hingegen weiß genau, wo er hinwill: In den Semesterferien mit dem Zug nach Budapest, den geerbten VW-Bus seines Opas abholen, und ihn dann daheim teuer verscherbeln. Doch als die beiden sich zufällig im selben Abteil begegnen und gemeinsam durch die Nacht reisen, sind auf einmal alle Pläne nicht mehr so wichtig. Nur, wohin das Schicksal sie treibt. Und so beginnt ein unvergesslicher Roadtrip quer durch Europa, an dessen Ende nichts mehr ist, wie es war ...
Eine große dramatische Liebesgeschichte von der Meisterin des romantischen Roadtrips. Für alle Fans von Adam Silvera, Ali Hazelwood und Laura Nowlin

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EPUB
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Seitenzahl: 404

Veröffentlichungsjahr: 2025

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ADRIANA POPESCU

DER

SOMMER

MIT

DIR

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TRIGGERWARNUNG

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deswegen findet ihr hier einen Hinweis.

Dieser enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.

Erstmals als cbt Taschenbuch Mai 2025

© 2025 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

www.cbj-verlag.de

Umschlagkonzeption: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung eines Fotos von © iStockphoto (Oleh_Slobodeniuk)

MP · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29375-8V002

1

Gabriel

DAVOR

Ein rechteckiger weißer Fleck an einer sonst ziemlich grauen Wand.

Komisch, bevor ich das Bild abgenommen habe, kam mir die komplette Zimmerwand strahlend weiß vor, aber jetzt bemerke ich, wie grau und schmutzig vom Alltag und falschen Lüften hier alles ist. Nur dort, wo bis eben noch das gerahmte Foto hing, ist die Farbe wirklich weiß.

»Wir sehen uns dann nach dem Sommer. Pass auf dich auf!«

Hannes klopft mir auf die Schulter, für mehr bringt er weder die Zeit noch die Empathie auf. Er wird Verwandte in Amerika besuchen, dort entspannen und dann mit einem Koffer voller neuer Anekdoten und Insider-Infos zur amerikanischen Wirtschaft wieder hier aufschlagen.

Hier in unserem winzigen Studentenwohnheimzimmer.

Ihm ist auch der helle Fleck an der Wand nicht aufgefallen, dafür hat er nicht lange genug zu meiner Seite des Zimmers geschaut. Und noch bevor ich ihm ebenfalls eine Verabschiedung hinterherrufen kann, höre ich schon, wie die Tür ins Schloss fällt. Dann bin ich alleine.

Mit Hannes verschwindet der Lärm nicht nur aus dem Zimmer, sondern auch aus meinem Leben. Er nimmt die konstant zu laute Musik mit, wie auch die Gespräche über wilde Partys, andere Studenten oder die Mädels, die er kennengelernt hat. Die Stille, die bleibt, hüllt mich ein, als hätte jemand meinen Körper in Luftpolsterfolie gewickelt, und ich atme tief durch.

Die leere Stelle an der Wand bleibt unverändert, auch wenn ich den Eindruck habe, sie breitet sich rasend schnell aus – und erfüllt mich mit Leere.

Es ist nur ein Foto. Eines, das ich mitnehmen will, weswegen ich jetzt die Rückseite des edlen Bilderrahmens öffne, das Bild herausnehme und umdrehe.

Es ist nur ein Schnappschuss, einer, der es in kein Fotoalbum oder in einen Social-Media-Feed schafft und den ich dennoch gerne ansehe. Auf dem Foto lache ich so schallend, dass ich fast zu hören meine, wie es von den nun kahlen Wänden widerhallt. Hinter mir erkennt man das Meer, die rauschenden Wellen, und der Wind hat unsere Frisuren – oder das, was noch davon übrig war – ziemlich durcheinandergebracht. Wieder muss ich lächeln, streiche mit dem Finger über die Oberfläche, die nicht mehr so glatt ist wie vor Jahren, aber dadurch fühlt es sich nur noch echter an. Als könnte ich die Haut der Menschen auf dem Foto wirklich unter meinen Fingern spüren. Einen kurzen Moment ist es, als wären sie noch da, auch wenn ich nur zu genau weiß, dass dem nicht so ist. Vorsichtig falte ich es zusammen, bevor ich es zwischen Handyhülle und Smartphone klemme und schließlich einstecke.

Einen Blick gönne ich mir noch, betrachte das winzige Zimmer, in dem ich mein erstes Semester verbracht habe, die Nase in viel zu dicke Bücher gesteckt, bei dem Versuch, mir alles zu merken, um es in der Klausur korrekt abspulen zu können. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Jahrgangsbester bin ich sicher nicht, aber im Mittelfeld schwimmt es sich auch ganz gut.

Mein Handy klingelt, aber ich ziehe es nicht wieder hervor, ahne ohnehin, wer mich anruft und warum. Statt mich damit auseinanderzusetzen, schnappe ich mir den großen Reiserucksack, der schon zahlreiche Trips, Ausflüge und ganze Urlaube mitgemacht hat, und schultere ihn gekonnt.

»Wir sehen uns dann nach dem Sommer.« Zu wem ich das sage, weiß ich auch nicht so genau, weil niemand mehr hier ist und dieses Zimmer mir wohl kaum zum Abschied zuwinken oder gar antworten wird.

Bevor ich mich aber endgültig umdrehe und gehe, bleibt mein Blick noch mal bei dem hellen Fleck an der Wand hängen, wo das Foto von uns am Strand in Frankreich hing.

Meine Lippen zucken zu einem kurzen Lächeln, weil die Erinnerung für immer dieser sonnige Fleck in meinem sonst trüben Leben bleiben wird.

2

Cleo

EINROTERUNDEINSCHWARZERTURNSCHUH.

Ich halte die Kamera meines Handys so, dass man die Schienen im Hintergrund zumindest erahnen kann, denn näher traue ich mich nicht an die Bahnsteigkante. Schnell knipse ich einige Fotos und mache hastig einige Schritte wieder zurück, wo ich meine Aufnahmen prüfe, mich direkt für die erste entscheide und sie in den Chat packe.

Wir sind unterwegs!, schreibe ich darunter und schicke es ab. Vermutlich wird Livi die Nachricht erst später sehen, denn um die Uhrzeit sollte sie schlafen, auch wenn sie mir versprochen hat, mich zumindest virtuell bis in den Zug zu begleiten.

Zugestellt ist das Foto, aber noch nicht angesehen. Es wird also eine Nachricht aus meinem Jetzt, die schnell zur Vergangenheit und erst in Livis Zukunft gelesen wird, wenn ich schon längst in Richtung Villach unterwegs sein werde.

Die Aufregung kribbelt seit Tagen in meinem Körper, war da, als ich diesen riesigen Rucksack viel zu voll gepackt habe und auch, als ich die genaue Planung des Trips in mein Handy getippt habe.

Jetzt trennt mich nur eine typische Verspätung der Deutschen Bahn von dem Beginn meines großen Sommerabenteuers. Auch wenn das schon jetzt anders abläuft als ursprünglich geplant.

»Achtung an Gleis 7. Der EC 820 fährt ein.«

Nur knapp elf Minuten Verspätung. Elf Minuten, die mir um diese Uhrzeit wie eine Ewigkeit vorkommen, alleine mit besagtem riesigem Rucksack und ein paar zwielichtigen Typen, die den Snackautomaten bearbeiten, dabei laut lachen und nicht gerade einen nüchternen Eindruck machen. Wohl in der Hoffnung, er würde ihnen kostenlos ein Snickers ausspucken, wenn sie nur lange genug darauf einhämmern.

Umso erleichterter bin ich, als der Wind des einfahrenden Zuges meine Haare durcheinanderbringt und ich mir einbilde, das sei die heranrauschende Freiheit.

Kurz sehe ich auf mein Handy, aber Livi hat mir noch immer nicht auf das Foto geantwortet. Die letzten Nachrichten in unserem Chat sind deutlich von ihrem schlechten Gewissen geprägt, aber gegen einen entzündeten Blinddarm, der in einer Not-OP rausmusste, ist sogar sie machtlos.

Der Zug kommt schließlich am fast leeren Bahnsteig zum Stehen und wirkt dabei fast etwas enttäuscht, weil niemand applaudiert oder ihn angemessen empfängt. Ich bin also schon mal nicht das erwartete Publikum. Das lautstarke Piepen kündigt das Öffnen der Türen an, und ich atme tief durch, halte die Träger meines Rucksacks fest und sage mir das Mantra der letzten Tage noch mal stumm für mich auf.

Das wird der Sommer deines Lebens, Cleo Barfuss.

Wie immer sehe ich dann auf meine Schuhe, als müsste ich mich selbst davon überzeugen, dass das nur mein Nachname und nicht der aktuelle Zustand meiner Füße ist.

Ein roter und ein schwarzer Turnschuh. Weil Livi und ich die gleiche Schuhgröße und einen ähnlichen Modegeschmack haben, trage ich jetzt einen ihrer Schuhe, damit sie zumindest ein bisschen mit auf dieser Reise dabei ist. Sie hat mir zwar davon abgeraten, mich für die Chucks zu entscheiden, weil ich mir damit auf dem Trip sicher Blasen laufen würde, aber davon abhalten konnte sie mich nicht.

»Cleo Blasenfuss.« Dann hat sie gelacht, bis der Schmerz der frischen OP-Narbe an ihrer Leiste zu groß wurde und ihr die Tränen in die Augen geschossen sind. Aber auch weil wir unseren letzten Sommer getrennt voneinander verbringen werden. Während sie langsam wieder auf die Beine kommt, soll ich das Abenteuer wagen – auch für sie mit, wie der rote Turnschuh an meinem Fuß beweist.

Letzte Chance.

Ich starre auf die geöffnete Tür des Zuges, der mich aus der Münchner Nacht irgendwie in Richtung Kroatien bringen soll. Falls ich es wirklich bis dahin schaffe, denn gerade verlässt mich ein bisschen der Mut. Kurz betrachte ich unschlüssig die Zugtür, denn dahinter könnte sich ja auch eine neue Welt verstecken, auf die ich die ganze Zeit gewartet habe.

»Das wird der Sommer deines Lebens.« Diesmal spreche ich es flüsternd aus, weil auf dem Bahnsteig außer mir und den Kerlen am Snackautomaten niemand mehr steht. Einsteigen oder den letzten großen Sommer daheim in der Dachgeschosswohnung mit meiner Mutter in München Sendling verbringen. Während die meisten meiner Freunde die große Freiheit vor dem Ernst des Lebens genießen.

Lotta, Mats, Emily und Niklas sind in Kroatien.

Niklas.

Kurz zwickt es bei dem Gedanken irgendwo in meinem Brustkorb, aber dann ist das Gefühl auch schon wieder weg. Inzwischen kommt es nur noch selten zu Besuch und verschwindet immer schnell wieder, bevor es sich einnisten und mich daran erinnern kann, wie unschön das mit uns auseinandergegangen ist.

Schnell sehe ich mich um, hoffe fast, dass Livi doch noch auftaucht, weil ihre Genesung auf magische Weise beschleunigt wurde, aber da ist niemand. Ich greife nach der Einstiegshilfe, da ertönt erneut das mechanische Piepen, das diesmal das Schließen der Türen ankündigt. Mit einem großen Schritt steige ich ein, gerade noch rechtzeitig, denn ich spüre, wie die sich schließende Tür hinter mir meinen Rucksack streift und mich quasi ins Innere des Zuges schubst, als gäbe es kein Zurück mehr.

Der Zug setzt sich in Bewegung, und ich halte mich noch immer an dem kühlen Metallgriff fest, bin nicht gewillt, ihn loszulassen, bevor ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe.

Ich habe es wirklich getan. Mein Versprechen gehalten. Das an Livi, vor allem aber das an mich selbst.

Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Eines, das nicht aufhören will zu wachsen, und das ich die ganzen letzten Wochen nicht mehr so intensiv gespürt habe. Dazu gesellen sich jetzt auch wieder das Kribbeln auf der Haut und der tanzende Herzschlag. Genau so muss es sich anfühlen, so wird es in all den Songs beschrieben, in meinen Lieblingsfilmen und -büchern, nur bin diesmal ich der Main Character, und zwar einer, der nun endlich den Griff loslässt und einen Fuß vor den anderen in sein Abenteuer tritt.

Jetzt gehört das Leben endlich mir.

3

Cleo

ESFÄLLTMIRLEICHT, DIEFÜSSEMUTIGIMMEREINENVORDEN anderen zu setzen, weil einer der Schuhe Livi gehört und ich sie so im wahrsten Sinne des Wortes bei jedem Schritt bei mir habe. Doppelten Mut im Gepäck, wenn man es so will. Und den werde ich auch brauchen, denn gerade bringt mich ein Nachtzug zur ersten Station meines Trips nach Ljubljana, einer Stadt in Slowenien, die ich nicht mal fehlerfrei aussprechen kann.

Eine Sitzplatzreservierung habe ich nicht, weil auch das laut Livi zum Abenteuer dazugehört. Aber zu dem Zeitpunkt sind wir auch noch davon ausgegangen, dass wir zusammen diesen letzten Sommer verbringen würden. Kurz sehe ich auf das Smartphone in meiner Hand, finde aber keine Antwort im Chat, was ein sicheres Zeichen sein dürfte, dass sie bereits eingeschlafen ist. Noch liegt meine Freundin im Krankenhaus, in einem sterilen Doppelzimmer mit einer anderen Frau, die zum Einschlafen immer Regengeräusche hört und Livi damit fast in den Wahnsinn treibt.

Ihr sehnsüchtiger Blick fällt mir wieder ein, als wir uns verabschiedet haben und sie mir das Versprechen abgeknöpft hat. Eines, das ich nun offiziell eingelöst habe und worauf ich schon ein bisschen stolz bin. Mit entsprechendem Schwung betrete ich den nächsten Wagon, in dem einige Jungs im schmalen Gang zwischen den Sitzen stehen und gemeinsam in einem Rucksack wühlen. Kaum bemerken sie mich, drehen sie sich ertappt zu mir um, und mein Körper reagiert sofort, weil ich genau checke, dass hier irgendwas nicht stimmt.

Ihr kollektives Gruppengrinsen ist schief, die Augen sind etwas glasig und in Kombination mit dem starken süßlichen Geruch im Wagon verrät es mir, dass ich gerade in einen frischen Tatort gestolpert bin.

Einer von ihnen löst sich aus der Clique, steckt etwas in seine Hosentasche und kommt dann lässig auf mich zu. Er kann kaum älter als achtzehn sein, trägt ein weißes Unterhemd zur grauen Jogginghose. Seine sehr blonden Haare unterstreichen seine blasse Haut.

»Hallo, schöne Frau.« Die anderen drei Jungs hinter ihm kichern sofort, als hätte der Typ im Unterhemd den Gag des Jahrhunderts gerissen.

Sofort verschränke ich die Arme, recke das Kinn und denke an all die True-Crime-Podcasts, die ich zum Einschlafen höre. Ich werde mir meine nahende Unsicherheit ganz sicher nicht vor ihnen anmerken lassen.

»Ich sagte: Hallo, schöne Frau.« Er wiederholt es etwas lauter, sein Grinsen wird breiter, aber ich fühle mich aus verschiedenen Gründen nicht wirklich angesprochen.

»Hi. Kann ich mal durch?«

»Wieso denn so unfreundlich, schöne Frau?« Er legt dabei den Kopf etwas schief, lässt gleichzeitig seinen Blick über meinen Körper wandern. Auf eine Art und Weise, die mir gar nicht gefällt.

»Ich will nur durch zu meinem Platz.« Dabei sehe ich zu den anderen, die noch immer mit dem verwaisten Rucksack beschäftigt sind, wahllos T-Shirts und andere Kleidungsstücke herausziehen und achtlos auf die Sitze neben sich fallen lassen. »Sagt mal, ist das überhaupt euer Zeug?« Für diese Frage packe ich meine Lehrerinnenstimme aus, wie Livi sie immer nennt. Streng und bestimmt lässt sie keinen Platz für Bullshit-Antworten.

Nur funktioniert das bei dem Typ im Unterhemd vor mir nicht so recht. Er legt beide Ellbogen auf die Kopfstützen der Sitze links und rechts vom Gang und grinst mich an. »Natürlich ist das unser Zeug.«

Wieder wird sein Kommentar von Gelächter begleitet, was nur dazu führt, dass sich das ungute Gefühl in meinem Magen weiter ausbreitet. Außer den vier Jungs und mir ist niemand sonst im Wagon.

»Das sieht verdächtig nach einer Straftat aus.«

Kurzes Lachen.

»Ach ja? Welche denn?«

»Keine Ahnung. Hausfriedensbruch – nur eben für Rucksäcke.«

»Du hast ja richtig Humor, schöne Frau.«

»Und ihr gleich eine Beschwerde beim Bordpersonal am Hals, wenn ihr den Rucksack nicht sofort in Ruhe lasst.«

»Hört, hört, wir haben hier wohl eine angehende Anwältin oder so was.« Er dreht sich zu seinen Jungs, die nur lachend den Kopf schütteln, aber zumindest vom Rucksack ablassen. Der Unterhemd-Typ wendet sich wieder zu mir, die gespielte Freundlichkeit ist aus seinem Blick verschwunden.

»Kaum eingestiegen und schon stresst du rum. Hat man dir denn keine Manieren beigebracht?«

»Definiere Manieren.« Damit deute ich an ihm vorbei. »Lass mich vorbei, ich muss zu meinem Platz.«

Mit Livi an meiner Seite wäre das hier kein echter Grund für ein ungutes Gefühl, nur muss ich hier jetzt alleine durch.

»Wieso hast du es nur so eilig? Wir sind echt nette Jungs. Wirklich.« Er macht einen Schritt auf mich zu, was meinen Fluchtinstinkt triggert, ich weiche aber kein Stück zurück.

»Seid ihr nicht.« Wieder sehe ich zu den anderen, verleihe meiner Stimme so viel Autorität wie nur möglich. »Und ihr hört jetzt auf, in fremden Rucksäcken zu wühlen.«

»Halt dich da raus, schöne Frau.« Seine Stimme klingt jetzt auch nicht mehr höflich, und ich balle meine Hände zu Fäusten, verfluche mich innerlich, weil ich mein Pfefferspray irgendwo in den Untiefen meines Rucksacks und nicht etwa in meiner Bauchtasche verstaut habe, wie Livi es mir empfohlen hat.

»Dann lass mich durchgehen.«

»Das hier ist eine Mautstelle. Du musst schon bezahlen, wenn du durchwillst.« Er grinst mich breit an, diesmal lacht niemand, dafür spüre ich alle Blicke auf mir, begleitet von einer unangenehmen Gänsehaut.

»Verstehe.« Das tue ich wirklich, weil es nicht das erste Mal ist, dass ich in eine unangenehme Situation mit Jungs gerate. Was auch einer der Gründe ist, wieso Livi und ich an verschiedenen Selbstverteidigungskursen teilgenommen haben. »Soll ich dir erst die Nase brechen oder direkt mit dem Knie deine Kronjuwelen zerquetschen?«

Etwas blitzt in seinen Augen auf, sein Blick wird düsterer – da öffnet sich hinter ihm die Tür, ein schlaksiger Typ betritt den Wagon und sieht von den anderen Jungs beim Rucksack zu mir.

Na großartig, etwa Kumpel Nummer fünf?

4

Cleo

»WASZUMHENKERISTHIERLOS?«

Sofort weichen die anderen Jungs vom Rucksack zurück, als hätten sie sich nicht gerade durch die vermutlich schmutzige Wäsche eines Fremden gewühlt. Der Kerl im Unterhemd dreht sich von mir weg, was mir eine Chance zum Durchschnaufen gibt.

»Beruhige dich, wir haben uns nur einen kleinen Spaß erlaubt!«

»Was habt ihr mit meinen Sachen gemacht?«

Okay, Nummer fünf gehört definitiv nicht zu ihnen, denn seine Stimme klingt ziemlich sauer. Ich nutze den Moment, schiebe den Unterhemd-Typ ruppig zur Seite und marschiere mutig auf den Rucksack zu.

»Sie haben alles einfach rausgezogen und durchsucht, als ich eingestiegen bin.«

Die anderen Jungs nehmen auf verschiedenen Sitzen im Abteil verteilt Platz, unterdrücken ein Kichern und pfeifen betont unschuldig vor sich hin. Bis eben hätte ich sie auf mein Alter geschätzt, aber je näher ich komme, desto jünger kommen sie mir vor.

»Was soll der Mist?« Nummer fünf sammelt seine Sachen zusammen und stopft sie zurück in den Rucksack, wobei er zu kontrollieren scheint, ob noch alles da ist. Was nicht der Fall ist. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, seine Bewegungen werden etwas hektischer. »Wo ist meine Kamera?«

Niemand antwortet.

»Ich habe gefragt, wo meine Kamera ist!« Seine Stimme vibriert vor Anspannung.

Langsam drehe ich mich zu dem Typ im Unterhemd um, der noch immer betont lässig zwischen den Sitzen lehnt, sein Grinsen verräterisch breit. Mein Blick fällt auf seine Hosentasche, was er bemerkt und sein Gewicht so verlagert, dass die deutliche Ausbeulung dort nicht mehr zu sehen ist. Sein warnender Gesichtsausdruck gilt mir.

»Wer von euch Pfeifen hat meine Kamera, verdammt noch mal?« Nummer fünf wird lauter, auch wenn er sich Mühe gibt, gefasst und ruhig zu klingen. Doch alle weichen seinem fragenden Blick aus, sind nicht an Ärger interessiert. Er tritt neben mich, sieht zu mir runter. »Hast du zufällig gesehen, wer meine Kamera hat?«

Bevor ich antworten kann, erhellt ein Blitz den Wagon, und wir drehen uns zeitgleich zu dem Typen im Unterhemd, der just in diesem Moment ein Foto von uns gemacht hat. Mit der Einwegkamera, die er jetzt grinsend in unsere Richtung wirft, allerdings über unsere Köpfe hinweg, wo sie von einem seiner Kumpels aufgefangen wird.

Nummer fünf neben mir verliert langsam, aber sicher die Geduld. »Gib mir die Kamera sofort zurück!«

»Chill mal, wir wollen nur ein paar Schnappschüsse machen.«

Wieder wird der Blitz betätigt, wieder sind wir geblendet und wieder segelt die Kamera über unsere Köpfe hinweg. Die vielen hellen Sterne tanzen vor meinen Augen, egal wie oft ich blinzele, sie bleiben in meinem Sichtfeld.

»Hört auf mit dem Scheiß!« Jetzt klingt Nummer fünf gar nicht mehr so entspannt, macht einen Schritt auf den Typen im Unterhemd zu, der gerade wieder die Kamera hebt.

»Schön lächeln!« Erneut ein Blitz, dann holt er aus, will werfen, aber Nummer fünf blockt ihn wie ein NBA-Basketball-Profi, schnappt sich die Kamera aus der Luft und schubst seinen Kontrahenten gegen die Brust, sodass der einige Schritte zurücktorkelt.

»Oh, hey, hey, wir haben uns doch nur einen kleinen Spaß erlaubt.«

»Ihr habt mein Zeug durchsucht!«

»Und wenn schon? Waren eh nur schmutzige Klamotten drinnen. Ist nicht so, als könnte man dir was klauen!«

Nummer fünf, die Kamera noch immer fest in der Hand, starrt sein Gegenüber nieder und das so beeindruckend, dass der Typ tatsächlich noch ein paar Schritte zurückweicht und dabei die Hände hebt. »Okay, okay, ich hab’s gecheckt, du hast keinen Humor.«

Er winkt seine Kumpels zu sich, die nicht mehr grinsen, sich dafür aber, ohne mir in die Augen zu sehen, an mir und dem Rucksack vorbeischieben, bevor sie sich auf ihre Plätze an einem Vierertisch schwingen und so tun, als wäre hier eben nicht so was wie ein mittelgroßes Chaos ausgebrochen.

Nummer fünf fixiert sie alle noch einen Moment wütend, sieht dabei wirklich bedrohlich aus, was vermutlich auch an seiner Größe liegt, bevor er sich losreißt und auf mich zukommt. Mit jedem Schritt, den er näher kommt, entspannt sich sein Gesichtsausdruck, und als er mich erreicht, ist da der Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen.

»Alles okay bei dir?«

»Mir geht es gut.« Dabei deute ich auf seinen halb zerfledderten Rucksack. »Was man hiervon nicht gerade behaupten kann.«

Irgendwo bei den Jungs wird leise gelacht, allerdings nur, bis Nummer fünf ihnen einen weiteren strafenden Blick zuwirft und sie sofort wieder verstummen.

»Danke, dass du Schlimmeres verhindert hast.« Er schenkt mir ein dankbares – und überraschend süßes – Lächeln und beginnt damit, auch die restlichen Klamotten wieder in seinen Rucksack zu stopfen, dabei hält er noch immer die Kamera in der Hand. Kaum ist er fertig, schultert er seinen Rucksack und sieht wieder zu mir.

»Jetzt bist du wohl ungewollt eine fotografische Urlaubserinnerung geworden, sorry.«

Dabei bin ich mir nicht mal sicher, dass diese Fotos etwas geworden sind, und falls doch, will ich mir mein verdutztes Gesicht gar nicht vorstellen. Also zucke ich mit den Schultern. »Solange du mit dem Foto nichts Merkwürdiges anstellst.«

»Ich klebe es maximal in ein Fotoalbum.«

Wie oft wir im Leben wohl schon im Hintergrund der Fotos von Fremden gelandet sind, die in Alben eingeklebt oder in Bilderrahmen gesteckt wurden, sodass wir unwissentlich zu einem Teil eines fremden Familienurlaubs wurden.

»Schick mir einen Abzug, falls sie gut geworden sind.«

Seine Mundwinkel zucken zu einem Lächeln, das ihm sehr gut zu Gesicht steht, dann nickt er schließlich.

»Mach ich.«

Macht er nicht. Immerhin kennen wir uns nicht, er hat keine Kontaktdaten und ich werde sie bestimmt nicht einfach so einem fremden Mitreisenden geben. Nicht mal dann, wenn er so süß lächelt.

Wir sehen uns noch einen Moment lang an, ich werde das Gefühl nicht los, dass er noch etwas sagen will, doch dann nickt er nur, schnappt sich seinen Rucksack und will in Richtung Tür, als er doch noch mal stehen bleibt und sich zu mir dreht. »Dir noch eine schöne Reise.«

Von ihm werde ich Livi definitiv in der nächsten Nachricht erzählen.

»Dir noch schöne Fotos.«

5

Gabriel

VIELHABEICHOHNEHINNICHTEINGEPACKT, ABERDASWENIGE gehe ich jetzt in der Enge der Toilettenkabine des fahrenden Zuges durch, weil ich den Typen von eben nicht traue. Die sahen schon die ganze Zeit nach Ärger aus. Zum Glück scheint alles noch da zu sein, auch wenn ich jetzt einige Fotos weniger auf der kleinen Einwegkamera zur Verfügung habe.

Aber dafür war das Fotomotiv wirklich hübsch. Und sie hat einfach so meinen Rucksack verteidigt. Den Rucksack, den ich jetzt wieder verschließe und umständlich überstreife, dabei direkt am Seifenspender hängen bleibe und diesen beim Versuch, mich zu drehen, fast von der Wand abreiße.

»Großartig.«

Sachbeschädigung steht eigentlich nicht auf der Liste der Dinge, die ich diesen Sommer vorhabe. Schnell lasse ich das Türschloss wieder aufschnappen und will gerade nach draußen treten, als der Zug eine harte Kurve fährt, ich das Gleichgewicht verliere, nach vorne kippe und mich schon mit dem Kinn an der Scheibe gegenüber dem sehr engen Gang bremsen sehe, als jemand nach meinem Arm greift und mich mehr oder weniger auffängt.

»Vorsicht!«

Ich erkenne die Stimme, was sofort ein Lächeln auf meine Lippen zaubert, als ich mich wieder aufrichte.

»Du lebst ja wirklich am Limit.« Sie lacht leise, schüttelt dabei den Kopf und mustert mich amüsiert, während ich versuche, neben dem Gleichgewicht auch meine Würde wiederzufinden und mich deshalb an den Türrahmen zur Toilette lehne.

»Ja, so kennt man mich, Adrenalinjunkie on tour.«

Wir halten uns beide einen Moment aneinander fest, warten, bis die turbulente Schleuderstrecke überstanden ist, bevor wir uns wieder entspannen, wobei ihre Hand noch immer um meinen Oberarm liegt, als würde sie meinem nächsten Schritt nicht so recht trauen.

»Jetzt hast du mich schon zum zweiten Mal gerettet und ich kenne nicht mal deinen Namen.« Ausgesprochen klingt es etwas schmierig, und so wundert es mich nicht, dass sie nicht sofort antwortet, sondern stattdessen ihre Augenbrauen zusammenzieht.

»Genau genommen habe ich vorhin nur deinen Rucksack gerettet.«

»Und die Kamera.«

»Stimmt auch wieder.« Erst jetzt bemerkt sie, dass noch immer Körperkontakt zwischen uns herrscht, und sie lässt ihren Arm ganz unauffällig sinken. »Ich bin Cleo.«

Cleo. Ein Name, der mir in meinem Leben noch nie begegnet ist und der jetzt wohl für immer mit ihrem Gesicht verbunden bleiben wird.

»Ich bin Gabriel.« Damit halte ich ihr meine Hand entgegen, die sie diesmal, ohne zu zögern, annimmt und kurz schüttelt.

»Du siehst gar nicht aus wie ein Gabriel.«

»Beruhigend.«

»Ich meine, keine Ahnung, ich dachte, du wärst eher ein Damian oder so was.«

Fast muss ich lachen, denn mein Vater hätte eher die Vaterschaft nicht anerkannt, als mir einen solchen Namen zu verpassen.

»Da muss ich dich enttäuschen. Ich bin ein waschechter Gabriel Alexander Clemens.« Den Nachnamen verschweige ich gekonnt, bemerke, wie sehr ich nach meinem Vater klinge, als ich das sage, und wünsche mir, ich würde es nicht tun. Cleo nickt, wenn auch noch immer nicht so recht überzeugt, also wechsele ich schnell das Thema und nicke in die Richtung, aus der sie gekommen ist. »Bist du vor den Jungs geflüchtet?«

»Sie hören jetzt Andreas Gabalier in Dauerschleife, das halte ich nicht länger aus.« Wieder mustert sie mich, und ich habe das Gefühl, sie entscheidet genau jetzt, ob sie mich mag oder nicht. »Sag mir bitte, dass dein Musikgeschmack besser ist.«

Statt zu antworten, deute ich auf mein Shirt, das zwar schon bessere Tage gesehen hat, auf dem man aber den Schriftzug der Band Oasis noch ganz gut erkennen kann.

Cleo nickt zufrieden. »Verstehe. Find ich gut.« Jetzt lächelt sie auch noch, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass sie hoffentlich auch so auf dem Foto lächelt, das der Typ vorhin ungefragt von uns geschossen hat.

»Hör mal, kann ich mich vielleicht irgendwie erkenntlich zeigen, weil du mir vorhin geholfen hast?« Mein Angebot klingt reichlich plump, aber ich habe nicht lange genug darüber nachgedacht, um die richtigen Worte zu finden. Cleo wiegt den Kopf, mustert mich erneut, und ich frage mich, was sie wohl sieht, wenn sie mich so betrachtet. Den Sohn meines Vaters oder doch nur einen Kerl auf Interrail-Trip?

»Könntest du. Du hast nicht zufällig eine Sitzplatzreservierung?«

»Leider nein. Aber im Bordbistro kriegt man eigentlich immer einen Platz.«

»Klingt verlockend.« Aber sie scheint nicht gerade begeistert. Also lege ich schnell nach.

»Bei der Gelegenheit würde ich dich gerne auf ein Getränk deiner Wahl einladen. Als Zeichen meines Dankes dafür, dass du mir geholfen hast, das komplette Innenleben meines Rucksacks zu retten.«

Jetzt taucht da doch ein Lächeln auf ihren Lippen auf und sie deutet eine kleine Verbeugung an. »Das habe ich sehr gerne gemacht und nehme deine Einladung an.«

»Perfekt. Zum Bordbistro geht es da lang.«

»Oha, du kennst dich ja schon bestens aus.«

»Na ja, ich wohne hier praktisch.« Damit löse ich mich endlich aus der Position im Türrahmen und lasse ihr den Vortritt, folge ihr durch den schmalen Gang durch den ganzen Wagon.

»Wie lange wohnst du denn schon hier?«

»Seit Hamburg, um genau zu sein.« Was sich wie eine Ewigkeit anfühlt. Als wäre ich in einem anderen Leben gestartet und jetzt hier gelandet, wenn auch noch lange nicht am Ziel meiner Reise. Doch je länger ich unterwegs bin und je mehr Abstand ich zwischen Hamburg und mich bringe, desto wohler fühle ich mich. Cleo vor mir wird langsamer, bleibt schließlich stehen und dreht sich nun zu mir um.

»Du bist doch nicht etwa ein gesuchter Schwerverbrecher oder so was?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Beruhigend.«

»Und du?«

Sie lächelt. Frech und herausfordernd zwinkert sie mir zu.

»Wäre es nicht schrecklich langweilig, wenn ich dir das direkt verraten würde, Gabriel Alexander Clemens?«

6

Cleo

WIRERREICHENDENSPEISEWAGEN, UNDGABRIELHATTETATSÄCHLICH recht, denn bis auf zwei Tische sind alle Plätze leer. Wir entscheiden uns für einen Platz an einem Zweiertisch. Gabriel zieht den Rucksack von seinen angespannten Schultern, und zum wiederholten Mal betrachte ich ihn, diesmal allerdings um einiges genauer, versuche, ihn einzuordnen. Ein bisschen sieht er aus, als wäre er auf einer Flucht, während sein edler Triple-Name nicht so recht zu dem abgewetzten Rucksack passen mag. Dazu trägt er kurze Jeans, ein graues T-Shirt mit einem verwaschenen Aufdruck der Band Oasis, hat braune Haare, die ihm wirr in die Stirn hängen, und helle aufmerksame Augen unter kräftigen Augenbrauen.

Seine Füße stecken in Chucks.

Ein Zeichen? Livi würde mich jetzt wieder für verrückt halten, weil ich überall nach versteckten Botschaften des Lebens an mich Ausschau halte, aber ich bin nun mal felsenfest davon überzeugt, dass das Universum mir Zeichen schickt. Manchmal in Form von Graffiti an den Wänden, mal als perfekten Song zum perfekten Zeitpunkt und manchmal eben in Form von Schuhen an einem jungen Mann, mit dem ich durch die Nacht reise. Jetzt nimmt Gabriel mir gegenüber Platz, wobei er sich freiwillig gegen die Fahrtrichtung setzt und mir dadurch einen flauen Magen erspart.

Kleine Plastiklampen stehen auf den Tischen und verbreiten fast schon ein romantisches Licht, was ich lächelnd zur Kenntnis nehme und Gabriel nicht entgeht.

»Ist ein richtiger Luxusliner, was? Ich wette, das Besteck hier ist aus echtem Silber.«

»Wenn da so ist, werde ich den Teelöffel einstecken müssen, bevor wir gehen. Vielleicht bezahlt er mir eine Nacht in einem schicken Hotel – statt immer nur in Hostels unterzukommen. Mehr ist nämlich im Reisebudget nicht eingeplant.«

»Bezahlst du deine Rechnungen denn immer mit Silberbesteck?«

»Nur wenn mir der teure Schmuck ausgeht.«

»Gerüchte besagen, es gibt so was wie Kreditkarten.«

»Dafür muss man aber achtzehn sein. Ab Oktober kann mich niemand mehr aufhalten, aber bis dahin muss das Silberbesteck herhalten.« Denn dann kann angeblich auch ich offiziell machen, was immer ich will. Dabei tue ich das schon seit einigen Jahren, es hat nur noch niemand wirklich bemerkt. Gabriel nickt nachdenklich, spielt mit der Papierserviette vor sich, als wäre es ihm plötzlich unangenehm, das Thema überhaupt angesprochen zu haben.

»Heute bist du auf jeden Fall eingeladen.« Er deutet auf die kleine Karte, die auf dem Tisch liegt. »Also gönn dir was.«

»Zahlst du denn mit Kreditkarte?«

»Ja.« Dabei sieht er mir aber nicht in die Augen, ist zu beschäftigt, die Serviette in seinen Händen zu kleinen Konfettiteilen zu zerpflücken.

»Dann sollte ich mal einen Blick auf die Cocktailauswahl werfen, was?«

»Tu dir keinen Zwang an.«

Gespielt nachdenklich betrachte ich die Getränkekarte, auf der es ohnehin nur die klassischen Softdrinks, Kaffee, Tee und neben Bier eine kleine Weinauswahl gibt. »Ich glaube, ich gönne mir eine Cola.«

»Gute Wahl.«

Er selbst bestellt für sich einen Kaffee, mir die Cola und lehnt sich dann zurück in den Sitz, ein prüfender Blick wandert noch mal zu seinem Rucksack, als müsse er sich vergewissern, dass dieser noch da ist. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, im Rucksack befände sich sein ganzes Hab und Gut.

»Wie lange bist du wirklich schon unterwegs?« Eine Frage, direkt nachdem ich mir einen Schluck von der eiskalten Cola gegönnt habe. Gabriel kratzt sich am Hinterkopf, den Blick nachdenklich an mir vorbei durch die Fenster in die Dunkelheit der Nacht gerichtet. Die Landschaft dort draußen rauscht an uns vorbei, ohne dass wir wirklich etwas davon mitbekommen würden.

»Wie gesagt, seit Hamburg.«

»Du wohnst also eigentlich in Hamburg?«

»Irgendwie schon. Keine Ahnung, wie lange noch.«

»Und was machst du, wenn dein Mietvertrag mit diesem Zug ausläuft?«

Er grinst und gönnt sich einen Schluck seines Kaffees, den er mit Milch und einem ganzen Zuckertütchen trinkt. »Zum nächsten Semester im Herbst sollte ich wohl wieder an der Alster aufschlagen. Sonst vergeben sie mein Studentenzimmer an den Nächsten.« Dabei wirkt er so, als wäre ihm das alles eigentlich gar nicht unrecht. Wie er mir so gegenübersitzt in der kurzen Hose, dem verwaschenen Shirt und mit den wirren Haaren, frage ich mich automatisch, was er wohl studiert. Seine Augen sind sehr aufmerksam, als würde er sich alles einprägen wollen, ihm entgeht nichts, also vielleicht was im IT-Bereich? Oder was mit Finanzen, immerhin hat er schon eine Kreditkarte.

»Und was ist mit dir?«

Eine gute Frage, nur weiß ich nicht so genau, was er damit meint. Will er wissen, wo ich wohne? Was ich hier mache? Wieso ich alleine unterwegs bin oder wohin ich will?

»Ich wohne bald in Heidelberg.« Weil das von all den Infos, die ich über mich teilen könnte, die spannendste ist. Und ich am liebsten den ganzen Tag über nichts anderes mehr sprechen möchte. Sofort spüre ich das breite Lächeln auf meinem Gesicht, das Livi liebevoll das Heidelberg-Lächeln nennt.

»Oha, nicht schlecht. Soll ja wirklich schön dort sein.« Fast könnte man meinen, es klingt ein bisschen sehnsuchtsvoll.

»Das hoffe ich.« Denn ich war nur einmal ein Wochenende mit Livi dort und habe mich sofort Hals über Kopf in die Stadt, das Flair und die Uni verliebt. Außerdem ist sie weit genug von daheim weg, um spontane Besuche meiner Eltern zu vermeiden. Win-Win-Situation.

»Also noch mal Interrail, bevor es losgeht, ja?«

Ich glaube, in Zügen verrät die Größe des Rucksacks ganz schnell, ob man einfach nur so in den Urlaub düst oder eine Weile durch Europa zieht. Gabriels Rucksack ist fast so groß wie meiner, nur sieht er nicht ganz so neu aus.

»Ja. Das war eine wilde Idee meiner besten Freundin Livi.« Damit deute ich auf einen imaginären Platz neben mir, was zu einem verwirrten Ausdruck bei meinem Gegenüber führt, das schließlich langsam nickt.

»Ist deine beste Freundin denn gerade mit uns hier im Zug?«

Das entlockt mir ein Lachen, als ich den Kopf schüttele. »Nein. Sie liegt im Krankenhaus, wollte aber, dass ich trotzdem Spaß habe. Also bin ich losgezogen.«

»Einfach so?«

Kurz denke ich an Zuhause und das Klima in meiner Familie, das man wohl am besten mit dem Begriff eisig beschreiben kann, und zucke schließlich die Schultern, weil ich daran ohnehin nichts ändern kann. »Ja, einfach so.«

»Nicht schlecht.«

»Hast du etwa alles super detailliert geplant?«

Noch bevor ich die Frage ganz gestellt habe, schüttelt Gabriel bereits den Kopf. »Nee, nicht wirklich. Ich muss nur noch was erledigen, bevor der Rest des Lebens losgeht.«

Der Rest des Lebens. Oder wie ich es formulieren würde: der Beginn des Lebens!

Weil man endlich nicht mehr in der Version seines Lebens steckt, die von anderen bestimmt wird. Man kann machen, was man will, kann sich auf die Dinge konzentrieren, die einen wirklich interessieren, und sich bei Bedarf sogar neu erfinden. Für mich steht Heidelberg für all das. Mein Neuanfang.

Livi hat mir gesagt, ich solle alle Unis aufschreiben, die infrage kommen und in mich hineinhorchen, bei welcher mein Herz am meisten klopft. Irgendwie wusste ich schon beim Schreibblockaufschlagen, dass es Heidelberg sein wird. Aber niemals hätte ich damit gerechnet, dass es auch wirklich klappt.

Gabriel hat seinen Platz wohl in Hamburg gefunden, nur wirkt er darüber nicht wirklich glücklich, wenn ich ihn so betrachte.

»Also reist du ohne Ziel durch Europa als Abschied vor der Unbeschwertheit oder wie soll ich mir das vorstellen?«

Gabriels Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das sein ganzes Gesicht aufhellt und ihn schlagartig jünger wirken lässt. »Ein Ziel habe ich schon. Ich will nach Budapest.«

»Von Hamburg über München nach Budapest. Klingt wild.«

»Zwischenstopps sind möglich.«

»Aber umständlich.«

»Umständlich oder verwirrend, beides ist mir gerade sehr recht. Und wohin geht es bei dir?«

»Ich denke, ich will nach Kroatien. Ich habe den Europapass, damit ich ein bisschen flexibel bin. Aber all meine Freunde sind dort.« Und Niklas. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich bis nach Zrce an den Partystrand will. Auch wenn man dort angeblich die besten Partys in ganz Europa feiern kann und die Fotos und Videos der anderen bei Instagram vielversprechend aussehen, lösen sie bei mir einfach ein komisches Gefühl aus. Niklas und ich in der Sommersonne, tanzen und so tun, als wäre alles wie immer? Das klingt, ganz ohne Livi als Puffer, nicht nach dem Sommer, den ich mir gewünscht habe.

»Kroatien klingt toll. Ich war da vor Jahren mal mit meinem Großvater, wir sind den ganzen Sommer da rumgefahren.« Gabriels Lächeln wird eine Spur weicher, er stützt das Kinn auf die Hand und legt den Kopf ein bisschen schief. »Sind einfach von Campingplatz zu Campingplatz, weitergezogen, wann immer wir wollten. Ohne echten Plan.«

»Hast du das Reisefieber also von deinem Großvater geerbt?«

Gabriel reagiert nicht sofort, fast so, als hätte er meine Frage etwas zeitverzögert mitbekommen. Oder aber er wollte einfach noch einen kleinen Moment länger in der Erinnerung verweilen, bevor er schließlich nickt.

»Denke schon. Der ist bis ins hohe Alter noch mit seinem Van durch Europa gefahren. Nichts konnte ihn aufhalten.« Sein Blick wird trauriger, als er zu mir sieht. »Also fast nichts.«

Er muss es nicht aussprechen, ich erkenne den Schmerz auch so in seinen Augen. So schaut nur jemand, der eine bestimmte Person für immer vermissen wird.

»Das tut mir leid.«

»Danke. Aber ich glaube, er hat es genau so gewollt. Unterwegs irgendwo auf Reisen einschlafen. An einem Ort, den er unbedingt noch sehen wollte.« Gabriels Lächeln kämpft sich zurück und er lehnt sich wieder etwas nach hinten. »Sorry, war nicht meine Absicht, die Stimmung zu drücken.«

»Ach Quatsch, hast du gar nicht. So lerne ich dich direkt ein bisschen besser kennen.« Denn die Art und Weise, wie er über seinen Großvater spricht, verrät mehr über ihn, als er wohl ahnt.

»Jetzt aber mal genug über mich. Erzähl mir ein bisschen was über dich, Cleo.«

Etwas über mich. Was kann man einer zufälligen Reisebekanntschaft erzählen, das nicht total schräg oder furchtbar langweilig klingt? Wäre Livi hier, hätte sie schon längst losgelegt, alle möglichen peinlichen Storys zum Besten gegeben, aber jetzt muss ich hier alleine klarkommen. Aber je länger ich nachdenke, desto weniger fällt mir ein, und so sage ich das Erste, was mir in den Sinn kommt und ich schon seit Tagen aussprechen will.

»Ich will eigentlich gar nicht nach Kroatien.«

7

Gabriel

SIELÄCHELT, ABERIHREAUGENSPRECHENEINEGANZEIGENESprache. Obwohl ich erst knapp eine Stunde mit ihr hier sitze, habe ich das Gefühl, sie besser verstehen zu können, als mir lieb ist.

»Ein bisschen spät für diese Erkenntnis, meinst du nicht?«

Denn der Zug rauscht mit knapp zweihundertsechzig Sachen durch die Nacht, gibt ihr keine Chancen auszusteigen, es sei denn, sie betätigt die Notbremse und das könnte richtig teuer werden.

»Ehrlich gesagt, hatte ich diese Erkenntnis schon vor einer ganzen Weile. Aber irgendwie hat niemand gefragt.« Sie zuckt mit den Schultern, als wäre das alles gar kein so großes Problem.

»Auch nicht Livi?« Dabei deute ich auf den leeren Platz neben ihr, was zu einem leisen Lachen bei Cleo führt.

»Vor allem nicht Livi. Die wollte den Sommer ihres Lebens mit der ganz großen Party abfeiern.«

Um sie abzulenken und auch, weil ich es wirklich wissen will, lehne ich mich über den Tisch in ihre Richtung. »Gibt es diese Livi denn wirklich?«

»Absolut. Sie konnte nur nicht mitkommen. Aber es war ihre Idee, ihr Plan, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass ich keine große Lust auf Kroatien habe. Oder die Leute, die dort sind.«

»Meinst du jemand Bestimmtes oder hast du einfach keine Lust auf Menschen allgemein? Was ich übrigens total gut verstehen könnte.«

Wieder muss sie lachen und ihre Schultern entspannen sich.

»Einige unserer Freunde sind dort.« Sie will noch mehr sagen, entscheidet sich dann aber dagegen und winkt ab. »Egal, jetzt ist es ohnehin zu spät. Ich mache einfach das Beste aus diesem Trip.«

»Du kannst ja in Ljubljana aussteigen.«

»Das muss ich sowieso. Ich habe dort nämlich ein Bett in einem Hostel gebucht, zwei um genau zu sein. Es bleibt also spannend.«

»Wenn du gar nicht nach Kroatien willst, wieso machst du es dann?«

»Weil ich nicht zurück nach Hause will. Zumindest noch nicht.« Interessant, wie sich ihre Stimme verändert, wenn sie über ihr Zuhause spricht.

»Das klingt jetzt vielleicht nach einer wahnsinnig absurden Idee, aber du könntest doch deine Route noch ändern, oder?«

Der Gedanke ist ihr sicher auch schon gekommen, schließlich macht sie einen ziemlich aufgeweckten Eindruck. Trotzdem bringt meine Frage sie ins Grübeln.

»Ich meine, das Tolle an Interrail ist ja, dass du quasi überall hinkannst. Und du hast den Europass. Solange du also nicht zur Freiheitsstatue nach New York willst, sollte das kein Problem sein.«

»Das klingt so verlockend und zu einfach.«

»Na, besonders kompliziert ist es ja auch wirklich nicht.«

»Hm.«

»Also die junge Frau, die ich vorhin kennengelernt habe, die hätte das gemacht.«

»Du meinst die heldenhafte Retterin deines Rucksacks, die sich übrigens gleich mit vier Typen angelegt hat?«

»Genau die! Die würde die Route so ändern, wie sie Bock hat! Vor allem, wenn sie den Freunden in Kroatien aus dem Weg gehen will.«

»Würde sie das, ja?«

»Absolut.« Grinsend sehe ich sie an und weiß genau, dass sie zumindest darüber nachdenkt. »Niemand sollte den letzten Sommer vor dem echten Leben mit Menschen verbringen, auf die man keine Lust hat.«

»Dann geht es wohl auf keinen Fall zurück nach Hause.« Sie lacht dabei, aber es klingt ein wenig bitter. Es ist klar, dass sie nicht nach Hause will, entweder weil da jemand auf sie wartet, den sie nicht besonders mag, oder aber weil niemand dort auf sie wartet. Beide Optionen sind Grund genug für eine kleine Flucht durch Europa.

»Und wo soll ich deiner Meinung nach stattdessen hin?«

»Ich dachte schon, du fragst nie!« Damit drehe ich mich zu meinem Rucksack, löse den Reißverschluss, der mit jedem Öffnen ein bisschen mehr hakt, und fische nach der Landkarte, die ich mir extra für diese Reise gekauft habe, auch wenn ich drei verschiedene Karten-Apps auf meinem Handy habe.

Auf dem Tisch vor uns breite ich die Karte aus, streiche sie glatt und reiche Cleo einen Stift.

»Plane deine eigene Route. Wir finden schon die richtigen Orte für dich.« Sie sieht zweifelnd zu mir, und ich merke, dass ich einmal mehr zu viel von mir auf andere übertrage. »Also nur, wenn du das willst. Wenn nicht, dann kannst du immer noch nach Hause oder nach Kroatien.« Immerhin bin ich bloß ein fremder Typ, der ihr jetzt auch noch eine neue Reiseplanung aufquatscht, nicht gerade das, was sie jetzt vermutlich braucht oder will. Doch gerade, als ich mich entschuldigen will, schnappt sie sich den Stift, ein Lächeln auf den Lippen.

»Es gibt schon einige Orte in Europa, die ich gerne sehen würde.« Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht hinter die Ohren und beugt sich dann tief über die Karte, zieht die Kappe vom Stift und sieht konzentriert aus. Dabei bildet sich eine zarte Falte zwischen ihren Augenbrauen und ich muss lächeln.

Bisher war mein Trip, bis auf die zwei verpassten Anschlusszüge, ziemlich öde. Alle sagen immer, man würde unterwegs so viele Leute kennenlernen, aber die Wahrheit ist, die meisten Reisenden haben ihre Clique und bleiben lieber unter sich. Gut, ich habe jetzt auch nicht alles versucht, um Anschluss zu finden, und wären diese Typen vorhin nicht gewesen, wäre ich vermutlich auch an Cleo einfach vorbeigegangen. Jetzt aber sitzt sie mir gegenüber und studiert die Karte so angestrengt, als müsse sie die Route auswendig lernen.

»Prag soll schön sein.« Es rutscht mir über die Lippen, bevor ich es überdenken kann.

»Ja, alle schwärmen von Prag. Hat wohl voll die Dark-Academia-Vibes, sagt man.« Sie kreist den Namen ein, und ich ahne, dass ihr das alles mehr Spaß macht, als sie zugeben will.

»Da gibt es aber leider keinen Strand.«

»Aber viel zu erleben.«

Sie hebt den Blick von der Karte und sieht mich neugierig an. »Warst du denn schon mal in Prag?«

»Ja.«

»Lass mich raten. Mit deinem Großvater.«

Sie kennt mich nicht wirklich, hat keine Ahnung, was meine Lieblingsfarbe ist, welches Essen ich am liebsten esse oder wogegen ich allergisch bin. Aber trotzdem liegt sie jetzt mit ihrer Vermutung goldrichtig.

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

»Das muss toll gewesen sein.«

Und wie. Die Trips mit meinem Großvater zählen ohne Zweifel zu den absoluten Highlights meiner Sommerferien. Fast kann ich ihn hören, wie er sich mit seiner tiefen, brummenden Stimme an mich wendet.

Auf ins nächste Abenteuer. Dabei wusste er zu genau, dass es für mich nicht einfach nur ein Abenteuer war, es fühlte sich wie eine Pause an, weg vom Internatsleben, ein Eintauchen in eine andere Welt, die ich so oft vermisst habe.

»Welche Route würde dein Großvater vorschlagen?« Sie schiebt die Karte wieder etwas in meine Richtung, was so verlockend klingt, dass ich tatsächlich kurz versucht bin, ihrer Frage nachzugehen.

»Das ist nicht seine, sondern deine Reise.«

»Schon, aber vielleicht brauche ich ja ein paar Tipps von erfahrenen Roadtrippern.«

»Mein Großvater würde dir jetzt raten, auf dein Bauchgefühl zu hören und niemals der Route einer anderen Person zu folgen.« Das würde er wirklich. Aus diesem Grund hat er immer mich alles aussuchen lassen. Selbst damals, als ich gerade acht Jahre alt war.

»Er klingt nach einem wirklich schlauen Mann.«

»War er auch.« Vor allem aber war er ein gutherziger Mann, und das ist es, woran ich mich erinnere, wenn ich an ihn denke. An sein Lachen, seine herzlichen Umarmungen und das Leuchten in seinen Augen, wenn er von seinen neuen Reiseplänen erzählt hat.

»Alles okay?« Cleos Stimme durchbricht die Erinnerungsflut, die nur darauf wartet, über mir zusammenzubrechen.

»Ja. Alles bestens.« Da ist es, mein Lächeln, das mich ein bisschen wie meinen älteren Bruder aussehen lässt. Manche sagen sogar, ich würde damit meinem Vater ähneln.

»Wow.«

Überrascht sehe ich hoch, werde von einem prüfenden Blick empfangen, den ich nicht so recht deuten kann.

»Was denn?«

»Du bist ein noch schlechterer Lügner, als ich es bin.« Sie deutet auf mein Gesicht, auf dem hoffentlich noch immer mein strahlendes Lächeln zu erkennen ist. »Keine Ahnung, bei wem du die Nummer sonst so abziehst, aber das ist ungefähr so überzeugend, als wenn der Grinch dir eine liebevolle Weihnachtskarte schreibt.«

»So schlimm also?«

»Absolute Vollkatastrophe.«

Dabei zieht diese Masche sonst immer. Sie mustert mich noch immer, was mir missfällt. Weil ich das Gefühl nicht abschütteln kann, dass sie mich durchschaut.

»Also sag schon, welche Zwischenstopps hast du auf deinem Trip nach Budapest denn so eingeplant?«

Gar nicht so viele, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht irgendwo übernachten und duschen – vor allem duschen – und dann ab nach Budapest, keine echten Spuren hinterlassen, bevor alles erledigt ist.

»Ich habe gar keine geplant. Wieso?«

Sie tippt mit dem Stift auf die Karte, auf der noch immer bisher nur Prag eingekreist ist.

»Ich dachte, vielleicht könnte ich mir bei dir ein bisschen Inspiration klauen.«

8

Cleo

JELÄNGERDIEPAUSEZWISCHENGABRIELUNDMIRDAUERT, desto klarer wird mir, dass er seine Reisepläne nicht teilen möchte, das Geheimnis für sich behalten will. Er sieht mich einfach nur an, sucht passende Worte – vermutlich auch nur eine weitere Ausrede, die ich gar nicht hören will. Laut Livi lernt man auf solchen Interrailtrips leicht Leute kennen, und Gabriel hat diese Vermutung bisher bestätigt, nur habe ich seine Dankbarkeit und Freundlichkeit ganz offensichtlich falsch interpretiert. Wir sind Zufallsbekannte in einem Zug, die sich danach aus den Augen verlieren und nichts mehr miteinander zu tun haben.

Wieso habe ich eigentlich was anderes erwartet?

Sein panischer Blick, den Gabriel unverändert auf mich gerichtet hält, erinnert ihn und mich daran, dass er mir wohl schon zu viel über sich verraten hat. Dinge, die er jetzt gerne zurücknehmen würde.

»Ich äh … ich reise allein.«

Mein Gesicht fühlt sich heiß an, und ich wette, ich werde knallrot, also schüttele ich schnell den Kopf und lache betont lässig. »Das war auch kein Versuch, dich zu kidnappen, ich dachte nur, du hast vielleicht ein paar Tipps. Entspann dich, Gabriel, als ob ich Lust hätte, mit einem fremden Kerl einfach so durch halb Europa zu fahren.«

Das letzte Mal habe ich mich so gefühlt, als ich Niklas vorgeschlagen habe, wir könnten unsere Beziehung eigentlich auch öffentlich machen, wenn wir sowieso die ganze Zeit zusammen sind. Nur mit dem Unterschied, dass Niklas damals auch noch richtig blass geworden ist, so, als müsse er sich gleich übergeben.

Schnell reiche ich Gabriel den Stift und die Karte zurück.

»Ich denke, ich werde das alles sowieso nicht brauchen. Ich höre einfach auf mein Bauchgefühl und schaue, wohin es mich nach Ljubljana führt.«

Denn ich werde ganz sicher nicht zurück nach Hause fahren, Livi würde mir den Hintern aufreißen, und meine Mutter wäre auch nur semi-begeistert, wenn ich wieder in der viel zu engen Wohnung auftauche.

Aber Gabriel hat seine Stimme endlich wiedergefunden, sieht mich aus noch immer großen Augen an. »So meinte ich das gar nicht. Ich würde sogar ganz gerne mit dir ein paar Städte unsicher machen. Nur geht das nicht.«

Das unausgesprochene Aber