Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln - Adriana Popescu - E-Book

Ein Lächeln sieht man auch im Dunkeln E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Drei Jugendliche, die Spuren der Vergangenheit und die Frage nach der Zukunft

Irgendwas hat dieser Neue, Samuel, an sich, das Marie von Anfang an fasziniert. Und Samuel geht es genauso. Wie Magnete bewegen sie sich aufeinander zu, stoßen einander aber auch immer mal wieder ab, wenn sie sich von der falschen Seite nähern. Und mitten in diesem Spannungsfeld bewegt sich Theo, Maries jüngerer Bruder, der seit einem schrecklichen Ereignis vor über einem Jahr immer noch mit seinen Ängsten ringt – und in der Schule mit seinem Mobber Andi. Marie, Samuel, Theo – ihr Aufeinandertreffen bedeutet für alle drei einen Neubeginn, aber auch, sich den Geschehnissen ihrer Vergangenheit zu stellen, denn Samuel trägt ein Geheimnis mit in diese neue Freundschaft ...

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ADRIANA POPESCU

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Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2020

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Bilder von © Shutterstock

(Griboriy; BloodysAlice; Quang Ho; Evgeny Karandaev)

MP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25260-1V004

www.cbj-verlag.de

– 1 –

Marie

Die Narbe an seiner Lippe, die sein Lächeln in zwei Hälften teilt, sieht ein bisschen aus wie ein Ausrufezeichen. Eines, das er unbewusst hinter alles setzt, was er sagt. Selbst, wenn er – wie jetzt – nichts sagt.

Die dunklen Haare trägt er kurz, so wie fast alle Jungs in unserem Jahrgang. Unter trotzigen Augenbrauen mustern uns blaue Augen, die mich an abgeschliffenes Metall erinnern, wenn auch nicht ganz so hart.

Es ist immer scheiße, wenn man der Neue in der Klasse ist. Und Samuel Nowak ist genau das. Mit den meisten Schülern teile ich mir seit der sechsten Klasse die Sorgen, Hausaufgaben und Lieblingslehrer. Die Rollen der besten Freunde, des Klassenclowns, des Mathegenies und des coolen Rudelführers sind bereits besetzt, viel Platz für einen neuen Schüler gibt es nicht mehr. Vermutlich deswegen nehmen ihn alle etwas skeptisch unter die Lupe, aber Samuel zeigt sich davon ziemlich unbeeindruckt. Während Herr Müller, unser Lehrer, die Eckdaten des Neuen abspult, lächelt dieser souverän und freundlich, wenn auch distanziert.

Jeans, Turnschuhe, Rucksack, er sieht aus wie jeder Junge auf dieser Schule, allerdings ist er bereits ein Jahr älter, weil er das letzte Schuljahr wiederholen musste. Vielleicht ist dies auch der Grund für seinen Schulwechsel, und er will nun hier mit uns im zweiten Anlauf den Abschluss machen.

»Es wäre also nett, wenn ihr Samuel den Einstieg so weit wie möglich erleichtern könntet.«

Wir nicken alle unisono, weil keiner zugeben wird, wie wenig Lust wir auf die Erweiterung unseres Rudels haben. Aber Samuel wird das letzte Schuljahr trotzdem sicher irgendwie überleben.

»Du kannst dich hier vorne hinsetzen. Aus unerfindlichen Gründen ist die erste Reihe bei meinen Schülern nicht sonderlich beliebt.«

Samuel nickt und folgt Müllers Vorschlag, nimmt in der ungeliebten und bis dahin leeren Reihe direkt vor mir Platz und versetzt mich damit offiziell in die zweite.

Er hat einen breiten Rücken, der in dem schwarzen Kapuzenpullover, der jetzt, da er die Jacke auszieht, noch besser zur Geltung kommt. Sein Rucksack sieht ramponiert aus, der Block, den er herausfischt, dagegen ist neu und unbenutzt.

»Sag mal …«

Er dreht sich zu mir, ertappt mich dabei, wie ich ihn beobachte und lächelt verhalten freundlich.

»Hättest du einen Kugelschreiber für mich? Hab mein Mäppchen vergessen.«

Seine Stimme ist tief und rau, passt zu seinem markanten Gesicht und dem Blick, der mich mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier durchdringend mustert.

»Klar.«

Er verfolgt meine Bewegungen genau und sein Blick bleibt an meinem Mäppchen hängen. Bisher war es mir nie peinlich, aber gerade frage ich mich, wieso ich dieses Ding, das ich seit der 5. Klasse besitze, nie ausgetauscht habe. Es mag abgewetzt sein, aber die Figuren des Film-Klassikers Star Wars kann man noch immer ausgesprochen gut erkennen. Prinzessin Leias stolzer Blick, die weltbekannte Frisur und ihr mutiges Lächeln. Hoffentlich werde ich nicht zu offensichtlich rot, als ich den gelben Kugelschreiber, den ich am Tag der offenen Tür an der Uni habe mitgehen lassen, hervorziehe und ihm reiche.

»Wiedersehen macht Freude.«

Samuel nimmt ihn an und salutiert knapp.

»Wird gemacht. Danke …«

Er sucht meinen Namen, den er natürlich noch nicht kennt, und dann fällt sein Blick wieder auf mein Mäppchen.

»… Sternenprinzessin..«

Außer den dunklen Haaren haben wir zwar nicht besonders viel gemeinsam, aber ich muss trotzdem zugeben, es gefällt mir, dass er mich so nennt. Ich lehne mich ein bisschen weiter nach vorne, will den Unterricht, der ohne uns weitergegangen ist, nicht unnötig stören.

»Marie.« Ich reiche ihm die Hand. »Marie Mulden.«

Er nimmt meine Hand an, sein Händedruck ist fest, aber warm, ebenso wie sein Lächeln, das jetzt zumindest seinen linken Mundwinkeln erfasst hat.

»Samuel. Aber das weißt du ja schon.«

»Und nennen deine Freunde dich Sam?«

Meine Frage verscheucht das angedeutete Lächeln, und ich ernte ein Kopfschütteln, bevor er meine Hand wieder loslässt.

»Meine Freunde nennen mich Nowak.«

Keine Ahnung, ob das eine Aufforderung ist, ihn auch so zu nennen, also lehne ich mich zurück und versuche ihn mir als Nowak vorzustellen.

»Dann nenne ich dich lieber einfach Samuel.«

»Alles klar, Prinzessin Leia.«

Meinen Namen habe ich noch nie besonders gemocht, weil er mich so erwachsen und erhaben klingen lässt, von daher bin ich nicht besonders traurig darüber, dass er sich einen Spitznamen für mich ausgedacht hat.

»Und danke für den Kugelschreiber.«

Er schiebt ihn sich lässig hinter das Ohr, zwinkert mir zu und dreht sich wieder in Richtung Tafel, wo Müller uns über die anstehende Lektüre für die kommenden Wochen aufklärt. Zu meiner Schande erwische ich mich für den Rest der fünfundvierzig Minuten immer wieder dabei, wie ich Samuels Hinterkopf, seinen Nacken und die Schultern studiere.

Das ist die beste Aussicht, die ich in der Doppelstunde bei Herrn Müller seit Langem hatte.

- 2 -

Samuel

Die Schule ist kleiner als meine alte, und trotzdem verlaufe ich mich ständig. Jeder Flur, jeder Treppenaufgang, selbst die Türen sehen gleich aus. Wie um alles in der Welt soll ich mein Klassenzimmer finden, wenn nicht mal die Nummerierung der Räume einem Plan folgt?

»Na, hast du dich verlaufen?«

Eine irgendwie bekannte und doch fremde Stimme ertönt hinter mir und ich drehe mich hilfesuchend um.

Marie.

Natürlich.

Sie steht frech lächelnd vor mir, ihre braunen langen Haare hat sie jetzt zu einem Pferdeschwanz gebunden, das weite Karohemd sieht aus, als hätte sie es absichtlich ein paar Nummern zu groß gewählt, und die Risse an ihrer Jeans sind so perfekt, dass ich darauf wetten würde, sie hat sie bereits so gekauft.

»Wer soll hier bitte auch durchblicken?« Ich wedele mit dem Zettel, der mir heute früh im Sekretariat ausgehändigt wurde, in der Luft herum.

»Wo musst du denn hin?«

»Saal 308, Biologie bei Herrn Pabst.«

Ihr Lächeln wächst, erreicht sogar ganz kurz ihre braunen Augen, und das gefällt mir.

»Mensch, du bist ja ein echter Glückspilz.«

Sie kommt auf mich zu, wechselt den Rucksack von der linken auf die rechte Schulter und deutet den Gang entlang.

»Da muss ich auch hin, folge mir also, wenn du nicht zu spät kommen willst.«

Sie hat einen leichten, fast tanzenden Gang, als könne ihr nichts auf dieser Welt was anhaben, und das imponiert mir. Ich habe Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

»Was nehmt ihr in Bio gerade durch?« Interessiert mich zwar nicht wirklich, aber ich versuch die Unterhaltung mit ihr nicht verebben zu lassen.

»Evolutionstheorie. Hattet ihr das schon an deiner letzten Schule?«

An meiner letzten Schule haben wir die vier Grundrechenarten durchgenommen und ansonsten gehofft, dass die meisten nicht als Analphabeten abgehen.

»Wir haben damit angefangen, aber sind nicht besonders weit gekommen.« Also noch ein Themengebiet, das ich nachholen muss. Ist ja nicht so, als hätte mir Physik eben nicht schon gereicht.

»Pabst ist streng, aber gut. Wenn du seinen Unterricht ernst nimmst, hast du nichts zu befürchten.« Sie wirft mir einen Seitenblick zu, ohne das Tempo zu drosseln. »Oder hast du ein Problem mit Autoritätspersonen?«

»Ich?«

»Ja, du.«

»Wie kommst du darauf?«

»Keine Ahnung. Typen wie du neigen doch dazu.«

Einen kurzen Moment frage ich mich, welche Gerüchte meine Person bereits umgeben und ob jemand weiß, was passiert ist, aber ich zucke nur reflexartig die Schultern.

»Definiere bitte Typen wie du.«

»Groß, dunkel, düster.«

Ich muss lachen, denn ehrlich gesagt, bin ich weder dunkel noch düster.

»Sehen mich Mädchen wie du etwa so?«

Wenn sie schon mit Vorurteilen spielen will, dann aber auf beiden Seiten des Spielfeldes. Ein bisschen ertappt sieht sie zu mir hoch.

»Wie definierst du Mädchen wie du?«

»Gut gelaunt, sorglos und bildhübsch.«

Einen kurzen Moment kommt sie bei meinem Kompliment aus dem Tritt, fängt sich aber gerade noch rechtzeitig vor der Tür zum Klassensaal, die offen steht, und schüttelt knapp den Kopf.

»Oh, da irrst du dich gewaltig, Samuel. Ich bin nichts von alldem.«

Bevor sie den halb leeren Saal betreten kann, schiebe ich mich an ihr vorbei und blockiere für eine Sekunde ihren Weg.

»Dann muss ich dich wohl besser kennenlernen, Sternenprinzessin.«

Und schon gehe ich weiter, habe es geschafft, sie sprachlos an der Türschwelle stehen zu lassen und melde mich bei einem Lehrer mit Schnurrbart, der mir wieder einen Platz in der ersten Reihe zuteilt.

Diesmal habe ich nicht so viel Glück, denn Maries Sitzplatz befindet sich drei Reihen hinter mir, und doch spüre ich die ganze Stunde über ihren Blick in meinem Nacken.

Ein Gefühl, an das ich mich gewöhnen könnte.

- 3 -

Theo

Vielleicht gehe ich zu schnell, vielleicht bleibe ich irgendwo hängen oder vielleicht war es Andis Tritt, der mich gerade dann in der Hacke trifft, als ich Schwung für die nächste Treppenstufe nehme. Ich verliere komplett das Gleichgewicht, will nach dem Geländer greifen und verfehle es um wenige Zentimeter. Zuerst schlage ich mit dem Knie auf, dann bremsen meine Ellenbogen die Wucht des Sturzes und schließlich touchiert mein Kinn die Stufenkante heftig genug, um mich kurz Sterne sehen zu lassen.

Man weiß nie genau, was Angst bei einem auslöst, bis es passiert.

Der Sturz, der Aufprall, das alles legt in Sekundenschnelle den Schalter um, und schon spult mein Kopfkino die schrecklichste Episode meines Lebens ab.

Sofort sind alle Geräusche wieder da, sogar der Geruch, obwohl es nicht sein kann, und mein Körper reagiert genau wie damals. Das durchdringende Fiepen in den Ohren, das flaue Gefühl im Magen, die Gänsehaut, die mich einhüllt, alles ist so wie damals. Schnell lege ich mir die Hände über die Ohren, zähle von fünf rückwärts und reiße dann die Augen auf. Ich nehme einen tiefen Atemzug, wie wenn man zu lange unter Wasser geblieben ist und endlich wieder die Wasseroberfläche durchbricht, um nach rettendem Sauerstoff zu schnappen.

Ich bin nur auf der Treppe im Schulgebäude gestürzt.

Sonst nichts.

»Oh, hoppla. Wie konnte ich dich nur übersehen.«

Andis heuchlerischer Kommentar wird durch das fiese Lächeln auf seinem Gesicht Lügen gestraft. Ich rappele mich langsam wieder auf, spüre den Schmerz im Knie und am Kinn, will mir aber nichts anmerken lassen. Es wird nur schlimmer, wenn sie merken, dass du Angst hast. Typen wie Andi können meine Angst und Unsicherheit ohnehin fünfzig Meter gegen den Wind riechen.

»Sorry, Mann, ich wollte dir echt kein Bein stellen.«

Umgeben von den Jungs, die ich heimlich seine Schoßhunde nenne, lehnt er sich lässig an das Treppengeländer und grinst auf mich herab.

»Schon okay.«

Es hat ohnehin keinen Sinn, sich mit ihm anzulegen. Die anderen Schüler weichen uns aus, als wären wir nur eine unnötige Schikane auf ihrem Weg. Niemand sieht her, auch wenn ich ahne, dass es einige beobachtet haben müssen. Ich will nach meinem Rucksack greifen, den ich aus der Hand habe fallen lassen, als Andi mit Schwung gegen ihn tritt und er zwei Stufen tiefer poltert. Natürlich begleitet vom Gelächter seiner kleinen Gang.

»Oh nein, wie ungeschickt von mir.«

Sie hoffen auf eine Reaktion, aber das würde doch wieder nur zu einer weiteren Gegenaktion ihrerseits führen, und das möchte ich verhindern. Ebenso wie jeden Blickkontakt. Mit gesenktem Kopf will ich wieder nach dem Rucksack greifen, als Andi sich bückt und ihn aufhebt. Ich weiß, was als Nächstes passiert, weil er immer die gleiche Nummer abzieht. Manchmal frage ich mich, ob ihn sein eigenes Leben so sehr langweilt, dass er es nur durch solche Schikanen aufpeppen kann.

»Mal sehen, was du heute so dabeihast.«

Er kann mir nicht wehtun. Er kann auch nichts kaputt machen, aber das weiß er nicht, weil er ohnehin nicht wirklich hinschaut. Wie will man etwas kaputt machen, das schon längst in Scherben liegt?

Als Erstes segelt mein Mäppchen über das Treppengeländer nach unten, dann folgt mein Mathebuch und dann …

»Was soll die Scheiße?«

Andi hält in seiner Bewegung inne, die Augenbrauen ziehen sich blitzartig mürrisch zusammen und sein Blick wandert von mir die Treppe nach oben zu der Stimme, die ihn unterbrochen hat.

»Wie bitte?«

Bilde ich mir das nur ein, oder ist es hier gerade um einiges kühler geworden?

»Ich habe gefragt, was die Scheiße soll.«

Die Stimme nähert sich, kommt mir aber auch dann nicht bekannt vor, und so drehe ich den Kopf langsam in die Richtung, in der ich den Sprecher vermute.

Der Typ ist wohl neu hier, denn an der Schule habe ich ihn noch nie gesehen. Offenbar geht es Andi und seiner Gang nicht anders, denn auch in ihrem Blick erkenne ich nur Verwirrung. Andi lässt meinen Rucksack fallen und stößt sich vom Treppengeländer ab.

»Und du bist …?«

Der Typ kommt die letzten Treppenstufen zu uns runter, ignoriert Andi aber gänzlich und sieht zu mir.

»Alles okay da unten?«

Kurz glaube ich, mich verhört zu haben. Seit knapp drei Monaten bin ich Andis Lieblingsopfer, aber noch nie hat jemand etwas gesagt.

Niemand außer Marie, aber die zählt nicht.

Und jetzt steht da der Neue und reicht mir die Hand.

»Komm, wir halten den Verkehr auf.«

Die letzten Schüler, die noch die Schule verlassen, weichen uns allerdings ohne Kommentar oder zweiten Blick aus. Trotzdem nehme ich seine Hand an und lasse mir von ihm zurück auf die Füße helfen.

»Oh, hey, hey, was soll das?«

Andi kriegt richtig miese Laune, seine Stimme klingt viel schriller als sonst, aber der Neue lässt sich davon nicht einschüchtern. Ehrlich gesagt sieht er nicht annähernd so aus, als könne ihn überhaupt etwas einschüchtern.

»Wir holen mal deine Sachen.«

Damit will er auch schon weiter, als Andi sich ihm demonstrativ in den Weg stellt.

»Ist ein bisschen unhöflich, sich nicht vorzustellen, oder?«

Das riecht nach Ärger, und wenn ich etwas nicht gebrauchen kann, dann ist es noch mehr davon. Weder mit Andi noch mit sonst jemandem an dieser Schule.

Oder in diesem Leben.

Wenn es nach mir ginge, könnte die Zeit jetzt einfach einfrieren und ich würde mich davonschleichen, bevor sie es merken. Aber die beiden starren sich einfach wortlos in Grund und Boden, während ich versuche, unsichtbar zu werden. Schließlich setzt der Neue ein breites, aber unglaublich falsches Lächeln auf und reicht Andi die Hand.

»Samuel.«

Andi denkt nicht mal daran, die Vorstellungsrunde aufzunehmen, sondern mustert Samuel erst mal ausgiebig von oben nach unten. Dieser hält die Hand noch immer in Andis Richtung ausgestreckt.

»Verrätst du mir auch deinen Namen oder soll ich dich einfach Arschloch nennen?«

Andi will sich nicht anmerken lassen, dass er es nicht gewohnt ist, so behandelt zu werden, aber ich sehe es trotzdem.

»Wenn wir dann soweit fertig sind, kann ich ja mit meinem Kumpel sein Zeug aufsammeln gehen, wenn du nichts dagegen hast.«

Damit lässt Samuel die Hand sinken und dreht sich zu mir.

»Wollen wir?«

Kumpel. Damit meint er mich, und kurz fühlt es sich so an, als würde mein Kopf sich drehen, aber offenbar nicke ich, denn wir setzen uns zeitgleich in Bewegung, kommen aber nicht weit.

»Moment. Wer hat gesagt, dass wir mit Theo fertig sind?«

Andi deutet mit einem Nicken auf meinen Rucksack, den ich nun wie ein Schutzschild halte. Samuel schiebt sich minimal vor mich, und das Lächeln, mit dem er nun Andi fixiert, ist auf Eiswürfelniveau runtergekühlt.

»Ich habe das gesagt.«

»Und wer sagt, dass ich darauf höre, was du sagst?«

»Niemand. Aber ich an deiner Stelle würde es mir zumindest überlegen.«

Samuel legt den Arm um meine Schulter und spürt dabei sicher, wie ich unter der Berührung zusammenzucke, was ihn aber nicht davon abhält, mich sanft die Treppe nach unten zu schieben.

»Samuel, deinen Namen merk ich mir!«

Wir bleiben kurz stehen, und mein neuer Beschützer dreht sich noch mal um, aber ich sehe keine Panik in seinem Gesicht, sondern nur einen entspannten Ausdruck, der eher an den Strand als in diese Situation gehört.

»Sehr gut, sonst hätte ich ihn dir aufgeschrieben.«

Wir setzen uns wieder in Bewegung, ich eher so im Autopilotmodus, Samuel dagegen bei vollem Bewusstsein und vielleicht sogar im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Ich hätte darauf gewettet, dass Andi uns folgt, aber nichts passiert, wir gehen einfach weiter, biegen nach rechts, und ich sehe meine Sachen dort verstreut auf dem Boden liegen. Mein Mathebuch hat im Freiflug eine beliebige Seite aufgeschlagen und einen Bauchklatscher hingelegt, dafür ist mein Mäppchen aber recht unbeschadet einige Meter entfernt gelandet. Kurz bin ich überrascht, dass es so wenige Sachen sind, denn für gewöhnlich nimmt sich Andi die Zeit, den gesamten Inhalt meines Rucksacks auszuleeren. Möglichst unauffällig entziehe ich mich Samuels Halbumarmung, weil mir die plötzliche Nähe und vorgetäuschte Vertrautheit zu viel wird.

»Danke.«

»Kein Ding.«

Hat der eine Ahnung.

»Trotzdem.«

Ich bücke mich und sammele mein Zeug ein, spüre seinen Blick in meinem Rücken und hoffe, er sieht mir nicht an, wie sehr mich die Situation überfordert. Mein Körper weiß, wie er in Andi-Situationen zu reagieren hat, alles passiert total automatisch, doch Samuel hat mit seinem Auftreten alles durcheinandergebracht.

»Passiert so was öfter?«

Schnell schüttele ich den Kopf, froh darüber, dass er mein Gesicht nicht sehen und die fette Lüge erkennen kann.

»Sicher?«

Der Zweifel in seiner Frage dröhnt in meinen Ohren, und ich versuche meiner Stimme bei der Antwort so viel Kraft zu verleihen wie nur möglich.

»Ganz sicher.«

Er macht einen Schritt auf mich zu und meine Nackenhaare stellen sich auf.

»HEY!«

- 4 -

Marie

Mit voller Wucht schubse ich ihn von Theo weg, baue mich so breit und groß, wie meine knapp ein Meter siebzig es zulassen, vor ihm auf und starre ihn wütend an.

»Lass ihn in Ruhe!«

Samuel torkelt etwas überrascht ein paar Schritte zurück, hebt die Hände und will etwas sagen, aber ich habe genug gesehen. Theo, der seine Sachen aufsammelt, die ein Idiot von der Treppe geschmissen hat. Zu schade, dass dieser Idiot ausgerechnet Samuel sein muss.

»Oh, hey, hey …«

»Spar dir dein Oh, hey, hey! Glaubst du, du kannst einfach so hier reinmarschieren und dir ein Opfer aussuchen?«

Meine Stimme zittert und meine Hände sind zu Fäusten geballt, aber Theos sanfte Berührung an meiner Schulter sorgt dafür, dass ich nicht sofort auf Samuel losgehe.

»Hör auf, er hat gar nichts gemacht.«

Zu oft habe ich von Theo diese Ausrede gehört, und es macht mich wahnsinnig, dass ich einfach wegschauen soll.

»Ja, sicher. Dein Mathebuch hat nur eine freiwillige Flugstunde genommen, oder was?«

»Nein. Das war Andi …«

Theo deutet auf Samuel, der seinen Sicherheitsabstand zwar beibehält, aber zumindest schon wieder ein bisschen lächelt. Langsam hebt er die Hände bis auf Brusthöhe, als wolle er sich ergeben, während Theo sein Plädoyer fortsetzt.

»Samuel kam dazu und hat Andi die Meinung gegeigt.«

Ich lasse Samuel nur deswegen aus den Augen, weil ich an Theos Gesicht ablesen will, ob es sich wieder mal um eine seiner Notlügen handelt oder ob es die Wahrheit ist. Seine klaren Augen sehen mich direkt an, kein nervöses Blinzeln, kein Ausweichen, nur pure Erleichterung. Langsam entspanne ich mich und löse auch meine Fäuste.

»Sorry. Ich habe ihn nur so stehen sehen und dich auf dem Boden …«

Ich greife vorsichtig nach Theos Gesicht, wo sich am Kinn eine rote Schramme abzeichnet.

»Wie ist das denn passiert?«

Theo entzieht sich sofort meiner Berührung und schultert lieber den inzwischen wieder gefüllten Rucksack.

»Keine Ahnung.«

Samuel, der offenbar bemerkt hat, dass die Gefahr und meine Wutwolke sich verzogen haben, kommt wieder ein bisschen näher.

»Er hat auf der Treppe mit dem Kinn gebremst, nachdem dieses Arschloch ihm von hinten ein Bein gestellt hat.«

Ich sehe zu Samuel, der sich jetzt die Hände in die Jackentaschen schiebt und mit den Schultern zuckt, bevor er weiterspricht.

»Also dachte ich, wird es Zeit für ein kurzes Gespräch.«

Er schießt ein Halblächeln hinterher und trifft dabei blöderweise ins Ziel, was ich mir aber nicht anmerken lassen will.

»Aha.«

Theo nickt begeistert. Und zwar so begeistert, wie ich es schon lange nicht mehr an ihm gesehen habe.

»Er war richtig krass. Niemand spricht so mit Andi. Also, außer dir.« Er zwinkert mir schnell zu und deutet dann auf Samuel. »Das ist übrigens Samuel.«

»Ich weiß.«

»Ach, ihr kennt euch schon?«

Jetzt mustert Theo zur Abwechslung mal mein Gesicht und ich nicke so unschuldig wie möglich.

»Deutsch und Bio.«

»Ach so.«

Samuel versucht derweil uns zu folgen, ist von den Infos aber dezent überfordert, also klärt Theo ihn auf.

»Marie ist meine Schwester.«

»Ach, so ist das. Verstehe.« Höre ich da etwa Erleichterung aus seinen Worten? »Nun, ich will die Familienidylle auch nicht länger stören. Muss los. Bis morgen.«

Er winkt uns kurz zu, was bei ihm nicht ganz so peinlich aussieht, wie man meinen könnte, stopft sich seine AirPods in die Ohren, schaltet die Musik ein – und zwar so laut, dass wir alle was davon haben –, und geht dann einfach davon, als hätte er nicht gerade für meinen Bruder den Kopf in das Löwenmaul der Schule gesteckt.

»Cooler Typ, was?«

Wir sehen ihm beide dabei zu, wie er durch die Glastür nach draußen verschwindet, den Kragen seiner Jacke höher zieht und über den Pausenhof marschiert.

»Oder lebensmüde, wie man es nimmt. Wer legt sich schon freiwillig mit Andi und seinen Spinnern an?«

Als Samuel aus unserem Blickfeld verschwunden ist, drehe ich mich wieder zu Theo und ernte ein Augenrollen, als ich die Schramme am Kinn genauer unter die Lupe nehme.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Marie. Mir geht es gut.«

Wenn er wüsste, wie gerne ich ihm das glauben würde und wie schlecht er lügt. Wie oft ich ihn nachts hören kann und wie sehr es mir das Herz zerreißt, so hilflos auf der anderen Seite der Tür zu stehen.

»Komm, lass uns nach Hause fahren.«

Jeden Tag fahren wir zusammen mit meinem Roller zur Schule und wieder nach Hause. Vorbei die Zeiten, als wir gemeinsam die letzte Stufe zur U-Bahn übersprungen haben, weil wir zu spät waren und gerade noch so durch die sich schon schließende Tür in die Bahn gehüpft sind. Auch deshalb habe ich den Rollerführerschein gemacht und nie lasse ich ihn alleine den Heimweg antreten – und nie würde ich zugeben, wie anstrengend das oft ist. Also tue ich das, was ich immer tue: Ich lege den Arm um ihn, setze ein Lächeln auf und führe ihn sicher durch die Pausenhalle zum Ausgang.

Die Frage, was aus ihm wird, wenn ich am Ende des Schuljahres den Abschluss habe, verdränge ich für den Moment. Sie wird mich früher oder später ohnehin einholen. Aber nicht heute. Für heute nistet sich ein ganz anderer Gedanke in meinem Gehirn ein.

Mögen wir diesen Samuel?

- 5 -

Samuel

Er sieht aus wie immer. Das müde Lächeln, als müsse er sich abmühen, die Mundwinkel nach oben zu bewegen. Dazu passend die Augen, klar und doch irgendwie trüb, die einen permanent mustern, weil er keinem traut.

Keinem außer mir.

»Der Held kehrt nach Hause.«

Ich höre ihn nur gedämpft, viel zu laut brüllt mir Casper etwas über 20 qm in die Ohren, aber ich weiß auch so, was er sagt. Nur fühle ich mich nicht gerade wie ein Held.

Er rutscht von der Parkplatzmauer vor meinem Wohnblock und breitet die Arme wie eine Einladung aus. Und weil ein altbekanntes Gesicht nach einem Schultag als der Neue tatsächlich guttut, folge ich seiner Aufforderung und drücke ihn kurz fest an mich, würge dann die Musik ab und lande endgültig wieder in der Realität.

»Servus, Nowak.«

»Hi, Tommi.«

Eigentlich heißt er Thomas Zecher, hasst es aber, wenn er so genannt wird. Für ihn klingt es zu langweilig, zu gutbürgerlich und zu wenig nach ihm. Tommi ist eine Wunsch-Identität, die er für sich im Laufe der Jahre entwickelt und weitergesponnen hat. Tommi, die Legende aus Stuttgart-Freiberg, der Junge mit dem mürrischen Blick und den coolen Jungs im Schlepptau, einer, von dem man sich fernhalten sollte und den man doch faszinierend findet.

»Ich dachte, die würden dich gar nicht mehr gehen lassen. Ich sitze schon seit einer Stunde hier und warte.«

»Ein Schultag hat für gewöhnlich sechs Schulstunden.«

Jetzt grinst er frech.

»Wenn du das sagst.«

Tommi ist nicht der Schultyp. War er nie und wird er in diesem Leben auch nicht mehr werden. Der Rest der Welt ist für ihn viel zu verlockend, als dass er seine Zeit in einem Betonbunker zwischen Pythagoras und Mendel verbringen würde. Manchmal verschwindet er für Tage, manchmal sogar für Wochen, und keiner weiß, wo er steckt.

Aber jetzt ist er hier und begrüßt mich nach dem ersten Tag meines neuen Lebens.

»Tut gut, dich zu sehen.«

Er sieht mir dabei in die Augen, flüstert es aber, weil es nur mir gilt und nicht den Ohren der Straße um uns herum. Es würde ohnehin nur seinem Ruf schaden, wenn man wüsste, wie er unter der vermeintlich harten Schale wirklich tickt.

»Dito.«

Kurz stehen wir hilflos voreinander, wissen nicht so recht, wohin mit unseren Händen oder Worten, und ich will am liebsten weg.

»Und wie lief es an der fancy Schule?«

Komisch, dass ich bei dieser Frage zuerst an Marie denken muss. Dabei ist heute so viel Zeug passiert und auf mich eingeprasselt, aber doch drängt sie sich mit ihrem Lächeln und den neugierigen Blicken direkt in den Vordergrund meiner Gedanken.

»Ganz gut.«

»Bist ja auch ein schlauer Kopf. Du wirst das schon rocken.«

Er greift in die Jackentasche und zieht eine Packung Zigaretten heraus, durchsucht die andere Tasche nach einem Feuerzeug und sieht dabei zu mir.

»Und was machen wir jetzt?«

Wir. Natürlich. Weil für ihn alles ganz normal weitergegangen ist und wir noch immer beste Freunde sind. Ich wünschte, für mich wäre es auch so gelaufen. Dumm nur, dass es das nicht ist.

»Ich esse erst mal was. Dann schaue ich mir den Schulstoff an und vielleicht zocke ich noch eine Runde FIFA.«

Tommis Augen werden schmal, weil er natürlich versteht, was ich mit dieser Antwort eigentlich sagen will. Und weil ich ihn so gut kenne, weiß ich auch, dass er nicht lockerlassen wird.

»Brauchst du dabei vielleicht Gesellschaft?«

»Du meinst wohl eher Ablenkung.«

»Du kennst mich eben einfach zu gut.« Er klopft mir auf die Schulter und zeigt in Richtung der U-Bahn, die ich gerade erst hinter mir gelassen habe. »Hausaufgaben rennen nicht weg, die Zeit schon. Los, komm.«

»Ich kann nicht.«

»Komm schon, ich lade dich auf einen Döner ein.«

»Thomas …«

»Fang jetzt nicht mit der Thomas-Nummer an. Ich lad dich ein! Das kannst du nicht ablehnen. Außerdem warten die anderen auf dich.«

»Die anderen?«

»Deine Freunde.« Ich schüttele den Kopf, aber Tommi hat sich bereits festgebissen. »Okay, dann eben dein Fanclub. Wir müssen es doch feiern.«

»Keine so gute Idee.«

»Nur ein Döner. Mach es für mich.«

Theatralisch legt er die Hände so zusammen, als würde er beten, und sieht mich mit einem waschechten Welpenblick an. Immerhin ist er extra hierhergekommen, und das zu einer Uhrzeit, zu der er manchmal noch daheim im Bett liegt und döst. Kurz sehe ich zum Küchenfenster im dritten Stock, wo die Wohnung meiner Mutter liegt, in der jetzt auch ich wohne. Mama hat mir einen Teller mit Maultaschen in den Kühlschrank gestellt, den muss ich mir nur warm machen. Das stand auf dem Zettel, den sie mir neben meine Kaffeetasse geklebt hat und von dem sie wusste, dass ich ihn lese, bevor ich aufbreche. Sie hat an alles gedacht, will es mir so angenehm wie möglich machen, damit ich nicht merke, dass in ihrem neuen Leben eigentlich kein Platz für mich ist.

Die ausklappbare Couch im winzigen Abstellzimmer ist mein Bett, ein Bücherregal dient vorübergehend als Schrank für meine Klamotten und meine Hausaufgaben werde ich am Küchentisch machen. Für mich ist das okay, aber an der tiefen Falte zwischen ihren Augenbrauen erkenne ich, dass sie mit der Situation nicht glücklich ist.

»Kriegst auch ganz jugendfrei eine Cola dazu.«

Tommi schubst mich freundschaftlich gegen die Schulter und holt mich damit aus meinen Gedanken zurück auf die Straße. So wie er mich anstrahlt, glaube ich sogar, dass er sich wirklich freut, mich zu sehen, und das ist auf eine merkwürdige Art beruhigend.

In seinem Leben ist also noch immer ein Platz für mich, den er mir freigehalten hat wie früher im Kindergarten, als ich immer neben ihm gesessen habe. Wieso hat mir keiner gesagt, wie schwer es in der Praxis sein wird, Erinnerungen an ein früheres Leben einfach so zu vergessen und ganz neu anzufangen? Sind es nicht genau diese Erinnerungen, die Menschenleben miteinander verweben, der Stoff, aus dem Freundschaften gemacht sind?

»Döner klingt gut.«

Er reckt die Faust in die Luft und hüpft kurz auf der Stelle, was eine Art Freudentanz sein soll, und ich muss lachen.

»Du bist so ein Spinner.«

»Lass mich, ich freu mich einfach, dass du wieder da bist. War echt öde ohne dich.«

Ich hatte versprochen, mich von Tommi und den anderen fernzuhalten. So, wie ich auch versprochen habe, nicht mehr zu rauchen.

»Und wie sind die Leute in der neuen Schule so?«

»Ganz in Ordnung.«

Dabei kenne ich noch niemanden so richtig, es war mein erster Tag. Die Informationsflut hat mich ziemlich heftig überrollt und unter sich begraben.

»Ist immer beschissen, wenn man der Neue ist, oder?«

»Schon.«

»Wenn es einer packt, dann du.«

Tommi ist mein bester Freund. Es gibt kaum eine Episode meiner Kindheit, in der er nicht eine Hauptrolle gespielt hat. Auch wenn ich es nicht wirklich zugeben will, es tut gut, ihn zu sehen. Vor allem nach dem ersten Schultag.

»Hoffen wir es.«

»Nur noch ein Jahr, dann hast du Abi und haust ab.«

»Ach ja?«

Schön zu sehen, dass Tommi schon einen Plan für mich hat, während ich in Bezug auf meine Zukunft noch etwas verloren im Kaffeesatz rumstochere.

»Na logo. Du wirst Arzt. Oder Architekt. Oder …« Er bleibt stehen, richtet den müden Blick in die Ferne und sieht dabei reichlich bescheuert aus. »Politiker.«

Ich muss mir das Lachen verkneifen und schüttele den Kopf.

»Dich würden die Leute wählen.«

»Ich verzichte dennoch dankend.«

»Dann gehst du halt für ein Jahr weg. Australien oder USA. Machen doch viele.«

Ganz so weit weg muss es gar nicht sein. Dafür fehlt mir die Kohle und der Abenteuersinn.

»Raus aus Stuttgart würde mir schon reichen.«

»Dann eben raus aus dem Kessel. Berlin?«

Berlin ist zu groß für mich, dort würde ich mich nur wieder verlieren.

»Keine Ahnung.«

»Hamburg? Da bist du am Meer und kannst jederzeit weg!« So wie Tommi jetzt strahlt, glaube ich fast, es ist sein erklärtes Ziel und nicht meines. Er hat offensichtlich große Pläne. »Oder München. Da soll es hübsche Mädchen geben.«

»Dann geh du doch nach München.«

Aber Tommi schüttelt den Kopf, zieht wieder an seiner Kippe und deutet dann auf alles um uns herum.

»Und mein schwäbisches Königreich verlassen? Niemals.«

Wäre da nicht dieser sehnsüchtige Blick, der seine Worte als Lüge entlarvt, hätte ich es ihm fast geglaubt.

»Du bleibst also für immer in Stuttgart?«

»Ich bleibe hier. Jemand muss dich doch begrüßen, wenn du uns ab und an besuchen kommst.«

Er ist so sicher, dass ich weggehen werde. Ich spüre den altbekannten Druck, habe Angst, dass ich wieder jemanden enttäuschen könnte.

»Im Ernst, ich habe keine Ahnung, was ich nach der Schule machen soll.«

Das wollte ich gar nicht laut aussprechen. Nicht vor Tommi oder sonst jemandem, aber jetzt ist es zu spät und die Worte sind in der Welt.

»Das weiß doch keiner. Wir tun alle nur so, als ob wir ’nen Plan hätten, in welche Richtung es geht, und hoffen, in die richtige Bahn eingestiegen zu sein.«

Wir bleiben an der U-Bahnstation stehen und beobachten die Tauben, die den Boden nach Brotresten absuchen und hier und da fündig werden.

»Aber du wirst in der richtigen Bahn landen, da bin ich mir sicher.«

»Ach ja?«

»Klar. Weil du schon immer der mit einer Zukunft warst.«

Tommi nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippt den Stummel dann auf die Gleise vor uns, wo der noch tapfer weiterglimmt, ohne zu wissen, dass die nächste Bahn – und sein Ende – nur drei Minuten entfernt sind.

»Jetzt bin ich der ohne Plan.«

»Stress dich nicht. Bei irgendwas wird dein Herz komplett durchdrehen und sich nicht mehr einkriegen.«

»Und dann weiß ich, was ich machen will?«

»Du nicht, aber dein Herz. Das ist ein guter Anfang.«

Neun Monate haben wir uns nicht gesehen, und obwohl er noch immer so aussieht wie davor – also wie immer –, habe ich den Eindruck, er hat sich ebenso sehr verändert, wie ich es getan habe. Er legt seine Hand auf die Brust und sieht mich ernst an.

»Mein Herz weiß zum Beispiel schon, was es will.«

»Und das wäre?«

Er rückt ein kleines bisschen an mich heran und die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht lässt Panik in mir aufsteigen. Wenn selbst Tommi weiß, wohin mit seiner Zukunft, bin ich wirklich der Letzte, der keinen Plan hat.

»Einen Döner mit allem und extra Knoblauchsoße.«

- 6 -

Marie

Theo ist direkt auf sein Zimmer gegangen. Das läuft immer so ab. Kaum durch die Tür, kurzes Hallo und zack!, nichts wie weg. Damit überlässt er mich Mamas Inquisition, und ich frage mich dabei mal wieder, ob sie meine offensichtlichen Ausreden nicht schon längst durchschaut hat.

»Was ist mit seinem Kinn passiert?«

»Ist wohl beim Sport passiert.«

Sie nickt, will es glauben, weil das leichter ist als die vermutete Wahrheit.

»Wie liefen die Pausen?«

»Ganz gut.«

»Gab es Ärger?«

Ich schüttele den Kopf ganz automatisch, obwohl sich das Bild von ihm, wie er seine Sachen vom Boden gesammelt hat, sofort ungefragt einstellt.

Das und Samuels.

»Also ein guter Tag?«

Diesmal nicke ich, beantworte die Frage mehr oder weniger wahrheitsgemäß.

»Ist sonst etwas vorgefallen?«

Kurz schüttele ich den Kopf.

Dieses Gespräch mit Mama habe ich schon oft genug geführt, um zu wissen, dass sie sich nicht nach meinem Tag erkundigt. Hier geht es um Theo. So wie eigentlich immer seit dem Zwischenfall. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und bilde mir ein, dass es gar nicht mehr wehtut, selbst wenn ich eigentlich etwas erzählen will, das so gar nichts mit Theo zu tun hat und ich auf halbtaube Ohren treffe.

»Und wieso grinst du dann so?«

Ertappt sehe ich zu Mama, die in der Küche neben der Arbeitsfläche lehnt und mich interessiert mustert.

»Ich grinse gar nicht!«

Meine Mutter legt den Kopf ein bisschen schief, und ich kann spüren, wie meine Wangen zu glühen beginnen.

»Stimmt, ist eher ein echtes Lächeln.«

Als müsse ich mich selbst davon überzeugen, berühre ich meine Wangen, da, wo die Mundwinkel tatsächlich deutlich nach oben deuten und spüre gleichzeitig die Wärme meiner Haut unter den Fingern.

»Habe ich etwas verpasst?«

Mütter. Wieso haben sie dieses eingebaute Frühwarnsystem für Veränderungen im Leben ihrer Kinder und wieso funktioniert es nach einem guten Jahr Pause noch immer?

»Nein.«

Dabei fällt mir ein, dass Samuel mir meinen Kugelschreiber noch immer nicht zurückgegeben hat. Somit habe ich morgen zumindest schon mal einen Grund für ein Gespräch, falls sich keines spontan ergeben sollte.

»Ich kenne dieses Nein, Marie. Es bedeutet meistens Ja.«

Mama lächelt mich verschwörerisch an, und kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihr einfach zu erzählen, dass es einen neuen Schüler bei uns gibt. Und was er heute für Theo getan hat. Aber dann müsste ich auch erzählen, was Andi so mit Theo treibt und dann … fahren meine Gedanken wieder Karussell, und zwar viel zu schnell.

»Verschweigt Theo uns etwas?«

Das Lächeln stirbt auf meinen Lippen und bleibt wie erschossen liegen.

»Theo?«

Mama nickt so hoffnungsvoll.

»Ich dachte, vielleicht ist ihm etwas Schönes passiert und du musst deswegen lächeln.«

Natürlich. Wegen Theo. Vergessen die Tatsache, dass ich ein eigenes Leben habe, das sich vor einer langen Zeit in einer Galaxie weit, weit entfernt mal nicht nur um meinen Bruder gedreht hat. Ich kann die Wut in meinem Mund schmecken, schlucke sie aber so schnell und hart es geht runter und schenke meiner Mutter das falsche Lächeln, das mir inzwischen jeder abnimmt, weil ich es perfektioniert habe.

»Er hat wohl einen neuen Kumpel gefunden.«

So zumindest kann ich ein bisschen länger an Samuel denken. Mama lehnt sich sofort interessiert nach vorne und ich erkenne einen hoffnungsvollen Schimmer in ihren müden Augen.

»Ach wirklich?«

»Ich habe gesehen, wie er sich mit einem anderen Jungen echt gut unterhalten hat.«

»Na, das ist ja ein riesiger Fortschritt. Das ist großartig!« Es fehlt eigentlich nur, dass sie vor Begeisterung in die Hände klatscht. »Wie wunderbar.«

»Ja. Echt wunderbar.«

»Das wird Papa freuen, wenn er nach Hause kommt.«

Papa arbeitet nämlich Vollzeit, Mama nur noch halbtags. Damit sie zu Hause sein kann, für den Fall, dass Theo sie braucht. Kaum zu glauben, dass er nur ein Jahr jünger ist als ich und noch immer die Rundumbetreuung unserer Eltern bekommt. Manchmal fühlt es sich so an, als hätten sie mich aus dem Nest geschubst, weil ich ja ohnehin fliegen kann, damit sie es für Theo bequemer ausbauen können. Doch kaum habe ich diesen Gedanken, will ich mich dafür ohrfeigen.

»Ich mach mich mal an die Hausaufgaben.«

Bevor sie antworten oder noch mehr Fragen stellen kann, eile ich aus der Küche über den Flur und bleibe kurz an Theos Zimmertür stehen. Wie immer ist sie geschlossen, weil er nach der Schule für gewöhnlich seine Ruhe braucht. Einen Augenblick warte ich, atme die Wut dahin zurück, wo sie hingehört, nämlich irgendwo in Richtung Galle, dann klopfe ich dreimal und warte.

»Ja?«

Ich schiebe die Tür nur einen kleinen Spalt weit auf, schiele ins Zimmer, wo Theo ausgestreckt auf dem Rücken im Bett liegt und an die Decke starrt.

»Falls Mama fragt, du hast heute mit einem Kumpel in der Schule gequatscht.«

Ruckartig setzt er sich auf.

»Habe ich?«

»Dieser Samuel.«

»Ich kenne den Typen doch nicht mal.«

»Schon klar, aber Mama hat angefangen, Fragen zu stellen.«

Er weiß, wie sehr ich es hasse, für ihn zu lügen, und vielleicht nickt er deshalb so matt. Blass ist er geworden. Und ein bisschen dünner. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass er sich auflösen könnte, und zwar vor unser aller Augen, weil niemand ihn zu fassen bekommt.

»Darf ich reinkommen?«

Er reagiert nicht, aber ich erkenne an seinem Blick, dass es okay ist, und so schlüpfe ich in sein Zimmer und schließe die Tür, bevor ich mich dagegenlehne.

»Willst du es ihnen nicht sagen?«

»Nein!«

Seine Stimme klingt erstaunlich hart, für jemanden mit so einer schmalen Statur. Mir fehlen seine wilden dunklen Locken, die ihn so frech gemacht haben und an denen ich ihn in jeder Menschenmenge sofort erkannt habe. Jetzt sind seine Haare ganz kurz, weil er glaubt, das würde ihm stehen. Sicher, Theo hat noch immer sein hübsches Gesicht, auch wenn es inzwischen etwas kantiger geworden ist. Sein Babyspeck ist weg, und er ist auf dem besten Weg, nicht mehr viel Ähnlichkeit mit meinem kleinen Bruder zu haben, den ich so sehr vermisse.

»Vielleicht könnten sie mit dem Direks reden.«

Er schüttelt so wild den Kopf, dass ich befürchte, er könnte vom Bett rutschen.

»Das bringt nichts, Marie. Es würde alles nur noch schlimmer machen.«

Um seinem traurigen Blick auszuweichen, sehe ich mich in seinem Zimmer um, das mir noch immer vorgaukeln will, dass hier mein Bruder lebt. Die Poster seiner Lieblingsfilme an der Wand, Postkarten, die alte Freunde geschrieben haben, ein paar Polaroids vom Sommer in Kroatien und die Playstation, die mitten im Zimmer steht, als wäre sie dort festgewachsen.

Aber der Junge, der jetzt an die Bettkante rutscht, der ist nur eine billige Kopie von dem Theo, dessen Lachen unsere Wohnung erfüllt und mich in den Wahnsinn getrieben hat. Immer saß ihm der Schalk im Nacken, der nächste blöde Spruch lag schon auf seinen Lippen, und ein freches Grinsen versteckte sich im Mundwinkel, allzeit bereit, abgefeuert zu werden.

Ich vermisse diesen Theo so sehr, dass mir das Atmen manchmal schwerfällt.

»Bitte, Marie.«

»Und was, wenn ich nächstes Jahr mit der Schule fertig bin? Was wird dann aus dir?«

Darüber haben wir nämlich noch nicht gesprochen, und ich befürchte, er verdrängt den Gedanken erfolgreicher als ich.

»Ich komm schon klar.«

»Andi wird dich dann doch erst recht ins Visier nehmen und …«

»Ich komm schon klar!«

Das klingt trotzig und verzweifelt zugleich. Das schlechte Gewissen robbt sich von Tag zu Tag näher an mich heran und ich kann seinen fauligen Atem schon fast in meinem Nacken spüren. Ich lasse meinen Bruder einfach zurück.

»Im Ernst, irgendwie komme ich klar. Mach dir bitte keine Sorgen.«

Fast lache ich auf, weil ich seit Monaten nichts anderes mehr tue als das.

»Du machst deinen Abschluss und fertig.«

Jetzt erinnert mich sein Lächeln tatsächlich wieder ein bisschen an den alten Theo, der mich mit einem Augenzwinkern beruhigen konnte.

»Von mir aus.«

»Okay, Marie. Du bist echt die Beste.«

Wieso fühlt es sich dann nicht so an?

- 7 -

Theo

Familienabendessen sind das Schlimmste.

Marie schaltet in den Joke-Modus, erzählt amüsante Anekdoten aus ihrem Schultag, die sie ausschmückt und dafür Lacher von Mama und Papa kassiert. Es ist nichts weiter als ein Ablenkungsversuch, der mir beim Essen Ruhe bescheren soll. Nur vor den Blicken meiner Eltern kann sie mich nicht schützen, dafür müsste ich mir einen Bunker mit Stacheldraht und Elektrozaun bauen, und an manchen Tagen klingt das sogar echt verlockend.

Ich weiß, dass sie sich Sorgen machen, aber sie merken nicht, wie sehr sie mich darunter erdrücken. Also spiele ich eine Rolle, so wie Marie, und jedes Abendessen wird zu unserer Theaterbühne.

Marie, die Lustige, deren Schulalltag einer Sitcom gleicht, und ich, Theo, der Optimist, der mit blendender Zuversicht in den nächsten Tag und das kommende Abenteuer startet, weil ihn nichts und niemand kaputtkriegen kann.

Alles für das dankbare Publikum aka unsere Eltern, die an den richtigen Stellen lachen, klatschen und ihre Ohs und Ahs in die Runde werfen.

Ich hasse das.

So sehr, dass ich schon oft eine Magenverstimmung vorgetäuscht habe, damit ich nicht mit ihnen allen zusammen essen muss. Heute gab es keine Chance auf Flucht, und so gilt es wieder mal, eine 1 a Performance hinzulegen.

»Wer ist denn dein neuer Kumpel, von dem mir Marie erzählt hat?«

Mama ist wirklich interessiert. Um nicht zu sagen, sie recherchiert für ihren Investigativbericht über mein Leben. Meine Schwester und ich wechseln kurz einen Blick, verständigen uns wortlos über den nächsten Akt wie alle guten Impro-Künstler und ich lege das Besteck vorsichtig beiseite, hole Luft und beginne den zweiten Akt.

»Sein Name ist Samuel. Netter Typ.«

Ich bete, dass sie nicht noch mehr Infos wollen, denn ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr über ihn.

»Samuel. Interessanter Name.«

»Mhm.«

»Woher kennst du ihn?«

Ich will sie nicht anlügen, zumindest nicht direkt und vor allem nicht einfach so. Meistens halte ich mich grob an die Wahrheit, die ich an den notwendigen Stellen etwas dehne.

»Ähm …«

Es gibt keine Notlüge, in der ich Andi nicht auslassen könnte, und so springt mir Marie rettend zu Seite.

»Samuel ist eigentlich in meinem Jahrgang, aber er hatte sich verlaufen. Erster Schultag und so.«

Gute Idee, die Story könnte funktionieren. Nickend übernehme ich wieder.

»Und ich habe ihn ein bisschen rumgeführt.«

»Ach so. Er ist also älter.«

»Jap. Marie hat Bio und Deutsch mit ihm.«

Der Blick, den ich für die Weitergabe dieser Info von meiner Schwester kassiere, ist nicht besonders nett, aber vielleicht lenkt das für den Moment die Aufmerksamkeit auf sie und weg von mir.

»Wo kommt er denn her?«

»Keine Ahnung.«

Maries Körperhaltung würde selbst einem Fremden verraten, dass sie das Thema nicht mit meinen Eltern besprechen will, aber die übersehen es mal wieder und haken sofort nach.

»Und denkst du, er ist ein guter Umgang für Theo?«

»Sicher. Wieso nicht?«

»Ich frag ja nur …«

»Er ist wirklich in Ordnung.«

Maries Verteidigung klingt sogar überzeugend, und ich sehe überrascht zu ihr, doch sie zuckt nur die Schultern und stochert wieder in ihrem Essen.

»Nun, auf jeden Fall ist es schön, dass du mal wieder Kontakt suchst, Theo.« Papa klopft mir ermunternd auf die Schulter und ich nicke tapfer.

Wie gerne würde ich ihnen sagen, dass ihre Vorstellung von meiner Heilung nicht funktioniert und sie mich gerne noch weiter von Arzt zu Arzt reichen können. Zu Beginn der Therapie hieß es immer: Es braucht Zeit. Jeder heilt anders. Aber offenbar drängt jetzt doch alles auf eine deutliche Genesung nach Plan.

Dabei würde ich mich an den meisten Tagen am liebsten noch immer in meinem Zimmer verkriechen und einfach nur dort bleiben. Aber sobald ich das auch nur erwähne, wird direkt ein neuer Termin bei Dr. Schädle vereinbart. Und dann muss ich wieder reden.

Und reden.

Und reden.

Und je mehr ich rede, desto häufiger geht der Horror wieder von vorne los.

Nur ändern tut sich nichts.

Also funktioniere ich. Für Mama, für Papa und für Marie. Wer weiß, vielleicht schaffe ich es ja eines Tages sogar, mich auf diese Art selbst davon zu überzeugen, dass alles wieder in Ordnung kommt.

Nur noch ein bisschen durchhalten.

- 8 -

Samuel

Da bist du ja endlich. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Mama sitzt am Küchentisch, die Brille auf der Nase und eine Tasse Tee vor sich. Aber als Erstes fällt mir die Sorge in ihrem Blick auf, als ich die Wohnung betrete.

»Ich habe versucht dich anzurufen.«

Die Uhr an der Wand über ihr zeigt, dass es schon halb elf ist, und die Maultaschen stehen noch immer unberührt im Kühlschrank.

»Sorry, mein Akku ist leer.«

Wie zum Beweis lege ich mein Handy vor sie auf den Tisch und ziehe mir einen Stuhl heran, nachdem ich meinen Rucksack abgestellt habe.

»Wo warst du denn so lange?«

Die einzige Regel, auf die sie bestanden hat, bevor ich eingezogen bin, ist die, dass wir uns die Wahrheit sagen. Keine Lügengeschichten, keine Ausreden, nur die bittere Wahrheit. Unter dieser Bedingung bin ich hier, und ich habe vor, mich daran zu halten.

»Ich war mit Thomas unterwegs.«

Bewusst nenne ich ihn nicht Tommi, denn Tommi ist schlechter Umgang. Thomas aber mein bester Freund. Sie atmet tief ein, sobald ich seinen Namen ausspreche, und stützt das Gesicht in ihre Hände.

»Samuel … Doch nicht mit Tommi.«

Nein, nicht mit Tommi.

»Wir waren nur was essen.«

»Bis eben?«

»Nein. Wir sind noch ein bisschen durch die Stadt gefahren.«

Sie hebt den Blick gerade so weit, dass sie mir direkt in die Augen sehen kann.

»Hast du was getrunken?«

»Eine Cola.«

»Geraucht?«

Ich lehne mich in ihre Richtung, damit sie an mir und meinen Klamotten schnuppern kann.

»Nichts.«

Sie glaubt mir, das kann ich sehen, und außerdem hat sie keine Beweise, meine Jacke riecht maximal nach Knoblauch, weil mir Soße auf den Ärmel getropft ist, aber sicher nicht nach Rauch.

»Ich möchte, dass du direkt nach der Schule heimkommst und nicht bis spät durch die Stadt ziehst.«

Das hier ist keine Diskussion und ich habe nichts dagegen vorzubringen, also zucke ich die Schultern und gebe mich geschlagen.

»Okay.«

»Das ist mein Ernst, Samu.«

Sie hat mich schon eine Ewigkeit nicht mehr Samu genannt, und irgendwie ist es mir ein bisschen peinlich, weil es klingt, als wäre ich noch acht Jahre alt.

»Gut. Dann haben wir das geklärt. Wie war die Schule?«

»Echt okay. Das ist eine gute Schule.«

»Glaubst du, dass du mitkommen wirst?«

»Bestimmt.«

Mein Vater hat nie nach meinem Schultag gefragt oder wo ich mich rumgetrieben habe. Das fand ich eigentlich ziemlich cool, weil ich mir so irre erwachsen vorkam. Ich dachte, mein Vater vertraut mir so sehr, dass er mich nicht ständig kontrolliert. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass es ihm einfach egal ist.

»Hast du Hausaufgaben?«

»Ja. Die mache ich gleich.«

Mama nickt und steht auf, will mir wohl die Privatsphäre dafür geben, doch auf meiner Höhe bleibt sie stehen und berührt meine Wange.

»Es ist schön, dass du wieder da bist.«

Eigentlich will ich voll cool reagieren, mit einem albernen Spruch die Sentimentalität aus dem Moment nehmen, aber die Wahrheit ist, dass ich froh bin, hier zu sein. Kurz schließe ich die Augen und lehne mich ein bisschen in ihre Berührung.

»Falls du Hunger hast, die Maultaschen stehen noch im Kühlschrank.«

Sie küsst meinen Scheitel und lässt mich dann alleine in der winzigen Küche zurück. Ich warte, bis ich mir sicher sein kann, dass ich wirklich alleine bin, bevor ich die Augen wieder öffne und kurz durchatme.

Alles erzählen sie einem, auf alles bereiten sie dich vor, aber wie es ist, mit fast achtzehn wieder zur Mutter ziehen zu müssen, das erklärt dir keiner.

Jahrelang habe ich eine ungemeine Wut auf sie gepflegt, weil sie Papa und mich einfach so verlassen hat, aber jetzt merke ich, wie sehr ich sie in all den Jahren immer nur vermisst habe. Die Wut war eigentlich nur Enttäuschung und ein bisschen Angst. Angst davor, dass sie mich gar nicht liebt oder will. Dabei hat sie nur den Absprung gewagt, bevor sie kaputtgehen konnte.

Den Gedanken abschüttelnd greife ich nach meinem Rucksack und fische das Biobuch und den Ordner hervor, als mir ein gelber Kugelschreiber entgegenfällt.

Maries Kugelschreiber.

Wie sie mich von ihrem Bruder weggeschubst hat und in Grund und Boden gestarrt hat, als müsse sie Theo vor dem Angriff der Weißen Wanderer beschützen. Das hat mir imponiert, und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich auch, ohne mit der Wimper zu zucken, mit diesem Arschloch-Andi angelegt hätte.

Ich drehe den Kugelschreiber zwischen meinen Fingern und erwische mich dabei, wie ich unser erstes Aufeinandertreffen noch mal durchspiele.

Das Gute an der neuen Schule ist, dass mich dort niemand kennt und ich noch mal bei null anfangen kann. Was mir vorgestern noch den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hat, empfinde ich jetzt als angenehme Befreiung, denn ich bin einfach nur einer von vielen. Keine Sonderbehandlung, kein Zurückweichen, keine Angst.

Und morgen darf ich das Gleiche noch mal erleben. Grinsend mache ich mich an die Aufgaben und beschließe, mein Mäppchen in nächster Zeit vorsichtshalber öfter zu vergessen.

Nur für den Fall, dass mich das Glück wieder in Maries Nähe schleudert.

- 9 -

Marie

Eine ganze Woche ist er unbeschadet durch den Schulalltag gekommen, dafür sollte man ihm einen Orden verleihen. Vom Typ her ist er eher ruhig, zumindest nimmt er nur sehr zurückhaltend am Unterricht teil, auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass er mehr zu sagen hat, als er zugeben will. In den Pausen bleibt er für sich oder verkrümelt sich komplett, taucht erst zur nächsten Stunde auf, oft zu spät und mit entschuldigendem Lächeln. Aber die Lehrer sind ziemlich entspannt, gewähren ihm noch die Schonfrist des Neuen.

Heute trägt er eine Jeansjacke mit Fellkragen, was ihn, im Vergleich zur letzten Woche, fast schon kuschelig wirken lässt. Dazu passen auch das leichte Lächeln und das Kopfwippen zur Musik, die ich nicht hören kann. Mich hat er nicht bemerkt, zumindest geht er wort- und grußlos an mir vorbei, den Blick fest auf einen kleinen Zettel in seiner Hand gerichtet. Unauffällig hefte ich mich an seine Fersen und folge ihm durch den Strom der Schüler durch die Flure. Einige der anderen mustern ihn im Vorbeigehen, weil ein Neuer immer auffällt, ob er will oder nicht. Bis er sich einer Gruppe anschließt, bleibt er ein Objekt der Skepsis.

Erst vor dem Chemiesaal bemerkt er, dass er falsch ist.

»Fuck.«

Samuel knüllt den Zettel zusammen und stopft ihn genervt in die Jackentasche.

»Na, mal wieder verlaufen?«

Überrascht dreht er sich zu mir um, sein verschwundenes Lächeln taucht sofort wieder auf.

»Bisschen.«

Er fischt den Zettel wieder aus der Tasche und tippt genervt drauf.

»Wieso ist hier nicht Saal 229?«

»Weil du im dritten Stock bist.«

»Ah. Das erklärt einiges.«

»Du willst also zu Geschichte.«

Er hebt abwehrend eine Hand.

»Von wollen kann nicht die Rede sein …«

Ich möchte ihm recht geben, grinse aber nur ein bisschen und nicke in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

»Geht mir ähnlich, aber wir haben ein interessantes Thema.«

Er hebt fragend die Augenbrauen.

»Sag nur, du hast jetzt auch Geschichte?«

Statt zu antworten, laufe ich schon mal los und höre, wie er mir folgt. Begleitet von einem fast vergessenen Gefühl.

»Habe ich.«

»Das ändert die Lage drastisch.«

Samuel holt mich ein, geht im Gleichschritt neben mir her, sieht mich aber nicht mehr an, sondern lässt den Blick über die Flure wandern.

»Wie schaffst du es, dich nicht zu verlaufen?«

»Ich bin seit der 5. Klasse hier, inzwischen habe ich mich an alles gewöhnt.« Immerhin ist unsere Schule auch nicht so groß, dass man einen Stadtplan bräuchte, aber Samuel sieht noch immer reichlich verwirrt aus. »Auf welcher Schule warst du vorher?«

»Ist das da drüben ein Computerraum?« Er bleibt stehen und deutet durch die großen Scheiben in unseren Multimediasaal, der noch leer ist.

»Ja.«

»Nicht schlecht.« Er tritt noch näher an die Scheibe. »MacBooks?«

»Ja.«

»Wow.«

»Gab es die an deiner alten Schule nicht?«

»Nee.«

Ich warte, ob er vielleicht auf meine Eingangsfrage antworten will, aber Samuel bewundert aus der Ferne einfach nur den technischen Schnickschnack, den unsere Schule zu bieten hat.

»Und was wird darin unterrichtet?«

»Nicht Geschichte.«

Doch er bemerkt mich gar nicht mehr, lehnt seine Stirn gegen die Scheibe und sieht sehnsüchtig zu den Computern auf der anderen Seite. Ich nutze die Chance und betrachte sein Profil einen Moment. Jetzt gerade liegt da diese Ernsthaftigkeit in seinen Gesichtszügen, die nicht so recht zu dem Lächeln von vorhin passen will. Dieses Lächeln, das immer in zwei Hälften geteilt ist. In einen schüchternen und einen frechen Teil. Doch im Moment sehe ich etwas Neues: einen Blick, in dem Sehnsucht liegt, sicherlich nicht nur nach den Computern, und es fühlt sich so an, als würde er ganz weit weg sein. Kurz berühre ich ihn am Ärmel seiner Jacke, will ihn zurückholen und er zuckt erschrocken zusammen. Der folgende Blick sorgt bei mir für eine Gänsehaut, und zwar keine von der guten Sorte.

»Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Hast du gar nicht.«

»Was dann? Habe ich dich etwa geweckt?«

Er schaltet das Lächeln wieder an, ein Trick, den er bestens zu beherrschen scheint und auf den ich fast reingefallen wäre.

»So was in der Art. Ich war auf einem Gedankenspaziergang.«

»Wo warst du denn eben spazieren?« Obwohl ich ahne, dass er mir nicht antworten wird, bin ich enttäuscht, als er sich von der Scheibe abstößt und zur Treppe deutet.

»Geschichte, oder?«

Wären wir nicht schon zu spät dran, würde ich ihn noch mal fragen, aber so nicke ich nur und führe ihn zum richtigen