Morgen irgendwo am Meer - Adriana Popescu - E-Book
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Morgen irgendwo am Meer E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Ein goldener Mercedes, Wind in den Haaren und das Meer vor Augen – vier Jugendliche auf dem Weg nach Lissabon ...

Was Romy, Konrad, Nele und Julian auf ihrem gemeinsamen Weg nach Lissabon erwartet, scheint der perfekte Sommerroadtrip nach dem Abitur zu sein. Doch dass jeder von ihnen weit mehr als nur leichte Sommerklamotten im Gepäck hat, wird dem eher durch Zufall zusammengewürfelten Quartett erst im Lauf der Reise klar. Denn in Wahrheit geht es bei diesem Roadtrip um nichts weniger als die Suche nach sich selbst, dem eigenen Leben, der großen Liebe und wahrer Freundschaft.
Ein berauschendes Sommer-Roadmovie mit Tiefgang, nun als zauberhafter Kinofilm.

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Seitenzahl: 476

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DIE AUTORIN

Foto: © Notker Mahr

ADRIANA POPESCU, 1980 in München geboren, arbeitete als Drehbuchautorin fürs Fernsehen, schrieb für verschiedene Zeitschriften und studierte Literaturwissenschaften, bevor sie sich ausschließlich dem Schreiben von Romanen widmete. Mittlerweile harrt eine große Fangemeinde ihren nächsten Veröffentlichungen entgegen, die in mehreren großen Publikumsverlagen erscheinen.

Von Adriana Popescu sind bei cbj erschienen:

Ein Sommer und vier Tage

Paris, du und ich

Paris, Clara und ich

Schöne Grüße vom Mond

Mein Sommer auf dem Mond

Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader

ADRIANA POPESCU

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Für alle, die gegen Windmühlen kämpfen

Erstmals als cbt Taschenbuch Mai 2019

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Geviert, Andrea Hollerieth

unter Verwendung der Bilder von

© Marko Rupena und © Shutterstock

(Jacob Lund, EpicStockMedia)

MP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22243-7V005

www.cbj-verlag.de

Julian

Das Lenkrad ist so groß wie ein Hula-Hoop-Reifen.

Es fühlt sich rau unter meinen Fingern an. Beinfreiheit habe ich hier drinnen mehr als in der Economy Class. Es riecht wie in einem künstlichen Tannenwald, was an dem grünen Duftbaum am Rückspiegel liegt, der schon seit Jahren hier hängt. Die Holzverkleidung am Armaturenbrett sieht inzwischen etwas fleckig aus, hat aber noch immer einen ordentlichen Hauch von Charme, den man in neuen Schlitten vermisst.

Ich lehne mich in den dunkelbraun bezogenen Sitz und drücke die Arme durch, das Lenkrad noch immer fest umklammert, als würde ich die Route 66 entlangbrettern. Durch die schmutzige Frontscheibe sehe ich auf unsere Auffahrt, wo mein Fahrrad wie ein erschossenes Tier liegt und darauf wartet, in der Garage ordnungsgerecht abgestellt zu werden, damit weder Mama noch Papa was zu meckern haben.

Aber das ist mir gerade alles scheißegal.

Ich nehme meine Brille ab und reibe mir die Schläfen. Seit Wochen habe ich Kopfschmerzen, jedes Mal, wenn ich länger als zwei Minuten mit meinen Gedanken alleine gelassen werde und sie es sich auf dem geistigen Kettenkarussell in meinem Gehirn bequem machen. Ich esse Aspirintabletten inzwischen wie Tic Tacs einfach so weg und spüle sie mit einer großen Tasse Kaffee runter. Bei der Arbeit denke ich nicht viel nach, mache genau die Dinge, die von mir erwartet werden, und sammele wie ein Meister Erfahrungen, die mir dann im echten Leben helfen sollen, meine Prioritäten korrekt zu setzen. Ehrlich gesagt, war der Bundesfreiwilligendienst die einfachste Möglichkeit, dem ewigen Gequatsche meiner Eltern zu entkommen. So habe ich ein Jahr nach dem Abi Zeit gewonnen, in dem ich mich nicht für einen Lebensentwurf, eine Uni, eine Zukunft entscheiden musste.

Aber damit ist jetzt Schluss.

Mein Handy vibriert auf dem Beifahrersitz, und ich erkenne Romys lächelndes Profilfoto auf dem Display. Romy.

Ich schaue auf die Oldschool-Uhr des Mercedes, die auch nach all den Jahren noch immer haargenau vor sich hin tickt – und die ich jedes Mal auf Sommer- oder Winterzeit stelle. Es ist kurz nach zwölf oder in einer anderen Zeitdimension: Schulende. Heute ist der letzte Schultag und die Sommerferien stehen an. Der Abiturjahrgang feiert jetzt sicher schon den ersten Schritt in die Freiheit. Ich weiß genau, wie sich das anfühlt, letztes Jahr ging es mir genauso.

»Hallo?« Ich nehme Romys Anruf entgegen.

»Julian, wo steckst du? Wolltest du nicht vorbeikommen?«

Wollte ich.

»Ja, es kam was dazwischen.« Mein imaginärer Roadtrip über die Route 66.

»Also packst du es nicht mehr?« Ihre Stimme klingt traurig. Ich streichele das Lenkrad und zucke die Schultern, auch wenn Romy es nicht sehen kann.

»Weiß nicht.«

»Na, wir gehen jetzt in den Schlosspark, wenn du vielleicht nachkommen magst?«

Was sie wirklich sagt: Ich würde mich riesig freuen, wenn du mitkommst.

»Ich schaue mal.«

»Ist alles okay?«

Ich will nicht, dass sie merkt: Etwas stimmt nicht. Ich will nicht mal, dass ich es merke. Weil eine Romy-Umarmung immer guttut und für eine ganze Weile die Gedanken verstummen lässt. Das ist eine ihrer Superheldinnenkräfte, von denen sie nichts weiß. Ihr Lächeln macht einen miesen Tag schöner, ihre Küsse sind die besten rezeptfreien Schmerzmittel überhaupt und ihre Umarmungen, wenn ich den Mandelshampooduft in ihren Haaren riechen kann und sie mich fest an sich drückt, sind die besten überhaupt. Irgendwann werde ich ihr das sagen, aber nicht jetzt. Nicht heute.

»Es würde mich total freuen, wenn du es doch noch packst.« Ihre Stimme kann lächeln. Noch so eine Superpower. Und irgendwie lächele ich jetzt auch.

»Dann sehen wir uns nachher noch.«

»Bis dann. Und pass auf dich auf.« Das sagt sie immer, bevor sie auflegt. Es ist ihre Art zu sagen, dass sie mich verdammt gern hat. Es fühlt sich ziemlich gut an, zu wissen, dass man jemandem wichtig ist. Wir haben auch diese widerlich romantische Angewohnheit, uns einen albernen Smiley per WhatsApp zu schicken, wenn wir zu Hause angekommen sind oder morgens aufwachen. Es war ihre Idee. Inzwischen kann ich nicht mehr einschlafen, ohne ihren letzten Gute-Nacht-Smiley. Romy macht es mir sehr schwer, mich nicht jeden Tag aufs Neue Hals über Kopf in sie zu verlieben.

Der rote Mercedes GLC meiner Mutter biegt in unsere Auffahrt und hupt genervt, weil mein Fahrrad dort im Weg liegt. Dabei könnte sie mit dem roten SUV locker einfach drüberrollen. Solche Hindernisse sind für ihren Wagen nur ein Steinchen im Weg. Der Sesriem Canyon in Namibia wär auch kein Problem. Trotzdem gurkt Mama mit dem Monstrum lieber durch Stuttgarts asphaltierte und verstopfte Straßen.

Ich finde es lächerlich, dass ich noch auf meinen Drahtesel angewiesen bin, obwohl ich den Führerschein schon über ein Jahr habe – und mir dieser Oldtimer hier zusteht. Sie winkt mir zu, lächelt ihr rotes Lippenstift-Lächeln und meine Kopfschmerzen setzen wieder ein. Also ziehe ich den Schlüssel aus dem Zündschloss des alten Mercedes und steige aus.

»Hallo, Schatz! Schon zu Hause?« Nicht mal ihre Stimme mag ich mehr hören, dabei mochte ich sie früher so.

»Bin gleich weg.« Ich ziehe das weiße Laken wieder über den Wagen, als würde ich eine Leiche zudecken und schnappe mir meinen Rucksack. Ohne Augenkontakt herzustellen, marschiere ich zum Fahrrad und schwinge mich drauf.

»Wo geht es denn hin?«

»Zu Romy.«

»Sag ihr liebe Grüße, ja?«

Kurz feuere ich ein Blickgeschoss in ihre Richtung und wundere mich, dass sie es nicht bemerkt. Ist sie wirklich so verblendet, dass sie es nicht checkt und einfach glücklich weiterlächelt?

»Bis heute Abend, Schatz.«

Nicht, wenn ich es verhindern kann.

Konrad

Es riecht nach Grillkohle und Bier.

So wie bei den Festivals, auf die wir immer wollten und nie gegangen sind. Musik dringt aus einem der Autos und dröhnt über den Schulhof. Es ist der arrogante Stolz dieser Abiturienten, der mich ankotzt. Wie sie in ihren beschissenen T-Shirts mit dem lahmen Spruch: Abi 2019 – nach uns die Nullen! zum neuesten Sommerhit tanzen, Bier verschütten und extra laut lachen, weil für sie die ach!-so-große Freiheit beginnt.

Ich sollte einer von ihnen sein.

Mit ihnen feiern.

Mit ihnen lachen.

Doch jetzt und hier klingt es in meinen Ohren, als würden sie mich auslachen.

Mein alter Jahrgang: Ich kenne sie alle, war mit ihnen auf Klassenfahrten, zu Geburtstagspartys und habe mit zwei der Mädchen rumgeknutscht. Jetzt, aus der Ferne betrachtet, sind sie alle Fremde für mich.

Sogar Romy. Vor allem Romy.

Sie sitzt neben Cathrin auf dem Boden, teilt sich mit ihr ein Radler – weil sie den Geschmack von purem Bier nicht mag –, und lacht über einen Witz von Manuel, dem ewigen Klassenclown.

Ich sitze auf den Treppen vor dem Schulgebäude und schmecke den bitteren Geschmack des Neids, den ich mit dem süßlichen Red Bull wegspülen will.

Sie hat mich vergessen. Sie fragt nicht mal, wie es mir geht, was ich so mache und ob es nicht saumäßig wehtut, dass ich nächstes Jahr wieder in diese Scheiß-Schule marschieren muss, während sie ihr Auslandsjahr in Neuseeland oder Gott weiß wo macht.

Wenn ich nächstes Jahr mein Abitur packe – und das steht noch in den Sternen –, dann feier ich mit meinen neuen Freunden, die nicht unsere Geschichte kennen, die nicht wissen, was wir zusammen erlebt haben – und die einfach nicht sie sind.

»Konrad, was geht?« Daniel, einer meiner besagten neuen Kumpel, lässt sich neben mich auf die Stufen fallen und greift, ohne zu fragen, nach meiner Getränkedose.

»Nichts. Und bei dir?«

»Auch nicht viel. Wir treffen uns nachher noch bei Oli und feiern ein bisschen.«

Was sie feiern wollen, bleibt mir ein Rätsel.

»Kommst du?«

Ich zucke die Schultern, weil ich keine Ahnung habe, was ich heute noch anstellen werde. Eigentlich wollte ich mit Romy sprechen. Ihr einen total verrückten Plan vorschlagen und hoffen, dass sie uns noch eine zweite Chance gibt.

»Wenn du sie ewig anstarrst, wird es auch nicht besser. Das weißt du schon, oder?«

Er folgt meinem Blick zu Romy, die inzwischen mit den anderen zusammen tanzt und mich nicht bemerkt, weil ich in ihre Vergangenheit und nicht in ihre aktuelle Realität, geschweige denn in ihre Zukunft gehöre.

Bei dem Gedanken zieht sich mein Magen so schmerzhaft zusammen, als wollten alle Gedärme die Gallenblase erdrücken.

»Es nervt mich nur, dass die sich alle so feiern, als wären sie die Oberchecker.«

»Die haben Abi, sie sind die Oberchecker.« Daniel tätschelt mir aufmunternd die Schulter. »Vergiss die Kleine. Alle wissen, dass sie was mit diesem Neuen aus Degerloch am Start hat.«

»Weiß ich.« Das klingt schärfer als geplant und verrät mehr über meine Gefühle, als ich zugeben will. Daniel lacht unbeholfen und drückt mir das Red Bull wieder in die Hand.

»Heute Abend bei Oli. Das wird dich ablenken.«

Vielleicht hat er recht. Vielleicht hilft es ja tatsächlich, wenn ich mich zur Feier des Ferienbeginns einfach abschieße und vergesse, dass Romy und ich mal so viel mehr waren als nur Fremde auf dem gleichen Schulhof. Mit mehr Wucht als nötig wäre, schleudere ich die leere Dose in den Mülleimer und stehe auf.

Und dann tut sie es doch. Sie sieht zu mir her, hört auf zu tanzen und hebt ganz langsam die Hand. Ich tue es ihr gleich. Wir winken uns zu.

Das ist die erste Interaktion seit ziemlich genau acht Monaten. Jetzt sieht sie sogar wieder ein bisschen aus wie meine Romy. Sie lächelt, winkt deutlicher. Es könnte auch eine Aufforderung sein, zu ihr zu gehen.

Mit ihr zu reden.

Sie zu umarmen.

Mich zu entschuldigen.

Ich könnte ihr von dem Plan erzählen. Mein Fuß zuckt in ihre Richtung, der Körper will folgen.

Doch bevor ich mich in Bewegung setzen kann, hakt Cathrin sich bei ihr unter und zieht sie in Richtung eines der Autos – und der Moment ist vorbei.

Ich bin wieder nur einer von den Schülern, die hinter ihr mit all den Erinnerungen zurückbleiben.

Während sie ins Leben aufbrechen darf.

Romy

Die Sonne scheint auf mein Gesicht und wärmt mich.

Ich höre Gelächter, Musik und das Zwitschern der Vögel. Wenn ich die Augen lange genug geschlossen halte, könnte ich mir vielleicht vorstellen, er wäre hier. Neben mir. Würde seine Hand in meine schieben und unsere Finger verhaken. Dann würde er meinen Hals küssen, weil er das immer getan hat, bevor er sein Kinn auf meiner Schulter abstützte, und würde mir ins Ohr flüstern. Wie stolz er auf mich ist, weil ich es durchgezogen habe. Weil ich nicht hingeschmissen habe, obwohl es mir wohl jeder verziehen hätte.

Nur ich hätte es mir nicht verziehen.

Man gibt nicht auf, nur weil es im Leben kompliziert wird. Außerdem hätte ich es sicher nicht noch ein weiteres Jahr an dieser Schule ausgehalten.

Konrad ist da anders. Dem macht es nichts aus, dass er noch ein Schuljahr dranhängt. Dem ist gerade sowieso so vieles scheißegal. Vorhin auf dem Schulhof hat er mich fast traurig angesehen. Von so weit weg, als würde er in einem Paralleluniversum leben, Lichtjahre entfernt von dem Schlosspark, wo jetzt der ganze Jahrgang grillt und das freie Leben mit ausgebreiteten Armen empfängt.

Etwas kitzelt mich im Gesicht und ich reiße die Augen auf.

»Hi.« Julian. Mit einer Gänseblume, die meine Wange streichelt. »Ich wollte dir eigentlich Rosen mitbringen …« Er lächelt schüchtern. »Aber der Bachelor war schneller.« Er reicht mir das Gänseblümchen. »Die hier ist für dich. Möchtest du dieses Gänseblümchen annehmen?«

»Und wie ich das will.« Ich schlinge die Arme um seinen Hals, ignoriere die Blume und ziehe ihn fast auf mich drauf, was er lachend geschehen lässt und dabei seine schwarz gefasste Brille irgendwo ins Gras verliert. »Du hast es geschafft.«

»Na klar, habe doch gesagt, dass ich vorbeischaue.«

Er ist meine Rettung, aber das weiß er nicht, weil ich es ihm noch nie gesagt habe. Stattdessen umarme ich ihn auch jetzt einfach fest und bin nur froh, dass er da ist.

»Wie war der letzte offizielle Schultag?« Er rollt sich neben mich ins Gras, tastet nach seiner Brille und jagt meine Erinnerungen zurück in die Schublade, wo ich sie wieder wegsperren kann.

»Wir haben eigentlich nur ein paar Fotos gemacht, in der Aula unsere Namen hinterlassen und dann schon direkt losgefeiert. Kai hat noch auf dem Schulgelände gekotzt.«

Julian stützt sich auf seinen Ellenbogen und mustert lächelnd mein Gesicht.

»Klingt beeindruckend.«

»Für Kai, ja.«

»Nie mehr Schule.«

»Nie mehr.«

»Bist du traurig?«

Ich kann das Lachen nicht verhindern und schüttele den Kopf.

»Nein. Gar nicht.« Nie mehr Schule, bedeutet auch Neuanfang, selbst wenn Julian das anders sieht.

»Das große Vermissen kommt noch.«

»Weißt du das, weil du ach-sooo-viel älter bist?«

Er nickt gespielt ernst.

»Jap, hör auf den Schulrentner.«

»Wie war es denn damals für dich?«

»Doppelt schwer, weil wir ja direkt nach meinem Abi umgezogen sind, also gleich zweifacher Abschied.«

Julian kommt aus Berlin und fühlt sich in Stuttgart noch immer etwas fremd, weil er hier so gut wie keine Freunde hat, außer die Kumpels vom Handball. Aber den großen Anschluss hat er noch nicht geknüpft.

»Zum Glück hast du jetzt ja mich gefunden.«

Er nickt, schiebt sich die Brille wieder auf die Nase und küsst mein Ohr.

»Mein Glück.«

Das Schöne an Julian ist, dass er nicht weiß, was für ein guter Typ er ist. Nicht nur sein Aussehen, sondern alles, was hinter seinem süßen Lächeln steckt. Mit Brille ist er der Typ Clark Kent, fast unscheinbar niedlich. Mit dunkelblonden Haaren, die immer etwas verstrubbelt sind und die er nie in den Griff kriegt. Das lässt ihn oft jünger erscheinen. Dazu grüne Augen, die hinter den Brillengläsern funkeln und mich immer genau beobachten, wenn ich rede. Julian hört mit seinen Augen zu; das habe ich ihm gesagt, und er wurde fast rot, hat sich verlegen am Hinterkopf gekratzt und die Schultern gezuckt. Weil er nicht weiß, wie besonders er ist.

Besonders für mich.

Wenn er die Brille gegen Kontaktlinsen austauscht und sein Handballtrikot überstreift, sieht er Superman etwas ähnlicher. Wenn er als Rückraumspieler seine Gegner aus dem Weg räumt und die wichtigen Tore wirft. Dann himmeln ihn auch die anderen Mädels an, und nicht nur ich sehe, wie toll er ist. Ich bevorzuge ihn dennoch als meinen Clark Kent, wenn er wie jetzt neben mir sitzt und mit einem Gänseblümchen zwischen seinen Fingern spielt.

Eines Tages will ich ihm das alles sagen. Aber noch nicht. Noch kann ich es nicht.

»Was sind deine Pläne für den Sommer?«

Eine einfache Frage, auf die alle um mich herum eine Antwort haben. Cathrin fährt nach Mallorca und lässt es dort richtig krachen, bevor es danach an die Uni geht. Dominik will ein Jahr Work & Travel machen, weil er später nie wieder die Chance haben wird, und manche machen nach dem Abi den Bundesfreiwilligendienst – so wie Julian –, weil sie einfach Erfahrungen sammeln wollen.

Ich hingegen werde einfach nur in ein Loch fallen, bis meine geplante Zukunft im Herbst endlich losgeht.

»Keine Ahnung. Du?«

Julian zuckt etwas zerknirscht die Schultern.

»Keine Ahnung. Ich würde gerne eine Weile weg von daheim.«

»Nerven deine Eltern noch immer wegen deiner Lebensplanung?«

Er nickt abwesend. Solange ich ihn kenne, solange wir zusammen sind, haben seine Eltern immer wieder eine Entscheidung über seine Zukunft verlangt. Sogar, wenn ich zum Abendessen bleibe, wird das Thema angeschnitten und so versucht, mich auf ihre Seite zu ziehen.

»Welche Uni, welches Studium, wie will ich Geld verdienen, blablabla.«

Er lässt sich ins Gras fallen und wirft das Gänseblümchen weg.

»Hey, das war meines.«

»Sorry. Ich pflücke dir ein neues.«

»Du Gänseblümchenkavalier.« Ich rolle mich auf die Seite und betrachte sein Profil. »Vielleicht machst du einfach erst mal Urlaub. Dein Dienst hört doch diese Woche auf, dann steht dir so was zu. Habe gehört, ein bisschen Sandstrand unter den Füßen hat noch niemandem geschadet.«

Er lächelt wieder ein bisschen, auch wenn seine kryptonitgrünen Augen diesmal davon unberührt bleiben.

»Dann würde ich dich ja nicht sehen können.«

»Und das wäre schlimm?«

Er zupft ein weiteres Gänseblümchen aus dem Gras und platziert es zwischen dem Haar an meinem Ohr.

»Das wäre sogar sehr schlimm.«

Ich kuschele mich an seine Schulter und schließe die Augen. Julian schlingt den Arm um mich und so liegen wir einfach stumm nebeneinander. Obwohl ich nicht will, schleicht sich dieser verdammte Gedanke in meinen Kopf.

Wenn ich die Augen lange genug geschlossen halte, könnte ich mir vielleicht vorstellen, er wäre hier.

Konrad

Die Party ist ebenso beschissen wie die Musik.

Deswegen halte ich es nur knapp drei Bier und eine Zigarette lang aus. Dabei rauche ich nicht mal. Zumindest nicht, wenn ich alleine bin. Ich rauche nur dann, wenn eine Party mies ist. Wenn ich hier noch länger bleibe, werde ich zum Kettenraucher.

Genervt von den Leuten, die sich alle auf die anstehenden Sommerferien freuen und von langen lauen Sommernächten faseln, verabschiede ich mich bei Daniel, der mich noch nicht gehen lassen will und in einer betrunkenen Umarmung festhält.

»Nur Loser gehen schon so früh nach Hause.«

»Ich bin müde.« Außerdem brennen meine Augen vom Rauch im kleinen Partykeller, und egal, wie oft ich auch blinzele, die Person, die ich mir als Gast wünsche, wird nicht auftauchen.

»Alter, wir sind zu jung zum Schlafen.« Er lallt es mir ins Ohr, versucht die Musik, die aus den Boxen in der Ecke dröhnt, zu übertönen.

»Ich muss noch was erledigen.«

Ruckartig schiebt er mich von sich und grinst mich mit glasigen Augen an.

»Du gehst zu Romy, stimmt’s?«

Ich mag es nicht, wie er ihren Namen ausspricht.

»Ich gehe nach Hause.«

Daniel nimmt mein Gesicht in seine Hände, als ob er mich küssen wolle.

»Falls du doch zufällig und voll ungeplant vor ihrer Tür auftauchst, sei so lieb und richte ihr mein Beileid aus, ja?« Schwer zu sagen, ob er einen Witz macht oder sich über mich lustig. »Und sei nett zu ihr.« Er zwinkert, drückt mir tatsächlich einen Schmatzer auf die Wange und zupft den Kragen meiner dunkelblauen Sportjacke zurecht. »Wir sehen uns den Sommer über, ja?«

Nein, danke.

»Klar.«

Stuttgart verwandelt sich in den Sommerferien immer in ein Dorf der Urlaubslosen. Man läuft sich ständig irgendwo in der Stadt über den Weg, egal, wie gut man sich versteckt, während die anderen, die sich einen Urlaub leisten können, überbelichtete Fotos von Traumstränden, Partyhochburgen und sonnengebräunten Gesichtern auf Instagram posten.

Aber dieses Jahr will ich es besser machen. Ich spurte die Treppe nach oben, bevor noch jemand meinen Abgang bemerkt und mich mit seinen Überredungskünsten zum Bleiben zwingen will. Ich will nur weg.

Weg.

Draußen hat es sich ein wenig abgekühlt, die Sommernacht ist lau und sternenklar. Vor dem Haus stehen Vespas, Fahrräder und wenige Autos. Ich bin zu Fuß unterwegs, so wie immer.

In der U-Bahn fische ich mein Handy aus der Hosentasche und scrolle eine kleine Weile durch Instagram, werde zugemüllt von Fotos, die ich nicht sehen will und mir einen Vorgeschmack auf den Sommer geben.

Besonders der Hashtag #Abi19 nervt. Abschlussfeiern im Schlosspark, strahlende Gesichter, Grillspaß und das pure Leben.

Auf einigen Fotos entdecke ich im Hintergrund Romy. Mit diesem Julian.

Natürlich.

Diesem Schleimer, der ach-so großartig ist und einfach gar nicht zu ihr passt mit seiner glatten Art. Ich wette, die Brille hat nur Fensterglas, und er trägt sie nur, um sich interessanter zu machen. Ich mag ihn nicht, auch wenn ich kaum etwas über ihn weiß. Er ist Romys neuer Freund, und ehrlich gesagt, reicht das, um Antipathie gegen ihn zu entwickeln. Sie hat ihn mir nie vorgestellt, ahnte wohl, wie ich reagiere.

Ich beende meinen Instagram-Ausflug und wechsele zu WhatsApp, wo ich ihre Nummer suche und finde. Sie hat ein süßes Profilfoto von sich im Riesenrad auf dem Frühlingsfest eingestellt.

Glücklich lächelt sie in die Kamera. Das ist die Romy, die ich kenne und schrecklich vermisse.

Zuletzt online vor vier Minuten.

Sie ist also vermutlich noch wach. Ich könnte am Marienplatz aussteigen und zu ihr laufen. Ich habe genug Alkohol und Mut im Blut, um die Frage zu stellen. Warum nicht? Es könnte die beste oder die dümmste Idee des Jahres sein.

»Nächster Halt Marienplatz. Ausstieg in Fahrtrichtung links.«

Ich werde tatsächlich von einer U-Bahn Durchsage zu einer Entscheidung gezwungen.

Letzten Sommer haben wir noch miteinander gesprochen, uns ab und an getroffen, versucht, irgendwie als Freunde weiterzufunktionieren.

Wenn ich jetzt nicht aussteige, verwandeln wir uns diesen Sommer über in flüchtige Bekannte. Dann geht sie weg und wir verlieren uns aus den Augen und enden als Fremde. Dann ist es zu spät für alles und ich muss hier alleine weiterleben.

Die Vorstellung verengt meinen Hals, erschwert das Atmen, weckt ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust.

Sobald die Türen sich öffnen, springe ich auf und steige aus, vorbei an grölenden Jugendlichen, die ihren Abi-Slogan immer und immer wieder singen und dabei tanzen.

Nächstes Jahr könnte ich das sein. Unwahrscheinlich.

Dieses Jahr hätte ich es sein sollen. Zu spät.

Am Marienplatz ist noch immer viel los, selbst um die Uhrzeit. Das Wetter lockt alle aus der Bude und hinaus in die Nacht. Mit jedem Meter, den ich zurücklege, werden meine Schritte schwerer.

Was soll ich sagen?

Mit der Tür ins Haus fallen?

Nach acht Monaten Stille?

Was, wenn sie doch schon schläft?

Was, wenn es zu spät ist?

Nicht heute, sondern überhaupt?

Sie wird sicher Pläne haben. Vermutlich mit diesem Vollidioten Julian, der seinen reichen Eltern einen Urlaub an der Côte d’Azur aus den Rippen geleiert hat, im eigenen Ferienhaus und mit Hausangestellten, oder so was. Hinreise im Privatjet mit Champagnerservice.

Und dann komme ich mit meinem Plan daher – wenn man die lächerlich absurde Idee überhaupt so nennen will –, und ernte nur ein spöttisches Lachen. Aber wenn Romy noch immer auch nur ein winziges bisschen meine Romy ist, dann wird sie zumindest zuhören. Ist sie noch meine Romy?

»Konrad?«

Erschrocken zucke ich zusammen und reiße fast die Fäuste zur Verteidigung hoch, bekämpfe den Impuls aber im letzten Moment, und sehe in Romys erstauntes Gesicht.

Das war’s dann wohl mit meiner Vorbereitung.

»Was machst du hier?«

Neben ihr steht Julian, den Arm ganz selbstverständlich um ihre Schulter gelegt. Weiß er denn nicht, wer ich bin und wie unpassend das alles ist?

»Ich äh …«

Er gehört nicht an ihre Seite, wirkt dort, als hätte man mit Mühe, Not und viel Gewalt ein unpassendes Puzzlestück in die falsche Lücke gehämmert.

»Ich wollte …«

Mich stören seine schwarzen Vans Schuhe, weil ich auch welche habe, und die am Knie eingerissene Jeans, dazu dieses Hilfiger-Shirt, bei dem er die Ärmel hochgekrempelt hat, um mit seinen verdammten Handballer-Armen anzugeben.

»Du wolltest …?« Romy Stimmte lenkt meine Gedanken wieder zu ihr.

»Ich würde gerne kurz mit dir reden.«

»Das tun wir gerade.«

Weiß sie, wie kühl ihre Stimme klingt?

Nur nicht aus der Bahn werfen lassen.

»Alleine, wenn möglich.«

Julian nimmt den Arm von ihrer Schulter und das Atmen fällt mir wieder leichter, aber Romy greift nach seiner Hand, verhakt die Finger mit seinen und schaut mich fast trotzig an.

Sie sieht hübsch aus, ein welkendes Gänseblümchen hinterm Ohr, Sommersprossen auf der Nase. Nur ihr kühler Blick, der passt nicht zu der Romy, die ich mal so gut kannte.

»Lieber mit Julian.«

Wieso macht sie das?

»Ich kann auch schon mal vorgehen.«

Ach klar, er ist ja so verständnisvoll.

»Nein, du bleibst. Also, Konrad?«

Also, Konrad.

Ich räuspere mich.

»Was hältst du davon, wenn wir den Sommer über ans Meer fahren?«

Nele

Jedes Wort berührt mich auf eine andere Weise.

Sie lassen meine Aufregung nur noch weiter steigen.

Du fehlst mir so sehr, dass ich mit dem Finger auf der Landkarte bis zu dir reise und hoffe, du erscheinst durch meinen Wunsch vor meiner Tür.

Ich lege das Foto an diese Stelle im Notizbuch und klappe es langsam, fast zärtlich zu.

Schlafsack, Isomatte, der große Wanderrucksack, den ich bestimmt zehn Jahre nicht mehr benutzt habe, die alte Kodak-Kamera, ausreichend Filme, ein tragbarer CD-Player und eine Auswahl an CDs, die alle selbst gebrannt sind – das und Klamotten liegen verteilt auf meinem Bett.

Für den Fall, dass ich einige Strecken zu Fuß zurücklegen muss, will ich nicht überpacken. Waschmöglichkeiten wird es unterwegs sicher geben, wichtig ist es, mit leichtem Rucksack zu starten.

So weit der Plan.

Ich werfe einen Blick auf die ausgebreitete Landkarte von Europa, die neben dem Brief der Fotoakademie liegt, der letzten Monat angekommen ist.

Kein Studienplatz. Ein weiterer Sommer für mich. Doch diesmal werde ich ihn nutzen.

Das Ziel steht, der Weg dorthin noch nicht. Einen Teil kann ich sicher mit dem Zug schaffen, dann vielleicht einige Stationen trampen.

Immer wieder checke ich die Mitfahr-App auf meinem Handy. In Richtung Süden sind oft deutsche Surf-Touristen unterwegs, die sich das Spritgeld teilen wollen und mich, meinen Rucksack, die Kamera und ein Herz voller Hoffnung mitnehmen könnten. Seitdem ich die Reise plane, schaue ich immer mal wieder nach einem passenden Angebot auf der App, aber bisher war das Richtige noch nicht dabei.

Ich habe den ganzen Sommer Zeit, kein Grund zu falscher Eile.

Ein Blick in das schwarze Büchlein und das Kribbeln ist zurück. Es wird Zeit, ihn zu besuchen, viel zu lange habe ich gewartet.

Ich fahre mit dem Finger über die Landkarte bis zu ihm, so wie es in dem Buch beschrieben steht, und spüre das Reisefieber, das unaufhaltsam meinen ganzen Körper erobert.

Es ist Zeit. Es ist definitiv Zeit.

Julian

»Lissabon?«

Romy sieht von ihm zu mir, dann wieder zu ihm, und ich drücke kurz ihre Hand. Dieser Konrad, in den kaputten Jeans, den ausgelatschten Vans und dieser Trainingsjacke passt mir nicht. Es gefällt mir nicht, wie er Romy ansieht, aus diesen glasigen Augen. Ich kenne ihn nicht, verkneife mir zwar ein vorschnelles Urteil, frage mich aber trotzdem, warum er mit meiner Freundin über den Sommer einen Roadtrip quer durch Europa starten will.

»Das ist bescheuert.«

Zum Glück sieht Romy es so wie ich, aber dieser Konrad-Typ lässt nicht locker.

»Wieso denn? Es wäre eine ziemlich coole Art, den Sommer zu verbringen. Oder hast du schon was anderes vor?«

»Nein, aber …«

Ich habe eigentlich schon Pläne für den Sommer – und die meisten beinhalten Romy!

»Das wäre doch klasse, Frankreich, Spanien, Portugal und ab ans Meer.«

»Konrad, wir haben seit Ewigkeiten nicht mal mehr miteinander gesprochen, und jetzt willst du mit mir einen Roadtrip unternehmen?«

Sein Blick schießt zu mir, dem einzigen Störfaktor in diesem Bild, dann zuckt er die Schultern.

»Wir könnten wieder Zeit zusammen verbringen. So wie früher.«

Ist das hier eine besonders plumpe Art, sich zwischen Romy und mich zu drängen? Hat er keine Augen im Kopf? Romy und ich sind zusammen. Glücklich.

»So einfach ist das nicht.«

Romys Stimme ist erstaunlich kühl, was absurderweise dazu führt, dass ich mich etwas entspanne. Solange sie so abgeneigt ist, muss ich mir hoffentlich keine Sorgen machen.

Konrad nickt, schiebt die Hände in die Jackentaschen und sucht offensichtlich die richtigen Worte für einen zweiten Versuch.

»Ich weiß. Aber wenn das neue Schuljahr wieder losgeht, bist du weg und ich noch immer hier. Und dann endet unsere Geschichte ziemlich beschissen.«

Romy lässt meine Hand los und verschränkt die Arme vor der Brust, durch den verlorenen Körperkontakt rutsche ich etwas weiter ins Abseits.

»Und das ist meine Schuld?«

Konrad sieht sie noch immer an, als wäre ich gar nicht hier.

»Nein.«

Eine Lektürehilfe zu ihrer bisherigen Beziehung wäre jetzt hilfreich, dann hätte ich zumindest einen blassen Schimmer, worum es hier geht.

»Wieso sollen wir dann jetzt zusammen nach Portugal?«

Er macht einen kleinen Schritt auf sie zu und meine Hände ballen sich unbewusst zu Fäusten.

»Ein letztes Mal schöne Erinnerungen sammeln. Du und ich.«

Hallo? Weiß er nicht, dass wir seit knapp sechs Monaten zusammen sind? Glücklich, wie ich noch mal betonen möchte!

»Konrad …«

»Ich weiß, Romy.«

Ja, aber ich weiß es nicht, Konrad!

»Aber wenn du weggehst …«

Er beendet den Satz nicht, obwohl ich das Ende gerne gehört hätte. Romy schüttelt den Kopf.

»Du hättest mit mir Abi machen können, wenn du nicht angefangen hättest, dich in Luft aufzulösen.«

Die Härte ihrer Stimme verleiht ihren Worten eine Wucht, die eigentlich ein Loch in Konrads Schädel ballern müsste. Doch er wankt nicht mal, hält ihrem Blick stand.

»Nicht jeder ist so tough, wie du es bist.«

Arbeiten die beiden hier gerade ihre Ex-Beziehung in meiner Anwesenheit auf?

»Ist das jetzt also doch alles meine Schuld?«

So angriffslustig kenne ich Romy gar nicht und mache mir eine gedankliche Notiz, lieber keinen unnötigen Streit mit ihr anzufangen.

»Nein. Das habe ich ganz alleine vermasselt.«

Romy nickt unmerklich, lässt diese Erklärung schon eher durchgehen. Allerdings hat sich ihre Körperhaltung noch immer nicht verändert. Konrad wird sich an ihr die Zähne ausbeißen.

»Es ist nur ein Roadtrip, Romy.«

Nein. Nein, es ist ganz sicher nicht nur ein Roadtrip, du Pfosten!

»Es sind drei Länder, über zweitausend Kilometer und über zwanzig Stunden Fahrtzeit. Wenn wir am Stück durchfahren.« Es ist nicht das Cleverste, was ich zu dieser Unterhaltung beisteuern kann, aber ich habe es satt, als Statist dieser Szene stumm zusehen zu müssen. Er blinzelt einen Moment, als ob ihm gerade erst wieder eingefallen ist, dass ich ja auch da bin.

»Wir?«

Er macht eine merkwürdige Handbewegung in meine Richtung.

»Oh, sorry, war das etwa eine exklusive Einladung nur für meine Freundin?« Bis zu diesem Abend wusste ich nicht mal, dass ich eifersüchtig bin, aber wie sonst ließe sich dieses ätzende Gefühl in meiner Herzregion erklären?

»Allerdings.«

Romy will nach meiner Hand greifen, aber ich bin schneller und verschränke die Arme vor der Brust – die Position des Abends, wie ich feststelle –, spanne sie vielleicht auch etwas an, hoffe, dadurch bedrohlicher zu wirken. Wir sind fast gleich groß, damit fällt das übliche Auf-ihn-Herabschauen weg.

»Hast du denn ein Auto?«

Unser Starrduell könnte Stunden dauern. Dieser Typ blinzelt nicht mal, als ihm auffällt, dass seine Idee idiotisch ist.

»Nein.«

»Dann hat deine Sommerplanung ein ziemlich feistes Loch, wenn du mich fragst.«

»Ich dachte, Romy könnte ihre Eltern fragen.«

Doch diese schüttelt den Kopf.

»Mama würde mich niemals alleine losfahren lassen, das weißt du.«

Konrad nickt wissend.

»Ja, klar, aber wenn du ihr sagst, dass ich …«

»Nein, dann erst recht nicht!«

Sie gibt ihm nicht mal die Chance seinen Gedanken zu Ende zu führen, schüttelt nun so energisch den Kopf, dass ich mir Sorgen mache, er könnte einfach abfallen.

»Okay, okay, dann fahren wir eben mit dem Zug?«

»Das ist doch irre. Du hast ja nicht mal einen Plan.«

Er macht einen Schritt an mir vorbei, so schnell, dass ich zu langsam bin, und kommt vor Romy zum Stehen.

»Aber ein Ziel.«

»Wieso Lissabon?«

Er antwortet nicht, stellt stattdessen eine Gegenfrage.

»Willst du deinen letzten Sommer hier verbringen?«

»Was ist daran so verkehrt?«

»Romy. Im Ernst? Lass uns einmal noch etwas zusammen machen. So wie früher.«

Fast könnte man meinen, dieser Konrad lächelt. Schlimmer noch, fast könnte man meinen, Romy lächelt zurück.

Etwas zusammen machen? Mit anderen Worten: ohne mich.

Konrad geht einen weiteren Schritt auf Romy zu.

»Es ist unsere letzte Chance.«

Stopp. Halt!Es reicht. Ich lege meinen Arm um Romy, erinnere ihn – und sie – kurz an meine Stellung in ihrem Leben und komme mir dabei irgendwie total bescheuert vor.

»Hallo, hi, ich bin Julian, Romys Freund, und ich bin auch noch da.« Das klingt viel zu plump, aber in dieser Situation fühle ich mich echt unwohl. Bilder, die ich nicht sehen will, flirren durch mein Kopfkino. Konrads Blick braucht einen Waffenschein und ich bräuchte eine schusssichere Weste, aber das lasse ich mir nicht anmerken.

»Ja, habe ich schon mitgekriegt. Und weiter?«

Langsam geht mir der Typ echt auf die Nerven, und ehe ich weiß, was ich tue, schleudere ich ihm meine Antwort an den Kopf.

»Ich lasse Romy doch nicht alleine mit dir diesen Trip machen!« Kaum habe ich es ausgesprochen, höre ich, wie dumm das klingt. Als könnte ich Romy irgendwas verbieten. Als könnte irgendjemand Romy was verbieten. Konrad bemerkt es natürlich auch, sein Lächeln wird eine Spur süffisanter.

»Du bietest dich also als Chauffeur an, oder wie?«

»Ich habe zumindest ein Auto.« Technisch gesehen, gehört dieser alte Wagen, der alleine in unserer Garage vergammelt, mir.

Romy blickt ungläubig zu mir hoch, und ich weiß, was sie sagen wird, bevor sie es tut.

»Du meinst den Mercedes deines Vaters?«

»Genau genommen ist es mein Mercedes.« Papas strahlendes Lächeln, als er mir den Schlüssel und die nötigen Papiere überreicht hat, weil ein echter Mann ein echtes Auto braucht. Dabei war es nichts weiter als ein Geschenk, das über seine ständige Abwesenheit hinwegtrösten soll. Früher waren es Computerspiele und neue Handys, jetzt eben ein Auto.

»Du fährst einen Mercedes?«

Konrads Worte verraten die Verachtung, die sich mehr auf mich als auf die Automarke beziehen.

»Ja, ich fahre Mercedes.« In seinem Kopf sieht er mich wohl mit einer nagelneuen C-Klasse durch die Stadt düsen. Wie enttäuscht er wäre, wenn er wüsste, wie alt der Schlitten ist. Nicht gerade modern, aber dafür verdammt gut in Schuss und sicher ein Hingucker. Romy würde sich bestimmt gut auf dem Beifahrersitz machen. Mit Sonnenbrille und Fahrtwind im Haar, ihre Hand auf meinem Oberschenkel, wir hören Musik, halten an, wo auch immer wir wollen, und teilen uns in billigen Hotels ein Zimmer. Das wäre schon klasse.

»Du würdest uns fahren?«

Konrad zieht die Augenbrauen zusammen und mustert mich misstrauisch. Dann bekommt mein Gehirn wieder Sauerstoff, und fast meine ich, das Geräusch der heranrauschenden Lawine zu hören, die ich mit meiner Antwort losgetreten habe. Ich Vollidiot!

Dieser Trip wäre kein Date für zwei. Aber nun weiß ich nicht mehr, wie ich aus der Nummer rauskomme, und außerdem will ich auf keinen Fall, dass Romy womöglich allein mit dem Spinner auf Tour geht. Also entscheide ich mich, cool mitzuspielen.

»Warum nicht?«

»Aber ich dachte, du willst den Sommer über hierbleiben und dir Unizeugs anschauen.«

Das ist tatsächlich die Alternative. Ein Sommer zwischen den nervigen Fragen meiner Eltern bei unseren gemeinsamen Abendessen. Alleine die Vorstellung, jeden Tag mit ihnen verbringen zu müssen, dreht meinen Magen auf links.

Lieber würde ich mir die Fußnägel einzeln rausreißen lassen. Oder mit Konrad auf einen Roadtrip gehen.

Ich sehe zu Romy, die mich noch immer ein wenig entgeistert anschaut. Aber auch irgendwie ein bisschen hoffnungsvoll. Sie will fahren, selbst wenn sie es noch nicht weiß. Dieser Typ hat mit seiner Idee tatsächlich ins Schwarze getroffen. Shitshitshit!

Es hätte meine romantische Idee sein sollen, aber noch kann ich zum rettenden Superhelden werden. Ich streiche ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und nicke.

»Wenn du willst, fahren wir nach Lissabon.«

Statt zu mir, sieht sie jetzt zu Konrad, dessen Blick dem eines Hundewelpen ähnelt.

Eines angetrunkenen Hundewelpen.

Ihre Stimme klingt höher als sonst.

»Wir könnten eine schöne Route wählen.«

Ich kann förmlich sehen, wie sich diese Idee in Romys Kopf festsetzt. Und Konrad steigt natürlich sofort darauf ein.

»Ja, wir könnten nach Marseille oder Barcelona, vielleicht ins Stadion.«

»Ein bisschen weg von hier.«

»Neue Erinnerungen.«

»Wir müssen alles genau planen. Keine Zufälle, ja?«

Konrad nickt wieder so merkwürdig.

»Keine Sorge, ich habe einen Plan.«

Jetzt lacht sie leise, so wie sie sonst nur bei mir lacht.

»Du hast doch nie einen Plan.«

»Stimmt auch wieder.«

Sie klingen wie ein altes Ehepaar, das sich schon Ewigkeiten kennt. Konrad sieht sich seinem Ziel näher kommen, fast wirkt er wieder nüchtern.

»An der Küste entlang, Sonnenuntergänge jagen.«

Könnten die beiden vielleicht aufhören, mich zu ignorieren? Jetzt ist er nur noch eine Armlänge von ihr entfernt und kommt immer näher. Bevor er sie berühren kann, räuspere ich mich lautstark.

»Das wäre sicher alles machbar.« Romy sieht zu mir, ein Lächeln auf den Lippen, wie ich es noch nie in ihrem Gesicht gesehen habe, und in dem Moment weiß ich, dass ich für sie auch bis ans andere Ende der Welt fahren würde.

»Also fahren wir …?«

»Wenn du das möchtest.«

Romys Antwort ist eine feste Umarmung, Küsse auf die Wange, meine Lippen und den Hals.

»Danke.«

Sie drückt ihr Gesicht an meine Brust und ich atme den Duft ihres Shampoos ein.

Begehe ich hier gerade den dümmsten Fehler meines Lebens?

Konrad steht noch immer nur da, die Hände wieder in den Taschen. Ein knappes Nicken, das ist alles, was ich als Dank bekomme. Die Tatsache, dass ich Teil der Reise geworden bin, scheint ihm ebenso wenig Freudentränen in die Augen zu treiben wie mir. Aber sein Plan funktioniert nicht ohne mich, das muss er hinnehmen.

Und ich umgekehrt auch.

Toll. Ich spiele also einen Sommer lang den Chauffeur für meine Freundin und ihren Ex.

Das habe ich ja richtig genial eingefädelt.

Romy

In den letzten Tagen habe ich viel zu viele Reiseführer gekauft.

Ich habe sie alle ganz genau durchgeschaut und mir Notizen gemacht, jedes Szenario im Kopf durchgespielt.

Sicherheit geht absolut vor. Vor allem, wenn Konrad mit dabei ist.

Eine Tatsache, die ich meinen Eltern verschwiegen habe.

Zum Glück ist Julian dabei. Auf den kann ich mich verlassen. Und er ist es auch, der meine Eltern schließlich davon überzeugt hat. Ohne ihn hätten sie niemals zugestimmt.

Aber Julian, den mögen sie. Weil er eine beruhigende Sicherheit ausstrahlt und mir guttut. Ihm vertrauen sie. Selbst jetzt, da sie mir noch nicht vertrauen.

Er hat seinen Mercedes gestern aus der Werkstatt geholt, nachdem er ihn für unseren Urlaub reisefit gemacht hat. Obwohl er etwas anderes behauptet, weiß ich genau, dass es einige Diskussionen mit seinen Eltern gab. Die sind nicht gerade begeistert davon, dass er die alte Karre auf einen so langen Roadtrip schleppt, aber die Vorzüge der Volljährigkeit haben schließlich den Ausschlag gegeben. Sie können gerne ihre Bedenken aussprechen, aber mehr auch nicht. Julian hat sich entschieden.

Für den Roadtrip. Genau genommen für mich.

Die Tatsache, dass er das alles für mich macht, lenkt von der Ur-Idee ab. Jetzt kann ich mir einreden, dass ich diesen Sommer mit ihm – und nicht mit Konrad – verbringe. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen oder dieses beißende Gefühl in meinem Magen, über das ich mit niemandem sprechen will.

Auch nicht mit Dr. Stuber.

Wir machen unseren ersten gemeinsamen Urlaub, Julian und ich.

Das ist toll. Das tut gut. Das ist okay. Das habe ich verdient. Sagt übrigens auch Dr. Stuber. Und wenn der das sagt, muss ich mir keine Sorgen machen.

Konrad ist nur eine Nebenfigur, die zufällig diese Idee hatte.

Irgendwann werde ich mit ihm reden müssen. Mit beiden.

Aber jetzt marschiere ich erst mal mit meinem riesigen Reiserucksack, der dank meiner ausgewählten Bücher eine Tonne wiegen muss, die letzten Meter zu Julians Haus, schwitze in meinem weißen Tank-Top und der kurzen Jeans mehr als erwartet und bin froh, meine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden zu haben. Der alte Mercedes funkelt fast golden in der Sommersonne und sieht aus wie aus einem dieser alten Filme, die wir früher zusammen geschaut haben.

»Wir könnten doch auch zusammen nach Rimini. Das wäre richtig schön. Du und ich, ohne Papa.«

Die Stimme seiner Mutter ist zu hören, bevor ich sie sehen kann. Offensichtlich versucht sie noch immer, Julian von seinen Reiseplänen abzubringen, aber als ich die Auffahrt hochkomme, sehe ich die beiden und weiß, dass Rimini Julian keine Begeisterung ins Gesicht zaubert. Er steht, die Arme vor der Brust verschränkt, in einem schlichten grauen, ärmellosen Shirt und einer roten kurzen Sporthose vor seiner Mutter. Mehr körpersprachliche Ablehnung habe ich noch nie gesehen.

»Ich fahre nach Lissabon. Ende der Unterhaltung.«

Seine Stimme klingt knallhart, so kenne ich ihn gar nicht, und ich zögere kurz, ob diese Unterhaltung überhaupt für meine Ohren bestimmt ist.

»Du fährst also mit deiner Freundin und einem Typen, den du kaum kennst, in Papas Oldtimer durch die Gegend?«

»Danke für die Zusammenfassung, Mama. Aber es ist mein Oldtimer.«

Sie schüttelt den Kopf und ich kann ihre Locken tanzen sehen, trete langsam einen Schritt zurück, hinter der Hecke in Deckung.

»Wenn dir das wichtiger ist, als Zeit mit deiner Mutter zu verbringen oder dir Gedanken über die Zukunft zu machen …«

»Ich kann mir auch unterwegs Gedanken über die Zukunft machen, die sind nicht hier festgetackert.«

Julian klingt gereizt, und ich weiß, wie sehr er das Thema hasst. Zu gerne würde ich seiner Mutter sagen, dass sie es nicht besser macht, wenn sie ihn ständig drängt. Julian sucht noch seinen Weg, aber so wie ich ihn kennengelernt habe, wird er ihn finden.

»Ich sage es jetzt mal ganz deutlich, Julian: Wenn du von deiner Rundreise wieder da bist, erwarten dein Vater und ich eine Antwort auf die Frage. Haben wir uns verstanden?«

»Sonst was? Enterbt ihr mich und schmeißt mich raus?«

»Ach, Julian, mein Schatz …«

Er dreht sich weg, als könne er den Anblick seiner Mutter, des Hauses und seiner im Nebel liegenden Zukunft nicht länger ertragen. Gerade, als ich versuche, noch einen Schritt tiefer in die Deckung der Hecke zu machen, sieht Julian mich und sein Gesicht hellt sich augenblicklich auf.

»Romy! Da bist du ja endlich.«

Er schiebt sich an seiner Mutter vorbei, kommt auf mich zu und nimmt mich fest in die Arme. Allerdings wirkt es eher so, als würde er hauptsächlich der Unterhaltung mit seiner Mutter ausweichen wollen.

»Perfektes Timing, danke.« Er flüstert es durch die Haare in mein Ohr und küsst schließlich meine Lippen. Seine Augenringe sind nicht neu, aber in letzter Zeit immer tiefer und dunkler geworden. Ich fahre mit dem Zeigefinger darüber, als könne ich sie wegwischen.

»Alles okay?«

Ich weiß, dass er mich anlügen wird, damit ich mir keine Sorgen machen muss – und genau das tut er. In typischer Clark Kent-Manier strahlen mich seine Augen durch die Brillengläser an und er setzt sogar noch ein Lächeln on top.

»Jetzt ist alles okay.«

Er legt den Arm um mich und dreht sich zurück zu seiner Mutter, die mich ebenfalls freundlich ansieht, obwohl ich erahnen kann, dass sie gerade nicht besonders glücklich ist, mich zu sehen.

»Hallo, Romy.«

»Hallo, Frau Strate.«

»Du versprichst mir doch, auf meinen Sohnemann aufzupassen, oder?«

»Ich werde ihn heil wieder hier abgeben.«

Sie lächelt gequält und nickt schließlich, was anderes bleibt ihr kaum übrig.

»Gut. Ich würde ja gerne hier sein, wenn ihr abfahrt, aber leider habe ich einen Geschäftstermin in der Stadt.«

Julian und ich sind gleichermaßen erleichtert, dass sie nicht hier stehen und winken wird, wenn wir aufbrechen. Außerdem bin ich ganz froh, dass sie Konrad nicht trifft. Ich weiß zu genau, was er von Leuten wie den Strates hält. Das Haus alleine wird ihm genug Grund zur Ablehnung bieten, da braucht es nicht noch eine teuer gekleidete Mutter mit Designertasche und einem nagelneuen SUV.

»Gut, gut.«

Sie kommt auf Julian zu, will ihn umarmen, was dieser geschickt verhindert, indem er mich nicht loslässt. Ganz im Gegenteil. Ich habe den Eindruck, er hält mich noch fester im Arm.

Ungeschickt drückt sie ihm einen Kuss auf die Wange, und ich kann sehen, dass sie tatsächlich gerne einen weiteren Sommer mit ihrem Sohn verbracht hätte, bevor sie ihn an die Zukunft verliert.

»Du meldest dich von unterwegs.«

»Klar.«

Julian klingt nicht besonders überzeugend, also setze ich zu einem Lächeln an.

»Ich werde schon dafür sorgen, dass er sich bei Ihnen meldet, Frau Strate.«

»Wenigstens ist auf dich Verlass, Romy. Habt einen schönen Sommer, ja?«

»Das werden wir.« Julian ist immer etwas angespannt, wenn seine Eltern um ihn rum sind, aber gerade ist er für meinen Geschmack ein bisschen zu kühl und verkrampft. Es fühlt sich so an, als würde ich einen abgestorbenen Baum und nicht meinen Freund umarmen.

Möglich, dass wir eine Weile von Zuhause weg sein werden, könnte er da nicht etwas netter zum Abschied sein? Meine Eltern haben mich vorhin fast eine halbe Stunde umarmt, mir noch etwas Geld zugesteckt und eine Notfalltasche mit allen möglichen Medis gepackt – für alle Fälle. Ich denke, sie machen sich noch immer riesige Sorgen um mich.

Jetzt stehen wir wie Steinstatuen in der Auffahrt und sehen zu, wie seine Mutter mit dem Wagen über die Straße verschwindet, nur ich winke. Je weiter sie sich entfernt, desto entspannter wird Julian in meinem Arm. Fast höre ich ihn aufatmen, als das Auto hinter einer Kurve verschwunden ist. Jetzt dreht er sich zu mir, sein typisches Lächeln ist zurück. Das ist mein Julian.

Mein Julian …

Er nimmt mein Gesicht zärtlich in seine Hände und betrachtet mich, bis er sich endlich zu mir beugt und mich küsst.

»Hi.« Er flüstert es gegen meine Lippen und ich spüre die Gänsehaut auf meinem Rücken.

»Hi.«

»Ich kann es kaum erwarten, von hier zu verschwinden. Mit dir.« Er streicht mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt dabei so, als gäbe es nur noch ihn und mich. Wenn man bedenkt, dass er nicht so wirklich von dieser Reise überzeugt war, wirkt er jetzt sehr erleichtert, dass wir schon heute Abend nicht nur Stuttgart, sondern ganz Deutschland hinter uns lassen werden.

Ich stütze mein Kinn auf seine Brust und sehe zu ihm auf.

»Habe ich schon gesagt, wie toll ich es finde, dass du das hier machst?«

Er nickt, küsst meine Nasenspitze.

»Hast du. Und ich mache es wirklich gerne.«

Das ist eine minimale Lüge, und er weiß, dass ich sie durchschaue. Kurzer Zweifel huscht durch seine klaren Augen.

»Sag mal, du und dieser Konrad …?«

»Hm?«

»Ihr kennt euch schon eine Weile, ja?«

»Seit dem Kindergarten.«

»Und ich muss mir wirklich keine Sorgen machen?«

Wie gerne würde ich diese Frage mit einem ehrlichen Nein beantworten.

»Nein. Das mit Konrad und mir gehört in ein anderes Leben.« Das ist meine minimale Notlüge, die ich eines Tages aufklären werde. Aber im Moment reicht sie aus, denn in Julians Augen lösen sich die Zweifel wieder auf.

»Ich störe das glückliche Paar echt nur sehr ungerne, aber ich wäre jetzt auch da.«

Wie aufs Stichwort taucht Konrad in der Zufahrt auf, einen uralten olivgrünen Schlafsack in der einen, eine Sporttasche in der anderen Hand, in kurzen Jeans und einem verwaschenen Band-Shirt, auf dem man nicht mal mehr den Namen lesen kann. Seine Augen versteckt er hinter einer dunklen Sonnenbrille, aber ich wette, er starrt Julian in Grund und Boden.

»Dann wären wir ja komplett.«

Julian

Sie haben sich acht Sekunden umarmt.

Das weiß ich deswegen so genau, weil ich mitgezählt habe. Der übertrieben feste Händedruck mit mir hat keine drei Sekunden gedauert, allerdings einen noch immer andauernden Eindruck hinterlassen. Und sein Staunen über meinen Mercedes ungefähr zwölf Sekunden.

Ein weiterer Blick auf die schlichte, analoge Uhr im Wagen lässt mich wissen, dass wir schon vierzig Minuten unterwegs sind, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.

Eine unangenehme Ewigkeit, keine von denen, die man bei sich einziehen lassen will.

Romy hat das Fenster runtergekurbelt und den Zopf gelöst, damit der Wind mit ihren Haaren spielen kann. Ihre Hand liegt auf meinem Oberschenkel, ziemlich genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Auf ihrem Schoß hat sie einen aufgeklappten Reiseführer, dazu isst sie Mandeln aus einer Tüte und summt immer mal wieder die Songs aus dem Radio mit. Das Highlight sind die verschiedenen Blicke, die sie mir zuwirft, manchmal garniert mit einem Lächeln.

Solange ich nicht in den Rückspiegel schaue, kann ich mir fast einbilden, wir zwei wären alleine unterwegs. Konrad ist nämlich ziemlich still, hat den Kopf an die Scheibe gelehnt und starrt in die Umgebung, die neben der Autobahn an uns vorbeizieht.

»Ich würde sagen, wir fahren über Freiburg und dann rüber nach Frankreich.«

»Vielleicht hätten wir die Route ja doch vorher besprechen sollen.« Konrads Kommentar ist so ziemlich der erste, seitdem wir losgefahren sind – und ich habe nichts vermisst.

»Warum? Dir ist es doch nur wichtig, dass wir nach Lissabon kommen, oder?«

Er zuckt spiegelverkehrt die Schultern und sieht wieder nach draußen. Dafür, dass er unbedingt den Sommer unterwegs verbringen wollte, hat er jetzt, da es endlich losgeht, ziemlich miese Laune.

»Wir müssen sowieso über Freiburg.«

»Wieso denn das?«

»Dort sammeln wir noch jemanden ein.« Mir fällt auf, dass ich diese Kleinigkeit noch gar nicht erwähnt habe. Ich war zu beschäftigt mit dem ganzen Kram zu Hause, dem Wagen und Romy.

»Wer kommt denn noch mit?«

Und vielleicht wollte ich es nicht vorher ansprechen.

»Ihr Name ist Nele.«

Auch durch die verspiegelte Pilotenbrille trifft mich Romys überraschter Blick und Konrad lehnt sich zwischen unseren Sitzen nach vorne.

»Wer zum Henker ist denn Nele?« Wieso ausgerechnet er so wahnsinnig angepisst klingt, erschließt sich mir nicht. Kann ihm doch egal sein, wer noch einsteigt, das hier ist schließlich mein Wagen.

»Keine Ahnung, sie hat sich via Mitfahr-App gemeldet. Zu viert ist das Spritgeld einfach günstiger.«

»Wir nehmen irgendeine Ische mit?« Je genervter Konrad klingt, desto dringender möchte ich ihn an einer Raststätte aussetzen.

»Na ja, wir nehmen schließlich auch irgendeinen Typen mit …«

Unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel und er lässt sich zurück in seinen Sitz sinken.

»Toll. Ganz toll.«

Romy hat noch gar nichts gesagt, sieht mich einfach nur an, die Sonnenbrille ins Haar geschoben. Ihre Hand liegt auch nicht mehr auf meinem Oberschenkel.

»Sorry, aber ich dachte, es wäre okay. Immerhin ist es so für alle günstiger.« Meine Entschuldigung gilt Romy ganz alleine, auch wenn Konrad sich angesprochen fühlt.

»Und bis wohin nehmen wir diese Nele mit?«

»Bis nach Madrid.«

»Nicht dein Ernst?!«

»Was ist denn das Problem? Du hast auf der Rückbank noch Platz!«

»Darum geht es doch gar nicht!«

»Worum denn dann?«

»Du kannst nicht einfach wahllos Leute zu diesem Roadtrip einladen. Das ist unser Ding!«

»Unser?«

Ich reiße meinen Blick von der Straße los und treffe ihn zielsicher mit meinem Schulterblick. Dabei will ich eigentlich gar nicht wissen, wen er mit uns so genau meint.

»Ja. Unser.«

Die Wut, die meine Speiseröhre heiß nach oben kriecht, hat sich schon eine ganze Weile angestaut, und wenn Konrad nicht gewaltig aufpasst, dann wird sie ihm gleich die Augenbrauen versengen.

»Hier ist hundert.« Es ist das Erste, was Romy zu der Unterhaltung beisteuert. Sie deutet auf den Tacho, dessen Nadel sich rapide der 120 genähert hat. Ich nehme den Fuß vom Gas und entschleunige den Wagen.

Verdammt. Tief durchatmen. Kein Grund, so wütend zu werden.

Es ist mein Wagen, wenn ich will, kann ich den Typ einfach rausschmeißen. Ich ignoriere Konrad wieder und sehe zu meiner Beifahrerin.

»Ist das mit Nele ein Problem für dich?« Ich stelle die Frage bewusst nur an Romy, deren Augen mich keine Sekunde losgelassen haben. Sie antwortet nicht sofort, mustert stattdessen mein Gesicht und ahnt, dass die Tankkosten kaum der eigentliche Grund für Neles Mitfahrt sind.

»Nein.«

Sie greift nach ihrem Reiseführer, ein sicheres Zeichen, dass sie ihre Ruhe will, und ich weiß, dass sie mit meiner Entscheidung, Nele einzuplanen, nicht besonders glücklich ist. Okay, vielleicht war es eine dumme Idee, immerhin hatten sich auch ein Jorge und ein Michael auf den letzten freien Platz im Wagen beworben. Trotzdem habe ich mich für das einzige Mädchen unter den Bewerbern entschieden.

»Sie ist auch schon neunzehn und hat ’nen Führerschein. So können wir uns noch besser abwechseln.«

»Nur fürs Protokoll, ich finde es scheiße.« Konrad steppt mit seinen Kommentaren gerade auf dem sehr, sehr dünnen Eis meiner Geduld.

»Wir kennen die nicht mal.«

»Ich kenne dich ja auch nicht.«

»Jungs, bitte. Ich will nicht schon in Deutschland Kopfschmerzen bekommen, okay?«

Sie blättert eine Seite um.

»Ach komm, Romy, du hast doch auch keinen Bock auf Nele.«

Obwohl ich sie nicht mal kenne und nur ein winziges Profilfoto von ihr gesehen habe, passt es mir nicht, dass er so abfällig über sie spricht. Vor allem angesichts der Tatsache, dass seine Anwesenheit auch kein Jackpot-Gewinn für diese Reise ist.

»Es ist mein Wagen, ich habe es entschieden, und fertig.«

Romy hält das Buch etwas höher, verschwindet fast hinter dem dicken Einband und klinkt sich offiziell aus der Unterhaltung aus. Mein Versuch, ihre Hand zu berühren, scheitert, weil sie umständlich weiterblättert. Das alles entgeht Konrad natürlich nicht. Sein zufriedenes Grinsen würd ich ihm am liebsten aus dem Gesicht wischen.

»Ich hoffe, deine Nele ist keine Irre, die uns alle der Reihe nach abschlachtet.«

Damit setzt er sich die Kopfhörer auf und rutscht aus meinem Blickfeld, als wäre er gar nicht hier. Als würde ich ihn mir als gehässigen kleinen Teufel auf der Schulter nur einbilden.

Aber Romy, die ist noch da, wenn auch nur körperlich anwesend.

»Hey …« Ich stupse ihren Ellenbogen an, aber sie schüttelt nur kurz den Kopf, vertieft in ihren Roman.

»Ich hätte es nur gerne vorher gewusst.«

»Es war keine Absicht oder so. Aber drei Leute, das ist eine ungerade Zahl und das bringt doch Unglück.«

Sie versteht, was ich wirklich sagen will, und zeigt den Ansatz eines Lächelns über den Buchrand hinweg.

»Nele also.«

Nele

»Danke übrigens für das Gastgeschenk.«

Der Traumfänger baumelt am Rückspiegel wie ein Pendel von rechts nach links. Als Eisbrecher geplant, hat er eher für einige Verwirrung gesorgt, als ich ihn feierlich überreicht habe. Noch bin ich mir nicht sicher, was ich von dieser Truppe halten soll.

Julian hält das Lenkrad so verkrampft, als wäre das hier seine Fahrprüfung und nicht ein Sommerurlaub.

Romy lächelt das alles weg, versteckt den Rest aber hinter dem Buch, das sie durch ihre Sonnenbrille konzentriert liest.

Konrad hört so laut wütende Musik über seine Kopfhörer, dass ich trotzdem jedes Wort des Geschreis verstehe.

Wenn das mal nicht der Jackpot unter allen potenziellen Mitfahrtgelegenheiten ist, dann weiß ich auch nicht.

»Das Auto ist wirklich toll.« Das stimmt und ist gleichzeitig mein Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ohne Erfolg, meine Worte verhallen im wahnsinnig geräumigen Innenraum des Mercedes. Was anderes habe ich, ehrlich gesagt, auch nicht erwartet. Seit sie mich am Busbahnhof in Freiburg eingesammelt haben, wusste ich, dass außer Julian niemand wirklich happy ist, mich dabeizuhaben.

Romy hat sich zumindest noch Mühe gegeben, auch wenn sie überflüssigerweise vier Mal erwähnen musste, dass sie und ihr Freund Julian sich total freuen, dass ich mitkomme. Julian ist niedlich, die Brille, die verwuschelten Haare und das ehrliche Lächeln, aber er ist nicht mein Typ.

Konrad hingegen hat mir nur knapp zugenickt und dann jeglichen Kontaktversuch abgewehrt, und das obwohl wir jetzt auf dem Weg nach Frankreich zusammen auf der Rückbank sitzen. Sein Blick ist demonstrativ aus dem Fenster gerichtet, er hält so viel Abstand wie nur möglich und ignoriert meinen prüfenden Blick, den ich nicht abwenden kann.

Er hat ein gutes Profil, ein schönes Kinn, einen schlanken Hals und eine Nase, die vor allem in Schwarz-Weiß gut aussehen dürfte. Die dunklen Haare, die ihm immer wieder in die Stirn rutschen und die dichten Augenbrauen, die seine Miene automatisch grimmig erscheinen lassen, runden den Look ab.

Ja, ich weiß, ich klinge schräg, aber irgendwann habe ich mir angewöhnt, Menschen wie durch den Sucher meiner Kamera zu sehen. Meine Kamera, nach der ich jetzt greife und sie auf Konrad richte, was dieser nicht bemerkt, weil er so beschäftigt mit seiner Musik und seinen Gedanken ist. Ungestellte Bilder, die Menschen in nur einem kurzen Augenblick ihres Lebens einfangen und sie dann wieder loslassen, das ist meine Stärke.

Wenn ich ihn jetzt betrachte, sieht er gar nicht mehr trotzig, sondern traurig, sogar ein bisschen verloren aus. Als hätte man ihn alleine irgendwo im Wald ausgesetzt.

Und so drücke ich ab. Einmal. Zweimal. Er sieht überrascht zu mir, direkt in die Kamera. Dreimal.

»Was zum Henker …?« Er reißt sich die Kopfhörer runter und deutet auf meine Kodak. »Was ist das?«

Am liebsten würde ich direkt noch mal abdrücken, weil seine dunklen Augenbrauen sich jetzt wütend zusammenziehen, die Traurigkeit aus seinem Gesicht verscheuchen, was ihm einen noch markanteren Ausdruck verleiht.

»Das hier? Oh, das ist eine Kamera, mit der macht man Fotos.« Ich halte sie ihm hin. »Da sieht man durch und …«

»Ich weiß, was das ist!«

»Oh gut. Ich habe nämlich damit gerade ein Foto von dir gemacht.«

Er sieht mich so an, als wolle er mir entweder gleich an die Kehle oder meine Kamera aus dem fahrenden Auto auf die französische Autobahn schleudern.

»Warum?«

»Das werde ich dir zeigen.«

»Du kannst doch nicht einfach so ein Foto von mir machen, ohne mich zu fragen und es dann irgendwo hochladen. Schon mal was von DSGVO gehört?«

»Ja, aber du meinst Persönlichkeitsrecht