Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer - Bodo Kirchhoff - E-Book

Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer E-Book

Bodo Kirchhoff

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Beschreibung

Die Einzelerzählung »Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer« spielt im Jahr nach dem Jahrhundertsommer 2003. Ein Ehepaar ist in einer lauen Sommernacht in seinem Haus am Gardasee ganz mit sich beschäftigt und zunehmend in einen Beziehungsstreit vertieft, während in der unteren Etage zwei Einbrecher ungestört zugange sind. Meisterlich löst der Autor die sich dramatisch zuspitzende Erzählung durch ein vollkommen unerwartetes Ende auf. Bodo Kirchhoff ist nicht nur als Verfasser groß angelegter Romane bekannt, auch in der Kurzform brilliert der renommierte Stilist seit mehreren Jahrzehnten. Von der kompromisslosen und polarisierenden Radikalität des Frühwerks, das mit sezierendem Blick gesellschaftlichen Randfiguren nachspürt, wird der Leser zunehmend in einen umfassenderen Handlungsrahmen geführt, hinein in einzigartige Augenblicke einer Ehe, Momentaufnahmen einer Familie. Lakonisch, präzise und geprägt von einer subtilen Hintergründigkeit schreibt der Autor immer auch über die Schwierigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Bodo Kirchhoffs Erzählungen sind eine literarische Kostbarkeit, anhand derer die Entwicklung des Autors vom »bad boy« der Literatur zu einem der profiliertesten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur lesend nachvollzogen werden kann. »Seit einem Vierteljahrhundert schickt Bodo Kirchhoff seine Figuren nun schon in bitterernsten und abgründig komischen Erzählungen in die Schlacht gegen die Gefühlstaubheit. [...] Es ist faszinierend, wie der Autor immer wieder unverbrauchte Bilder für ein altes Thema findet: das Zusammenspiel von Sexualität und Gewalt, Begierde und Tod.« (Der Spiegel)

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Seitenzahl: 53

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Die Einzelerzählung »Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer« spielt im Jahr nach dem Jahrhundertsommer 2003. Ein Ehepaar ist in einer lauen Sommernacht in seinem Haus am Gardasee ganz mit sich beschäftigt und zunehmend in einen Beziehungsstreit vertieft, während in der unteren Etage zwei Einbrecher ungestört zugange sind. Meisterlich löst der Autor die sich dramatisch zuspitzende Erzählung durch ein vollkommen unerwartetes Ende auf.

Bodo Kirchhoff ist nicht nur als Verfasser groß angelegter Romane bekannt, auch in der Kurzform brilliert der renommierte Stilist seit mehreren Jahrzehnten.

Von der kompromisslosen und polarisierenden Radikalität des Frühwerks, das mit sezierendem Blick gesellschaftlichen Randfiguren nachspürt, wird der Leser zunehmend in einen umfassenderen Handlungsrahmen geführt, hinein in einzigartige Augenblicke einer Ehe, Momentaufnahmen einer Familie. Lakonisch, präzise und geprägt von einer subtilen Hintergründigkeit schreibt der Autor immer auch über die Schwierigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Bodo Kirchhoffs Erzählungen sind eine literarische Kostbarkeit, anhand derer die Entwicklung des Autors vom »bad boy« der Literatur zu einem der profiliertesten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur lesend nachvollzogen werden kann.

»Seit einem Vierteljahrhundert schickt Bodo Kirchhoff seine Figuren nun schon in bitterernsten und abgründig komischen Erzählungen in die Schlacht gegen die Gefühlstaubheit. […] Es ist faszinierend, wie der Autor immer wieder unverbrauchte Bilder für ein altes Thema findet: das Zusammenspiel von Sexualität und Gewalt, Begierde und Tod.« (Der Spiegel)

»Ein breites Spektrum, das in diesem Erzählwerk von Bodo Kirchhoff zu entdecken ist und ein Hochgenuss für die Leser.« (Hessischer Rundfunk)

»Jede einzelne Erzählung ist lesenswert. In ihrer Gesamtheit sind sie ein literarisches Autorenportrait der Sonderklasse.« (Kölnische Rundschau)

Inhalt

Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer

Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer

Die seien abends gekommen, erzählte er, während sie unten im Ort gegessen hätten, wahrscheinlich eine Sache von Minuten und ohne Spuren zu hinterlassen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, die einzigen Hinweise: seine verschwundene Uhr, eine alte Reverso, und eine Waffe, die nicht da lag, wo sie hingehörte, sondern unter dem Sessel versteckt war, in dem er vormittags seine Sachen schrieb, eine noch ältere 38er, die er schon einmal, zum Spaß, auf mich gerichtet hatte.

Meine Uhr ist weg! soll er gleich morgens, noch vor dem Öffnen der Fensterläden, gerufen haben, und Dora war auf der Stelle seine Gegnerin in dieser Angelegenheit, die sie für Einbildung hielt. Erst spät am Abend, als schon fast alles zu spät war, sie sich angeschrien hatten und er verschwinden wollte, für immer, sahen sie die Spuren im oberen Holzrahmen der Außentür zur Cantina: Da hatte wer mit einer Stange die Verriegelung heruntergedrückt. Das war am Beginn des Sommers, bevor das große Unwetter kam, ein Hagelsturm, der in Minuten dem Garten und seinem Boot ein neues Gesicht gab; und bevor sein sechsundfünfzigjähriges Herz, angeblich, verrückt zu spielen begann und er mir auch sonst noch alles mögliche anvertraut hat.

Seine Uhr war also weg, nur noch der helle Streif am Handgelenk war ihm geblieben, und er hatte die Uhr geliebt, kann man sagen, sie war ein Stück von ihm, ein Stück der Überhäufung mit sich, so sehr, daß er erst damit anfing, sich überhaupt klar zu sehen; natürlich war sie schön gewesen, eine ganz und gar ästhetische, wertvolle Uhr, sein Schmerz über den Verlust war wie ein Gegenbeweis für die verbreitete Ansicht, daß die Liebe zwischen zwei Menschen der tiefste ästhetische Moment im Leben sei, aber wenn das schon mit einer Uhr funktionierte, konnte man solchen Momenten auch mit Mißtrauen begegnen. Und mit einiger Sicherheit hatte das Dora bei seinem Schrei am Morgen, Meine Uhr ist weg!, als einzige oder wahre Botschaft herausgehört.

Auf jeden Fall hatten sie jetzt beide Angst vor Einbrechern und traten nachts auf den Balkon, sobald es irgendwo knackte im Garten, er immer etwas vor ihr, wie es seine Art war, immer den Dingen ein Stück voraus zu sein, um nie in ihren Lauf zu geraten. Er horchte dann in die Dunkelheit und rieb sich das Herz, und in der Nacht, um die es hier geht, ahnte er wohl, daß seine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen waren. Angeblich sei er ganz ruhig gewesen, als er noch allein auf dem Balkon stand, und hätte gleichsam auf sich selbst geblickt, auf den, der er war, als er noch geglaubt hatte, sein Leben nehme letztlich keinen Verlauf, sondern gehe einfach immer so weiter, und hätte sich, voller Nachsicht, eine Hand auf die Schulter gelegt, mit einem fast väterlichen Gefühl für sich in dieser Augustnacht auf dem Balkon eines Sommerhauses mit Blick auf jenen See, den er als zweite Heimat gewählt hatte, ohne daß es eine erste gab – väterlich vielleicht, weil sein Sohn so weit weg war, am anderen Ende der Welt, und er sich selbst ein Sohn sein wollte, aber auch, weil ihn den ganzen Tag über zwei Gedichte beschäftigt hatten, die einzigen, die ihm je geglückt oder gelungen waren. Eine gemeinsame Freundin hatte ihn am Morgen, bei einer Fahrt in meinem Boot, an diese alten Gedichte erinnert, und während wir um die Landzunge von San Vigilio fuhren, die beste Stelle des Sees, wo die Freundin eins der begehrten Zimmer in dem kleinen Hotel mit noch kleinerem Hafen hatte, waren ihm nach und nach Bruchstücke einfallen. Aber erst jetzt, auf dem Balkon, tief in der Nacht, als alle anderen der Familie schliefen – nur sein Sohn nicht, weil in Neuseeland Tag war –, konnte er beide Gedichte wieder fehlerlos vor sich hinsprechen, das erste lag sechzehn Jahre zurück. Angst, mir werde das Herz nicht weiter, wenn ich Dich sähe, wäre ich blind / Angst, ich sei vielleicht jener Reiter, der zu späte durch Nacht und Wind. Furcht, Du könntest sachte sterben, sachte mir zwischen den Fingern zerrinnen / Furcht, Du könntest seltsam werden / Auf Umwegen nur Menschen Liebe gewinnen … Das waren seine Worte, dachte er, und waren es nicht, und ebenso fremd wie vertraut – vertraut wie die Träume von Landschaften, die uns Flügel verleihen – erschien ihm das zweite Gedicht, gewidmet der Kleinen und der Frau, die sie zur Welt gebracht hat, zehn Jahre vor dem Jahrhundertsommer. Mädchenleis / Dein erstes Klagen, wagte nicht, Dich anzuheben / Nur einen Kuß erbat ich dann, aus Deiner Augen Ferne kam: Werd lang Dich überleben. Helles Da!, Dein erstes Sagen, siehe da, die Welt im Lot / Und wieder bitt ich um den Kuß, Du schüttelst nur das Häuptchen: So lustig buchstabierst Du Tod.