Der Spitzenkandidat - Bettina Raddatz - E-Book

Der Spitzenkandidat E-Book

Bettina Raddatz

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Beschreibung

Ein hochspannender Politkrimi bietet einzigartige Einblicke in das Innere des Politikbetriebes mit seinen hässlichen, aber auch seinen menschlichen Seiten. Bettina Raddatz, seit Jahrzehnten in der Politik tätig, hat im direkten Umfeld der mächtigsten deutschen Spitzenpolitiker gearbeitet und kennt das Innenleben von Regierungen und Parteien aus eigenem, hautnahem Erleben: Auf- und Abstieg, Neid, Intrigen, Seilschaften und Feindschaften, vom Ehrgeiz Getriebene ebenso wie eiskalte Manager der Macht, aber auch integre Männer und Frauen, die sich ihr Rückgrat bewahrt haben. All dies hat sie in drei packenden Politkrimis aufgearbeitet, die einen Blick hinter die verschlossenen Türen der Parteizentralen und Regierungssitze zulassen. Im Auftaktband Der Spitzenkandidat bringt der Mord an einem umjubelten Politstar die unschönen Seiten des Politikbetriebes ans Licht - von den vielschichtigen Netzwerken zwischen Wirtschaft und Politik bis hin zum Einfluss mafiöser Organisationen. Sämtliche Figuren in Bettina Raddatz' Romanen sind erfunden und alle Ereignisse sind rein fiktiv. Aber authentischere Schilderungen der Vorgänge in den Schaltzentralen der Macht lassen sich kaum finden.

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Bettina Raddatz

Der Spitzenkandidat

Roman

Bettina Raddatz

Der Spitzenkandidat

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printed in Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2011© 2011 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wienwww.braumueller.at

ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-045-6

E-Book-Ausgabe © 2012ISBN 978-3-99200-066-1

Hinweis: Handlung und Personen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit lebenden Personen wird ausgeschlossen. Die Handlung könnte auch in jeder anderen größeren Stadt stattfinden.

1

Während der Wahlkampf in Thüringen bis zur Auszählung der Stimmen am Wahlabend spannend bleibt, scheinen die Landtagswahlen nach aktuellen Umfragen in Niedersachsen entschieden zu sein. Zu groß ist der Vorsprung, den der Spitzenkandidat der Bürgerpartei, Uwe Stein, für seine Partei herausgeholt hat. Der Politiker, der als unverbraucht und unabhängig gilt, genießt in der Bevölkerung hohes Ansehen. Offen ist allenfalls noch die Frage, ob es Stein gelingen wird, die absolute Mehrheit an Stimmen und Sitzen für seine Partei zu erreichen. Dies hätte eine Machtverschiebung im Bundesrat zur Folge. Noch vor einem Jahr sah es für die Bürgerpartei nicht gut aus. Der seit geraumer Zeit kränkelnde Ministerpräsident, der Anfang des Jahres seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hat, wirkte zuletzt ebenso amtsmüde wie sein angeschlagenes Kabinett. Stein war es auf dem letzten Parteitag mit einer mitreißenden Rede gelungen, den langjährigen Parteivorsitzenden Alfred Bitter als Spitzenkandidat zu verdrängen. Seither hat die Partei in Niedersachsen an Profil gewonnen. Anders als der konservativ geprägte Bitter steht Stein für eine weltoffene, liberale Politik. So tritt er ganz im Gegensatz zu Bitter für ein modernes Zuwanderungsgesetz und eine moderne Familienpolitik ein. Der smarte Politiker hat als Quereinsteiger frischen Wind in die in Niedersachsen seit neun Jahren regierende Partei gebracht. Ihm ist es gelungen, neue Wählerschichten unter den berufstätigen Frauen und in den Großstädten anzusprechen. Sein Hundert-Tage-Programm sieht einen umfassenden Modernisierungskurs vor. Neben Innovationen in Wirtschaft und Verwaltung liegt dem angehenden Regierungschef insbesondere die Bildung am Herzen. Der vierzigjährige Anwalt ist verheiratet und hat eine siebenjährige Tochter.

Weltjournal, 24. August 2011

29. AUGUST 2011

Schon zwanzig Minuten vor neun und der Chef war immer noch nicht da. Bernd Wagner wurde unruhig. Stein war eigentlich nie unpünktlich und wenn doch, hatte er ihn stets angerufen und eine plausible Erklärung parat.

Auf dem runden Tisch war für zehn Personen gedeckt. Von den sieben Journalisten, die ihre Teilnahme am Frühstück mit Hintergrundgespräch fest zugesagt hatten, waren nur vier erschienen. Schlecht für Stein, noch schlechter für ihn. Stein würde ihn dafür verantwortlich machen, dass nicht mehr Journalisten gekommen waren.

Die anwesenden Journalisten wirkten lustlos und unausgeschlafen. Zwei schwiegen, zwei redeten über die Hitze und die Baggerseen der Umgebung, die nicht überlaufen waren. Einer gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Für politische Redakteure war es zwei Stunden zu früh. Da half es auch nichts, dass sie in eins der besten Vier-Sterne-Hotels der niedersächsischen Landeshauptstadt gebeten worden waren. Wagner hatte für elf Uhr plädiert, aber der Chef hatte so getan, als könnte sich die fünfte Macht unabhängig von der Uhrzeit glücklich schätzen, seiner gottgleichen Gegenwart teilhaftig zu werden.

„Wo bleibt er denn? Halb neun war ausgemacht.“

Bianca Fröhlich strahlte von dem müden Haufen noch die meiste Vitalität aus. Die Nachfolgerin von Hollmann, Wagners Spezi aus seinen Zeiten als Regierungssprecher, und Mitarbeiterin der Politik-Redaktion der Allgemeinen Niedersachsenzeitung war scharfzüngig und intelligent. Sie biss sich allerdings gern an Themen fest, die sie dann nicht mehr losließ, und nervte damit ihr Umfeld, ganz besonders Wagner. Fachlich hatte das Blatt mit ihrer Beförderung keinen Fehler gemacht. Für Wagner, der regelmäßig mit ihr zu tun hatte, war sie nicht die optimale Wahl. Man konnte mit ihr keinen Small Talk führen. Kleine Lästereien, erfrischend sinnlos und von gediegener Boshaftigkeit wie mit Hollmann, waren mit ihr nicht möglich. Und nächtliche Sausen erst recht nicht.

Für einen Moment schweiften Wagners Gedanken ab. Sein Freund Hollmann saß jetzt vermutlich in einem der vielen Strandcafés in Marbella und ließ es sich gut gehen. Seit er in Andalusien wohnte, beglückte er Wagner regelmäßig mit bunten Ansichtskarten.

„Er wird gleich kommen“, antwortete er. „Bedienen Sie sich doch schon am Büfett. Wird ja nicht frischer bei diesem Wetter.“

„Ich will nicht frühstücken. Das hätte ich auch zu Hause haben können. Ich will Infos, nicht mir den Wanst vollschlagen.“

Radio RFN hatte seinen politischen Redakteur geschickt. Nach Wagners Meinung ein Stinkstiefel, ein Dauernörgler, zudem politisch auf der anderen Seite.

„In fünf Minuten bin ich weg“, drohte er und blieb stur an seinem Platz sitzen.

Alle anderen, auch Wagner, gingen zum Büfett und füllten ihre Teller mit Lachsschnittchen, Käsehäppchen und Krabbenbrötchen. Wagner hätte ein Brötchen mit Marmelade vorgezogen. So begnügte er sich mit einem Joghurt und Kaffee aus Isolierkannen in den Farben von Hannover 96.

Mit dem Essen besserte sich die Stimmung. Das neueste iPhone aus Korea wurde begutachtet, ein Reporter zeigte als Kontrastprogramm einen uralten Vierfarbkugelschreiber von Pelikan herum, den er im Nachlass des kürzlich verstorbenen Großvaters gefunden hatte. Wagner dachte: Gib ihnen zu essen und zu trinken und etwas zu spielen. Mehr brauchen sie nicht, um glücklich zu sein.

„Guten Morgen, die Herrschaften. Behalten Sie doch Platz! Den Kniefall führen wir erst nach der Wahl ein.“

Eine der unangenehmsten Eigenschaften von Uwe Stein war die Fähigkeit, plötzlich mitten im Raum zu stehen. Jovial lächelnd, mit Augen, die nicht mitlächelten, machte er die Runde, schüttelte Hände. Der Mann von Radio RFN, der sich inzwischen doch noch am Büfett bedient hatte, wurde durch einen Klaps auf die Schulter geadelt. Stein behandelte seine Gegner stets besonders zuvorkommend, seine politischen Freunde wusste er ja ohnehin auf seiner Seite, um die musste er nicht buhlen.

Wie immer war er tip-top gekleidet. Der graublaue Sommeranzug mit dem hellblau gestreiften Hemd betonte das Blau seiner Augen.

Angeblich war Stein in der Parteizentrale aufgehalten worden. Näher äußerte er sich nicht, es war auch nicht notwendig. Jeder im Raum wusste, als Spitzenkandidat befindet er sich im Dauerstress.

Obwohl Wagner, der sich in der Wahl der Kleidung nach einem Vorfall in der ersten Arbeitswoche keine Nachlässigkeit mehr leistete, korrekt angezogen war, fiel er gegen Uwe Stein total ab. Uwe Stein konnte einen Anzug tragen, ohne darin wie verkleidet auszusehen. Wagner wusste um die Hintergründe: um die Stilberaterin aus Berlin, die nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen war, Steins Team komplett neu einzukleiden, die Imageberaterin, die als früheres Ensemblemitglied des Schauspielhauses dafür prädestiniert war, mit Stein auch an Sprache und Sprechweise zu arbeiten, den Starfriseur aus Hamburg und seit einigen Monaten auch noch einen Medienberater. Zwischen den beiden Männern hatte die Chemie vom ersten Tag an gestimmt. Der Berater hatte die Medienarbeit der Partei als schlechten Witz entlarvt und ihr eine neue Präsentation aufgezwungen. Wagner war nicht begeistert gewesen, Stein umso mehr. Auch sein anfänglicher Widerstand war schnell zerbröselt, denn der Berater verfügte über ein Buch mit Namen und Nummern, die Gold wert waren. Seit dieser Mann sich in den Räumen von Landesregierung und Regierungspartei herumtrieb, hatten sich Türen zu Adressen geöffnet, die bis dahin das Land Niedersachsen vor allem mit Nordsee, Ostfriesenwitzen und einem Staatskonzern, der Autos produzierte, in Verbindung gebracht hatten.

Auch wenn Wagners Verhältnis zu Uwe Stein nicht das beste war und nicht annähernd so unverkrampft wie zu seinem früheren Chef, dem noch amtierenden, aber amtsmüden Regierungschef von Niedersachsen, war ihm klar: Stein tut der Partei gut. Selbst seine Gegner vom konservativen Flügel mussten das einräumen. Seitdem er in die erste Reihe gerückt war, lieferte er stets bessere persönliche Werte als seine Partei. In deutschlandweiten Rankings hatte er es bis auf Rang 5 gebracht – beachtlich für einen Politiker, der bisher kein Regierungsamt bekleidet hatte.

Jetzt nötigte er die Journalisten, erst in Ruhe zu essen, bevor man anschließend in medias res ginge. Er selbst aß nichts. Seine schlanke, durchtrainierte Figur war ihm wichtig, sie brachte ihm Punkte bei der weiblichen Wählerschaft. An der Art, wie er zu Wagner hinüberschlenderte, erkannte der, dass es unangenehm werden könnte. Weniger Journalisten als angemeldet, das war nicht nach Steins Geschmack.

„Was war gleich noch mal der Grund gewesen, Sie einzustellen?“

Wagner antwortete sofort. Weil er wusste, dass jede Antwort falsch wäre, konnte er es auch schnell hinter sich bringen.

„Professionalität. Erfahrungen als Regierungssprecher, Verbindungsmann zwischen Regierung und Partei.“

Er bot Stein ein Lächeln an. Im Grunde bot er seine Kehle dar.

Stein kommentierte seine Bemerkung nicht, blickte ihn an, mit dem Blick, den Wagner inzwischen zur Genüge kannte und der ihm Angst machte. Niemals zuvor hatte er vor einem Vorgesetzten Angst gehabt, mit Stein hatte sich das geändert. Auch wenn der Politiker niemanden an sich heranließ, es hatte Gelegenheiten gegeben, Seiten an ihm kennenzulernen, die Unbehagen bei seinem Wahlkampfmanager ausgelöst hatten.

In dem Moment erkannte Wagner, wie angespannt der Politiker war. Das Nach-20-Uhr-Gesicht. Das Gesicht am Ende des Tages. Was war passiert? Irgendetwas stimmte nicht.

Stein setzte sich. „Fangen wir an, meine Herrschaften. Auf mich wartet der Wähler. Auf Sie warten aufschlussreiche Minuten. Ich werde mich kurz halten, erwarte offene Fragen. Wir sind ja unter uns.“

Er schenkte der einzigen Frau im Raum ein Lächeln. Sein George-Clooney-Lächeln, dem sich selbst die kühle Bianca nicht entziehen konnte. Wagner wusste, dass die Journalisten Stein mochten. Sein Aufstieg war nicht nur für die Partei gut, er beflügelte auch die Medien, versorgte sie mit Themen und Terminen. Stein brachte frischen Wind in das dröge Niedersachsen. Er war immer für eine Nachricht gut, und weil er gut für sie war, waren sie gut zu ihm. Kumpanei war es nicht, sondern die Nachbarschaft von Interessenlagen.

Stein sprach über das Wahlprogramm seiner Partei und betonte mehrfach, die Schwerpunkte seien seine, nicht die seines Vorgängers. „Ich setze mich nicht auf ein laufendes Pferd, ich habe den Gaul selbst gestriegelt und gesattelt.“

Trotzdem lobte er den amtierenden Ministerpräsidenten und bedauerte dessen angeschlagenen Gesundheitszustand, der ihn zum Ausstieg aus der Politik zwang. Wagner dachte sich seinen Teil, Stein wirkte besonders überzeugend, wenn er nicht die Wahrheit sagte.

Dann brachte Stein das Wort auf den Parteivorsitzenden Alfred Bitter, bezeichnete ihn als Lehrmeister, Mentor und Freund, gab vor nachzudenken und stellte den „Freund“ an die erste Stelle. Er klang überzeugend. Niemand im Raum – außer Wagner – wusste von dem erbitterten Krieg, den die beiden gegeneinander führten und der in den letzten Wochen an Intensität gewonnen hatte.

Der Verlauf des Wahlkampfes war das nächste Thema: 400 Parteieintritte gegenüber 17 Austritten. Volle Säle, Zuspruch von den Bürgern, überall im Land Aufbruchstimmung. Er malte das Bild in rosigen Farben: Eine Regierungspartei, kompetent, machterfahren und allen Unkenrufen zum Trotz nicht ermüdet, leitet mit ihm an der Spitze die Zukunft ein. Die Worte „modern, bunt, innovativ“ fielen mehrfach. Wagner kannte sie im Schlaf, so oft hatte er sie aus Steins Mund gehört.

Stein war geschickt, bezog immer wieder die Journalisten mit ein. Er war ein Kommunikationsgenie, gab den Menschen das Gefühl, sich für sie zu interessieren, obwohl das Gegenteil der Fall war. In der Öffentlichkeit erweckte er den Eindruck anders als die anderen Politiker und der einzig Mutige unter lauter Mutlosen zu sein. Sätze wie „Ich lasse mich nicht verbiegen, selbst wenn es mich Stimmen kostet“ oder „Man muss auch unbequeme Wahrheiten aussprechen“ gehörten zu seinem ständigen Repertoire, wobei er offenließ, welche unbequemen Wahrheiten er konkret meinte. Im kleinen Kreis war er anders, zugeknöpft und unterkühlt. Auch die kraftlose Opposition, die längst resigniert habe, wurde erwähnt. Auf der anderen Seite die Bürgerpartei, verantwortungsbewusst, dynamisch, weltoffen und immer ehrlich. So wie die Niedersachsen selbst: gradlinig, vernunftgeprägt, erdverbunden und mit sicherem Gespür für das Machbare.

„Wir können uns nur selbst besiegen, wenn wir abheben und den Boden unter den Füßen verlieren. Ich stehe dafür ein, dass das nicht passieren wird. Wir handeln, wie wir reden. Das, was ich vor der Wahl sage, daran werde ich mich messen lassen.“

Dann schaute er in die Runde der interessiert lauschenden Journalisten. „Wenn Sie noch Fragen haben, lassen Sie sie vom Stapel.“

Am Ende war es fast eine Wahlkampfrede geworden. Die Journalisten sahen nicht so aus, als wären sie darüber traurig. Stein hatte sie mit griffigen Formulierungen versorgt.

Der Artikel für die nächste Ausgabe war gesichert. Wagner verteilte die vorbereiteten Mappen. Bianca Fröhlich meldete sich zu Wort. Sie musste warten, denn Stein holte sich Tee.

„Herr Stein, wie wollen Sie das Hundert-Tage-Modernisierungsprogramm, das Sie gleich nach Ihrem Amtsantritt als Regierungschef in Angriff nehmen wollen, eigentlich finanzieren?“

Wagner öffnete den Mund, um auf die Mappe zu verweisen, denn sie enthielt das Zahlenmaterial. Stein stoppte seinen Eifer, indem er die Hand hob. Dann sprach er über Umschichtungen und Einsparmaßnahmen, über Investitionen in die Zukunft, von denen auch das flache Land nicht ausgenommen werden dürfe. Jeder Satz hatte nur eine Funktion: Stein nahm Tempo auf, um am Ende auf sein Leib- und Magenthema zu kommen – Bildung: im Kindergarten, in Vorschulen, Grundschulen und weiterführenden Schulen. Das Thema Gesamtschulen klammerte er wohlweislich aus. In dieser Frage musste er die Partei noch hinter sich bringen. Stattdessen redete er über Universitäten, Volkshochschulen und spezielle Angebote für Migranten. Stein war geradezu besessen von Bildung. Es gab keine Veranstaltung, in der sein Lieblingsthema nicht breiten Raum einnahm.

„Deutschland hat keine Erdölvorkommen wie Norwegen, auch kein Erdgas wie Russland oder andere nennenswerte Rohstoffe. Unser Rohstoff sind wir selbst, die Menschen. In ihre Köpfe müssen wir investieren, wenn wir auch zukünftig in der ersten Liga mitspielen wollen.“

Er trank einen Schluck Tee. „Ich weiß, ich weiß, eine Binsenweisheit, tausendmal gesagt. Aber mit der Umsetzung hapert es in diesem Land. Und ich stehe für die Umsetzung, dafür kämpfe ich, deshalb will ich Regierungschef in diesem wunderschönen Bundesland werden.“

Die Journalisten schrieben eifrig mit.

Bianca Fröhlich legte nach: „Eine private Frage.“

„Keine Hemmungen. Wenn nicht im kleinen Kreis, wo denn dann?“, entgegnete Stein aufmunternd.

„Die Menschen fragen sich, weshalb sie Ihre Frau nie zu Gesicht bekommen. Als Landesmutter wird sie repräsentative Aufgaben übernehmen müssen. Die Wähler würden sich gerne einen Eindruck machen, vorher, meine ich.“

Sein Lächeln war eine sichere Burg, in der Stein Unterschlupf fand. Niemand außer Wagner bemerkte, dass der Politiker sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Stein nahm erneut einen Schluck Tee und noch einen.

Dann, nach einer längeren Pause, sagte er: „Meine Frau ist sich der Bedeutung ihrer neuen Rolle vollkommen bewusst. Selbstverständlich wird sie repräsentative Aufgaben übernehmen. Sie wird sich im sozialen Bereich engagieren. Meine Frau will sich im Kampf gegen die wachsende Kinderarmut betätigen.“

Seine Augen blieben kalt, während er der Runde sein Lächeln schenkte.

„Sie ist sich durchaus bewusst, dass die kommenden Jahre nicht einfach werden. Wir alle hier im Raum kennen ja die heikle Situation einer Landesmutter. Streng genommen hat sie kein Mandat, sie steht nicht zur Wahl. Deshalb hält sich meine Frau bewusst zurück, solange der Wahlkampf dauert.“

„In den Vereinigten Staaten …“

„Ja, ja, liebe Bianca, ich weiß. In den USA muss die ganze Familie ran, aber wir sind in Niedersachsen und nicht in Amerika. Es wäre schön, wenn die Frau Gemahlin des Oppositionsführers sich das gelegentlich vergegenwärtigen würde. Erst gestern haben mich Bürger in Peine verwundert gefragt: Wer kandidiert denn da eigentlich? Die Frau vom Oppositionsführer oder ihr Mann? Jeden zweiten Tag eine unerbetene politische Meinungsäußerung, das ist nicht die Art Familienpolitik, für die ich eintrete.“

Alle lachten, auch Bianca. Aber sie legte trotzdem nach: „Ihre Frau ist praktisch unsichtbar. Sie war weder beim Sommerfest der Niedersachsenpresse noch beim Fest des Unternehmerverbandes letzte Woche und auch nicht bei der Eröffnung der Gartenfestspiele in Herrenhausen. Alle Politiker kamen in Begleitung, nur Sie nicht.“

Lass gut sein, Mädchen, dachte Wagner. Stein ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das war eine seiner vielen Stärken, die ihn in kurzer Zeit so weit nach oben gebracht hatten.

„Wir haben eine schulpflichtige Tochter. Meine Frau nimmt ihre Aufgaben als Mutter sehr ernst. Ich sage das ganz offen, obwohl ich weiß, was mancher von Ihnen denken wird: Hausfrau und Gleichberechtigung, passt das? Ich sage: Ja, das passt! Seien wir doch ehrlich, einen Haushalt und eine Familie zu managen, das erfordert Einsatz und Organisationstalent. Und meine Frau weiß, was in Zukunft auf unsere Tochter zukommen wird. Deshalb ist sie für unsere Kleine da, solange es geht. Außerdem, nichts für ungut: Ich bin kein Freund davon, die Eier zu verteilen, bevor sie gelegt sind. Noch haben wir die Wahlen nicht gewonnen.“

Es wurde still im Raum. Dann fuhr Stein mit leiser Stimme an Bianca gerichtet fort: „Sprechen Sie doch einfach mit meiner Frau. Vereinbaren Sie ein Interview mit ihr, nur unter Frauen. Um die Terminabsprache wird sich Herr Wagner gerne kümmern.“

Wagner nickte und bewunderte ihn im Stillen: ein Profi durch und durch. Er weiß, dass das Interview niemals zustande kommen wird. Ich weiß es. Er weiß, dass ich es weiß. Und trotzdem bleibt er souverän.

Der Mann von Radio RFN hob die Hand. Es ging um Atommüll, um Castor-Transporte, Asse und um Windparks an der Küste. Stein hatte auf alles eine Antwort. Ihm war kein Thema fremd. Fast spürte Wagner so etwas wie Stolz. Selbst wenn es manchmal brutal mit ihm gewesen war, überwog jetzt die Genugtuung. Sich im Glanz dieses begabten Politikers zu bewegen, gehörte zu den Sonnenseiten seines Jobs.

Auf der Rückfahrt zur Parteizentrale wartete Wagner darauf, dass Stein sich über die freche Fröhlich beschweren würde, vor allem über ihr penetrantes Beharren auf privaten Themen. Außerdem würde er sicher erwähnen, dass das Interview niemals zustande kommen würde. Aber Stein redete über die Wahlplakate der zweiten Serie. Diese seien besser als jene der ersten Serie, auf denen habe er zu streng gewirkt. Auf den neuen Fotos sähe man ihm den Freiberufler an, die Eigeninitiative, das Selbstständige eben, das, wovon die meisten Wähler träumten, aber was sie selbst nie in die Tat umsetzen könnten, weil sie zu feige und mittelmäßig seien. Im kleinen Kreis ließ sich Stein gerne über die Wähler aus, die bestenfalls Mittelmaß seien, viele bildungsfern, wie er meinte. „Die meisten haben sich in ihrer Bequemlichkeit gut eingerichtet und spekulieren darauf, dass die Politiker alle Schwierigkeiten von ihnen fernhalten. Sie wollen die unbequemen Wahrheiten nicht hören, nicht, dass es mit dem Nachkriegswohlstand in Deutschland ein für allemal vorbei ist, nicht, dass wir ein alterndes Volk sind und uns unsere Rente schon lange nicht mehr leisten können, und auch nicht, dass der Staat total überschuldet ist und wir kurz vor dem Staatsbankrott stehen.“

Wagner war sich sicher, dass Stein nicht zu der Sorte Politiker gehörte, die Angst hatte, den Menschen reinen Wein einzuschenken. Er kannte niemanden, der so mutig war wie Stein. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre – nach der gewonnenen Wahl –, würde Stein Klartext reden und sein Spruch von den unbequemen Wahrheiten nicht länger nur Rhetorik sein.

Jetzt bestand Stein darauf, die zweite Plakatserie eine Woche vorzuziehen, Wagner solle sich darum kümmern. Klar würde er das. Das war schließlich sein Job und der brachte ihm 12.000 Euro mehr im Jahr ein als seine vorherige Tätigkeit. Wenn Stein besonders schlecht drauf war und ihn in die Zange nahm, betrachtete er die Erhöhung als Schmerzensgeld.

Stein lästerte noch ein wenig. Er konnte erstaunlich zynisch sein und lachte am lautesten über seine eigenen Ausfälle. Das waren die Momente, in denen Wagner sich für seinen Job als Wahlkampfmanager schämte.

2

Isabel hörte, wie die Haustür ins Schloss gezogen wurde. Punkt sieben, jeden Morgen um Punkt sieben, ihr Mann hatte feste Gewohnheiten. Sie stützte sich im Bett auf. Der rechte Arm tat weh. Wenn sie den Ellenbogen belastete, schoss spitzer Schmerz in die Schulter. Gestern Abend war es schlimmer als sonst gewesen. Wie besessen hatte er auf sie eingeschlagen. Meistens mit der flachen Hand, aber gestern hatte er sich nicht mehr gebremst und auch mit dem Handrücken geschlagen.

Sie brauchte lange, um das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Der rechte Arm gehorchte nicht. Nackt stand sie vor dem Wandspiegel. Kein Gramm Fett zu viel an ihren Hüften, auch ihr Bauch war flach. Oberschenkel und Hintern waren gut proportioniert. Keine Spur von Cellulite. Die Jahre waren gnädig mit ihr umgegangen. Das Leben nicht.

Blaue Flecken, frische und verblassende, an ihren Brüsten, Hämatome am Hintern, rote Striemen an Armen und Beinen zeugten davon.

Es würde warm werden heute und sie würde eine Bluse mit langen Ärmeln tragen. Die Lüge von der angeblichen Sonnenallergie ging ihr inzwischen leicht über die Lippen. Von Jahr zu Jahr wurde es leichter, die Menschen zu täuschen. Der Vater war gestorben, die Mutter lebte in Almería, der Kontakt zu den Freundinnen war abgerissen. Uwe hatte es so gewollt und es war auch besser so. Nur mit den Nachbarn musste sie reden, ab und zu. Aber sie strahlte etwas aus, das die Nachbarn auf Abstand hielt. „Es ist besser so“, hatte Uwe gesagt, „besser für uns beide.“

Er war nicht immer so gewesen. Ihre Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten.

FRÜHJAHR 2002

Sie hatte seinen Namen geschrieben, bevor sie ihn ein einziges Mal gesehen hatte. Als Assistentin der Parteizentrale war sie für das Terminmanagement zuständig. Die Bürgerpartei gab sich als moderne Partei, besonders in der Sprache.

Der Anwalt Uwe Stein galt als begabter Nachwuchs. Es war eine Frage der Zeit, bis der Parteivorsitzende Bitter ihn zu sich bitten würde. Auch die Bürgerpartei hatte Nachwuchssorgen, junge Politiker waren gefragt. Eine große Partei, die viele Mandate und Posten zu besetzen hatte, war für jedes Talent dankbar, und damals gab es in der Landespartei mehrere Vakanzen.

Vom ersten Augenblick war sie von Stein fasziniert. Von seinem Lächeln, seinem vollen blonden Haar, seinem kantigen Gesicht. Er hatte sie kaum beachtet, Bitter hatte zufällig neben ihrem Tisch gestanden. So hatte sich Uwes Aufmerksamkeit gleich dem Parteivorsitzenden zugewandt, das war nur natürlich. Uwe Stein war 32 Jahre alt, immer wieder in festen Beziehungen, aber stets nur für kurze Zeit, meistens war er ungebunden. In diesen Phasen suchten seine strahlenden blauen Augen jeden Raum ab, den er betrat. Als Albi, so nannten sie Bitter, ihm die Tür zu seinem Büro aufhielt, hatte Uwe ihr einen Blick zugeworfen. Einen Blick, der ihren Nacken mit Gänsehaut überzog.

Bei seinem nächsten Besuch in der Parteizentrale fragte er sie, ob sie nebenan im Kaffeehaus einen Mittagsimbiss mit ihm einnehmen wolle. Danach rief er sie mehrmals in der Woche an, auch wenn er unterwegs und bei Mandanten war. Die auswärtigen Anrufe rührten sie. Nach zwei Wochen nahm sie ihn mit in ihre Wohnung und in ihr Bett. Es war anders als mit Kurt, ganz anders. Kein langweiliger Routinesex wie mit Kurt, wo alles vorhersehbar war, wo es keine Überraschungen mehr gab. Uwe Stein war in jeder Hinsicht ein aufregender Mann. Am Tag darauf machte sie mit ihrem Freund Schluss. Was konnte der gutmütige, zuverlässige Gefährte aus Jugendtagen gegen einen strahlenden Helden ausrichten? Kurt war tief getroffen, kämpfte aber nicht um sie. Auch das unterschied ihn von Uwe, er war kein Kämpfer, war nie einer gewesen.

Als Uwe ihr den Heiratsantrag machte, erhielt ihr Leben einen Sinn. So glaubte sie damals.

Die Hochzeit fand wenige Wochen später statt. Eigenartig fand sie, dass er niemals über seine Familie sprach und auch keine engeren Freunde hatte. Einmal erwähnte er seine Mutter, die im Emsland lebte. Den Kontakt hatte er schon vor Jahren abgebrochen. Als sie nachbohrte, wiegelte er ab, wollte nicht darüber sprechen. Natürlich fand sie dafür Gründe. Es gibt keine Verpflichtung, zu seiner Familie enge Beziehungen zu unterhalten, wenn man sich nichts zu sagen hat und in verschiedenen Welten lebt, entschuldigte sie ihn. Und in Freundschaften musste man Zeit investieren. Uwe hatte keine Zeit. Beruf und Politik forderten ihn 14 Stunden am Tag.

Vielleicht war er auch ein Mann, dem es schwerfiel, enge Beziehungen einzugehen. Es gab solche Menschen, sie lebten im Schutz eines Panzers, weil sie Verletzungen und Enttäuschungen erlitten hatten. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, hatte er einen tieftraurigen Blick. Dann liebte sie ihn besonders, war beseelt von der Vorstellung, seinen Panzer aufzubrechen. Das Einzige, was sie dafür brauchte, war Zeit. Die Liebe war schon da.

Selbst zur Hochzeit kam niemand aus seiner Familie. Es war eine eher karge Zeremonie, kaum 20 Gäste, einige von Isabels Seite, der Rest Kollegen und Parteifreunde von Uwe. Obwohl sie in der Partei arbeitete, war sie selbst kein Mitglied. Unerwartet erschien auch Bitter. Uwe war damals noch ein politischer Nobody. Bitter war Isabels Chef, niemals wäre es Uwe in den Sinn gekommen, dass er ihretwegen gekommen war. Nie würde sie Uwes Gesicht vergessen, als ihnen der Parteivorsitzende Glück und Segen wünschte. So gerührt hatte sie ihn nie wieder erlebt.

Bevor sie zum Standesamt fuhren, gingen sie zum Notar und vereinbarten Gütertrennung. Uwe wollte es so. „Wir werden uns niemals trennen, aber klare Verhältnisse haben noch nie geschadet“, sagte er. Isabel fühlte sich unwohl dabei, das kalte Geschäftsgebaren des Anwaltes passte so gar nicht zu ihren Gefühlen. Uwe wirkte anders als sonst, den Charmeur hatte er im Vorzimmer abgegeben, jetzt war er geschäftsmäßig und unterkühlt. Sie fand sich damit ab, sie war verliebt und glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Außerdem war sie in diesen Tagen zu aufgeregt, um sich mit juristischen Spitzfindigkeiten abzugeben.

Uwe bestand auch darauf, dass sie ihren Job in der Parteizentrale aufgab. „Ich verdiene genug Geld für uns beide. Willst du denn, dass unsere Kinder eine berufstätige Mutter haben?“ Auch sie wollte Kinder, war mit allem einverstanden. Und dass er für sie mit entschied, störte sie nicht. Er war der Mann und sie eine liebende Frau.

Zur Hochzeit war Isabels Mutter aus Spanien gekommen, bei sich hatte sie einen der schneidigen deutschen Pensionäre, von denen sie sich in der neuen Heimat umgarnen ließ.

„Kind, kette diesen Mann an“, rief ihre Mutter, bevor sie nach der Feier in ihr Hotel fuhr, denn Uwe war der Meinung, das Brautpaar habe an diesem Tag Anspruch auf Privatsphäre. „So einen kriegst du nie wieder. Betrachte ihn als Hauptgewinn. So klug, so geschickt mit Worten, so zielstrebig. Und attraktiv ist er auch. Er wird seinen Weg machen.“

Als Uwe ihr vor dem Einsteigen ins Taxi die Hand küsste, verging sie vor Stolz und Rührung.

3

Der Honeymoon dauerte 40 Tage. Dann kam der Abend, an dem Uwe von der Parteiveranstaltung zurückkehrte. Mit dem Verlauf dieser Veranstaltung war er überhaupt nicht einverstanden. Seine Laune war miserabel. Sie kannte das schon, er ärgerte sich oft, über die Partei, Mandanten, Kollegen, Verkehrsteilnehmer. Die Welt war voller Gründe, die ihn aufregten. Dann funkelten die blauen Augen, aber nicht vor Lebensfreude. Sie hatte Verständnis und bemühte sich, seine Stimmung aufzuhellen. Dieser Mann hatte es verdient, verwöhnt zu werden, ein harmonisches Heim gehörte dazu. Sie hatte seinen Lieblingskuchen gebacken, Apfelkuchen mit Streusel. Sie hatte Vanillezucker in die Sahne getan, wie er es liebte, und die Stücke so aufgeschnitten, dass sie nicht zu groß und nicht zu klein waren. Sie bemühte sich, alles richtig zu machen und stieß dabei gegen die Teekanne, die vom Tisch fiel und zerbrach. Isabel bückte sich sofort, um die Scherben aufzusammeln. Plötzlich wurde sie hochgerissen. Sie war nicht darauf gefasst und taumelte. Uwe stand vor ihr mit einem Gesicht, das sie nicht kannte.

„Du Schlampe, du blöde! Pass gefälligst auf!“

Sie war sprachlos, nicht verängstigt. In diesem Moment überwog noch die Überraschung.

Er schlug zu, ansatzlos.

Ihr Gesicht brannte. Niemals hatte ein Mann sie geschlagen. Wie konnte er es wagen? Wegen einer Teekanne!

Sie öffnete den Mund, aber sie sagte nichts. Das lag an seinem Gesicht, vor allem an den Augen. Wut verschaffte ihm ein zweites Gesicht. Die Augen waren wie Steine, ohne Ausdruck, und eigentlich blickten sie sie auch nicht an. Sie starrten in eine Ferne, die wohl nur er in diesem Augenblick sah. Aber an der Bedrohung bestand kein Zweifel. Vor ihr stand ein Fremder.

Sie musste die Scherben aufsammeln, aber sie wollte sich nicht bücken und nicht wehrlos sein. Den nächsten Schlag wollte sie kommen sehen.

Schweigend verließ er das Wohnzimmer und redete zwei Tage nicht mit ihr.

Es war das Schweigen, das sie noch mehr als die Schläge zermürbte. So durften Liebende nicht miteinander umgehen. Und sie waren doch Liebende, 40 Tage nach der Hochzeit. Er verließ früh das Haus und kehrte spät zurück. Am dritten Tag kapitulierte sie. Sie wollte keinen Machtkampf, sie wollte sein Wohlwollen zurückgewinnen. Insgeheim sehnte sie sich nach Versöhnungssex. Sie kannte einige Arten, ihn glücklich zu machen. Sie musste sich nur entschuldigen, denn sie wollte es ihm nicht so schwer machen.

„Es tut mir leid, dass ich die Kanne zerbrochen habe. Aber es ist doch nur eine Kanne. Sprich mit mir, Uwe. Ich passe in Zukunft auch besser auf.“

Wie er sie anblickte! Ohne Wärme und Zuneigung, so sah man technische Geräte an, die nicht mehr einwandfrei ihren Dienst versahen.

Dann sprach er: „Ich möchte nicht, dass du meine Sachen kaputt machst.“

Wieso sprach er von seinen Sachen? Das Geschirr war ein Geschenk ihrer Tante zur Hochzeit gewesen. Von seiner Familie hatte er überhaupt keine Geschenke erhalten. Sie setzte sich neben ihn, drückte sich gegen seinen Arm. Es dauerte länger, als sie gedacht hatte. Aber am Ende liebten sie sich. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich bei ihr. Er hatte Tränen in den Augen, man merkte ihm an, wie leid es ihm tat. Die Nerven waren mit ihm durchgegangen. Isabel war erleichtert, ein einmaliger Ausrutscher, beruhigte sie sich.

Zwei Wochen später begleitete sie ihn zu einem Abendessen mit Vertretern der Wirtschaft. Er hatte sie noch nie darum gebeten, mit ihm gemeinsam einen Termin wahrzunehmen. Umso erfreuter war sie und unterhielt sich mit den Teilnehmern, am längsten mit dem Mann zu ihrer Rechten, einem Jungunternehmer aus der Metallbranche, der angeregt von seinen Aufenthalten in Lateinamerika berichtete. Schon im Auto merkte sie, wie wütend Uwe war. Schweigend starrte er vor sich hin, war nicht ansprechbar und ließ sie die gesamte Unterhaltung allein bestreiten.

Die Haustür war gerade ins Schloss gefallen, als er ihr ins Gesicht schlug, beim zweiten Mal noch heftiger.

„Wie kannst du es wagen, dich wie eine Nutte zu benehmen! Schmeißt dich den Männern an den Hals. Was sollen die von mir denken? Du bist mit einem Politiker und Anwalt verheiratet und nicht mit einem Bordellbesitzer.“

Sie setzte an zu widersprechen, aber das Wort blieb ihr im Hals stecken.

„Benimm dich gefälligst, wie man es von der Ehefrau eines Mannes der Gesellschaft erwartet. Merkst du gar nicht, wie sehr du mich blamierst?“

„Aber … aber ich habe mich doch nur unterhalten, mehr nicht“, stammelte sie.

„Ach …? Und deine Blicke, mit dem du den Kerl ins Visier genommen hast. Und er dich, er hat dich förmlich ausgezogen, widerlich!“

„Ich flirte nicht“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Ich habe gerade geheiratet. Ich liebe meinen Mann und werde immer bei ihm bleiben. Bis dass der Tod uns scheidet.“

Er drehte sich um und ging in sein Arbeitszimmer.

Erneut strafte er sie mit Schweigen. Diesmal litt sie nicht so stark, denn sie brauchte die Zeit, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Waren alle Führungskräfte so? Oder nur die, die auf zwei Gleisen fuhren, also dabei waren, sich eine Karriere als Anwalt und Politiker aufzubauen? War es vielleicht doch ihre Schuld, hatte sie ihn düpiert?

Eine politische Karriere forderte einen hohen Preis, und Isabel wollte ja, dass Uwe auf der Leiter emporkletterte. Er hatte Talent, er war ein glänzender Redner, war ehrgeizig und machtbewusst. Und er hatte Visionen, wollte Weichen stellen, Dinge zum Besseren verändern, wollte diesem Land dienen. Dazu musste er ins erste Glied aufrücken, es gab viele Konkurrenten in der Partei.

Isabel sagte sich: Ich habe keinen Durchschnittsmann geheiratet, das war mir von Anfang an klar. Uwe braucht mehr Liebe und Zuspruch als andere, weil er anders ist. Er ist etwas ganz Besonderes, und er braucht meine Solidarität und Rücksichtnahme.

So sagte sie es ihm auch. Er reagierte erleichtert, sprach im Gegenzug von seiner Arbeit in der Kanzlei, den schwierigen Mandanten und kniffligen Fällen. Und dem ständigen Stress mit der Partei, den vielen Sitzungen, in denen nur Blabla geredet würde und die er trotzdem über sich ergehen lassen müsse. Dann entschuldigte er sich erneut bei ihr für die Schläge, wieder mit Tränen in den Augen. „Es tut mir leid, der Stress macht mich fertig. Und ich will dich nicht verlieren. Die Blicke, mit denen dieser Kerl dich taxiert hat …“

Er ist eifersüchtig, das heißt, er liebt mich, dachte sie. Wenn er mich nicht liebte, wäre er nicht eifersüchtig und nicht so betroffen. Als er sie streichelte, war er weich und nachgiebig wie lange nicht mehr. Und als er leise sagte: „Vergiss nie, dass ich dich liebe. Niemals!“, war die Welt wieder in Ordnung für sie. Dann küsste er sie und sie liebten sich.

Sie gab sich Mühe, Uwe glücklich zu machen. Während er draußen den kräftezehrenden Spagat zwischen Anwaltskanzlei und Politikbetrieb auf sich nahm, hielt sie das Haus in Ordnung und war für ihn da, wenn er von einem langen Arbeitstag nach Hause zurückkehrte.

Doch das Leben mit Uwe war nicht einfach. Mal war das Essen zu heiß, mal war ein Hemd nach der Wäsche verfärbt. Mal vergaß sie, eine Nachricht aus der Parteizentrale auszurichten oder entsorgte versehentlich Papiere, die sensible Informationen enthielten, in der öffentlich zugänglichen Papiertonne. Immer wieder musste Uwe mit ihr böse werden. Er schlug sie auf die Brust, auf den Rücken, auf den Hintern, auf Arme und Beine. Nur selten trafen die Schläge das Gesicht. Das anschließende strafende Schweigen tat noch mehr weh als die Schläge selbst. Doch immer wenn sie dachte „Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus“, bat er sie um Verzeihung, fast immer mit Tränen in den Augen. Sie dachte: Er leidet wie ein Hund, er schlägt mich, aber er leidet unter den Schlägen genauso wie ich. Die Belastung macht ihn fertig.

Er wollte jedoch nichts davon hören, kürzerzutreten. „Die Partei braucht Menschen wie mich, das Land auch. Menschen, die nicht im Mittelmaß schwimmen und die nicht nach Versorgungsposten schielen, sondern wirklich etwas verändern wollen.“

So ertrug sie seine Launen und die Schläge, wie man den Wechsel der Jahreszeiten und des Wetters erträgt, und sagte sich: „Es wird nicht so bleiben. Wenn er erst einmal sein Ziel erreicht hat, wird es besser.“

Und die Momente, in denen er sich ihr öffnete, sie um Verzeihung bat, Stress und Termindruck als Grund für „meine Überreaktion“, wie er es nannte, vorschob, entschädigten sie. Der Sex mit ihm auch. Zu Beginn zumindest, dann im Lauf der Zeit aber stumpfte sie ab. Aus Liebe wurde Apathie. Eines Tages schlug er zu wie noch nie. Sie beschloss, ihn zu verlassen.

Sie brauchte Hilfe, Zuspruch und Unterkunft. Aber es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. Die Mutter lebte in Spanien und riet ihr zu Verständnis und langem Atem. Freundinnen besaß sie nicht. Der Kontakt zu ihrer Schulfreundin beschränkte sich auf gelegentliche E-Mails und Weihnachtskarten. Ihre Tante in Hamburg war ihr fremd geworden. Und trotzdem wusste sie, dass sie ihr Leben verändern musste, wenn sie nicht vor die Hunde gehen wollte. Sie hatte eine Ausbildung als Verlagskauffrau und verfügte über Erfahrungen in der Parteiarbeit. Mit Ende zwanzig waren ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht so schlecht. Wenige Tage nachdem sie beschlossen hatte, sich heimlich nach einem neuen Job umzusehen, blieb ihre Monatsblutung aus.

4

Er freute sich wahnsinnig, nahm sie in die Arme und küsste sie. „Endlich! Endlich werden wir eine richtige Familie. Es hatte also doch alles einen Sinn.“

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