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Der Mensch hält sich zwar für intelligent, aber seine alten Gehirnteile bestimmen weiterhin Wahrnehmung und Verhalten, ohne dass uns das bewusst ist. Die Corona-Pandemie zeigt: Je mehr Ängste ins Spiel kommen und je schlechter wir uns seelisch fühlen, desto mehr greift unser Gehirn auf althergebrachte unvernünftige Verhaltensmuster zurück, Verstand und Vernunft sind schnell dahin und machen der aggressiven Suche nach einem Sündenbock Platz, ganz wie im Mittelalter. Anhand eines Gedankenmodells wirft der Autor die Frage auf, ob wir Menschen als Investition der Natur anzusehen sind, uns aus ihrer Sicht irgendwie zu lohnen haben und von einem biologischen Algorithmus gesteuert werden, der eine geistige Entwicklung systematisch einschränkt. Das Gedankenmodell erklärt Verhalten unter Stress, Flucht in Opferrollen, Glaube an eine höhere Instanz, Ideologie, Kriminalität und Terrorismus, aber auch, wann und wie der Mensch über einen freien Willen verfügen und die Dinge in die Hand nehmen kann. Achtung: Nach dem Lesen des Buches könnte Ihre Sicht der Dinge eine andere sein …
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Dr. Wolfgang Issel
Der Steinzeitmensch in uns
Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können
Copyright: © 2020
Wolfgang Issel
Lektorat:
Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz:
Erik Kinting
Titelbild:
Elenarts/Shotshop.com
DNA-Strang:
Spectra/Shotshop.com
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-13355-6 (Paperback)
978-3-347-13356-3 (Hardcover)
978-3-347-13357-0 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Vorwort
Intelligenz
Ein Bio-Algorithmus?
Wahrnehmung
Körperliche und seelische Energie
Investition, Gewinn und Motivation
Erfolg
Das Gehirn – ein Bio-Computer?
Entwicklung
Epigenetik
Kind
Sozialer Umgang
Pubertät
Resonanz
Filterung
Mentale Bremse
Der freie Wille
Intelligenz und Dummheit
Denken und Ausreden
Zweifel
Wissen und Verstehen
Pegel der seelischen Energie
Ausgeglichenheit
In Aktion
Akuter Mangel
Schwerer Mangel
Depression
Euphorie
Zusammenfassung
Quellen seelischer Energie
Beziehungen
Freunde
Arbeitsplatz
Bewegung
Glaube
Götzendienst
Homöopathie
Reisen
Haustier
Macht
Sündenbock
Sekten
Meditation
Drogen
Resilienz
Reaktionen
Erstarren
Kapitulation
Flucht
Aggression
Burn-out und Depression
Das heilende Dorf
Geistige Flughöhe
Die mentale Treppe rauf
Relativieren
Schubladendenken und Ideologie
Denken und Handeln
Wohin?
Anzeichen
Verlust der Realität
Verlust der Identität
Regression und Selbstbeschuldigung
Sägezahn
Wachstum?
Technik
Vertiefen
Künstliche Intelligenz – KI
Mentales Exoskelett
Zickzackkurs?
Wie?
Ziele
Literaturnachweis
Vorwort
»Lass es bloß sein«, meinte mein Freund Michael zur Idee dieses Buches, »du wirst nichts erreichen und keiner wird akzeptieren wollen, dass auch in unserer modernen Welt noch viele Verhaltensweisen denen des Neandertalers ähneln. Mehr Fakten, mehr Verstand, mehr Vernunft? Wie denn? Es läuft doch gerade umgekehrt: Was einer inhaltlich gesagt hat, ist wohl weniger wichtig, Hauptsache er hat eine gute Figur gemacht und mitreißende Emotionen gezeigt, wenn auch unreflektiert aus dem Bauch heraus und manchmal auf einem Niveau wie bei unseren Vorfahren vermutet! Glaubst du wirklich, du könntest dich gegen den immer emotionaler werdenden Mainstream stellen?«
Wahrscheinlich hat Michael recht. Aber ich finde, es ist einen Versuch wert.
Man muss nur bewusst hinsehen: Unser althergebrachtes Gehirn macht mit uns zuweilen schräge Dinge, schönt uns die Realität oder ängstigt uns, lässt uns nicht an die Zukunft denken und hindert uns sogar, konsequent zu handeln. Wer abnehmen will, kann ein Lied davon singen, was es heißt, sich mit Vernunft gegen sein eigenes Gehirn durchsetzen zu wollen und in einer Krise wie Corona setzt der Verstand oft ganz aus: Toilettenpapier und Hefe hamstern, Aufstände wegen Maskenpflicht und Abstandsgebot, Verwirrung, Ängste und die Suche nach einem Sündenbock.
Das ist kein Wunder: Steigende Stressbelastung, gesellschaftliche Unsicherheiten, Klimawandel, ungeregelte Migration, globale Naturzerstörung aber auch der wachsende Einfluss sozialer Medien und künstlicher Intelligenz brechen über unser Gehirn herein, das für solch schnelle Entwicklungen schlicht nicht gemacht ist. Die Natur hat den Menschen über Millionen von Jahren hinweg nach dem Prinzip Versuch und Irrtum geschaffen, ihre Lebewesen mit riesiger Streuung in Eigenschaften und Fähigkeiten auf den Markt des Lebens geworfen und gewartet, wie sie sich bewähren. Das ist eine Methode, die zwar auf längere Zeiträume gesehen durchaus erfolgreich war, bei der heutigen schnellen Entwicklung aber immer mehr Schwächen zeigt.
Nun stehst du da, Mensch, und fragst dich: Aber ich bin doch intelligent, daran sollte es nicht liegen? Auch weiß ich ja, wie enorm anpassungsfähig mein Gehirn ist, wie schnell es neue Sichtweisen entwickelt, sich auf beliebige Aufgaben einstellt und sich aufrüstet. Also an der Hardware liegt es auch nicht. Was fehlt mir, um die Möglichkeiten, die mir mein Gehirn bietet, wirklich zum Tragen zu bringen? Warum kann ich Dinge, die mir schon lange bewusst sind, trotz aller Einsicht nicht intelligent in die Tat umsetzen?
Intelligenz hin oder her – die ist ja auch nur ein Werkzeug, wie ein Hammer beispielsweise. Einen zu haben, heißt noch lange nicht, damit den Nagel auf den Kopf zu treffen. Irgendwie gelingt es dir einfach nicht, dich ganz bewusst selbst zu steuern und Dinge zu lassen, die dir kurz- oder langfristig schaden. Du bist dein Gehirn, hast aber wenig Ahnung davon, welche eigenen Interessen deine althergebrachten Hirnareale verfolgen, was sie dir verschweigen, wie sie dich manipulieren und trotz aller Fehler glauben lassen, deine Entscheidungen seien wohlüberlegt und dein freier Wille.
Und nicht nur das: Bereits bei der alltäglichen Aufgabe, aus deiner Wahrnehmung das bestmögliche Verhalten abzuleiten, weist das Gehirn eine ganze Reihe entwicklungsbedingter Schwachstellen auf: Unter starker seelischer Belastung verfälscht es deine Wahrnehmung, macht dir Angst und schaltet den in seiner Entwicklungsgeschichte erst spät installierten Verstand aus. Dann läuft alles bauchgesteuert, sozusagen mit Uraltprogrammen auf Autopilot: Du verlierst den Überblick, Aufgaben überfordern dich, erscheinen dir zu komplex, langfristiges Denken und Handeln rücken in weite Ferne, aktuelle Problemstellungen werden aufgeschoben, bis sie zur Krise angewachsen sind, dann folgt in Panik eine Überreaktion auf niedrigem Niveau.
Willst du mit deinem dermaßen von Stimmungen abhängigen Gehirn wirklich der Unsicherheitsfaktor für die Natur und dich selbst bleiben? Immer wieder die gleichen Fehler machen? Weil du einfach nicht anders kannst? Weil deine Verhaltensprogramme völlig veraltet sind? Ist künstliche Intelligenz (KI) die Rettung? Roboter die uns betreuen, beraten oder gar dominieren? Ist es nicht möglich oder sogar notwendig, dass sich nicht nur die KI weiterentwickelt, sondern auch der Mensch?
In diesem Buch wird ein Denk-Modell für menschliches Verhalten vorgestellt, mit dem Ziel, transparent zu machen, wie entwicklungsbedingte menschliche Schwachstellen zustande kommen und wie diese mit Verstand und Vernunft zu vermeiden oder zumindest zu entschärfen wären. – Notfalls auch mithilfe der KI.
Intelligenz
Der menschliche Geist ist das Höchste, was die Natur jemals hervorgebracht hat: hoch entwickelte Technik, Internet, Smartphones, medizinische Fortschritte, Kultur, das erwachende Gefühl für die Natur … Das hat alles seinen Preis, sodass die Belastung am Arbeitsplatz und der Bedarf an Koordination in der Familie ebenfalls wächst und schließlich zum Stress wird. Es spricht auch nicht gerade für einen hohen Intelligenz-Level, sich mit einer weltweit wachsenden Bevölkerung die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu erlauben, ohne deren Endlichkeit zu berücksichtigen, mit dem Risiko, Mensch und Natur durch Klimawandel und Auseinandersetzungen um die immer knapper werdenden Ressourcen in Gefahr zu bringen.
Wird die natürliche Intelligenz des Menschen ausreichen, die ungelösten gesellschaftlichen und globalen Probleme zu lösen? Es gibt ohne Zweifel große Entwicklungsschritte, die aber an eine mentale Grenze stoßen: Irgendwie geht es nicht weiter, es fehlen Überblick und langfristiges Denken und Handeln, ganz abgesehen von einer schlüssigen Zukunftsvision. Wo wollen wir hin?
Im krassen Gegensatz zur Realität schwärmen manche von einem Geist, der so erhaben sei, so emergent, dass er durch banale Tätigkeiten von Neuronen und Synapsen nie und nimmer repräsentiert werden könne.
Alles nur Einbildung, hätte man früher gesagt. Einbildung ist, was das eigene Gehirn seinem Träger Mensch als angebliche Realität vorspiegelt. Ist diesem Trugbild zu trauen? Fern der Realität merkt der zu sehr Vergeistigte nicht, dass sein eigenes Gehirn ihn an der Nase herumführt, er zu lange versäumt hat, sich selbst zu reflektieren, sich an der Realität zu orientieren und sich einmal wieder richtig zu erden. Es ist aber auch verständlich, lieber weiter in einer eingebildeten rosaroten Blase leben zu wollen, als mit der Realität eine harte Landung zu riskieren …
Wir können nicht nur von Geist, Verstand und Vernunft sprechen. Gefühle haben schon deswegen einen weit höheren Stellenwert, weil der Mensch ohne seelisch tragende Gefühle gar nicht leben kann. Gefühle sind Signale des Organismus, wie es um ihn bestellt ist. Aber nur nach momentanem Gefühl und aus dem Bauch heraus zu agieren, ist keine gute Idee, dabei wird oft zu kurz gedacht, vielleicht übertrieben und das meist mit zu viel Flurschaden. Es ist auch ein gerüttelt Maß an Verstand und Vernunft erforderlich, die eigentliche Stärke des Menschen, worin er sich ja am meisten vom Tier unterscheidet. Ist also natürliche Intelligenz im Zusammenwirken von Gefühl und Verstand die Lösung der anstehenden Probleme? Wird das reichen oder ist tatsächlich die Hilfe einer künstlichen Intelligenz vonnöten, weil der Mensch aufgrund seiner oft grenzwertig geforderten althergebrachten Auslegung diese Unterstützung dringend braucht?
Wie kommt man zu solchen Fragen?
Sobald man an Programmen für menschenähnliche Roboter arbeitet und sich bei deren Auslegung am Menschen orientiert, muss man sich notgedrungen die Frage stellen, inwieweit sich die prinzipielle Arbeitsweise eines menschlichen Gehirns von der Steuerung eines menschenähnlichen Roboters unterscheiden sollte.
Humanoide Roboter sind in ihrem Verhalten dem Menschen nachempfunden und sollen vorgegebene Aufgaben erfüllen, z. B. Menschen im Altersheim informieren und unterhalten oder Patienten vor einer MRT-Untersuchung (Magnet-Resonanz-Tomografie) aufklären. Gerade wenn es sich um seelisch besonders belastende Situationen handelt, kommt es sehr auf eine einfühlende und beruhigende Ansprache an, die zukünftig mit digitaler Empathie erreicht werden soll.
Roboter werden von einer Software gesteuert, die sie befähigt, das ihnen Aufgetragene bestmöglich auszuführen. Sollte das in ähnlicher Weise auch für den Menschen gelten? Wenn ja, dann wäre der Roboter eben aus Metall, der Mensch aus Fleisch und Blut. Beide würden von Programmen und Algorithmen gesteuert. Könnte das sein? Und wenn ja, nach welchen Prinzipien würde ein menschlicher Algorithmus arbeiten? Das wollen wir herausfinden.
Was ist eigentlich ein Algorithmus?
Laut Wikipedia ist ein Algorithmus eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Es folgen weitere Bedingungen wie Lösung in endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten.
Diese mathematische Definition mag für die Bereiche Computer und Roboter gelten, will man das aber auf den Menschen übertragen, gibt es ein grundsätzliches Problem: Bei einem lebenden Organismus ist nichts eindeutig und schon gar nichts wohldefiniert. Bis auf ein paar Zwillinge gleicht kein Produkt dem anderen. Die Natur arbeitet im Gegensatz zur Technik mit riesengroßer Streuung in den Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Lebewesen. Anders als beim Roboter mit seinen festen Algorithmen sollte es sich beim Menschen – wenn überhaupt – also um einen weit umfassenderen und höchst anpassungsfähigen Algorithmus handeln.
Wie könnte man sich einen biologischen Algorithmus zur Steuerung eines Menschen modellhaft vorstellen?
Ein Bio-Algorithmus?
Im Gehirn findet sich zwar der größte Teil der Neuronen (Nervenzellen) konzentriert und durch den knöchernen Schädel gut geschützt, Neurone und ganze Neuronen-Netze finden sich aber auch als Niederlassungen rundum im Körper verteilt. Fast der gesamte Magen-Darm-Trakt wird vom enterischen Nervensystem durchzogen, das als eigenständiger Funktionsteil z. B. die Verdauung steuert und – falls nicht anderweitig beeinflusst oder gestört – sogar autonom arbeiten kann.
Eine Unzahl von Sensoren verteilen sich auf alle Körperregionen. Da sind nicht nur Augen, Ohren, Geruchs- und Geschmackssinn als primäre Sinne gemeint, auch die Hautoberfläche und das Körperinnere sind mit einer gewaltigen Zahl von Sensoren ausgestattet. Berührungen von sanftem Streicheln bis hin zu schmerzhaftem Druck werden ihrer Stärke entsprechend wahrgenommen. Temperatursensoren in der Haut lassen vor der heißen Herdplatte zurückschrecken und jedes kleine Härchen am Körper lässt auch den feinsten Luftzug spüren. Und wenn ein geblähter Darm Bauchschmerzen verursacht, mahnt er damit, in Zukunft nicht mehr so viel Apfelsaft auf einmal zu trinken. Niederdrückende Gedanken können als seelische Belastung auf den Magen schlagen, obwohl es ihm rein körperlich bestens gehen sollte.
Seelische Nöte oder unbewältigte Ängste setzen den Organismus also unter Stress, bringen ihn von seiner normalen Funktion ab und lösen auf Dauer körperliche und seelische Fehlfunktionen bis hin zum Burn-out aus. – Was jetzt? Alles beeinflusst alles. Wer hat nun das Sagen und bestimmt das Verhalten? Ist es der Körper, das gute Bauchgefühl, auf das manche schwören? Oder diktiert eine Seele das Vorgehen?
Auf den ersten Blick ist das verwirrend und es gilt, ein Gedankenmodell zu entwerfen, mit dem man sich mehr Überblick über die Abläufe verschaffen kann:
Angenommen dein Körper ist gesund, gut versorgt, fit und auch nicht hungrig, dann würden alle Organe gut koordiniert und automatisch arbeiten. Wenn alles in Ordnung ist, nimmst du kein Organ bewusst wahr: Der Herzschlag interessiert dich nicht, Magen, Darm, Leber, Nieren tun ihre Arbeit. Wärst du nun auch noch im seelischen Gleichgewicht, hättest keine unmittelbaren Probleme und keine offenen Bedürfnisse, die dich beunruhigen, dann wäre die Welt für dich und deinen Organismus rundum in Ordnung. Du fühlst dich also entspannt im Liegestuhl im Grünen und lässt die ganze körperliche und seelische Chose unbewusst auf Autopilot laufen, es gibt ja auch keinen Grund, sich Gedanken zu machen oder aktiv zu werden. Weil dein Gehirn Beschäftigung sucht, mag es sein, dass es dich sogar ein wenig kreativ herumspinnen lässt, was du noch alles tun könntest, z. B. Gleitschirmfliegen, einen Kochkurs machen oder endlich die Modelleisenbahn im Keller aufbauen. Du lebst im Hier und Jetzt mit kleinen Ausflügen in die Zukunft. Nach ausführlichem Chillen hantierst du, nun hungrig geworden, vielleicht in der Küche und schnippelst, von der Problemlosigkeit noch immer reichlich eingelullt, irgendein Gemüse, passt nicht auf und … schneidest dich nur ein ganz klein wenig in den Finger. Es blutet wirklich nur ein bisschen.
Blut zu sehen wirft deine bislang heile Welt nun schlagartig über den Haufen. Auf dieses kleine Schnittchen hin wirst du bereits chaotisch. Da du kein Blut sehen kannst, das eigene schon gar nicht, musst du dich extrem zusammenreißen, um nicht wegen dieser Lappalie umzukippen. Unversehens ergießen sich Stresshormone in dein Blut, dein Herzschlag beschleunigt sich, dein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, deine Verdauung hält inne und du hast plötzlich ein ganz mieses Gefühl im Bauch – denn auch dein Selbstwertgefühl hat einen heftigen Dämpfer bekommen, weil du dich so blöd angestellt hast: Ich bin verletzt! Hilfe! Mit der Ausgeglichenheit ist es aus und vorbei und zu allem Überfluss fragt dich dein Verstand, warum du keinen Schutzhandschuh getragen hast, der schon lange griffbereit in der Schublade liegt, genau für solche Schussel wie dich konzipiert.
Um wieder runterzukommen, den seelischen Dämpfer auszugleichen und dich selbst zu trösten, genehmigst du dir nach dem eiligen Verpflastern einen doppelten Schnaps.
Ein zweites Mal rekelst du dich symbolisch im gleichen Liegestuhl, da drängt sich mit Macht ein beunruhigender Gedanke in dein Bewusstsein: War da nicht eine Rechnung, die du unbedingt termingerecht hättest überweisen sollen? Der Ärger, die Aussicht auf Mahnkosten und die Enttäuschung über deine Vergesslichkeit: Das hätte nicht sein müssen. Diesmal reagierst du nicht aus dem Bauch heraus, sondern es ist dein Verstand, der dir den Fehler anlastet. Trotzdem die gleiche Reaktionsfolge: Stresshormone im Blut und körperlich-seelische Reaktionen wie zuvor beim Schnitt in den Finger, aber diesmal mental ausgelöst.
Oder der Klassiker: Ein inneres Bedürfnis tritt auf. Du kannst chillen, so lange du willst, aber irgendwann wirst du zumindest Hunger bekommen. Spätestens wenn dein Magen knurrt, ist es aus mit deiner Ausgeglichenheit: Unruhe erfasst dich und du bist nicht mehr du selbst, wenn du Hunger hast. Wieder treten Stresshormone auf den Plan und aktivieren dich, um endlich Essbares zu beschaffen, deinen Hunger zu stillen und damit auch deinen Seelenfrieden wiederherzustellen. Erst danach kannst du in Ruhe wieder auf Autopilot schalten.
Man kann sich diese Abläufe modellhaft so vorstellen: Gleich, ob eine innere oder äußere Anforderung an deinen Organismus herantritt: Dein Körper mit seinen Organen, deine Seele und dein Verstand bilden ein extrem stark vernetztes Kontinuum nach dem pfiffigen Prinzip: Die Befehlsgewalt wandert immer dorthin, wo die größte Anforderung auftritt. Tut etwas ernsthaft weh, dominieren die Schmerzen die Verhaltensberechnung deines Algorithmus, beim Lösen eines Kreuzworträtsels führt er deine mentalen Fähigkeiten ins Feld und ein Hungergefühl bringt deinen Algorithmus dazu, seine Aufmerksamkeit der Beschaffung von Nahrung zu widmen.
Wie dein Organismus das macht? Die einfache Erklärung lautet: Ein Problem tritt auf, irgendein neuronales Netz in deinem Körper mit der passenden Fähigkeit fühlt sich angesprochen und holt sich die Priorität, indem es unterdrückende Impulse an die anderen Netze sendet. Ist die Aufgabe erledigt, das Problem also gelöst, ist das eben noch aktive Netz zufriedengestellt und regt sich wieder ab – keine blockierenden Impulse mehr, alles okay. Tritt nun ein weiteres Problem auf, kümmert sich das nächste sich zuständig fühlende Netz darum und beansprucht seinerseits die Priorität. Beispiel: In einer Prüfungssituation fließt alle Energie in die Bewältigung der gestellten Aufgaben, die Verdauung wird heruntergefahren, selbst Schmerzen zeitweise ausgeblendet. Ist die Prüfung vorbei, sind die Schmerzen wieder da.
Ist immer nur ein Neuro-Netz in Funktion? Manche Schlaumeier brüsten sich damit, nicht nur eine, sondern mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen zu können. Multitasking nennen sie das. Dieses Gleichzeitig passt dem persönlichen Algorithmus aber so gar nicht in die gewohnt seriellen Abläufe – lieber schön eins nach dem anderen. Was macht er also in Wirklichkeit? Beim ersten Durchlauf erledigt der Gute die erste Aufgabe, beim nächsten eben die zweite. Dieses dauernde Umschalten kostet aber viel Energie, muss er doch eine weitere und höhere Ebene zuschalten, die sagt, wer an der Reihe ist, und sich merkt, was jeweils der letzte Stand war, an den man wieder anknüpfen muss. Der Algorithmus selbst hat dazu eine klare Meinung: Multitasking ist äußerst anstrengend und nichts von allem wird wirklich bestmöglich gemacht.
Natürlich kann man Auto fahren und sich gleichzeitig unterhalten. Aber bereits mit dem Handy zu telefonieren und sich dabei auch nur ein bisschen auf das Gespräch zu konzentrieren, bringt den Algorithmus in die Bredouille: Seine Aufmerksamkeit wandert zum Gespräch, eben dahin, wo er am meisten gefordert ist. Ein intensives Gespräch, am Handy oder mit der Beifahrerin, womöglich sogar ein heftiges Techtelmechtel oder ein Streit … jede Tätigkeit, die den Algorithmus stärker in Anspruch nimmt als die andere, verlagert dessen Rechenvorgänge zwangsläufig zum stärker beanspruchenden Thema. Das Autofahren an sich wickelt er nur noch mit Autopilot auf niedrigstem Level ab. Beim geringsten unvorhergesehenen Vorfall kann er dann nicht mehr schnell und schon gar nicht bewusst reagieren. – Bis umgeschaltet ist, hat es längst gekracht.
Wie auch immer scheint es keine verortbare Institution zu geben, die in diesem Kontinuum zentralistisch das Sagen hätte. Die Suche nach dem Ich hätte insofern wenig Sinn. Es geistert irgendwo im Organismus herum und ist jeweils dort, wo es etwas zu fühlen oder zu tun gibt. Als Regierung dauernd auf Reisen zu sein, hat sich anscheinend bewährt.
Schmerzt dich dein Rücken, mutierst du zum Rücken-Ich. Du wirst ganz davon dominiert, den üblen Schmerz zu vermeiden, indem du deine Bewegungen einschränkst. Jetzt ja nicht bücken oder etwas Schweres tragen. Liest du ein spannendes Buch, wirst du zum Lese-Ich, indem du dich von der Handlung mitreißen lässt und nicht einmal bemerkst, wie dringend du auf die Toilette musst. Das wird dir erst bewusst, wenn du das Buch zuklappst und sich deine Priorität verlagert.
Die Rechenvorgänge in deinem körperlich-seelisch-mentalen Kontinuum sind unaufhörlich im Organismus unterwegs, selbst noch im Schlaf. Sicherlich nicht als wohldefinierte Endlosschleife wie in einem Computer, sondern eher in Form eines höchst dynamischen und unablässig aktiven Algorithmus. In Zeiten ohne wesentliche Anforderungen wären eher zufällige, womöglich auch chaotische Abfolgen zu erwarten bis hin zu einer Art kreativem Herumspinnen, sobald jedoch eine ernsthafte Anforderung auftritt, wird sich dein Verhaltensrechner auf diese konzentrieren, gleich ob körperlicher, seelischer oder mentaler Natur. Es kann sich um ein inneres Bedürfnis, z. B. Hunger handeln oder eine äußere Anforderung, z. B. eine Aufgabe zu erfüllen oder einen Angriff abzuwehren.
Wenn nichts Wichtiges anliegt und Langeweile aufkommt, wird der Algorithmus jeden noch so kleinen Anlass zur Hauptsache erklären, sogar die Fliege an der Wand kann dann zum Mittelpunkt aller Empfindungen und Entscheidungen werden. Außerdem wird sich noch zeigen, dass jegliches Organ und jede Funktionseinheit in Anspruch genommen werden muss, um nicht aus Gründen mangelnder Effizienz reduziert oder gar körperlich abgebaut zu werden. Daher ist anzunehmen, dass der Algorithmus von Zeit zu Zeit aus Barmherzigkeit auch Bereiche mitnehmen muss, die eigentlich im Moment so gar nichts beizutragen haben, auf die man aber aus Gründen der Daseinsvorsorge nicht ganz verzichten will. Wenigstens die Basisfunktionen sollen erhalten bleiben – auch im Gehirn, wie wir später sehen werden.
Aus dieser Sicht erübrigt sich die Diskussion darüber, ob nun irgendein Bauch-Gehirn die Psyche beeinflusst oder eher umgekehrt. Der Gedanke liegt nahe, dass der Algorithmus des Menschen neben seinen Routinetätigkeiten immer dann besonders anspringt, wenn Signale auftreten, die in ihrer Stärke eine bestimmte Erregungsschwelle überschreiten. Alles darunter ist langweilig und spielt keine Rolle.
Ein Schaufensterbummel: Die Kleider und Röcke in den Auslagen lassen die junge Frau kalt. Sie entsprechen nicht dem, was sie sucht. Wie ein Blitz durchfährt es sie, als ihr ein Kleid ins Auge fällt, das genau ihrem inneren Suchmuster entspricht. Es hat eine heftige Resonanz zwischen ihren Wunschvorstellungen und der Realität im Schaufenster gegeben. Ein gewaltiger Schuss Belohnungssubstanz ergießt sich in ihre Seele. Euphorisch und höchst motiviert betritt sie den Laden.
Resonanz, Belohnungssubstanz? Geduld, Geduld … Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, wie viele verschiedene Persönlichkeiten nach diesem Gedankenmodell in einem Menschen schlummern? Nicht fünf, nicht zehn, sondern … unendlich viele, je nach Bedürfnislage, Umfeldbedingungen und Höhe des seelischen Pegels. Schon der geringste aus der Gewohnheit fallende Einfluss, wie der Schnitt in den Finger, aber auch stärker belastende oder vorher nie gekannte Situationen können ganz neue, zum Teil sogar völlig überraschende Verhaltensmuster offenlegen.
Bei der Bundeswehr gab es regelmäßig Nachtübungen nach dem Muster »Stoßtrupp und Feldposten«. Das lief in etwa so: Ein Funkwagen, meist auf einer kleinen Anhöhe, sollte durch rundum verteilte Feldposten gegen Angriffe gegnerischer Stoßtrupps in Stärke von meist vier bis fünf Mann geschützt werden. Das hieß: Die eine Hälfte nistete sich gut getarnt rund um den Funkwagen ein, immer mit Überblick und Schussfeld, um die Stoßtrupps abzuwehren, die andere Hälfte versucht, die Kette der Feldposten mit List und Tücke zu durchbrechen, um an die Funkverschlüsselung zu kommen und den Funkwagen zu neutralisieren.
Da liegt man nun stundenlang mehr oder weniger bewegungslos und starrt in die sich ausbreitende Dämmerung. So dunkel, dass die Farbzäpfchen im Auge versagen und das Bild durch die lichtempfindlicherenStäbchen immer mehr schwarz-weiß wird wie früher bei den ersten Fernsehern. Schließlich sind fast nur noch konturlose Schatten zu erkennen. Plötzlich die Trugbilder: Ein Schreck durchfährt mich, haben sich dort nicht die Büsche bewegt, als wenn da einer durchkäme? Mein Algorithmus hat nicht nur die Situation selbst ausgewertet, er hat sogar schon vorausgedacht, was alles passieren könnte. Er drückte von sich aus den Alarmknopf und rüttelte mich auf. Ich muss es nun überprüfen und den Alarm wieder löschen. Und das immer wieder über Stunden hinweg. Unglaublich anstrengend.
Der Stoßtrupp wird rechtzeitig erkannt, gestellt und gefangen genommen. Einer der Festgenommenen schlägt in seinem Frust, mit starrem Blick und ohne Sinn und Verstand, seinem »gegnerischen« Kameraden mit dem Gewehrkolben so hart über den Helm, dass das Griffstück abbricht. Es ist zum Glück nichts weiter passiert, aber der »Gegner« ist eigentlich sein Stubenkamerad und Freund, das hat er in seinem übernächtigten und tief frustrierten Zustand aber gar nicht wahrgenommen. Die Aggression auf den Frust hin musste einfach raus, egal wie …
Für mich das Wichtigste an meiner Zeit bei der Bundeswehr sind die richtungsweisenden Erfahrungen, wie sich Menschen in Grenzsituationen verhalten, wozu sie fähig sind und welchen körperlichen und seelischen Grenzen man selbst unterliegt – und wie wichtig es ist, sich auf seine Kameraden verlassen zu können. Es ist beeindruckend zu sehen, welch immense Schlagkraft selbst eine kleine Gruppe entwickelt, wenn sie optimal und intelligent zusammenarbeitet.
Eine weitere Erfahrung aus dieser Zeit ist der Zweifel an der Annahme, dieser oder jener Mensch könne keiner Fliege etwas zuleide tun. In bekanntem ruhigem Fahrwasser mag Wohlverhalten leichtfallen, aber in Extremsituationen? Sturm, Wellen, Sandbänke, Untiefen? Den Gewehrkolben über den Kopf? Es ist kaum möglich vorherzusagen, wie sich ein Mensch in einer neuen, ihn möglicherweise körperlich oder seelisch überfordernden Situation verhalten wird, wie sein Algorithmus in einer kritischen Situation seine Prioritäten setzt – besonders dann, wenn der Mensch bereits seelisch angeschlagen ist.
Zurück zum Schaufenstereffekt und der unwiderstehlichen Resonanz, die ein so sehr ersehntes Suchmuster auslöst, ganz gleich ob es eigentlich entbehrlich, unmoralisch oder gar kriminell ist:
Eine der wichtigsten präventiven Maßnahmen besteht folgerichtig darin, Situationen zu meiden, die eine solch überbordende Resonanz und damit eine kaum mehr zu bändigende Motivation in Gang setzen könnten. Wenn die Prämisse z. B. Sparen lautet, dann am besten keine Schaufensterbummel mehr: Resonanz weg, aber Geld noch da. Doch was dann? Kann man auf die damit ebenfalls eingesparten erhebenden Gefühle einfach so verzichten?
Die Schlussfolgerung: Der Mensch arbeitet mit einem biologischen Algorithmus als Verhaltensrechner: Sein Gehirn ist die Hardware, sein Algorithmus die Software.
Was ist nun erste Aufgabe eines Algorithmus? Sich ein realistisches Bild seiner inneren und äußeren Umgebung zu verschaffen – das ist der Klassiker beim Aufwachen: Wo bin ich? Was ist los?
Wie schwer sich eine solche Aufgabe darstellt, lässt sich erst so richtig einschätzen, wenn man eine derartige Standortbestimmung mit einem Roboter versucht, z. B. mit einem humanoiden Roboter wie meinem kleinen Roby. Er ist nicht viel mehr als einen halben Meter groß. Auf mein fröhliches »Hi Roby, wie gehts?«, schaut er mich mit großen Augen an, verharrt kurz, bis seine Gesichtserkennung mich identifiziert hat, und begrüßt mich mit den Worten »Ich kenne dich, du bist Wolf. Wie geht es dir heute, Wolf?« Das sind die einfacheren Übungen.
Roby verfügt über hochauflösende Bilder aus seinen Kameras und Audiodateien aus seinen Mikrofonen. Nun soll er diese Ansammlung von Pixeln und Lautschnipseln so interpretieren, dass er sich in seiner Umgebung zurechtfinden und seiner Aufgabe gemäß richtig verhalten kann. Das ist allerdings alles andere als einfach. Das Wichtigste dabei ist das Zuordnen von Bedeutung: Was ist ein Mensch, ein Tisch, ein Stuhl? Roby soll einmal in der Lage sein, diese Gegenstände bewusst wahrzunehmen.
Fragen wir uns aber zunächst, wie das beim Menschen geht.
Wahrnehmung
Die Videokameras von Roby geben eine objektive Realität wieder. Jeder Betrachter würde im Video dasselbe sehen – aber durchaus Unterschiedliches wahrnehmen, ganz abgesehen davon, dass es einen gehörigen Unterschied macht, ob man sich in Ruhe am grünen Tisch eine Szene anschaut oder unmittelbar in die Situation verwickelt ist. – Unter Stress wertet der Organismus andere Merkmale aus und verfolgt andere Ziele als im entspannten Zustand.
Im Prinzip handelt es sich bei deinem Algorithmus um einen grandiosen Verhaltensrechner. Dieser erfasst die aktuelle Situation mit all seinen Sensoren und konstruiert daraus deine ganz subjektive Realität: Es ist deine Wahrnehmung und nur deine. Aber Überraschung: Diese hat mit der objektiven Realität nicht allzu viel zu tun, denn Wahrnehmung ist die Interpretation einer objektiven Situation im Sinne deiner subjektiven Interessen und Erfahrungen.
Bevor dein Algorithmus dir deine subjektiv wahrgenommene Realität auf deinem inneren Bildschirm präsentiert und vielleicht sogar bewusst macht, hat er viele andere Einflüsse eingearbeitet. Das bedeutet: Objektive Realität bearbeitet mit einer Art HirnPhotoshop ergibt die dir von deinem Algorithmus präsentierte subjektive Realität. Je angespannter deine Seelenlage, desto mehr Verfälschung. Da du nur diesen einen inneren Bildschirm hast, bleibt dir nur übrig, zu glauben, was der dir zeigt. Es ist deine subjektive Wahrnehmung, deine persönliche Wahrheit. Für dich gibt es nichts anderes, du musst es glauben, selbst wenn dein Algorithmus dir eine völlig aus der Luft gegriffene Fata Morgana zeigen sollte: Du kannst es nicht wissen, du musst ihm vertrauen. Mach aber nicht den Fehler zu glauben, ein anderer hätte in derselben Situation das Gleiche auf dem Schirm wie du!
Welches Interesse, wirst du dich fragen, sollte dein eigener Algorithmus denn haben, dir deine persönliche Realität vorsätzlich und systematisch dermaßen zu verfälschen? Wenn du dich beim Errechnen deines Verhaltens an einer manipulierten, mehr oder weniger falschen Realität orientierst, handelst du dir doch unkalkulierbare Risiken ein?
Gute Frage. Aber wenn es doch so ist? Jedes offene Bedürfnis verändert deine Wahrnehmung: Mit einem wahren Bärenhunger interessiert dich doch nur noch Essbares. Auf deinem Bildschirm erscheint dir dein Umfeld nur noch nach Essbarem gefiltert. Energieversorgung hat eben höchste Priorität! Mit Magenknurren einem Vortrag folgen? Nur ein Übermensch könnte sich da noch konzentrieren.
Die objektive Realität hat auch wenig Chancen, wenn du seelisch nicht gut drauf bist und halb depressiv herumhängst. Je weiter unten du seelisch bist, desto mehr bist du bereits bei alltäglichen Anforderungen überlastet und desto stärker macht dir dein Algorithmus Angst: Er übertreibt bedrohliche Aspekte der objektiven Realität und zeigt dir überall Risiken und Gefahren: Alle sind gegen dich und die Welt ist böse.
Dann lieber verliebt: Auf Wolke sieben mit einem überhohen seelischen Pegel lässt dich die gleiche Realität federleicht schweben: Die Welt ist zum Umarmen schön, die Farben schillernd und die Zukunft rosarot. In deiner Euphorie traust du dir so ziemlich alles zu.
Aber da ist ja noch die Erfahrung. Zum Glück, so meinst du nun sicher, kannst du dich wenigstens auf dein Gedächtnis verlassen! – Aber denkste: Glaubst du wirklich, was du schon mal erlebt und in deinem Gedächtnis abgelegt hast, könntest du immer wieder im Original abrufen? Ohne dass vom Algorithmus daran herummanipuliert wird? Leider nicht. Bereits beim Abspeichern wird massiv gefiltert: Nur was deinem Algorithmus wirklich wichtig erscheint, wird ins Archiv verfrachtet. Etwas Beiläufiges ist es nicht wert, abgespeichert zu werden, umso mehr aber Vorgänge, die dich persönlich oder unmittelbar stark betreffen. Diese Highlights gelangen besonders nachhaltig in dein Archiv. Ein heftiges Schockerlebnis wiederum setzt dich unter so starken Stress, dass davon nur die gröbsten Basics eingelagert werden. – Dann kannst du dich einfach nicht an Einzelheiten erinnern.
Deine Erfahrungen sind in deine neuronalen Netze eingebettet – gut untergebracht sind sie da nicht. Nur selten oder gar nicht aufgerufen, gehen vor allem die Details mit der Zeit verloren. Permanente Speicherung kostet zu viel Energie und es ist nicht effizient, unwichtige Daten zu erhalten, eine grobe Übersicht über Vergangenes muss genügen. Es sind sowieso immer nur Bruchstücke deiner realen Erfahrungen im Speicher, die bei jedem Abruf wieder irgendwie zu einer dir selbst plausibel erscheinenden Szenerie rekonstruiert werden müssen.
Diese Rekonstruktion ist aber vielen Einflüssen ausgesetzt: Bereits, wenn du ein wenig down bist, erscheint dir deine Erinnerung grau in grau eingefärbt, im halb depressiven seelischen Zustand wird dir eine unschöne Erinnerung womöglich Angst machen und unter besonders starkem Stress, z. B. bei einer Prüfung, kann es sein, dass du blockiert bist und gar nichts mehr abrufen kannst.
Die Rekonstruktion des Erinnerten zu einer Erinnerung kann auch durch äußere manipulierende Einflüsse massiv verfälscht werden. Julia Shaw1, Rechtspsychologin aus London, konnte nachweisen, dass sich allein durch immer wiederkehrende geschickte Fragetechnik auf Dauer sogar frei erfundene Straftaten ins Gedächtnis einer Versuchsperson implantieren ließen. Diese hatten zwar nie stattgefunden, doch die Person selbst glaubte auf Dauer an ihre extern gefälschte Erinnerung. – Die Art der Befragung von Zeugen kann im Sinne gewünschter Ergebnisse sehr manipulativ sein. Aber auch ohne solche Eingriffe widersprechen sich Zeugenaussagen in der Regel: Der eine hat den Unfall so gesehen, der andere schwört Stein und Bein, dass es sich genau umgekehrt abgespielt hat.
Aufgrund seines höchst subjektiven Filters gibt es für einen Menschen keine objektive Sicht auf die Realität. Menschen mit einer innerlich besonders stark verfremdeten Wahrnehmung hoffen und behaupten sogar, es gäbe gar keine objektive Realität. Ihre Angst ist verständlich, denn die ungeschminkte Realität kann durchaus zum Fürchten sein; sie ist hart, kompromisslos und lässt keine Spielräume.
Unabhängig davon wird deine noch so löchrige, grobkörnige und wenig vertrauenswürdige Erfahrung in die aktuelle Wahrnehmung eingearbeitet. Eine einzige in einer ähnlichen Situation gemachte schlechte Erfahrung reicht aus, um bei der Einschätzung der aktuellen Sachlage zutiefst befangen zu sein. Schnell sind alle Männer rücksichtslos, alle Frauen untreu und die Bahn nie pünktlich.
Auch positive Erlebnisse spiegeln sich in deiner inneren Präsentation wider: Warum soll es nicht ein weiteres Mal gut gehen? Der Bursche auf dem dunklen Parkplatz ist doch bestimmt harmlos und die Bahn auf dem Weg zum Flughafen pünktlich? Wenn dir jemand sympathisch ist, siehst du an ihm eher die positiven Seiten. Magst du jemand so gar nicht leiden, traust du diesem miesen Kerl oder jener arroganten Zicke hingegen so ziemlich alles zu.