Der Stern der Elbe - Diana Seidel - E-Book

Der Stern der Elbe E-Book

Diana Seidel

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Beschreibung

Jetta Reckewisch ist dreizehn Jahre alt, als ihre Eltern nach Ende des Ersten Weltkriegs das Gasthaus "Zum Stern" eröffnen. Anders als ihre drei Geschwister hat sie allerdings Aufregenderes im Sinn, als nach der Schule im "Stern" mitzuhelfen. Mit sechzehn schneidet sie sich zum Entsetzen des Vaters die Haare kurz, schminkt sich und genießt mit engelsgleicher Unschuld die Verehrung vieler junger Männer. Bis sie sich eines Tages unsterblich verliebt und für eine Nacht alle guten Vorsätze über Bord wirft; am nächsten Morgen ist der schöne Unbekannte verschwunden, aber die Liebesnacht bleibt nicht ohne Folgen. Mit Anmut und Rafinesse nimmt Jetta jetzt ihr Leben in die Hand, während in Deutschland und der Welt die Ereignisse sich immer krisenhafter zuspitzen. Die mit viel Humor erzählte Geschichte einer unerschrockenen jungen Frau, zugleich eine deutsche Familiensaga und ein zauberhafter Hamburg-Roman.

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Kurzbeschreibung:

Jetta Reckewisch ist dreizehn Jahre alt, als ihre Eltern nach Ende des Ersten Weltkriegs das Gasthaus "Zum Stern" eröffnen. Anders als ihre drei Geschwister hat sie allerdings Aufregenderes im Sinn, als nach der Schule im "Stern" mitzuhelfen. Mit sechzehn schneidet sie sich zum Entsetzen des Vaters die Haare kurz, schminkt sich und genießt mit engelsgleicher Unschuld die Verehrung vieler junger Männer. Bis sie sich eines Tages unsterblich verliebt und für eine Nacht alle guten Vorsätze über Bord wirft; am nächsten Morgen ist der schöne Unbekannte verschwunden, aber die Liebesnacht bleibt nicht ohne Folgen. Mit Anmut und Rafinesse nimmt Jetta jetzt ihr Leben in die Hand, während in Deutschland und der Welt die Ereignisse sich immer krisenhafter zuspitzen.

Die mit viel Humor erzählte Geschichte einer unerschrockenen jungen Frau, zugleich eine deutsche Familiensaga und ein zauberhafter Hamburg-Roman.

Diana Seidel

Der Stern der Elbe

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Diana Seidel

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Anika Beer

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-179-9

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Erster Teil 1919 Die Kaffeestube in Nienstedten

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Zweiter Teil 1922–1923 Billionen für ein Haus

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Dritter Teil 1927–1928 Erfüllte und unerfüllbare Träume

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Erster Teil 1919 Die Kaffeestube in Nienstedten

1. Kapitel

Sülze und Revolte

Jetta Reckwisch stand mit den Zehenspitzen genau an der Schwelle vom Mädchen zur Frau. Sie würde in wenigen Monaten fünfzehn werden und schwänzte gerade die Schule.

Erstens aus Prinzip – Schule war grässlich und betrübte nur, gerade jetzt, in der Nachkriegszeit. Zweitens, um eine Kartenlegerin hier in Hamburg nach der Zukunft zu fragen.

Jetta hatte seit Monaten ihr Taschengeld für den Blick in die Zukunft gespart. Die Schrift ihrer Mutter konnte sie wunderbar kopieren und würde sich für diesen Tag eine Entschuldigung schreiben.

Der 23. Juni 1919 war ein kühler Sommertag, ein Montag übrigens.

Zwei junge Männer, die über die Kleine Reichenstraße spazierten, drehten sich gleichzeitig um und folgten mit den Blicken dem jungen Ding im hellgrauen Mäntelchen, das ihnen auf der anderen Straßenseite entgegentrippelte. Jettas lockiges braunes Haar war am Hinterkopf zu einem breiten Zopf aufgesteckt, aus dem es hier und da hervorkringelte, und wurde auf dem Scheitel von einer großen hellgrauen Schleife gekrönt. Die konnte man gerade noch unter dem schwarz lackierten, etwas in die Stirn geschobenen Strohhütchen erkennen.

„Guck, die – die ist mal süß!“, murmelte der eine leise.

Jetta tat, als wüsste sie nicht, dass sie angeschaut wurde. Aber um nicht zu schnell aus dem Blickfeld der beiden zu geraten, blieb sie stehen und suchte ausführlich etwas in ihrem gehäkelten schwarzen Beutel.

Man starrte sie bewundernd an! Das war himmlisch!

Sie zog die Schnur des Beutels wieder zu, streckte ihr gerades Näschen in die Luft, machte die großen Augen noch größer und schaute vor sich hin, als wäre sie in Gedanken. Eine geheimnisvolle schöne Frau, die eben mal etwas nachdenkt.

Ob die beiden die Straßenseite wechseln würden, um sie anzusprechen? Und dann?

Sie musste abweisend tun, natürlich …

Alles hatte sich gelohnt. Die ausgekämmten Hundehaare von Frau Simmers Dackel zu sammeln und in einem Netz unter ihr Haar zu stecken, das gab Fülle über den Ohren.

Ruß vom Streichholz zu kratzen, zu Pulver zu zerdrücken, mit einem Tropfen Öl zu verrühren und mit der Zahnbürste in ihre langen Wimpern einzuarbeiten. Jettas graubraune Augen leuchteten noch mal so hell in diesem dunklen Rahmen.

Und der Mantel! Dieser Mantel!

Ihre Schwester Fiti war so herzensgut gewesen, ihn aus einem alten Hauskleid der Mutter zu nähen. Sie hatte ihn ganz nach der neuesten Mode so gearbeitet, dass der Kragen wie eine kleine Pelerine über die Schultern hing. Da wusste man endlich mal, wieso Fiti seit Jahren in Handarbeit eine Eins bekam.

Man sollte sich schon aufbrüschen, wenn man nach Hamburg ging.

Aber nun musste sie weiterlaufen, sonst fiel es auf …

Außerdem würde sie gleich da sein – die weise Frau wohnte in der Straße Kattrepel, gleich hier um die Ecke.

Jettas Stiefelchen saßen etwas zu eng. Ihre Füße waren im Winter ein bisschen gewachsen. Sie war seit fast zwei Stunden unterwegs und hätte ganz gern gehumpelt, denn tatsächlich taten ihre kleinen Zehen sehr weh – doch sie schwebte im Gegenteil, die Fußspitzen anmutig nach außen gekehrt. Kurz blickte sie über die Schulter, wie in den leicht bewölkten Himmel.

Tatsächlich, die beiden jungen Männer überquerten die Straße, immer noch die Augen auf das Mädchen im grauen Sommermantel gerichtet!

In diesem Augenblick kollerte ein Fass von einem eben anfahrenden Lastwagen, rollte über die Straße, knallte gegen den Kantstein und zerbrach. Eine gelbliche, schleimige Flüssigkeit ergoss sich auf die Pflastersteine, ein entsetzlicher Gestank verpestete die Luft.

Jetta blieb mit einem Ruck stehen und starrte auf die eklige Angelegenheit. Auch die beiden jungen Männer hielten mitten auf der Straße erschrocken an.

Für eine halbe Sekunde schien die Zeit stillzustehen.

Dann kam Bewegung in die Szene.

Der Kutscher hatte die Zügel angezogen und schaute über seine Schulter auf die Bescherung. Plötzlich, sehr schnell, kamen von allen Seiten Menschen angerannt und regten sich über den Inhalt des Fasses auf.

„Dass’ vonne Fleischfabrik – son Swienkrom gem die uns zu essen, ich sach ja!“, regte sich eine Frau auf.

Eine andere pflichtete bei: „Klor, alles mittenmang die Sülze, siessu ja nich!“

Immer mehr Leute umringten den Wagen und das kaputte Fass mit dem stinkenden Inhalt. Der Kutscher begann zu begreifen, dass es ein Fehler gewesen war, das Pferd zu bremsen. Er versuchte, das Tier schnell wieder auf Trab zu bringen – doch dem hingen bereits einige Männer am Zaumzeug und drückten ihm den Kopf nach unten.

„Wechfahrn, hier – das mach’s wohl haben!“, schrie einer von ihnen. „Zuerst gucken wir mol, was du noch so aufm Wogn has!“

Während die Fässer von der Ladefläche gerollt wurden, sah der Kutscher zu, dass er unauffällig verschwand. Einige der wütenden Leute versuchten, ein Fass mit Taschenmessern zu öffnen, aber das klappte nicht.

„Eine Axt – wer hat ’ne Axt!?“ brüllte ein großer Kerl, dem die langen Haare um den Kopf flatterten.

Der war aber nicht beim Militär – mit der Frisur, dachte Jetta unwillkürlich.

Weil so schnell keine Axt zur Stelle war, hob der Mann das Fass über den Kopf und schmetterte es an den Kantstein neben das andere. Es zerbrach, und eine weitere unappetitliche Masse gesellte ihren Gestank zur ersten.

Jetta hielt sich die Nase zu. Schade, vorher war es mit den beiden jungen Männern ja recht romantisch gewesen. Dieser Geruchshintergrund passte leider gar nicht dazu …

Wo waren die beiden überhaupt?

Der eine lief eben, zusammen mit mehreren anderen Leuten, in den Eingang des Fabrikgebäudes, über dessen Tür stand Fleischwarenfabrik Heil & Co.

Jetta las auf einem Schild an der Wand: Sülze von größtem Nährwert und delikatem Geschmack. Na, vielen Dank!

Da stürmten die Menschen schon wieder auf die Straße, einer hielt triumphierend etwas hoch. Was war denn das?

„Hier – stellt euch das mal vor! Ein halb vergammelter Hundekopf!“, grölte der Mann mit sich überschlagender Stimme. „Daraus macht der Jacob Heil seine Sülze! Ist das zu glauben?!“

„Da ist er! Da bringen sie den Heil!“, riefen mehrere. Jetta musste ausweichen, weil Heil sich heftig wehrte. Fünf Männer hielten ihn an Armen und Schultern fest und zerrten ihn auf die Straße. Der Mann war kreidebleich und sein Kinn zitterte.

„Jetzt wird Heil zu Sülze verarbeitet! Von größtem Nährwert und delikatem Geschmack!“, kreischte eine Frau, krallte ihre Hand ins Haar des Fabrikbesitzers und zerrte daran.

Oben wurde ein Fenster aufgerissen und jemand rief nach unten: „Ihr glaubt das nicht, hier sind Kadaver von Hunden und Katzen und sogar Ratten! Jetzt wissen wir, aus was der Kerl seine Sülze macht!“

Ein weiterer Mann, offenbar ein Arbeiter im gestreiften Kittel, wurde von anderen empörten Menschen aus der Fabrik geholt. Er war gefallen und konnte nicht laufen, aber sie warteten nicht, bis er wieder auf die Beine kam, sondern schleiften ihn weiter.

„So was machs du abfülln, damit das an uns verkauft wird? Du has doch Augn in Kopp, Mann! So was tus du inne Sülze?! Komm, denn iss das ma selber!“

Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Jetta, wie einige Leute versuchten, dem auf den Knien liegenden Arbeiter etwas von dem grausigen Zeug, von der Straße gekratzt, in den Mund zu stopfen. Igitt!

„Gnädiges Fräulein? Bitte, kommen Sie hier weg – das ist nichts für Sie. Wo wollten Sie denn hin? Ich bringe Sie gern …“, sagte eine Stimme neben Jetta.

Sie schaute auf, in ein paar besorgte blaue Augen. Da stand der andere ihrer beiden Bewunderer. Ganz hübsch war der, mit dunkelblondem Schnurrbart. Zu seinem tabakbraunen Anzug trug er einen etwas dunkleren braunen Filzhut.

Jetta holte Luft, um zu antworten, wurde jedoch gerempelt und gestoßen und musste sich, um nicht ihrerseits auch noch hinzufallen, mit dem Strom bewegen. Der junge Mann bemühte sich, ebenfalls weiter geschubst, an ihrer Seite zu bleiben.

Das war gar nicht einfach, bald konnte Jetta ihn nicht mehr entdecken.

Wo kamen nur all die Leute her? Vor kaum zehn Minuten war die Straße so gut wie leer gewesen. Inzwischen wimmelte es hier von Menschen – fünfzig, sechzig, siebzig … Und es wurden immer mehr.

Eigentlich wollte Jetta gar nicht weggebracht werden. Das alles war zwar erschreckend, aber so schnell wurde ihr nicht bange. Sie war neugierig, wie es weiterging.

Fabrikbesitzer Heil bekam Prügel. Er lief weg, so gut es im Gedränge ging, wurde gestoßen, erhielt hier und da einen Hieb, blieb jedoch einstweilen auf den Beinen. So ähnlich, dachte Jetta, muss das in Paris gewesen sein zur Zeit der Revolution. Die empörte Volksseele hatte ihr Geschichtslehrer das immer genannt.

Ob sie Heil totschlagen würden? Das mochte sie vielleicht doch nicht mit ansehen. Davon würde sie später immer träumen …

Die Menge bewegte sich über den Alten Fischmarkt und die Domstraße auf das Rathaus zu. Inzwischen mussten es mehrere Hundert Hamburger sein. Der Zug wälzte sich am Rathaus vorbei, auf die Schleusenbrücke. Hier wurde der Fabrikbesitzer unter Gejohle, schwupp, in die Kleine Alster geworfen.

Er schwamm, recht unbeholfen in seinem Anzug, vorsichtig an das gegenüberliegende Ufer. Dort standen zwei Polizisten und halfen ihm aus dem Wasser. „Der Mann wird in Gewahrsam genommen!“, rief einer von beiden energisch unter seinem Schnauzbart hervor.

War er nun gerettet – oder verhaftet worden?

Teilweise verliefen sich die Menschen, teilweise blieben sie stehen und redeten aufgeregt miteinander.

„Gnädiges Fräulein – bitte!“ Da war der nette junge Mann wieder neben ihr. „Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, ich hab eine kleine Schwester in Ihrem Alter, deshalb … mein Name ist übrigens Rudolf Büttner …“

Jetta hätte fast einen Knicks gemacht. „Angenehm. Ich bin Henrietta Reckwisch.“

„Fräulein Reckwisch, darf ich Ihnen vielleicht helfen, nach Hause zu kommen?“

Nach Hause – ja, richtig, natürlich. Der Schulunterricht musste bald aus sein! Und die Wahrsagerin?

„Haben Sie die Uhrzeit, Herr Büttner?“, fragte Jetta erschrocken.

Er warf den Ärmel zurück und schaute auf seine Armbanduhr. „Kurz vor halb eins.“

Sie riss die Augen auf. „Au weia! Ich muss wirklich sofort – ach Gott – das schaffe ich ja gar nicht mehr! Ich muss spätestens in einer halben Stunde zu Hause sein, sonst kriege ich schrecklichen Ärger!“

„Und wo genau müssen Sie hin, wenn ich fragen darf?“

„Nienstedten. Pepermöhlenweg, da ist die Gastwirtschaft meiner Eltern, Zum Stern … Wie soll ich denn jetzt bloß … ?“ Jetta kaute am Daumen und war nun keine geheimnisvolle schöne Frau mehr, sondern ein ängstliches kleines Mädchen.

Süß war sie immer noch. Rudolf Büttner bekam, als er sie betrachtete, Lachfältchen in den Augenwinkeln.

„Sie müssen eine Autodroschke nehmen – kommen Sie, da vorne stehen welche!“

Er wollte sie hinter sich herziehen, aber Jetta stemmte dagegen an. „Das kostet doch eine Menge – ich hab kein Geld … das heißt … Ich hab zwar mein Taschengeld seit März bei mir – aber das sollte doch … Ach! Das sollte doch überhaupt für Madame Ruschki sein! Damit sie mir meine Zukunft weist!“

Fast hätte sie geweint. Ihr fiel noch rechtzeitig die Öl-Ruß-Mischung auf den Wimpern ein. Lieber nicht …

„Na, Ihre Zukunft wird finster, wenn Sie zu spät kommen, das haben Sie eben selbst gesagt. Bitte, fahren Sie mit mir, haben Sie Vertrauen. Ich möchte gerade furchtbar gern an die Elbe mit der Autodroschke. Und da nehme ich Sie mit, abgemacht? Natürlich zahle ich, wenn ich so gern dorthin möchte …“

„Ach, Sie sind aber nett!“, fand Jetta und ließ sich gleich darauf von Herrn Büttner in das erste der großen schwarzen Autos setzen, die beim Rathaus in einer Reihe parkten. Ihr Begleiter nannte die Adresse und der Chauffeur warf den Motor an, worauf das ganze Gefährt anfing, zu zittern und zu vibrieren. Es war sehr aufregend. Der Fahrer hupte ein paarmal, was ein Automobil immer tun musste, bevor es losfuhr. In diesem Fall war es notwendig: Die Menschenansammlung teilte sich und ließ die Droschke auf die Straße rollen.

Jetta war noch nicht oft in einem Auto gefahren und genoss das Erlebnis.

Was für ein Tag! Wie viele aufregende Sachen würden wohl noch passieren?

Sie hörte mit halbem Ohr zu, wie Herr Büttner sich mit dem Taxichauffeur über die soeben erlebte Revolte unterhielt. „Der Heil kann man von Glück sagen, dass sie ihn nur ins Wasser geschmissen ham. Die warn ja bannig kurz davor, ihn anne Laterne zu hängn!“, meinte der Fahrer. „Aber wie issas auch möchlich! Ich hör eben, vergammelte Hunde und Katzen und verschimmelte Häute ham sie gefunden? Nun bitt ich Sie! Da passt kein ein auf, jeder kann in seine Wurstwarn reintun, was er mach!“

„Das ist wohl wahr“, antwortete Herr Büttner. „Allerdings glaube ich, in diesen Fabriken werden auch tote Tiere gesammelt und später in andere Verarbeitungen gebracht, um Leim daraus zu kochen. Trotzdem, vom hygienischen Standpunkt aus dürfte so was natürlich nicht sein …“

Der junge Mann lehnte sich zurück und lächelte Jetta an. „Ihren Eltern gehört eine Gastwirtschaft?“

„Ja. Meine Mutter hat die geerbt, noch im Krieg. Und mein Vater war zu Hause, dienstuntauglich, weil sie ihm den rechten Arm in Afrika abgeschossen haben. Da hat er sich um den Stern gekümmert. Aber es ist natürlich schwierig, weil so schlecht Lebensmittel zu kriegen sind. Deshalb ist der Stern im Augenblick noch mehr eine Kaffeestube. Wir backen dauernd Kuchen. Wir haben nur einen Kellner, den haben wir mitgeerbt. Und wir Kinder helfen nach der Schule, soweit wir da sind.“

„Haben Sie viele Geschwister?“

„Nein, nur drei. Einen großen Bruder, Erich, der macht eine Lehre zum Kaufmann in Hamburg seit August. Er war auch schon eingezogen – aber dann war der Krieg eben aus und er wurde nicht mehr Soldat. Teilweise war er traurig und teilweise froh …“

Rudolf Büttner nickte. „Kann ich beides verstehen. Ich hab ein Jahr lang mitgemacht. Möchte ich nicht missen, einerseits … Und doch …“ Er blickte nachdenklich aus dem Fenster. Dann schaute er Jetta wieder an. „Sie haben noch zwei weitere Brüder?“

„Ein Pärchen, Zwillinge, Friedrich und Elfriede. Die sind auch beide etwas älter als ich. Ich bin die Jüngste.“

„Und wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

Aber das mochte Jetta nicht gern verraten. Wenn er erfuhr, dass sie noch keine fünfzehn war, sagte er womöglich nicht mehr Gnädiges Fräulein, sondern Kleine. Sie überschlug im Kopf, was sie über ihre älteren Geschwister erzählt hatte und wo sie sich zeitlich jetzt noch ansiedeln konnte. Also hauchte sie: „Ich werde siebzehn …“

Das wurde sie ja wohl auch mal, falls sie nicht vorher starb.

Herr Büttner schmunzelte etwas ungläubig, widersprach jedoch nicht.

Jetta war kurz davor, ihn zu fragen, wo sein Begleiter geblieben war. Doch dann hätte sie ja verraten, dass ihr die Blicke der beiden von Anfang an bewusst gewesen waren.

„Ach, wir sind schon im Pepermöhlenweg! Gucken Sie mal, da hinten ist der ‚Stern‘. Darf ich hier aussteigen? Hier vorne in dem Gebüsch hinter dem Stein hab ich nämlich meine Schultasche versteckt.“

„Sie haben die Schule geschwänzt, Fräulein Reckwisch? Das ist aber schlimm!“, meinte der junge Mann. Es klang allerdings so, als ob ihn das amüsierte. Er tippte dem Chauffeur auf die Schulter, ließ ihn anhalten, stieg selber aus und öffnete Jetta die Wagentür auf der anderen Seite.

So gut erzogen hätte Jetta sich ihre Brüder mal gewünscht.

Rudolf Büttner begleitete sie noch ein kleines Stück zurück zum Versteck ihrer Schultasche.

„Ja – dann danke ich Ihnen ganz herzlich. Das war sehr freundlich!“, versicherte sie und blinzelte durch die dichten geschwärzten Wimpern nach oben.

„Es hat mir Freude gemacht. Vielleicht sieht man sich mal … Nun hab ich ja Ihre Adresse. Ihre Eltern besitzen gewiss einen Fernsprecher und stehen im Telefonbuch?“

„Schon. Aber mein Vater sieht es nicht gern …“

„Versteht sich. Sie sind ja auch noch so jung. Also, ich glaube Ihnen nicht ganz, dass Sie schon bald siebzehn werden, entschuldigen Sie. Nun, das ist egal. Es war reizend, Ihnen begegnet zu sein, Fräulein Reckwisch.“ Und dann, ganz plötzlich, beugte er sich über ihr Gesicht und drückte einen hastigen kleinen Kuss auf ihre Lippen, bevor er sich umdrehte und ziemlich schnell zur Taxe zurückging.

Jetta stand überwältigt da.

Jetzt war sie von einem erwachsenen Mann geküsst worden! Wenn auch ein bisschen sehr eilig. Hatte er nicht, bevor er sich umdrehte, dicht über ihrem Gesicht, noch leise etwas gemurmelt? Irgendetwas wie „Süße Kleine“? Das war himmlisch.

Sie drehte sich nicht um, sondern holte ihre Tasche hinter dem Stein hervor, während sie hörte, wie hinter ihr das Geratter und Geknatter des Wagens erst lauter wurde – als es wendete – und dann immer leiser.

Plötzlich empfand sie, wie weh ihre Zehen taten. Die ganze Zeit in zu engen Stiefeln, und sie hatte es bis dahin ganz vergessen …

Jetta kam rechtzeitig zum Mittagessen. Leider nur Graupen mit Weißkohl. Sie hatte sich noch schnell umziehen können und trug die gestreifte Schürze über dem Hauskleid, der Zopf hing brav auf ihrem Rücken.

„Wo warst du denn, Jetta? Du hättest mal ruhig helfen können mit dem Mittagessen. Immer muss Fiti alles alleine machen!“, beklagte sich Magda Reckwisch bei ihrer Jüngsten.

„Meine Lehrerin wollte noch mit mir reden“, verteidigte sich Jetta.

Nun schaute die ganze Familie sie an.

„Warum – hast du was ausgefressen?“, fragte Fritz mit seiner hohen Mädchenstimme. Er saß neben Elfriede, beide Zwillinge gleich hellblond. Da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Fiti hatte vom Vater die Farben und von der Mutter den Körper- und Gesichtsbau geerbt, unglücklicherweise. Sie war wenig hübsch, gelinde gesagt. Jeder, der die Reckwisch-Zwillinge nebeneinander sah, musste innerlich den Kopf schütteln über diesen Irrtum der Natur. Der zarte, feine Junge neben dem derben Mädchen mit zu viel Kinn und zu viel Nase und Schultern wie ein Bierkutscher. Was für ein Jammer.

„Nein, ich hab nichts ausgefressen“, antwortete Jetta und pustete auf ihren Löffel. „Frau Hagedorn hat mir noch was erklärt, wonach ich in der Stunde gefragt hatte. Und dann hat sie sich dran begeistert und nicht mehr aufgehört zu reden.“

Sie überlegte, ob die Szene glaubhaft klang, und tuschte noch aus: „Und einige andere sind auch stehen geblieben und haben zugehört, weil es ja auch sehr interessant war. Die kommen sicher auch alle zu spät zum Mittagessen.“

Himmel, Fritz machte ganz enge Augen. Das alte Ekel würde gleich fragen, welches Thema es denn gewesen sei. Jetta blieb die Fantasie stecken.

Aber da wollte ihre Mutter, nachdem sie das Kind aufmerksam betrachtete, plötzlich wissen: „Sag mal, Mädel, hast du etwa Schminke im Gesicht?“

Jetta blickte auf, die gekränkte Unschuld. „Was für Schminke soll ich denn wohl haben?!“

Nach Möglichkeit sah sie nur den Vater an, ihn und Erich. Beide konnten, im Gegensatz zu weiblichen Familienmitgliedern, ihrem Engelsgesicht nur schwer wiederstehen.

Fritz konnte – der hatte selber eins.

„Jetta sieht aus wie immer. Naturschön!“, entschied nun auch Erich, und damit war das Thema vom Tisch.

2. Kapitel

Fritz rettet eine Katze

Einige Tage später sprach Vater Reckwisch am frühen Nachmittag über den Gartenzaun mit dem Nachbarn über die Zustände, die sich auswuchsen bis nach Altona. Inzwischen waren offenbar Handgranaten von wütenden Bürgern auf das Hamburger Rathaus geworfen worden. „Wie mag es bloß dazu gekommen sein?“, wunderte er sich. Dass seine Jüngste ihm das detailliert hätte schildern können, ahnte er nicht.

Herr Leu berichtete nur aus zweiter Hand, und was er da erzählte, wusste inzwischen jeder: „Das’s ’ne richtige Rewolutschoun is das! Aber is doch wahr, so ’ne Schweinerei, Herr Reckwisch, vergammelte Tiere inne Sülze für das hungernde und geknechtete Volk!“

Für das Volk empfand Adolf Reckwisch nur sehr bedingt Sympathie, sofern es nicht in seiner Eigenschaft als Gast in den Stern marschierte. Ihn interessierte etwas anderes.

„Ich hab gehört, Reichswehrminister Noske hat Generalmajor von Lettow-Vorbeck und seine Männer einbestellt, um die Unruhen niederzuschlagen?“

Doch, das war Herrn Leu ebenfalls zu Ohren gekommen.

Nun kam Addi in Fahrt. Wusste Herr Leu, dass er selbst ja unter diesem Mann in Afrika gedient hatte?

„Da bin ich meinen Arm losgeworden, in der Fremde fürs Vaterland. Und Sie können sich nicht denken, Herr Leu, was für ein Mensch das ist, der von Lettow-Vorbeck! Ein ganzer Mann, sage ich Ihnen; stark, konsequent, voller Geist! So ist unser deutscher Adel. Das sind erlesene Menschen. Edel. Daher kommt ja schließlich das Wort Adel. Das sieht man schon am Blick. So ein Blitzen in den Augen. Unnachahmlich …“ Er selbst guckte entsprechend.

Herr Leu, der mehr für das Volk war als für den Adel, wollte nun seine Hecke schneiden, aber Adolf hielt ihn am Ärmel fest. „Hab ich Ihnen schon mal erzählt, dass unser Name ursprünglich von Reckwisch gelautet hat?“

„Ach nee“, meinte Herr Leu und blinzelte über seinen fettigen Kneifer.

„Allerdings. Wir waren Freiherren. Bis so ein gemütskranker Großvater plötzlich unsern Adel abgeschafft und auf das ‚von‘ verzichtet hat. Dem waren in der Märzrevolution 1848 auf einmal so liberale Ideen gekommen …“

„So. Das’s ja interessant. Aber da ruft, glaub ich, meine Frau …“, behauptete der Nachbar und entriss dem Kaffeestubenbesitzer mit der adligen Vergangenheit seinen Ärmel.

Addi schaute ihm finster hinterher. Er fühlte, dass er nicht ernst genommen wurde, und seine immer parat liegende Wut drängelte sich hervor. Er litt an nervösen Zuständen. Das heißt, eigentlich litt nicht er selber sondern seine Umgebung. Alle versicherten sich gegenseitig, der Krieg hätte Vater zerrüttet. Und der Verlust des Arms! Keiner gab zu, dass Addi vor dem Krieg genauso cholerisch gewesen war. Damals konnte er sogar noch mit beiden Händen zuschlagen.

An Erich, seinen Ältesten, wagte er sich allerdings seit Jahren nicht heran, egal, wie viele Arme ihm zur Verfügung standen. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr war der Bengel größer als der Vater, inzwischen sogar mehr als einen Kopf.

Noch vor zwei Jahren, kurz vor seiner Verletzung, auf Heimaturlaub, wollte Adolf den Sohn züchtigen, überzeugt davon, dass seine Autorität den Größenunterschied unwichtig machte. Er hatte ausgeholt – und war vom damals sechzehnjährigen Erich umklammert und hochgehoben worden. Sein hochrotes Gesicht mit den wütenden, weit aufgerissenen edlen blauen Augen hatte nun ein Stück über und dicht vor dem seines Ältesten gehangen, der offensichtlich nicht genau wusste, wohin mit dem erzürnten, strampelnden Vater.

Loslassen wollte er ihn nicht; es ging ihm ja darum, ihn am Prügeln zu hindern. Schlagen wollte er ihn auch nicht – wo kam man denn hin, wenn Kinder ihre Eltern schlugen? Aber bis in alle Ewigkeit konnte er ihn auch nicht so hochhalten. Schließlich hatte Erich seinen Erzeuger die Treppe hinauf in die Wohnstube getragen und mit Schwung aufs Kanapee geworfen, bevor er das Haus verließ.

Nie wieder hatte Adolf den Großen angefasst, angebrüllt oder auch nur ermahnt. Auf eventuelle Fragen zu diesem Thema pflegte er in ironischem Ton zu antworten, der sei nun erwachsen genug, um den Rest der Erziehungsarbeit an sich selbst zu vollenden.

Tatsächlich hatte er Angst vor Erich.

Fiti war ein Trampel und bekam hin und wieder was an die Ohren.

Jetta – nein, die Schönheit seiner Kleinen mochte Vater Reckwisch nicht antasten. Meistens benahm sie sich ja auch lieb, zumindest ihm gegenüber.

Es war am angenehmsten, Friedrich zu verhauen. Der wehrte sich nicht, widersprach nicht, schützte sich nicht einmal. Er ließ sich ohrfeigen und beschimpfen. Zum Schluss weinte er meistens. Sowohl die Schläge als auch das Weinen gaben leuchtend rote Flecke in seinem weißen Gesicht. Manchmal bekam er Nasenbluten, nicht durch die Schläge, sondern durch die Aufregung.

Den Fritz konnte Adolf schon deshalb nicht leiden, weil er ihm zu ähnlich war. So blond, so zart, so hübsch. Der Vater argwöhnte, unter dieser Biskuitfassade lauerte ein wurmstichiger Charakter wie sein eigener.

Wo mochte der Bengel stecken?

Er drehte sich um und stapfte durch den Garten auf sein Haus zu.

Das gelbe, rechteckige Gebäude im Pepermöhlenweg, in dem sich die Kaffeestube Zum Stern befand, stammte aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts und machte einen schüchternen Versuch, tempelartig zu wirken durch zwei Säulen links und rechts neben dem Eingang und einen flachen Dreiecksgiebel obendrüber.

Von Anfang an als Gastwirtschaft geplant, besaß das Haus zwei hallenartige Räume und eine Küche im Erdgeschoss, sowie eine Riesenküche und etliche Vorratsräume im Souterrain. In diesen Kellerzimmern waren früher einmal kostbare Weine gelagert worden. Inzwischen lagerten nur noch die zweieinhalb dienstbaren Geister der Familie Reckwisch hier: Das waren der „geerbte“ Kellner, Herr Knoll – ein Gespenst von einem alten Mann, grau und bleich und mager, mit lippenlosem Mund und haarlosem Schädel – sowie Amalie Kosalke und ihr Töchterchen.

Amalie – von der Familie Malchen gerufen – putzte und scheuerte und kochte und backte. Manchmal servierte sie sogar den Kuchen, wenn ein paar mehr Gäste in der Kaffeestube saßen. Oder sie sprang ein, falls der alte Knoll mit seiner Gallenblase kämpfte und sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Oder falls er mal wieder übelnahm.

Irma Kosalke war Malchens fleischgewordener Fehltritt, ein elfjähriges Mädchen, schmächtig und klein wie eine Achtjährige. Irmas großer Mund mit den langen Vorderzähnen stand immer halb offen unter der kleinen Stülpnase. Vielleicht bekam sie die Lippen nicht über die Zähne. Dafür hielt sie ihre riesigen braunen Augen meistens halb geschlossen, was schläfrig wirkte und täuschte: Irma war schnell wie eine Eidechse.

Wenn sie nicht in der Schule saß oder am Verandatisch über den Hausaufgaben, tintenverschmiert, dann sollte sie „helfen“. Sie harkte Laub im Garten und rang mit dem großen Rechen wie mit einem Ungeheuer, sie wischte Staub und schlug die Fußmatten an der Hauswand aus, in einer Staubwolke hustend.

Sprechen hörte man Irma so gut wie nie. Sie beobachtete nur immer alles mit diesen Schlafzimmeraugen, den Mund halb offen.

Kosalkes stammten aus Ostpreußen. Malchen war westwärts geflohen, als sich ihre Schwangerschaft nicht mehr übersehen ließ und ihr moralisch entrüsteter Vater sie allabendlich durchprügelte. Inzwischen war sie ungefähr Ende dreißig, mit majestätischem Busen und ängstlichem kleinem Mopsgesicht.

Ihre Frisur löste sich ständig, immer mal wieder wischte sie die Hände an der Schürze ab, wickelte ihr dünnes Haarbüschel um den Finger und steckte die Nadeln von links und rechts neu hindurch – bis zum nächsten Mal. Nichtsdestotrotz konnte sie zupacken und mitdenken, und sie tat beides.

Eben schrubbte sie auf den Knien die Böden der großen Räume, in denen in anderthalb Stunden der Publikumsverkehr losgehen sollte. Als ihr Herr mit finsterer Miene an ihr vorbeitrabte, zog sie den Kopf ein und machte sich möglichst unsichtbar, um nicht gerempelt oder zusammengebrüllt zu werden.

Adolf stieg die Treppe hinauf zu den Wohnräumen der Familie. „Fritz? Wo bist du?“

Der Junge hatte neben dem Klavier am Fenster gesessen und etwas gelesen. Er fuhr hoch, stopfte hastig seine Lektüre, ganz zerknüllt, in die Hosentasche und wirkte praktischerweise wie das verkörperte schlechte Gewissen.

„Was lungerst du da herum, Pastor? Hast du nichts Sinnvolles zu tun?!“

Pastor war eine Anspielung auf Friedrichs Paten, Pastor Mahlke. Dem war die ungewöhnliche Intelligenz des Jungen früh aufgefallen und er hatte sich dafür eingesetzt, dass Fritz – als Einziger der Familie – das Gymnasium besuchte. Dadurch schien irgendwie festzustehen, er würde später auch Theologie studieren. Pastor Mahlke ging jedenfalls davon aus.

Fritz musste das Heftchen herausgeben, auf dessen Bildern Adolf undeutlich Fotografien unbekleideter Damen erkannte, und das er nun dazu verwendete, es seinem Sohn links und rechts um die Ohren zu hauen. Zum Schluss weinte der ganz richtig, wie es sich gehörte.

Adolf fühlte sich erfrischt.

Er ging nach unten, wo Frau und Töchter in der großen Küche werkelten, ließ sich Kaffee geben und zog sich in sein Bürozimmer zurück. Dort durfte ihn niemand stören und er konnte das Heft seines Sprösslings, dieses kleinen Ferkels, in Ruhe betrachten. Nackte Weiber! Prächtig. Das wurde ja der richtige Pastor!

Sein Sohn blieb schluchzend eine halbe Stunde lang auf der Treppe sitzen. Dann wischte er sich über die Augen und versuchte, mit den Händen sein helles Haar zu glätten. Er mochte in keinen Spiegel sehen, um jetzt nicht sein rot-weißes Gesicht zu erblicken.

Eine Weile wünschte er sich, sein Vater möge auf der Treppe stolpern, wenn niemand sonst im Hause war, sich verfangen und mit seinem einen Arm nie wieder hochkommen. Das Blut sollte ihm in den Kopf steigen, in diese weiße, zarte Haut, und dann sollte ihn der Schlag treffen …

Fritz sprang auf und lief aus dem Haus, ein Stück den Pepermöhlenweg hinunter, quer über die Elbchaussee und an den Strand. Keuchend hockte er sich dicht am Wasser hin, bemüht, nicht auf die eigenen, etwas knochigen Knie zu schauen.

Er hasste es, dass er kurze Hosen tragen musste. Er hasste es, noch ein Kind zu sein. Er hasste seinen Vater. Er hasste das Leben.

Zwei junge Mädchen gingen vorbei, blickten ihn an, mit diesem ganz bestimmten Ausdruck, den er fast immer in den Menschen hervorrief, einer Mischung aus Neugier und Abneigung.

Er sah sehr gut aus, das war ihm bewusst. Und doch war etwas an ihm, das abstieß, ihn selber ja auch. Was mochte das nur sein?

Eine grau gestreifte junge Katze, noch nicht ausgewachsen, tappte über den weißgrauen Elbsand auf ihn zu, stolperte über ein Zweiglein und miaute kläglich. Sie sah abgemagert und etwas struppig und recht elend aus.

Fritz streckte ihr die Hand entgegen und lockte sie mit seiner hellen Jungenstimme: „Komm zu mir, Kleine! Komm her, armes Kätzchen. Hast du deine Mama verloren?“

Die kleine Katze zögerte, dann kam sie näher und stupfte mit der Nase gegen seine Finger. Fritz kraulte sie zwischen den Ohren, in der Hoffnung, sie möge kein Ungeziefer an sich haben. Das Tier begann leise zu schnurren.

Fritz blickte sich einmal hastig um, ob ihn niemand beobachtete, dann griff er mit beiden Händen fest in das Fell, trug die Katze zum Wasser, watete ungeachtet der Tatsache, dass er Stiefel und Strümpfe trug, ein Stück in die Wellen und tauchte seine Beute tief unter.

Die Katze wehrte sich schwächlich, ziemlich kraftlos.

Fritz spürte, wie ihr Widerstand nachließ.

„Was machen Sie denn da?“, fragte auf einmal eine Stimme so dicht über seiner Schulter, dass er einen erschrockenen Ausruf nicht unterdrücken konnte.

Fritz riss die triefende Katze hoch, die jetzt wieder kräftiger zappelte. So nass, wie sie nun war, konnte man sehen, dass sie nur aus Haut und Knochen bestand. Sie öffnete das Mäulchen zu einem lautlosen Schrei.

„Ich sah etwas im Wasser – hier – das ist ein Kätzchen, glaube ich …“, stammelte er. Er fühlte, wie sein Gesicht dunkelrot wurde, aber das konnte ja auch am Wind liegen.

Eine ältere Dame war es, die ihm ins Wasser nachgewatet war, ebenfalls in ihren Stiefeln. Sogar ihr Mantelsaum stippte in die Elbe. Sie nahm einen bunten, breiten Schal von ihrem Hals und wickelte das Katzenkind hinein, es an ihre Brust drückend.

„Das haben Sie gut gemacht, junger Mann, bravo! Und haben ganz nasse Schuhe bekommen. Das ist uneigennützig. Ich nehme die Kleine mit nach Hause, wenn Sie nichts dagegen haben. Habe schon zwei. Ich verstehe mich darauf …“ Die Frau nickte ihm freundlich zu und wanderte in ihren nassen Stiefeln hinauf zur Elbchaussee.

Sie hatte ihn anders angesehen als die beiden Mädchen vorhin. Und sie hatte „Sie“ zu ihm gesagt.

Fritz ging zurück nach Hause, in die Küche, zeigte seiner Mutter und den Schwestern seine nassen Füße und berichtete, er hätte eine junge Katze aus der Elbe gerettet und eine Frau hätte sie mitgenommen. „Sie sagte, sie versteht sich darauf, sie hat schon zwei. Sie sagte, wahrscheinlich wollte jemand die Katze ertränken und ich bin großartig, weil ich einfach in Schuhen ins Wasser gegangen bin. Sie sagte, solche wie mich müsste es mehr geben.“

Magda nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf die schöne schmale Nase.

Fiti lächelte ihm zu.

Jetta, natürlich, blickte skeptisch. „Du magst doch Katzen überhaupt nicht“, sagte sie.

Nachdem Jetta in der Küche geholfen hatte, machte sie in dem Zimmer, das sie mit Fiti teilte, ihre Hausaufgaben. Anschließend versuchte sie, ihr langes Haar so zu stecken, dass es wie kurzes aussah. Man musste längliche Wellen mit der Handkante eindrücken, alles knapp über den Ohren umschlagen und dann locker im Nacken mit Nadeln befestigen. Einmal war ihr das schon so gut gelungen, dass ihr Vater sie anbrüllte, wie sie sich unterstehen könne, ihr schönes Haar abzuschneiden.

Derart perfekt hatte Jetta es bisher nie wieder hinbekommen.

An diesem Freitagabend wollte sie ihre Freundin Ada besuchen. Die besaß einen zwanzigjährigen Bruder, und immer, wenn Jetta sich in dessen Augen spiegelte, sah sie besonders hübsch aus.

Sie holte das Schraubgläschen mit ihrer Geheim-Mixtur, Ruß und Rizinusöl, aus dem Schrank, tuschte vorsichtig damit ihre Wimpern, rieb eine sehr kleine Dosis auf ihre Augenlider, um sie dunkel und glänzend zu machen, und verteilte einen Tropfen Öl ohne Ruß auf den Lippen.

Gerade als Jetta die Treppe hinunterhüpfte, klingelte das Telefon in der Diele.

Sie hakte den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr und sprach in die Muschel: „Kaffeestube Zum Stern in Nienstedten, guten Tag, hier spricht Henrietta Reckwisch?“

„Das ist aber nett, dass ich gerade Sie erwische!“, quakte das andere Ende. „Guten Tag, Fräulein Reckwisch. Hier spricht Rudolf Büttner. Wie geht es Ihnen?“

Jetta strahlte. „Vielen Dank, Herr Büttner, gut!“

„Hat man Sie erwischt – Sie wissen schon?“

Jetta kicherte. „Nein, es ist alles gut gegangen.“

„Ich wollte mich mal erkundigen, ob wir uns nicht vielleicht sehen können. Wenn Ihre Eltern es erlauben. Wir könnten beispielsweise zusammen in eine Konditorei gehen und eine Schokolade trinken und etwas Kuchen essen und uns unterhalten, wenn Sie Lust dazu haben.“

„Bei der Konkurrenz?“, fragte Jetta unwillkürlich.

„Ach, daran hab ich gar nicht gedacht. Nein, dann anders. Wir könnten das Museum für Völkerkunde am Rothenbaum besuchen, wenn Sie so was mögen. Und hinterher in die Kaffeestube Ihrer Eltern zum Kaffeetrinken?“

„Das finde ich wunderbar! Und vielleicht …“ Jetta unterbrach sich, weil ihre Mutter über die Diele kam. „Gut, Herr Büttner! Also ein Tisch für zwei Personen! Für wann möchten Sie ihn bestellen?“, fuhr sie sehr geschäftsmäßig fort und lächelte Magda flüchtig an.

Rudolf Büttner schien zu verstehen, dass sie nicht mehr alleine war. „Wenn noch was frei ist – für übermorgen? Also Sonntagnachmittag? Wann darf ich Sie dann abholen?“

Magda war zwar inzwischen weitergegangen, aber dennoch wagte Jetta nur in die Sprechmuschel zu flüstern. „Um halb drei! Kommen Sie mit einer Autodroschke?“

„Ja, gerne.“

„Dann warte ich an der Stelle, wo meine Schultasche versteckt war, abgemacht? Ach, und vielleicht gehen wir für die Schokolade einstweilen doch lieber zur Konkurrenz, weil …“ Diesmal polterte Adolf die Treppe hinunter und ging an Jetta vorbei, weshalb sie ihren Satz beendete: „ …weil man da nichts machen kann. Das tut mir leid, mein Herr, dass Ihre Frau Gemahlin gerade bemerkt hat, Sie hätten schon etwas anderes vor. Also doch kein Tisch in unserer Kaffeestube. Sicher ein anderes Mal. Ich wünsche noch einen guten Tag!“

Rudolf Büttners Stimme quäkte an ihr Ohr: „Hatte ich eigentlich schon gesagt, dass Sie schrecklich süß sind, Fräulein Reckwisch?“

Jetta antwortete mit einem kleinen Lachen in der Stimme: „Auf Wiedersehen, mein Herr!“ und hängte den Hörer ein.

Ihr Vater streichelte ihre Schulter und brummte: „Du bist ein tüchtiges Kind, meine Jetta. Wenn einer gut mit den Gästen umgeht, dann bist du das. Nett machst du dich in diesem Sommermantel. Willst du ausgehen?“

Sie gab ihm ein Küsschen auf die Wange. „Nur zu Ada, Papa. Mal sehen, vielleicht gehe ich übrigens mit der auch am Sonntagnachmittag ins Museum für Völkerkunde am Rothenbaum, darf ich das?“

Addi schmunzelte auf seine hübsche Tochter herab. Wie reizend das Kind aussah. Wirklich, wie Erich gesagt hatte, eine Naturschönheit, ganz ohne Schminke und Tünche! Ihre Augenlider glänzten von selbst ein wenig und die feinen Lippen ebenfalls. Und wie nett sie sich immer benehmen konnte. Da machte sich das blaue Blut bemerkbar.

Er angelte in der Jackentasche nach seiner Geldbörse, nahm nach einigem Zögern zehn Papiermark heraus und raschelte Jetta den dunkelgrünen Schein in ihr Händchen. „Lade deine Freundin mal ein, mein Kind!“

Jetta fiel dem Vater um den Hals, bedankte sich sehr und dachte entzückt: Da ich ja von Herrn Büttner eingeladen werde, ist das alles meins. Ich kann mir, wenn ich nächstes Mal in Hamburg bin, ein Töpfchen Rouge besorgen …

3. Kapitel

Erich wird beobachtet

Die kleine Irma wurde kaum je bemerkt, während sie selbst nahezu alles bemerkte.

Das eine hing mit dem anderen zusammen.

Sie schien harmlos, unwichtig, überflüssig, sogar ein wenig einfältig mit ihrem ewig offenstehenden Mund und den halb geschlossenen Augen.

So, wie in bestimmten Zeiten ein Diener von den Herrschaften wie ein Haustier oder Möbelstück betrachtet wurde, in dessen Gegenwart man – falls sonst niemand zugegen war – selbstverständlich in der Nase bohren konnte, so nahmen die Reckwischs das Irmchen auch nicht mehr zur Kenntnis als den Schirmständer.

Das Kind saß gern auf dem Fußboden, vielleicht sogar unter einem Tisch, oder kletterte in einen der vielen alten Obstbäume, die das Haus umgaben.

Unterhielten sich zwei über ein Thema, das niemand anders zu hören bekommen sollte, und blickten sich sichernd um, bevor sie zu den Heimlichkeiten kamen – dann bemerkten sie vielleicht ein dünnes, zerkratztes braunes Schienbein, das unter den Fransen der Tischdecke hervor sah oder vor der Fensterscheibe baumelte. Was war das?

Irmchen. Kein Grund, zu flüstern …

So teilten sich nahezu alle Geheimnisse im Haus durch drei.

Die Reckwischs waren keine besonders vorbildlichen Kirchgänger. Zu den christlichen Feiertagen, zu den Taufen oder Konfirmationen der Kinder … Ansonsten ließen sie es bleiben. Adolf und Magda hatten nicht einmal kirchlich geheiratet.

An diesem Sonntag Ende Juni schlief die Familie aus. Nur Fritz, der sich seinem Paten verpflichtet fühlte (oder fühlen musste), stand seufzend auf, zog sich stöhnend an und stolperte mehr oder weniger leise die Treppe hinunter, um sich in der Erdgeschossküche etwas zu essen zu machen, bevor er sich dem Pastor als interessierter Christ präsentierte. Dazu hatte er auch noch fast eine Dreiviertelstunde mit dem Rad zu fahren. Die Kirche, in der Mahlke predigte, lag unglücklicherweise in Rellingen.

Trotzdem ärgerte dieses berechtigte Seufzen und Stöhnen Erich, der sich mit seinem Bruder das Schlafzimmer teilte. Er fluchte leise und warf ärgerlich mit dem Kopfkissen nach Fritz, bevor der endlich das Zimmer verließ. Dann lag er mit geschlossenen Augen im Bett, vermisste das Kissen und fühlte voller Grimm zu viel Sonnenlicht im Gesicht. Die Gardine vor dem geöffneten Fenster war leider nicht zugezogen.

Erich blinzelte in die Strahlen, drehte den Kopf etwas zur Seite und bemerkte, dass ihn nicht nur die Sonne ansah. Da saß dieses Gör, diese Irma, doch tatsächlich im Kirschbaum vor dem Fenster und starrte ins Zimmer! Wie immer stand ihr Mund halb offen.

Erich kam mit einem Ruck hoch – und das Kind fiel vor Schreck fast vom Baum. Es konnte sich gerade noch mit beiden Händen festklammern.

„Bist du lebensmüde?! Was machst du denn um Himmels willen hier vor dem Fenster, du dummes Äffchen?!“, fuhr er sie an.

Irma musste erst einmal den Mund schließen, schlucken und sich über die Lippen lecken, bevor sie antworten konnte. „Ich guck Sie an.“

„Ja, warum denn das?“

„Nur so.“

Erich angelte nach dem Kopfkissen seines Bruders ein Bett weiter, stopfte es sich in den Nacken und rückte noch mehr aus der Sonne. Er nahm eine Zigarette aus dem Etui auf dem Nachtschrank, zündete sie mit seinem eisernen Feuerzeug an und rauchte ein paar Züge. Den Rauch ließ er aus seinen schmalen Nasenlöchern kringeln.

„Warum bist du so neugierig, Äffchen?“

Irma zuckte mit den mageren Schultern.

Eine Weile sahen sie sich gegenseitig abschätzend an, das schmächtige, unschöne kleine Mädchen und der kräftige junge Mann.

Plötzlich fragte Irmchen: „Sie sind doch der Freund von den Goldschmidts. Warum nennt der alte Herr Goldschmidt seine Tochter immer ‚Erikaleben‘?“

Erich lächelte. „Das ist eine jiddische Zärtlichkeitsform. So wie Irmchen oder Imalein. Zu dir würde er sagen Irmaleben. Also, wenn er dich lieb hätte.“

Irma rieb sich die Nase mit dem Oberarm. „Ach. Und – lieben Sie die Schwester von Ihrem Freund?“

Über diese Frage war Erich so verdutzt, dass er lachen musste. „Du meinst Erika Goldschmidt? Ob ich die liebe? Wie kommst du darauf?“ Und als Irma wieder nur mit den Schultern zuckte: „Nein, die liebe ich nicht.“

Sie reagierte sofort auf seine Betonung und wagte die nächste Frage: „Wen denn dann?“

Erich warf ihr einen schrägen Blick zu, betrachtete ganz genau die glühende Asche seiner Zigarette und antwortete nach einer Weile langsam: „Claire heißt sie. Claire ist die Tochter von Herrn Bruhn. Das ist mein Chef und mein Lehrmeister in Hamburg. Ich bin verschossen in seine Tochter. Und weißt du was? Sie macht sich nichts aus mir. Kannst du das verstehen?“

Irma Kosalke schüttelte sofort energisch den Kopf. Das feine, kurz geschnittene aschblonde Haar flog ihr wie Federchen um das Gesicht.

„Nein? Ich auch nicht“, knurrte Erich.

Er packte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und saugte so energisch an ihr, dass Tabak und Papier knisternd ein großes Stück herunterbrannten. Dann warf er sie an Irmas Kopf vorbei in den Garten, zog sich das Kopfkissen seines Bruders über das Gesicht und bemühte sich, wieder einzuschlafen. Er achtete nicht darauf, dass es im Kirschbaum raschelte, weil die Beobachterin nun wohl zu Boden kletterte. Es genierte ihn auch nicht, gerade sein heiligstes Geheimnis verraten zu haben.

Er hatte schließlich nur mit dem Schirmständer gesprochen …

Vor etwa sieben Jahren war Folgendes passiert: Siegmund, der Sohn des reichen Herrn Goldschmidt aus der Villa an der Elbchaussee, hatte auf dem Schulweg Prügel bezogen, von fünf oder sechs Jungen.