Der Stern der Reiche - Elias J. Connor - E-Book
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Der Stern der Reiche E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Naytnal – auch Der Stern der Reiche genannt. Eine sagenumwobene, fantastische Welt, die in unseren Träumen, Wünschen und Gedanken existiert. Jeder von uns hat ein Stück von Naytnal in sich. Jeder ist ein Teil dieser Traumwelt. Kitty und Jojo sind die ersten Menschen, die traumhafte, fantastische aber auch gefährliche Abenteuer in dieser Welt erleben. Alle möglichen Wesen - Kobolde, Drachen, Feen, Hexen und andere fantastische Fabelwesen - begegnen ihnen hier, und die beiden Mädchen sind mehr als einmal mit der Aufgabe betraut, diese sagenhafte Traumwelt, die sich in Gefahr befindet, zu retten. Der Stern der Reiche ist ein Buch mit Geschichten für Kinder und Jugendliche, geschrieben von Fantasy-Autor Elias J. Connor, das auf die bekannte Fantasy-Roman-Serie DIE NAYTNAL CHRONIKEN basiert. Es ist das verschollene vierte Buch der Reihe – hier zusammengefasst in einer Sammlung von Kurzgeschichten, wie sie passiert sein sollen, oder passiert sein könnten. Jeder ist seiner Träume Hüter und weiß selbst, wie wahr diese Geschichten sind.

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Elias J. Connor

Der Stern der Reiche

Fantastische Geschichten mit Kitty und Jojo

Inhaltsverzeichnis

Widmung

PROLOG

DIE VERMISSTEN KINDER VON LANTYAN

DIE HEIMAT VON DENNIS, DEM HÜTER

DAS SILBERNE WUNSCHVLIES

DIE SIEBEN SCHWEBENDEN INSELN

DER REGENBOGEN-DSCHUNGEL

JUVENT

DAS REICH DER TAUSEND HÜGEL

BIGA MAE IM WALD DER MAGISCHEN TORE

DIE PIRATEN DER LÜFTE

DIE FÄHRTE INS NIRGENDWO

DIE GEHEIME WELT VON FAYLON

RÜCKKEHR AUF DEN STERN DER REICHE

AUF DER SUCHE NACH DER LETZTEN WAHRHEIT

EPILOG

Impressum

Widmung

Für Jana, Nadja und Liam,

meine 3 Engel

PROLOG

Die junge Frau saß auf der Veranda ihres Hauses. Von hier hatte sie einen guten Blick auf das Meer. Ein lauer Wind wehte, und es war noch immer sehr ruhig – so kurz nach dem Sturm, der bis vor ein paar Stunden hier gewütet hatte.

Sie hatte Glück. Ihrem Haus ist nichts geschehen. Sie war wohlauf.

Ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, kam schließlich zu der Frau auf die Veranda dazu und setzte sich neben sie.

„Na, Leonie, wie geht es dir?“, fragte die Frau das Kind.

„Ganz gut, Mommy“, antwortete das kleine Mädchen. „Ich habe mich in meinem Zimmer versteckt, während der Sturm gewütet hat.“

Die Frau lächelte.

„Unser Haus ist sehr sicher“, erklärte sie dem Kind. „Weder Daddy noch dir wird jemals etwas geschehen. Wir überstehen die Sturmsaison jedes Mal.“

„Ja, ich weiß“, antwortete das Kind.

Nachdenklich nahm das Mädchen daraufhin ein Buch mit alten Fotos in die Hand und blätterte es durch.

„Ich konnte es nicht aus der Hand legen, seit ich es bekommen habe“, sagte sie leise.

„Das kann ich mir vorstellen, Leonie“, meinte die Frau. „Es sind sehr schöne Bilder, nicht wahr?“

„Sie sind wirklich sehr schön“, stellte Leonie fest. „Du, Mommy... die Menschen auf den Fotos, sind das wirklich du, Daddy und Tante Jojo als Kinder?“

Die junge Frau lächelte.

„Ja, das ist richtig“, bestätigte sie.

„Aber die Fotos sehen so unwirklich aus“, überlegte das kleine Mädchen. „Die Gegenden, in denen sie gemacht worden sein sollen... das sieht alles so unecht aus, so fantastisch...“

„Die Welt ist voller Fantasie“, sagte die junge Frau daraufhin. „Wenn man nur daran glaubt, dann sind Welten möglich, wie sie es sonst nur in Träumen gibt.“

Das Kind setzte sich näher an die Frau heran und rutschte ihr in die Arme.

„Ich glaube daran“, lächelte Leonie.

„Ich weiß“, sagte die junge Frau darauf zu ihr. „Deine Großmutter hat bereits daran geglaubt – nach ihr haben Daddy und ich dich benannt. Deine Tante Jojo hat daran geglaubt. Und ich glaube daran. Heute noch. Leonie, mein Engelchen – der Stern der Reiche, den wir Naytnal nennen, ist Wirklichkeit. Es hat ihn gegeben, und es gibt ihn noch immer.“

„Mommy... erzählst du mir eine Geschichte über diese andere Welt? Diese versteckte Welt, die du Naytnal, den Stern der Reiche nennst?“

Die junge Frau sah ihrer kleinen Tochter tief in die Augen.

„Okay“, sagte sie nach Minuten. „Ich erzähle dir das größte Abenteuer, das Kitty und Jojo in Naytnal erlebt haben. Und ich schwöre dir, dass es wirklich ist, so wahr ich Kitty Linnore heiße.“

„Jaaa“, jubelte das kleine Mädchen.

Kitty nahm ihre kleine Tochter lieb in die Arme und streichelte ihr über den Kopf.

„Lehne dich nun zurück und höre gut zu, Leonie. Denn diese Geschichte, die ich die jetzt erzähle, ist eine ganz besondere Geschichte.“

DIE VERMISSTEN KINDER VON LANTYAN

Der Wind wehte leicht und bewegte die Äste einiger blätterloser, knorriger Bäume, die unweit einer einsamen Landstraße standen. Am Horizont sah man eine Gruppe von Wolken vorüberziehen, aber die Sonne schien und es war sehr heiß.

In der Ferne hörte man ein Geräusch. Ein seltsames Klappern war es wohl. So als würde jemand mit einem kleinen Hammer ständig auf ein Stück Holz schlagen, in einem langsamen, immer wiederkehrenden Rhythmus. Dann, nach einigen Minuten, höre es auf einmal auf zu klappern. Eine Stille durchströmte die weite, trockene Gegend.

Das Mädchen, das einsam auf der weiten, herrenlosen Straße lief, blieb stehen. Sie hob ihren Kopf an und schaute dorthin, von wo das Geklapper gekommen sein mochte. Als es dann nach einiger Zeit wieder anfing, lief sie langsamen Schrittes weiter. Wieder senkte sie ihren Blick auf ihre Füße, die tonlos den heißen Asphalt berührten.

Ein Busch, der sich wohl vom Boden gelöst hatte, huschte dann plötzlich über die Straße hinweg. Das Mädchen sah ihm kurz hinterher.

Unweit von ihr war eine kleine Bank, einsam und verlassen am Straßenrand. Das Mädchen lief hin und setzte sich dann. Sie nahm ihren Rucksack, den sie auf dem Rücken trug, ab und legte ihn neben sich. Dann atmete sie tief aus. Schließlich holte sie eine Flasche Wasser heraus und trank einen Schluck. Dann verstaute sie sie wieder.

Ihr T-Shirt mit der Aufschrift Phoenix 07 war schon ziemlich durchgeschwitzt. Es bedeckte ihren schmalen Körper. Ihre schulterlangen, hellbraunen Haare hingen ihr ins Gesicht. Als sie sie zur Seite schob, erschienen ihre großen, braunen Augen. Wie alt mochte sie wohl sein? Dreizehn vielleicht?

In der Ferne hörte sie ein leichtes Donnergrollen, was sie kurz hochschrecken ließ. Weit, weit weg, am Horizont, schienen sich die Wolken zu einem kleinen, sommerlichen Gewitter zu verdichten, wie es für diese Jahreszeit und für diese Gegend typisch ist.

Ein Hund bellte in der Nähe. Das Mädchen drehte sich um. Und dann sah sie hinter sich ein Haus, welches ihr offenbar eben noch nicht aufgefallen war. Es war nicht groß. Eher konnte man es mit einem Pavillon denn mit einem Haus vergleichen. Ein eigentümlicher, wahrscheinlich schon älterer Holzbau. Vorsichtig stand sie auf, schnallte sich ihre Tasche wieder auf den Rücken und lief auf das Haus zu.

Ein kleines Holzschild hing lose, nur noch an einer Seite locker befestigt, über der Eingangstür. Kolonialwaren, stand darauf. Rhythmisch hämmerte das Schild gegen die Holzwand. Die Fenster waren kaputt gewesen. Nicht alle, das ganz rechte Fenster schien noch intakt zu sein. Und die Türe stand sperrangelweit offen.

Langsam ging das Mädchen in das Haus hinein.

Was machte ein Haus in einer so einsamen, verlassenen Gegend? Wem mochte es gehören? Und was machte das junge Mädchen hier in den Weiten der Wüste von Arizona? Ob sie einer Reisegruppe angehörte und sie verloren hat? Durch diese Gegend fahren öfters Reisebusse hindurch. Aber sie würden doch nicht an diesem verlassenen Ort anhalten.

Wieder ein Donnern. Diesmal war es lauter. Das Gewitter schien näher zu kommen. Und am Geklapper des Holzschildes merkte man auch, dass es windiger wurde.

Im Haus sah das Mädchen eine dunkle Holztheke. Sie stand mitten im Raum. Eine alte Kasse befand sich auf ihr, und daneben lagen einige Zettel. An der Wand waren Regale, ebenfalls aus Holz, aber sie waren alle leer.

Das Mädchen schaute sich um. „Hallo?“, fragte sie zaghaft. „Ist hier einer?“

Als niemand antwortete, lief sie auf Zehenspitzen zur Kasse und öffnete sie. Es befand sich jedoch nichts in ihr. Und genauso heimlich wie sie die Kasse auf machte, schloss sie sie wieder.

Plötzlich schreckte sie auf. Ein brauner Schäferhund lief bellend in das Haus hinein. Er erhob sich, legte seine Vorderpfoten auf die Theke, hinter der das Mädchen stand, und knurrte sie an. Wie versteinert blieb das Mädchen stehen. Sie atmete heftig. Sie hatte Angst. Der Hund sah sie böse an, mit seinen gefletschten Zähnen.

„Braves Hündchen“, sagte das Mädchen.

Der Hund reagierte nicht und knurrte weiter. Mit seinen scharfen Augen sah er ihr ins Gesicht.

Vorsichtig hob sie ihre Hand. Langsam führte sie ihren Arm zu dem Hund. Als er bellte und nach ihr schnappte, zog sie ganz schnell ihren Arm wieder zurück.

Wieder konnte man einen Donner hören. Diesmal war er näher und viel lauter. Der Hund zuckte daraufhin zusammen. Erschien er gerade noch so stark und mächtig, so begann er nun zu winseln. Mit einem Satz verschwand er unter dem Regal an der Wand und kauerte sich dort zusammen.

Das Mädchen musste ein bisschen lachen. „Du musst doch keine Angst haben, Hündchen. Ist doch nur ein Gewitter.“

Dann lief sie zu ihm und streichelte ihn über den Kopf. Er ließ es sich gefallen.

Wieder ein Donner.

Der Hund sprang in die Arme des Mädchens. Als sie ihn umschlang, spürte sie, wie er vor Angst zitterte.

„Och, du Armer“, sagte sie leise. Sie fühlte über seinen Hals. Er trug kein Halsband. „Wem gehörst du denn? Ist dein Herrchen hier irgendwo in der Nähe?“

Der Hund leckte sie an der Hand.

„Das kitzelt“, lachte das Mädchen, während sie durch sein Fell wuschelte. „Braves Hündchen, ja.“

Wieder ertönte ein Donner, diesmal lauter als die bisherigen.

„Ich glaube, das Gewitter kommt näher“, sagte das Mädchen zu dem Hund. „Sag mal, wenn du kein Herrchen hast, willst du bei mir bleiben? Ich könnte dich mitnehmen auf meine Wanderung.“

Der Hund hechelte das Mädchen an. Er gab dabei einige helle Töne von sich.

„Ja, brav“, ergänzte das Mädchen. „Ich nehme dich mit. Ich werde dich behalten.“

Der Hund winselte, als es wieder donnerte.

„Keine Angst, wir gehen ja erst weiter, wenn das Gewitter vorüber gezogen ist.“ Das Mädchen sah den Hund an, während sie ihm zärtlich über sein dichtes Fell streichelte. „Schade, dass du mir deinen Namen nicht sagen kannst“, setzte sie dann fort. „Ich heiße Natalie. Weißt du, ich werde dich einfach Hündchen nennen. Ist das okay?“

Der Hund hechelte erwartungsvoll, während Natalie aufstand. „Sollen wir mal gucken, ob wir hier etwas zu fressen für dich finden, Hündchen?“

Natalie suchte in einem Schrank, der in der Ecke des Raums stand. Jedoch war er ganz leer. Nichts war in ihm, keine Dose, kein Brot – gar nichts.

„Hier ist totale Ebbe“, sagte Natalie. „Wer hat dich denn bis jetzt gefüttert?“

Der Hund setzte sich auf und sah Natalie mit erwartungsvollen Augen an.

„Sag bloß, du hast schon seit Tagen nichts gefressen? Armes Hündchen.“

Der Hund gab ein kleines „Wuff!“ von sich.

„Na, mal sehen“, machte Natalie. Dann nahm sie ihren Rucksack wieder ab und kramte darin. Sie holte ein belegtes Butterbrot heraus, welches in ein Papier eingewickelt war. Als sie es auspackte, leckte sich der Hund über seine Lippen.

„Hier, Hündchen“, sagte Natalie. „Da ist Wurst drauf. Das schmeckt dir bestimmt.“

Gierig nahm der Hund das Brot entgegen. Er legte sich hin und fraß es genüsslich, während Natalie sich den Rucksack wieder umschnallte. Dann lief sie zur Tür. Wieder ertönte ein Donner, und Regengeplätscher war dann auch zu hören. Natalie schaute hinaus.

Der Himmel hatte sich in den vergangenen Minuten merklich verdunkelt. Das Gewitter war schon sehr nahe, und die dichten, schwarzen Regenwolken hingen bereits über dem Haus, in dem Natalie nun zusammen mit dem Hund war.

„Das geht schnell wieder vorbei“, versuchte sie, ihr Hündchen zu trösten.

Als der Hund fertig gefressen hatte, sprang er plötzlich auf. Eilig tapste er aus der Hütte hinaus.

„He, wo willst du denn hin, Hündchen?“, rief Natalie.

Der Hund lief auf die Veranda, lief in den strömenden Regen und direkt auf die Straße.

„Warte doch!“ Natalie hechtete ihm hinterher. „Hündchen!“

Auf der Straße blieb der Hund dann stehen. Natalie lief zu ihm. „Komm wieder rein“, sagte sie zu ihm. „Es ist doch viel zu nass.“

Gerade, als sie ihn hoch nehmen wollte, um ihn wieder ins Haus zu tragen, geschah es dann plötzlich: Die Wolken begannen, zu zirkulieren. Natalie starrte wie gebannt nach oben. Immer schneller drehten sich die Wolken. Blitze zuckten in ihnen.

„Was ist das?“, stammelte Natalie.

Und der Hund saß ganz ruhig da.

Ein Trichter begann sich zu formen, direkt über Natalies Kopf. Direkt über ihr und dem Hund. Die Wolken drehten und drehten sich. Es donnerte. Es donnerte immer wieder, und die Blitze zuckten in den Wolken. Links und rechts von Natalie und ihrem Hündchen schlugen sie ein.

Und der Hund saß ganz ruhig da.

Ein Tornado formte sich. Immer schneller raste der Trichter auf den Boden zu, genau dorthin, wo Natalie und der Hund waren.

„Oh, Gott“, hauchte Natalie. Sie zitterte. Nicht vor Kälte, vor Angst. „Schnell!“, rief sie ihrem Hund zu. „Wir müssen zurück ins Haus. Da kommt ein Tornado. Ein Wirbelsturm.“ Sie versuchte, den Hund zu fassen zu kriegen, aber der Wind war so stark, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Diese Kraft der Luft schien Natalie von dem Hund wegzudrücken, der nur wenige Fuß vor ihr stand. Mit aller Macht versuchte sie, gegen die immense Kraft des Windes anzukommen. Sich nach vorne zu stemmen, gegen die wilden Luftmassen. Aber sie schienen sie nicht an ihren Hund heranlassen zu wollen. Was war hier nur los?

Und der Hund blieb seelenruhig sitzen, Natalie seinen Rücken zukehrend.

Und dann erreichte der Tornado den Boden. Machtlos und hilflos stand Natalie da. Ein dünner Schlauch hüllte den Hund ein. Aber er wurde nicht in die Luft gewirbelt, wie sie es jetzt vermutet hätte. Seelenruhig stand er auf und drehte sich dann zu ihr um.

Und dann traute Natalie ihren Augen nicht: Auf einmal erhob der Hund seine Vorderpfoten in die Lüfte. Er stand richtig auf. Er stand auf und streckte seine Pfoten von sich. Seine Augen blitzten. Und auf einmal... wuchsen ihm Hände, dort wo seine Pfoten waren. Und es wuchsen ihm Arme, dort wo seine Vorderbeine waren. Er streckte seine Arme in den Strudel des Tornados hinein, der über ihm wütete. Und dann wuchs ihm ein Körper und ein Kopf. Der Hund hatte sich verwandelt.

Vor Natalie stand plötzlich ein Junge von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren. Er trug einen schwarzen Anzug. Seine dunklen Haare schimmerten glänzend. Mit seinen tiefbraunen Augen sah er Natalie an.

„Natalie Cox“, sagte er dann. „Sedna Luvena Natalie Cox.“

„Wer bist du?“, fragte Natalie leise. Ihr Herz raste vor Angst und Aufregung.

„Du wirst Macht erhalten. Sehr viel Macht“, sprach der Junge mit sehr ernster Mine. „Du hast die einmalige Chance, große Macht zu erlangen. Du musst nichts weiter dafür tun, als mir deine Seele zu geben.“

„Wer bist du?“, fragte Natalie erneut.

„Ich sage dir, ich werde dir jeden Wunsch erfüllen können, Sedna Luvena Natalie Cox“, sprach der Junge. „Jeden Wunsch, den du hast. Wenn du mir nur deine Seele gibst.“

Der Wind peitschte Natalie und dem Jungen um die Ohren. Blitze zuckten in den Boden hinein. Und der Wirbel über ihnen drehte und drehte sich unaufhörlich. Der Himmel war so schwarz, dass man nichts mehr erkennen konnte.

„Ich werde dir nicht meine Seele geben“, sagte Natalie. „Sag mir endlich, wer du bist, und was du willst.“

„Ich will nur deine Seele“, sagte der Junge. „Dieses Opfer ist nicht zu groß dafür, dass es dir jeden Wunsch erfüllt. Habe ich erst deine Seele, wirst du die mächtigste Person der ganzen Welt werden. Du musst diesen Wunsch nur aussprechen. Überlege, Natalie Cox. Jeder, wirklich jeder Wunsch kann dir erfüllt werden. Du könntest eine Familie bekommen. Du könntest viel Geld besitzen. Und Macht. Macht über die Welt. Du könntest der Regent über die ganze Welt werden. Sage nur, dass du dir wünschst, mir deine Seele zu geben.“

Natalie sah den Jungen mit ernsten Augen an. „Was hast du mit dem Hund gemacht?“, fragte sie schließlich.

„Vergiss den Hund. Wenn du mächtiger bist als alles andere, dann kannst du dir tausend Hunde wünschen.“

„Ich will keine tausend Hunde.“ Natalies Augen blitzten böse. „Wer bist du? Sag es mir!“

„Mache deinen Wunsch!“, sagte der Junge voller Inbrunst.

Natalie schüttelte ihren Kopf. „Nein“, sagte sie ruhig. „Wer immer du bist, und was immer du mir versprichst, ich werde niemals meine Seele hergeben. An dich nicht, und an niemanden sonst.“ Sie hob ihre Arme. „Niemals! Hörst du?“

Und plötzlich... hörte der Sturm auf. Der Tornado verschwand so geheimnisvoll wie er entstanden ist. Genauso plötzlich löste er sich in Luft auf.

Die Wolken verschwanden.

Der Regen hörte auf.

Und die Sonne kam wieder zum Vorschein.

Vor Natalie stand nun dieser Junge – kaum größer als sie. Seine Haare wehten im leichten Morgenwind. Sein Blick war traurig.

„Ist dies deine letzte Entscheidung?“, fragte er leise.

„Ja“, sagte Natalie ruhig.

Und dann wendete sich der Junge von ihr ab. Er lief die Straße weiter entlang. Er lief langsam und ruhig. Schritt für Schritt entfernte er sich von dem Mädchen.

Natalie sah ihm nach.

Und dann hörte sie wieder das Geklapper von dem Holzschild, welches über der Tür der kleinen Hütte baumelte. Als der Junge weg war und sie auf das Schild sah, fiel es plötzlich herunter.

Auf den Feldern blühten die Wildblumen, und das Gras stand recht hoch. Eine Gruppe Kühe und Schafe graste in der Nähe einer Straße, die sich kurvenreich durch die Landschaft schlängelte. Das Muhen und Blöken hallte von den Hängen zurück, die das kleine Tal inmitten dieser gebirgigen Gegend umkreisten.

Im Ort war eine alte Kirche. Nicht groß, aber doch sehr imposant. Sie mochte aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert stammen. Als ihre Glocke läutete, übertönte sie die Geräusche der Tiere, und eine Schar Vögel stieg auf und flog in die morgendliche Sonne hinein.

Zehn mal stieß der Schlegel gegen die große Messingglocke. Man hörte sie noch Meilen von dem Örtchen entfernt. Zehn Uhr war es, an einem Sonntag morgen. Das bedeutete für einige Ortsansässige, dass nun auch der Gottesdienst begann. Somit setzten nach der großen Kirchenglocke auch die anderen Glocken ein, die dies verkündeten.

Nach einer Weile war es im Ort wieder ruhig. Man hörte die Vögel zwitschern, ab und an einen Bergraben krähen, der weiter oben in den Höhen seine Runden drehte, und man hörte wieder die Kühe und Schafe, die es sich auf der Weide gut gehen ließen.

Lantyan war ein friedliches Örtchen. Es war nicht sehr groß. Wenn es hier vielleicht dreißig Häuser geben mochte, war dies schon viel. Aber der Ort hatte sogar eine eigene Einkaufsstraße, auch wenn er klein war. Das brauchten sie hier auch, denn die nächst größere Stadt war über 50 Meilen entfernt, und es dauerte fast eine Stunde mit dem Auto, bis man dort war.

Wahrscheinlich würde Lantyan niemandem weiter auffallen, wenn man auf der Durchreise wäre. Denn seine Idylle alleine ist nicht ungewöhnlich für kleine Orte in den Vorläufern der Rocky Mountains. Hier in Colorado gab es sehr viele solcher Orte, und alleine in dieser Gegend waren es zehn oder fünfzehn Städtchen, die alle ähnlich aussahen, mit ihren Fachwerk- und Holzhäusern, deren Dächer mit Schiefer verkleidet waren.

Das Besondere an diesem Ort schien eine Anhöhe zu sein, auf die ein Weg führte, der etwa sieben Meilen lang war. Man konnte sie von hier unten aus gut sehen, und sie war auch recht auffällig wegen der vielen, bunten Bäume – Pappeln, die in rötlichen und gelben Farben leuchteten. Es schien, als wüchse diese Art von Pappeln nur auf dieser Anhöhe.

Aber auch nicht dieser Hang machte Lantyan so besonders, nein, es war dieses riesige Gebäude, was oberhalb von ihm prangerte. Dieses große, holz verkleidete Haus, umrandet von einem Feld, auf dem die schönsten Blumen blühten.

Und als die Kirchenglocken wieder verstummten, erhob sich eine kleine Dole in die Lüfte und flog auf dieses Gebäude zu. Sie flog hoch auf die Anhöhe, umkreiste das riesige Haus, das von oben gesehen die Form eines U hatte, und ließ sich schließlich auf einem Fahnenmast an einem der zwei Türme nieder, die am Anfang und am Ende des Gebäudes waren.

Auf jedem der Türme war eine solche Fahne. Das Wappen, was auf ihnen zu sehen war, war das Zeichen dieses Hauses. Es bestand aus einem liegenden Halbmond, zwei Wellen darunter und einer Muschel, die auf den Wellen ritt.

Lantyan. Das wohl geheimnisvollste Internat in den ganzen USA. Circa 300 Schüler und Schülerinnen beherbergte dieses Haus. Sie kamen von überall her – aus dem ganzen Land, aus Kanada und einige sogar aus Europa. Einen Platz in Lantyan zu bekommen, ist mit einer sehr langen Wartezeit verbunden. Und dann mussten auch schwierige Tests bestanden werden, bevor man hier einziehen kann. Die besten Lehrer unterrichteten hier in allen Zweigen.

Wissenschaft und Kunst waren die Schwerpunkte dieser Schule... aber das, was Lantyan so besonders machte, war sein großes Geheimnis, welches es nirgendwo anders in der Welt gab. Die meisten Schüler kannten es. Alle Lehrer kannten es. Aber es war so geheim, dass es die Regel gab, nicht öffentlich darüber zu sprechen.

Die Tanne, die in der Mitte des riesigen Schulhofs stand, bewegte sich im leichten, morgendlichen Sommerwind hin und her. Die Sonne strahlte, und eine Menge Kinder liefen herum. Sie spielten Fangen, Hinkelkästchen, Verstecken oder andere solcher Spiele. Manche spielten auch richtige Abenteuer nach.

Es war viertel nach Zehn an einem wunderschönen Sonntagmorgen Ende Juli, und die Kinder hatten Sommerferien. So wie das Leben hier pulsierte, konnte man sehen, dass sie es auch sehr genossen.

Vor den vielen Fenstern des Hauses, welches diesen lebendigen Schulhof umrandete, waren Blumenkästen. Die meisten Rollläden waren bereits offen, nur an einigen Fenstern waren sie noch verschlossen. Offenbar waren noch nicht alle Kinder wach.

In einem der Zimmer schreckte ein Mädchen plötzlich aus ihrem Schlaf auf. Sie hechtete hoch und setzte sich erschrocken auf. Ihr Atem ging schnell. Sie schien völlig außer Atem zu sein. Einige Minuten saß sie so da, dann streifte sie sich ihre schulterlangen, braunen Haare, die ihr ins Gesicht hingen, hinter die Ohren. Zitternd saß die etwa Dreizehnjährige im Bett.

Ein anderes etwa gleichaltriges Mädchen lag im Nachbarbett an der anderen Seite des Zimmers. Maulend drehte sie sich zu ihrer Zimmergenossin und rieb dabei ihre Augen vom Schlaf frei.

„Was ist los, Natalie?“, fragte sie mit einer noch sehr belegten Stimme.

Natalie zitterte noch immer. Ihre Augen waren weit offen, fast so als habe sie ein Gespenst gesehen. Ihr Atem schien sich nur langsam wieder zu beruhigen.

„Meine Güte, wie siehst du denn aus?“, krächzte Natalies Zimmerkollegin. „Dein Bett ist ja ganz nass. Und dein Nachthemd ganz durchgeschwitzt. Was ist denn passiert?“

„Ich weiß nicht, Sydney“, hauchte Natalie.

Sydney schüttelte den Kopf.

Das Zimmer war sehr schön eingerichtet. Es gab zwei Schränke, Regale, sehr schöne phantasievolle Bilder an der Wand, ein Fernsehgerät, einen Couchtisch mit zwei Sesseln und noch einen großen Schreibtisch, an den zwei Leute passten. Eine Türe führte zum Badezimmer, welches dem Raum angeschlossen war. Eine andere Türe führte hinaus in den Flur. Ein Hotelzimmer eines Standardhotels hätte nicht gemütlicher sein können als Sydneys und Natalies Quartier hier im Internat.

„Wie spät ist es eigentlich?“, wollte Sydney wissen, ohne damit zu rechnen, dass Natalie ihr diese Frage beantworten würde. Sie sah auf den kleinen Wecker auf ihrem Nachtschränkchen neben dem Bett. Er zeigte zwanzig nach zehn. „Oh, Mann“, stöhnte Sydney.

„Sydney, ich hatte einen ganz eigenartigen Traum“, begann Natalie dann, als sie sich etwas beruhigt hatte.

Sydney stand auf, schüttelte ihren Kopf mal eben kurz durch, streckte sich und ging dann zu Natalies Bett, wo sie sich auf die Kante setzte.

„Das war... total bizarr“, stammelte Natalie. „Ich hatte solche Angst.“

„So schlimm?“

„Ja.“ Natalie zitterte noch immer gewaltig, während Sydney ihr über die Schultern streichelte.

„Erzähl mal.“

Natalie dachte nach. „Da... da war dieser Hund. Nein, da war erst diese Straße“, stammelte sie leise. „Das war so eine einsame Landstraße. Es war richtig heiß. Ich konnte die Hitze wirklich fühlen. Ich glaube, ich war in irgendeiner Wüstengegend.“

„Nevada?“, überlegte Sydney.

Natalie schüttelte den Kopf. „Es muss Arizona gewesen sein. Ich weiß, dass ich ein T-Shirt anhatte, auf dem der Name Phoenix drauf stand. Das weiß ich ganz genau.“ Natalie überlegte einige Sekunden.

„Was ist dann passiert?“, wollte Sydney wissen. Interessiert sah sie ihre Freundin an.

„Da... da kam dann – nein, da war dann so ein Haus. Ich bin dann da rein – ich weiß auch nicht...“ Natalie zog ihre Bettdecke zurecht und klammerte sie in ihre Arme ein.

„Du bist ja völlig durcheinander“, stellte Sydney fest.

Natalie zitterte immer noch. Sydney legte einen Arm um sie.

„Natalie, du bist jetzt erst seit einem guten halben Jahr wieder zurück“, sagte sie ruhig. „Du hast ’ne Menge durchgemacht. Mensch, du hast vor einem halben Jahr erst entdeckt, wer du wirklich bist.“ Sydney schnaufte. „Lass dir Zeit, dich zu akklimatisieren.“

Natalie sah Sydney mit großen Augen an. „Da war ein Hund, ja genau“, sagte sie schließlich. „Und es kam ein Gewitter. Und dann verwandelte sich der Hund... in einen Jungen.“

„In einen Jungen?“

„Ja. So was hab ich noch nie gesehen. Da stand plötzlich ein Junge vor mir, der vorher ein Hund war.“

„Natalie – entschuldige, aber was soll daran so Angst einflößend sein?“ Sydney musste fast kichern.

„Der Junge sagte – also, er meinte, dass ich... ich könnte große Macht erhalten... wenn ich ihm meine Seele geben würde.“

Sydney schaute Natalie stumm an.

„Ich sollte ihm meine Seele geben, dann würden sich alle meine Wünsche erfüllen, hat er gesagt.“

„Und? Hast du?“, fragte Sydney.

Natalie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin standhaft geblieben.“

Sydney legte ihre Arme hinter ihren Kopf. „Und was hat er dann gemacht?“

„Er ist weggegangen“, meinte Natalie nachdenklich. „Ich glaube, er sah irgendwie traurig aus.“

Sydney schnaufte tief aus. „Ich kapier das nicht“, meinte sie dann. „Du hast über ein halbes Jahr in Naytnal verbracht und da die undenkbarsten Dinge erlebt. Du warst eine Zeit lang ein völlig anderes Wesen, weißt du noch? Bevor Kitty und Jojo euch dann befreit haben. Und jetzt hast du vor einem solchen Traum Angst?“ Sydney sah Natalie mit einem verwunderten Blick an. „Natalie, du bist ein Wesen vom Stern der Reiche. Wie kann dir ein solcher Traum was anhaben?“

„Ich weiß auch nicht“, stammelte Natalie. „Es war so unheimlich irgendwie.“

Es stimmte. Natalie wurde auf dem sagenumwobenen Stern der Reiche geboren. Sie war ein Kind dieser Welt, dessen einziger Zugang im Keller dieses geheimnisvollen Internats liegt. Erst vor etwa einem halben Jahr hat sie das selbst überhaupt erst erfahren, nachdem sie unter tragischen Umständen eine ganze Zeit lang als verschollen galt. Erst vor einem halben Jahr haben Kitty, die Kaiserin dieser anderen Welt, und Jojo, die stellvertretende Kaiserin, Natalie dort wieder gefunden. Sie war ein ganz anderes Wesen. Sie gehörte plötzlich zu einer völlig anderen Rasse, die sie aufgenommen hat. Erst ein Zauber konnte sie und ihre Gefolgen befreien. Natalie wurde wieder zu Natalie, und in einer dramatischen Reise durch die Zeit hat sie zusammen mit Kitty und Jojo und ihren Freunden erkannt, dass sie in dieser anderen Welt geboren wurde. Als Einjährige brachten ihre Eltern sie dann auf die Erde, und im Alter von neun Jahren kam Natalie dann schließlich in das Internat Lantyan, wo sich später der Kreis dann schloss, als sie und Sydney sich dann mit Kitty und Jojo anfreundeten. Neben Kittys Freund Dennis ist Natalie die Einzige aus diesem Internat, die in Naytnal geboren wurde.

„Natalie“, lächelte Sydney dann. „Komm, beruhig dich wieder. Ich bin sicher, das kommt daher, dass du vielleicht noch ein bisschen durcheinander bist.“

„Meinst du?“

„An diesem Traum ist nichts ungewöhnlich“, stellte Sydney fest. „Komm, wird Zeit, dass wir aufstehen.“

Sydney stand dann auf und huschte ins Bad. Und Natalie ließ sich wieder ins Bett fallen und ließ einen lauten Seufzer los.

Weil ja heute Sonntag war und sich die meisten Kinder draußen aufhielten, war es im großen Versammlungssaal im Erdgeschoss des Internatsgebäudes sehr ruhig. Nur eine Betreuerin lief dort herum und sortierte irgendwelche Platten für den Mittagstisch. Sie stapelte Teller und Gläser auf, faltete Servietten und verteilte Besteck.

Am Ende einer langen Tischreihe, von denen es hier zwölf Stück gab, saß ein Mädchen mit mittellangen, blonden, leicht gewellten Haaren. Sie stützte ihren Kopf auf ihrem Arm ab, den sie wiederum auf dem Tisch abstützte. Offenbar war sie vertieft in ein Buch, was sie vor sich liegen hatte.

Das Mädchen mochte vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Sie trug ein helles, ärmelloses Sommerkleid. An ihrem Arm hatte sie ein Freundschaftsband, welches mit allen möglichen Farben verziert war. Sie hatte zwei silberne Ohrringe an, und um ihren Hals hatte sie eine wunderschöne Kette hängen, mit einem noch schöneren Anhänger. Er sah so besonders aus, weil es dieses Muster sicherlich kein zweites Mal an einer Kette gab – diese liegende Mondsichel mit den zwei Wellen darunter, auf denen eine Muschel schwamm. Und dann war da dieser Stein hinter dem Muster, der glänzend zu leuchten schien. Und dann waren da noch diese beiden Federn, die aus dem Stein herausschauten. Welchen Wert wohl dieser ungewöhnliche Anhänger haben mochte?

Ein anderes Mädchen betrat den großen Raum und lief auf den Tisch zu, an dem das blonde Mädchen saß. Leise schlich sie sich von hinten heran. Sie war etwa 13 Jahre alt und hatte hellbraune, längere Haare, die sie zu einem niedlichen Zopf zusammengebunden hatte. Ihre an den Knien zerrissene Jeans fiel wegen ihrer tiefblauen Farbe auf, und auch ihr T-Shirt sah auffällig aus, wegen dem phantasievollen Bild, was auf seiner Front prangerte.

Vorsichtig stellte sich das Mädchen hinter das in sein Buch vertiefte Mädchen. Dann hob sie ihre Arme und kitzelte sie an den Rippen.

„Buh!“, rief sie laut.

Das blonde Mädchen schreckte auf. Sie fiel beinahe vom Stuhl. Dann drehte sie sich um.

„Mann, Jojo!“, fluchte sie genervt.

„Was ist?“, fragte Jojo, während sie sich neben das Mädchen setzte. „Kitty, was machst du hier? Ich suche dich schon seit Millionen Stunden.“

„Na, zu Hause war’s mir zu hektisch. Hier hab ich mehr Ruhe.“

„Ruhe? Wofür?“

Kitty sah Jojo mit einem gespielt fassungslosen Blick an. „Hallo? Nachhilfestunde?“, bemerkte sie knapp.

Jojo hielt sich die Hand vor ihren Mund. „Mist“, fluchte sie leise. „Hab ich ja ganz vergessen.“

„Um halb zwölf geht’s los“, half Kitty ihr wieder auf die Sprünge. „Wenn wir den Stoff nicht drauf haben, rastet Trent aus.“

Jojo rutschte auf ihrem Stuhl herum. „Den Kopf wird er uns sicher nicht abreißen.“

„Du hast nichts gelernt“, stellte Kitty resigniert fest.

Jojo grinste Kitty an.

„Jojo, ich hab keine Lust, nach den Ferien in eine andere Klasse zu gehen als du“, erläuterte Kitty. „Ich denke, dass ich die Nachprüfung bestehe. Aber wenn du so weiter machst, dann fällst du durch. Hast du Lust, die sechste Klasse zu wiederholen?“

Jojo schnaufte.

„Also“, meinte Kitty, während sie das Buch zurecht schob, so dass Jojo mit hineinsehen konnte. „Kunstgeschichte. Wann und wo lebte Monet?“

Jojo stützte ihren Kopf auf ihrem Arm ab und trampelte mit den Füßen.

„Na, gut“, meinte Kitty. „Wer war Monet?“

„Ein Maler“, antwortete Jojo.

„Und welcher künstlerischen Zeitepoche gehörte er an?“

Jojo schaute verlegen in das Buch hinein.

„Impressionismus oder Expressionismus?“, fragte Kitty.

Jojo streifte sich eine Strähne aus ihrem Gesicht.

„Sieh halt nach“, meinte Kitty dann und gab ihr das Buch.

Jojo vertiefte sich zugleich in ein Kapitel, in dem es um Monet und andere Maler des Impressionismus ging. Währenddessen holte Kitty einen Zettel aus einer Mappe hervor, die vor ihr lag, und notierte sich etwas, was sie gerade gelesen hat.

„He, Kitty“, meinte Jojo dann nach Minuten. „Hast du gewusst, dass ein Großteil dieser Maler erst nach ihrem Ableben berühmt geworden ist? Und dass man ihre Werke zu ihren Lebzeiten verpönt hatte?“

Kitty grinste. „Na, also, geht doch“, meinte sie dann gespielt ironisch.

Während Kitty sich dann ein anderes Buch aus ihrer Schultasche holte und begann, darin zu lesen, fing Jojo wieder an, mit den Füßen auf den Boden zu trampeln.

„Könntest du das bitte lassen? Das macht mich nervös“, meinte Kitty schließlich.

„Ich find das voll doof“, fluchte Jojo dann. „Heute ist Sonntag. Außerdem sind Ferien. Warum will Trent gerade heute diese Nachhilfestunde abhalten?“

„Er hat doch diese Vorlesungen in der Stadt. Dann ist er ab Dienstag völlig eingespannt. Außerdem ist morgen meine Fete.“

Jojo schnaufte.

„Gib dir wenigstens ein bisschen Mühe“, versuchte Kitty Jojo zu besänftigen.

Während Kitty und Jojo weiterhin schweigend in ihre Bücher vertieft waren – besser gesagt, Jojo war in Kittys Buch vertieft, denn ihr eigenes hatte sie ja nicht dabei – öffnete sich die große Eingangstüre des Saals und ein stattlicher Mann von etwa Ende dreißig betrat den Raum. Seine dunklen, kurzen Haare glänzten im Licht, welches durch die Fenster herein schien. Er hielt eine Brille in der Hand, die er während dem Laufen aufsetzte. Er sah gut aus – nicht zu schlank, aber auch nicht zu rundlich. Er war mittelgroß und trug legere, dennoch modische Klamotten. Langsam ging er auf den Tisch zu, an dem die beiden Mädchen saßen.

„He, ihr beiden“, meinte er. „Hier steckt ihr.“

„Hallo, Trent“, sagten Kitty und Jojo, als sie dann aufblickten.

Trent gesellte sich dann zu ihnen an den Tisch. „Wir können die Nachhilfestunde auch hier machen. Ich könnte verstehen, wenn ihr jetzt während der Ferien keine Klassenräume sehen wollt.“

„Gute Idee“, sagte Jojo. Sie bemühte sich, interessiert zu wirken, aber man konnte ihr ansehen, dass ihr das Ganze so gar nicht in den Kram passte.

„Kinder, ich mache das nicht, um euch zu ärgern, das wisst ihr“, begann Trent. „Ihr habt in den vergangenen zwei Jahren sehr viel in der Schule versäumt. Diese unvorhersehbaren Reisen nach Naytnal haben euch eine Menge verpassen lassen. Ich weiß ja, dass Naytnal wichtig ist. Aber die Schule ist auch wichtig.“

„Das wissen wir“, maulte Kitty.

„Aber warum muss es gerade heute sein?“, setzte Jojo hinterher.

Trent schüttelte nur den Kopf. Er wusste, dass Kitty und Jojo wussten, warum er in der nächsten Zeit nicht die Möglichkeit hatte, ihnen Nachhilfe zu geben. Und eigentlich nahmen sie seine Hilfe ja auch sehr dankbar an, auch wenn sie es jetzt nicht so sehr zeigten.

Trent war Kittys und Jojos Stiefvater. Im vergangenen Jahr heiratete er Leonie Linnore, die Mom von Kitty und Jojo. Es war ein schwieriger Start, den sie alle vier hatten, aber jetzt haben die beiden Mädchen Trent schon ganz schön ins Herz geschlossen. Besonders deswegen, weil sie ja wussten, dass auch er eine ganz besondere Bedeutung für Naytnal hatte, den sagenumwobenen Stern der Reiche. Denn auch er war – wie Kitty es jetzt ist – auch einmal ein Kaiser von Naytnal gewesen, in seiner frühen Kindheit. Und auch heute noch verfasst er wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Stern der Reiche befassen – allerdings ohne ihn direkt beim Namen zu nennen, denn das ist das oberste Gebot. Es war sicher kein Zufall, dass Trent vor anderthalb Jahren nach Lantyan kam, denn hier im Internat Lantyan in Colorado verbirgt sich im Keller die einzige Türe, die ab und an eine Verbindung zum Stern der Reiche herstellt.

„Fangen wir an“, sagte Trent schließlich. „Ich sehe, ihr habt gerade ein Kapitel über Monet vor euch.“ Und dann begann Trent zu referieren, über die Zeitspanne des Impressionismus, und darüber, wie man ihn erkennt. Dass seine Bilder im Gegensatz zum Expressionismus ganz natürlich aussehen, meistens Landschaften oder Stillleben repräsentierten, die nahezu wie eine Fotografie aussehen, während der Expressionismus – zu Deutsch: die Ausdrucksmalerei – eher abstrakt ist, was bedeutet, dass keine natürlichen Zusammenhänge sichtbar sind.

„Kann mir denn jemand von euch einen expressionistischen Maler nennen?“, wollte Trent wissen.

Schweigen.

„Jemanden aus Europa?“

„Ich mag die Bilder von Hans-Werner Sahm sehr“, meinte Kitty schließlich.

„Das sind diese Fantasy-Bilder, die du ja auch sammelst, nicht?“, meinte Trent. „Sahm ist ein moderner Maler. Seine Bilder sind bei der Jugend sehr beliebt. Was ich aber suche, ist jemanden aus der expressionistischen Zeit. Denkt mal an Spanien.“

„Wie hieß der noch?“, dachte Jojo nach.

„Dali“, sagte eine Mädchenstimme plötzlich hinter dem Tisch, an dem Trent, Kitty und Jojo saßen. „Salvador Dali. Der mit den Uhren.“

Sydney und Natalie, die gerade den Raum betraten, gesellten sich zu den Dreien.

„Ganz richtig, Sydney“, sagte Trent dann. „Dali ist bekannt dafür, dass in seinen expressionistischen Bildern immer wieder Uhren vorkommen. Ihr dürft gerne mitmachen, wenn ihr möchtet.“

„Klar“, meinte Sydney.

„Die Uhren, ja“, dämmerte es jetzt auch Jojo. „Ich hab diese Bilder schon hundertmal gesehen. Das sieht dann so aus, als würden die Uhren aus Wachs oder Honig sein und zerfließen. Sie tropfen dann da so runter... so ganz unnatürlich.“

„Genau das ist der Sinn des Expressionismus“, erklärte Trent.

Trent gab Kitty, Jojo, Sydney und Natalie dann auf, einen Absatz aus dem Kunstbuch zu lesen, während er sich dann eine Tasse Kaffee holte.

Während sie las, bemerkte Kitty, dass Natalie offenbar nicht sehr konzentriert bei der Sache war. Sie schien zu grübeln.

„Was ist mit dir, Natalie?“, wollte Kitty dann wissen.

Natalie schnaufte. „Ach, ich hatte so einen doofen Traum letzte Nacht“, erläuterte sie. Als Kitty nicht nachfragte, begann sie von sich aus zu berichten: „Weißt du, da war ich auf so einer einsamen Landstraße irgendwo in Arizona.“

„Arizona?“, flüsterte Kitty.

„Da war ein Hund“, erzählte Natalie weiter. „Und der verwandelte sich dann in einen Menschen.“ So gut sie sich erinnern konnte, berichtete Natalie Kitty in allen Einzelheiten über ihren Traum. Sie erzählte von dem Wirbelsturm, der dann auf einmal auftauchte. Sie erzählte, wie der Junge dann ihre Seele haben wollte, sie aber standhaft geblieben ist.

„Er wollte deine Seele haben?“, fragte Kitty.

„Ja“, sagte Natalie. „Er bot mir endlose Macht dafür.“

Kitty schüttelte den Kopf. „Warum kommt mir diese Geschichte so bekannt vor.“ Sie dachte nach. „Es ist fast so, als wenn ich auch schon mal so etwas erlebt hätte – oder jemanden kennen würde, der sich die Seelen von anderen nimmt, um damit...“ Ein Zucken durchstieß Kittys Körper plötzlich. Sie wusste nicht, woher es kam. Aber sie merkte in diesem Moment einen stechenden Schmerz, für den sie keine rationale Erklärung hatte.

„Was ist“, fragte Natalie, die das bemerkte.

„Ich... weiß nicht“, sagte Kitty. „Du, das hat mir ein bisschen Angst gemacht, was du da erzählt hast.“ Sie streifte sich durch ihre langen, blonden Haare. „Ich weiß nicht, warum. Ich hab ein total ungutes Gefühl dabei.“

„Kitty, jetzt hör doch auf, Natalie so verrückt zu machen“, ärgerte Sydney sich. „Sie ist erst seit einem halben Jahr wieder hier. Und du weißt ja, was sie durchgemacht hat.“

„Ist das schon ein halbes Jahr her?“, fragte Kitty erstaunt.

„Sieben Monate“, korrigierte Jojo.

„Sieben Monate“, flüsterte Kitty.

Sieben Monate und einige Tage sind seit der letzten Mission in Naytnal vergangen. Diese sieben Monate schienen auf Kitty wie eine magische Zahl zu wirken, aber im Moment fiel ihr nicht ein, warum dies so war.

In diesem Moment kam Trent wieder an, mit seiner Tasse Kaffee in der Hand. „So, Kinder, habt ihr das Kapitel gelesen?“

„Haben wir“, schwindelte Jojo.

„Nun gut“, sagte Trent, der mitbekommen hatte, dass die Kinder am Schwätzen waren statt zu lesen. „Dann wollen wir es mal für heute belassen. Geht raus spielen. Aber denkt daran, Kunstgeschichte ist ein sehr wichtiges Kapitel im Leben.“

„Danke“, wunderten sich die Kinder. Und damit Trent es sich nicht anders überlegen konnte, liefen sie schnell hinaus auf den Schulhof.

An der großen Tanne setzten sie sich dann auf die Bank, die den alten, unter Naturschutz stehenden Baum umrundete.

„Das war jetzt aber komisch, findet ihr nicht?“, bemerkte Jojo. „Dass er uns so blitzschnell rausgeschickt hat. Und uns gar nicht abgefragt hat.“

„Hm“, meinte Kitty.

„Ob er irgendwas von dem Gespräch mitbekam?“ Sydney grübelte.

„Hm“, machte Kitty wieder.

Kitty sah nachdenklich zu Boden. Irgendetwas beunruhigte sie. Gleichzeitig aber hatte sie so ein seltsames Gefühl im Bauch, fast genau so wie es war, als sie ihrem Freund Dennis zum ersten Mal begegnete.

Dennis... was er jetzt wohl tun mag? Seit sieben Monaten und einigen Tagen hatte Kitty ihn nicht mehr gesehen. Er musste nach der letzten Mission, die sie auf dem Stern der Reiche zu bewältigen hatten, dort bleiben. Er versprach ihr, einen Weg zu finden, damit er und Kitty sich wieder treffen könnten, eines Tages. Aber es würde eine Zeit lang dauern. Kitty musste Geduld haben. So hatte er ihr das damals geschrieben, in einem Brief, den sie über ihr Buch der tausend Zauber erhalten hatte. Sie musste eine ganze Zeit lang Geduld haben. Er wüsste den Tag schon, an dem sie wieder kommt, schrieb er, aber er dürfte ihr nicht sagen, wann dies wäre.

Kitty beschlich nunmehr dieses Zittern. Seltsamerweise musste sie gerade jetzt – mehr als sonst – an ihren Freund denken. Und gerade jetzt fehlte er ihr ungemein.

„Was ist, Kitty?“, fragte Jojo.

„Ach... nichts“, log Kitty. „Ist alles in Ordnung.“

Dann holte Jojo plötzlich etwas aus ihrer Tasche heraus. „Seht mal, was ich hier habe“, sagte sie. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Ball. Er schimmerte blau.

„Mein Tajuna-Ball“, stellte Kitty fest.

Jojo warf den Ball in die Luft. Und auf einmal... blieb der Ball mitten in der Luft stehen. Er gab ein leichtes Summen von sich. Nach wenigen Sekunden fiel er wieder zurück in Jojos Hände.

„Spielen wir eine Runde?“, fragte Jojo.

„Aber nicht hier“, sagte Kitty. „Hier ist es zu offensichtlich.“

Die Mädchen gingen dann zu den Tennisplätzen, wo es heute sehr leer war. Als sie sich zu einem Kreis formierten, gesellte sich plötzlich ein etwa fünfzehn- bis sechzehnjähriger Junge zu ihnen, der groß war und ein schnittiges T-Shirt trug.

„Jeremy!“, freute sich Jojo und hüpfte ihm gleich in die Arme.

„Hallo, Süße“, begrüßte Jeremy Jojo.

„Mann, ich hab dich seit Tagen nicht gesehen.“

„Ich war doch erst vorgestern bei dir“, meinte Jeremy grinsend. „Nein, im Ernst, ich muss ganz schön viel lernen.“

„Ja, wir hatten auch Nachhilfe heute“, erklärte Jojo. „Am Sonntag. Aber jetzt wollen wir ein bisschen mit dem Tajuna-Ball spielen. Spielst du mit?“

„Gerne.“

Jeremy war Jojos fester Freund. Schon seit einer ganzen Zeit lang. Jeremy wusste viel über Jojo. Natürlich wusste er auch, dass sie die Stellvertreterin der Kaiserin Naytnals war. Er wusste über ihre besondere Gabe, über die auch Kitty verfügte. Und er war sogar einer der ganz, ganz wenigen Menschen, die den Stern der Reiche schon mal betreten hatten. Auf der letzten Mission wollte es der Zufall so, dass Jeremy Kitty und Jojo zur Hilfe kam, als sie in Naytnal in Not gerieten. Aber Jojo weiß natürlich stets, dass das Geheimnis um den Stern der Reiche bei ihm in sicherer Hand ist.

Jojo warf den Ball als Erste Kitty zu. Geschlagene dreißig Sekunden blieb er in der Luft.

„Irre“, stammelte Kitty.

Dann war Kitty an der Reihe. Sie warf den Ball in Sydneys Richtung. Der Ball blieb zwanzig Sekunden bewegungslos in der Luft, bevor Sydney ihn fing.

Der Tajuna-Ball ist etwas ganz Besonderes. Er ist kein gewöhnlicher Ball. Man muss versuchen, ihn so lange in der Luft zu halten, wie es geht, bevor der Gegenüber ihn auffängt. Dieser Ball stammte von den Tajunas persönlich, die in Naytnal im sagenhaften Reich der schwebenden Inseln lebten. Dennis hatte ihn von ihnen erhalten, und er schenkte ihn Kitty. Manchmal spielten die Kinder damit, aber sie durften dies nie zu offensichtlich tun. Hier in Lantyan wussten zwar viele über den Stern der Reiche Bescheid, aber es schickte sich nicht, darüber zu reden oder seine Verbindung zu ihm zu offensichtlich zu zeigen. Und Kitty und Jojo genossen es abgesehen davon auch, hier in Lantyan zwei ganz normale Kinder zu sein – auch wenn einige Bewohner des Internats wussten, dass sie es nicht waren, als Kaiserin und Stellvertreterin der Kaiserin von Naytnal. Der Zauber, den Kitty und Jojo in sich trugen, war so besonders, dass er in Grunde geheim war. Nur ganz, ganz wenige auserwählte Leute wussten, dass Kitty und Jojo zaubern konnten.

Und während die Kinder so spielten, bemerkte keines von ihnen, dass hinter einer dichten Kiefer ein kleines Mädchen auf dem Boden saß, zusammengekauert, die Arme verschränkt. Ihren Kopf stützte sie auf ihre Arme. Ihre Augen blickten leer und traurig. Was hatte die Kleine bloß? Warum saß sie da, so alleine und hilflos?

Natalie warf den Ball Kitty zu, jedoch verfehlte er sie. Der Ball flog hinter einen dicken Baum. Kitty lächelte und lief los, den Ball zu holen.

Das kleine Mädchen, das sich hinter dem Baum versteckte, war vielleicht zehn Jahre alt. Sie hatte ein helles T-Shirt an, eine leicht angerissene Jeanshose und ein paar alte Turnschuhe, an denen die Schnürsenkel auf waren. Ihre langen, braunen Haare schimmerten in der Mittagssonne. Ihre rötlichen Strähnchen leuchteten sanft hindurch. Arm sah sie aus, die Kleine. Gar nicht typisch für ein Kind, dass auf das Internat Lantyan geht. Ob sie deswegen so alleine hier herumsaß?

Als das kleine Mädchen merkte, dass ihm der sonderbare Ball plötzlich vor die Füße flog, sah es auf. Sie sah den Ball eine Weile an, dann hob sie ihn auf. Sie betrachtete den Ball.

Plötzlich hörte sie jemanden kommen. Es raschelte in den Büschen, die um den Baum verteilt waren. Schnell ließ das Mädchen den Ball fallen. Dann versteckte sie sich eilig hinter einem Busch in der Nähe. Ihr Atem ging hastig. Und sie beobachtete, wie Kitty den Ball aufhob und dann wieder ging.

Kitty lief zurück zu Jojo, Sydney, Natalie und Jeremy. Die drei warteten schon ungeduldig. Gerade als Kitty den Ball zum Werfen ansetzen wollten, hob Jojo ihren Arm.

„He, wartet mal“, meinte sie schelmisch lächelnd. „Sollen wir nicht aufs Feld, ein bisschen zaubern gehen?“

Kitty schnaufte aus. „Jojo, du weißt, dass das verboten ist. Dann bekommen wir wieder Ärger mit Mom und Trent.“

„Sie müssen’s ja nicht erfahren“, grinste Jojo. „Komm. Nur ein bisschen. Heute ist so ein schöner Tag.“

Kitty schüttelte ihren Kopf.

„Und was zaubern wir?“, fragte Sydney dann.

„Ich hab da schon ’ne Idee“, meinte Jojo. „Kommt mit.“

Und die Kinder folgten Jojo auf das nahe gelegene Feld. Hinter den Bäumen konnte man es nicht sehr überblicken, und so fühlten Kitty, Jojo, Jeremy, Sydney und Natalie sich hier ungestört.

Als sie ankamen, entdeckte Kitty plötzlich eine große Burg, die vorher noch nicht da war. Ein Turm in der Mitte ragte heraus. Ringsum waren hohe Mauern, auf denen viele Gänge waren. Die Burg sah original aus wie aus dem Mittelalter transponiert.

„Jojo, was machst du da?“, fluchte Kitty genervt.

„Da fehlt noch was“, ergänzte Jojo.

Und dann hob sie ihren Arm. Sie sagte einen Zauberspruch auf, der in etwa so ging: „Llomba takara numba’sara“, und dann wurde die ganze Burg plötzlich von einem Nebel eingehüllt. Die Sonne verschwand hinter dem weißen Schimmer, den sie nicht durchdringen konnte. Es kühlte merklich ab, und es wurde dunkler, fast so wie an einem frühen Morgen irgendwann im zwölften Jahrhundert.

Und niemand bemerkte, dass das kleine, traurige Mädchen die Kinder verfolgt hatte. Hinter einem dicken Busch hielt sie sich versteckt und beobachtete, was Kitty, Jojo, Sydney, Natalie und Jeremy machten.

Mit einem Mal entstanden Ritter in silbernen Rüstungen auf den Gängen der Burg. Sie gossen schwarzes Pech aus und schossen mit seltsamen Kanonen.

Ein Tor aus dickem Eisen bildete sich zeitgleich mit einem Burggraben, der die Burg umrundete. Das Tor wurde heruntergelassen.

Und in diesem Moment bekamen Kitty, Jojo, Jeremy, Sydney und Natalie ebenfalls Ritterrüstungen an.

„Das nennst du ein bisschen zaubern?“, beschwerte sich Kitty.

Aber Jojo reagierte nicht. „Wir müssen jetzt die Burg einnehmen. Der Feind ist schon sehr schwach, und er hat nur diese Kanonen, die in der Luft verpuffen.“

Es stimmte. Wenn sie mit den Waffen schossen, verpufften die Kugeln in der Luft. Keine traf den Boden.

„Sie wissen eben nicht, dass wir zaubern können“, spielte Kitty nun das Spiel mit.

„Also, los!“, meinte Jojo.

Und dann betraten Kitty, Jojo, Sydney, Natalie und Jeremy die Brücke, die in den Burghof hineinführte.

Unerkannt folgte ihnen das kleine Mädchen, das sie die ganze Zeit beobachtet hatte.

Im Hof kam der König der Burg an. Er war groß, sah sehr stark aus. Aber sein Blick war ängstlich, und er schien zu zittern.

„Ergib dich!“, rief Jojo aus. „Gegen unsere Macht kommst du nicht an. Wir haben deine Burg vereinnahmt.“

Der König zuckte dann ein Schwert, welches er plötzlich in der Hand hatte. „Zuerst müsst Ihr mit mir einen Zweikampf bestehen“, sagte er. „Wenn du ihn bestehst, gehört meine Burg Euch.“

„Nun gut“, sagte Jojo. „So sei es.“

Und dann zauberte sich Jojo auch ein Schwert. Sie hielt es in die Höhe. Als der König dann auf sie zukam, berührte sein Schwert das ihre, und der Kampf begann.

Jojo schlug sich wacker. Jeden Angriff des Königs konnte sie wunderbar abwehren. Der König schien wirklich sehr geschwächt zu sein.

Jojo hüpfte um den König herum. Er setzte wieder an, ihr das Schwert in die Brust zu rammen, aber Jojo riss sein Schwert dann zu Boden.

Eilig hob der König seine Waffe wieder auf.

Jojo versteckte sich hinter ihm. Doch er bemerkte es. Blitzschnell stieß er Jojo zu Boden und hielt sein Schwert über sie.

Und das kleine Mädchen, die unerkannt hinter einer Mauer stand, erschreckte sich dabei. Schnell sprang sie auf. Sie hob ihre Hände in die Höhe, und der König stand mit einem Mal nur in ein dreckiges Laken gehüllt vor Kitty, Jojo, Jeremy, Sydney und Natalie.

„Gut gemacht, Kitty“, lobte Jojo ihre Schwester. Sie hob ihr Schwert in die Höhe und sagte zum König: „Es ist vorbei. Ergib dich.“

„So sei es“, sagte der König resigniert. „Die Burg ist Euer.“

Und dann zog er sich zurück. Ebenso zogen sich seine Gefolgen zurück. Die Kanonenschläge verstummten, die Gänge wurden leer.

„Jojo, das war ich aber nicht“, meinte Kitty dann.

Jojo drehte sich zu Kitty und schaute sie fragenden Blickes an.

Kitty zuckte mit den Schultern.

Und dann raschelte es plötzlich hinter ihr. Kitty drehte sich um.

Und dann stand da auf einmal das kleine, traurige Mädchen, das Kitty, Jojo und die anderen Kinder heimlich beobachtet hatte.

„Hannah“, flüsterte Kitty.

Schnell sprach Kitty einen Zauberspruch, und die Burg mit allem drum herum verschwand wieder. Der Nebel lichtete sich, und die Sonne strahlte wieder in ihrem glänzenden Mittagsschein. Und die Wärme umhüllte sie und ihre Freunde wieder.

Kitty sah Hannah an und wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

„Ihr könnt ja wirklich zaubern“, sagte Hannah ganz leise. Es schien, als traute sie sich nicht recht, Kitty oder Jojo anzusehen. Verschämt hielt sie ihren Kopf gesenkt.

„Du hast uns erwischt“, meinte Jojo dann. „He, Hannah, schön dich wiederzusehen.“

Kitty, Jojo, Hannah, Sydney, Natalie und Jeremy setzten sich ins Gras.

„Wir haben dich schon seit Wochen vermisst“, sagte Kitty dann, als sie sich wieder fing. „Wo warst du so lange?“

Hannah zuckte mit den Schultern.

„Wir sind öfters bei dir vorbeigegangen und haben geklopft. Aber deine Zimmertüre war zu, und auf dem Hof haben wir dich nicht gefunden“, erklärte Jojo. „Geht’s dir gut?“

Hannah schüttelte ihren Kopf.

„Danke, dass du mich vor dem König gerettet hast“, sagte Jojo dann leise. „Ich bin froh, dass du es noch kannst.“

Hannah blickte Jojo fragend an.

„Das warst du doch, das eben?“, wollte Jojo wissen.

Sydney schaute fragend. „Es stimmt tatsächlich“, erkannte sie. „Die Kleine kann auch zaubern.“

„Ja“, sagte Kitty. „Aber das ist ein großes Geheimnis.“

„Schon kapiert“, sagte Natalie. „Wir halten dicht.“

Kitty wusste, dass Hannah zaubern konnte. Vor einem halben Jahr ist Hannah nach Lantyan gekommen und hatte Kitty aus einer sehr brenzligen Situation geholfen, ja, ihr das Leben sogar gerettet. Hannah, die sehr alleine war und niemanden hatte, freundete sich daraufhin ein bisschen mit Kitty und Jojo an. Manchmal besuchte sie sie auch. Aber seit Wochen schon kam sie nicht mehr.

„Hannah, wo warst du denn die ganze Zeit“, fragte Kitty dann ruhig.

Hannah schaute traurig. „Ich hatte keine Zeit“, meinte sie dann.

Und plötzlich fing sie an zu weinen. Die kleine Hannah weinte und weinte, und Kitty nahm sie sanft in den Arm.

„Du denkst an deine Eltern, nicht wahr?“, sagte Kitty leise.

Hannah nickte. „Es ist so ungerecht“, hauchte sie kaum hörbar. Sie schluchzte. „Sie hatten selbst fast nichts. Und das Bisschen, was sie hatten, brachten sie zu den noch Ärmeren nach Afrika“, heulte sie. „Mit dem Frachter sind sie übergesetzt, als Matrosen. Als Hilfsarbeiter. So haben sie die Überfahrt bezahlt. Aber vor der Rückfahrt...“ Hannah weinte bitterlich.

Kitty und Jojo kannten Hannahs traurige Geschichte. Hannahs Eltern hatten mehrere dieser Fahrten nach Afrika unternommen. Mit den wenigen Mitteln die sie hatten heuerten sie auf Frachtern an, um ihre Hilfsgüter, die sie zuvor sammelten, nach Afrika zu bringen. Im letzten Jahr steckten sich die Eltern mit einer seltenen Krankheit an und starben noch vor Ort. Hannahs Eltern hatten diese Krankheit nicht überlebt. In einem Kinderheim, in das Hannah dann gesteckt wurde, erkannte man ihre seltsamen Kräfte und wollte sie dann nicht mehr dort haben. Lantyan hatte Hannah dann zu Weihnachten vergangenes Jahr aufgenommen. Schon von Anbeginn an, seit Hannah hier war, entstand eine besondere Beziehung zwischen ihr und Kitty. Diejenigen, die Hannahs Geheimnis kennen, wissen auch, warum dies so war. Die Freundschaft zu Kitty und Jojo half Hannah auch ein wenig über ihre Trauer hinweg. Aber sie war noch immer sehr alleine, sehr traurig.

Leise weinte Hannah, angelehnt an Kittys starke Schulter.

Und mitfühlend hielt Jojo ihre Hand

„Du bist nicht alleine, Hannah“, flüsterte Kitty. „Siehst du, wir sind alle da.“

„Wenn wir doch nur was tun könnten“, hauchte Sydney traurig.

„Die arme Kleine“, sagte Natalie.

„Wir sind alle bei dir“, flüsterte Jeremy, während er Hannah über ihr Köpfchen streichelte.

„Sie hätten es mir geglaubt“, stotterte Hannah dann verweint. „Meine Eltern hätten es mir geglaubt.“

Die Kinder sahen Hannah schweigend an.

„Was hätten sie dir geglaubt?“, fragte Kitty schließlich.

Hannah schniefte, während sie sich mit dem Handrücken den Mund und die Nase abwischte. „Ich wollte nicht mehr raus in den letzten Wochen“, begann Hannah. „Ich hab mich verschlossen. Sie haben gesagt, ich darf im Zimmer bleiben, wenn ich aber lernen würde. Und ein Junge aus meiner Klasse brachte mir jeden Tag was zu lernen. Ich hab mich ein bisschen mit ihm angefreundet. Er hat mich auch in den Ferien öfters besucht.“

„Das ist doch schön“, meinte Jojo. „Ich freu mich, dass neue Freunde gefunden hast.“

Hannah schniefte.

„Du hast nie von ihm erzählt“, hakte Kitty nach.

„Ich hatte Angst, dass er nicht wirklich ist“, hauchte Hannah schließlich. „Ich hatte Angst, dass er am Ende nur ein erfundener Freund ist. Aber er ging ja in meine Klasse. River Binks. So hieß er.“

Kitty spürte sofort, dass etwas nicht stimmt. „Was ist mit ihm geschehen?“, fragte sie dann.

„Als er plötzlich nicht mehr kam, hab ich mich heute Morgen doch wieder rausgetraut, weil ich wissen wollte, wo er ist“, erklärte Hannah. „Ich ging zu Templeton und fragte ihn, ob er krank sei.“ Hannah legte ihren Kopf auf ihre Arme, die sie verschränkt über ihre Knie hielt.

Kitty sah Hannah fragend an.

„Er sagte, es habe hier niemals einen River Binks gegeben“, hauchte Hannah dann. „Aber er war da. Er ging jeden Tag mit mir zur Schule. Er besuchte mich in meinem Zimmer und brachte mir Aufgaben. Ich habe ihn nicht erfunden. Wirklich nicht.“ Hannah sah Kitty an.

„Das ist ja gespenstisch“, hauchte Jojo erschrocken.

„Wir glauben dir, Hannah“, sagte Kitty dann. „Wir sind deine Freunde. Auf uns kannst du zählen.“

„Er ist einfach verschwunden?“, hakte Sydney nach.

Hannah nickte.

„Vielleicht ist er abgehauen“, rätselte Jeremy. „Aber das würde mich wundern, wenn hier einer abhaut.“

„Er ist spurlos verschwunden“, sagte Hannah.

Kitty überlegte. „Wenn er abgehauen wäre, dann würde Templeton doch von ihm wissen. Aber er weiß offenbar nicht, dass es hier in Lantyan einen River Binks gegeben hat.“

„Sehr mysteriös“, stammelte Natalie.

„Das schreit ja geradezu nach einem neuen Fall“, meinte Jojo. „Da ist unser detektivischer Spürsinn gefragt.“

„Also noch mal von vorne“, sagte Kitty. „Da gibt es einen Jungen, der auf den Namen River Binks hört. Er ging in Hannahs Klasse. Und jetzt... weiß Templeton plötzlich nicht mehr, dass dieser Junge hier in Lantyan war. Hannah, hast du schon andere Kinder aus deiner Klasse gefragt?“

Hannah nickte. „Zwei Mädchen hab ich gefragt. Aber sie sagen, sie kennen ihn nicht. Dabei saß er neben der Einen von ihnen. Das weiß ich genau.“

Kitty schnaufte aus. „Hannah, du kannst sicher sein, dass wir dir glauben. Diesen River hat es gegeben. Und wir werden jetzt herausfinden, was mit ihm geschehen ist.“

Hannah blickte Kitty erwartungsvoll an. „Ehrlich? Ihr glaubt mir?“

Kitty nickte.

Ein ganz zartes Lächeln huschte dann über Hannahs Gesicht.

„River Binks... River Binks...“, murmelte Jeremy. „Natürlich“, sagte er plötzlich. „Letzte Woche hab ich mit ihm zusammen Fußball gespielt. Er war in meiner Mannschaft. Hannah – ist das so ein Kleiner, etwas rundlich, aber sehr sportlich? Mit blonden, schulterlangen Haaren und blauen Augen?“

„Ja“, sagte Hannah. „Genau das ist er.“

„Ich kenne ihn“, sagte Jeremy. „Ich kann mich an ihn erinnern. Er hatte mit seinem 2:1 unser Team in Führung geschossen. Spielt echt Klasse, der Kleine.“

„Dann hab ich ihn mir nicht eingebildet“, sagte Hannah beruhigt.

„Natürlich nicht“, meinte Kitty. „Jetzt wissen wir genau, dass es ihn wirklich gegeben hat.“

Jojo stand auf und lief hin und her. „Und was machen wir jetzt?“

Kitty dachte nach. „Jojo und Jeremy, wir gehen am besten noch mal zu Templeton. Und wenn er wieder nichts weiß, klauen wir uns das Klassenbuch von Hannahs Klasse. Und Sydney und Natalie, ihr sucht mit Hannah in den Schlafräumen nach seinem Zimmer, okay?“

„Prima“, sagte Sydney. „Komm, Hannah.“

Die Kinder standen auf.

„Heute Abend in der großen Halle“, sagte Kitty dann.

Und dann liefen sie los.

Templetons Büro lag in den mittleren Etagen des rechten Turms. Kitty, Jojo und Jeremy mussten durch das ganze Schulgebäude, um dorthin zu gelangen. Es war nicht sehr voll, da die meisten Leute ja bei dem schönen Wetter draußen waren. Aber auf Templeton konnte man sich eigentlich verlassen. Er war immer am Arbeiten, auch während der Ferien.

Als Kitty, Jojo und Jeremy schließlich an seinem Büro ankamen, klopften sie zaghaft an die Türe.

„Was sagen wir denn?“, meinte Jojo dann.

Kitty zuckte mit den Schultern.

„Herein!“, rief es von drinnen.

Und Kitty öffnete dann die Türe.

Ein älterer Mann mit grau melierten Haaren saß hinter einem großen Holzschreibtisch, auf dem lauter Akten aufgetürmt waren, in die er offenbar vertieft war. Der Mann trug einen schicken Anzug. Als die Kinder sich vor seinen Tisch stellten, schaute er auf.

„Guten Tag, Mr. Templeton“, sagte Kitty artig.

„Kitty Linnore“, sagte Templeton. „Was führt dich und deine Freunde zu mir, in den Ferien? Solltet ihr nicht draußen sein und spielen?“

„Haben wir schon“, meinte Kitty dann, während Jojo sie leicht auf den Kopf haute.

„Wie geht’s Trent und eurer Mom?“, erkundigte sich Templeton.

„Gut“, sagte Jojo. „Trent hat uns heute Morgen Nachhilfe in Kunstgeschichte gegeben.“

„Sehr löblich“, sagte Templeton. „Kann ich etwas Bestimmtes für euch tun?“

„Wie kommt es eigentlich, dass Sie in den Ferien so viel arbeiten?“, fragte Jojo schließlich unverblümt, wofür sie sich einen scharfen Seitenblick von Kitty einfangen musste.

„Nun, es gibt immer viel zu tun. Die Versetzungen stehen an.“

„Wir haben eine Frage“, rückte Kitty dann heraus.

Templeton sah sie an. „Und welche?“

„Kennen sie einen Jungen namens River Binks?“, fragte Kitty dann. „Er muss in die Klasse 4 Yanvar gehen.“

„Seltsam“, sagte Templeton. „Gerade heute Morgen fragte mich schon ein Mädchen nach ihm. Mir ist kein River Binks geläufig. Wie kommt ihr auf den Namen?“

Kitty zuckte verschämt mit den Schultern.

„Ich sehe gerne mal in den Akten nach“, sagte Templeton.

Daraufhin holte er eine Akte hervor und ging sie Blatt für Blatt durch. „Also, in die Klasse 4 Yanvar geht kein River Binks. Den gab es dort nie. Und bei den Neuzugängen und Abgängen ist auch niemand mit diesem Namen verzeichnet.“

Kitty zog Jojo am Ärmel. „Danke trotzdem“, sagte sie zu Templeton.

Dann liefen die Kinder wieder in den Flur hinaus und stapften die Treppe herunter in die Eingangshalle.

„Und jetzt?“, meinte Jojo.

Kitty lehnte sich an die Wand. „Also – Templeton weiß tatsächlich nichts von ihm.“

„Fragen wir Mom“, hatte Jojo plötzlich einen Geistesblitz. „Sie ist die Direktorin. Sie müsste es wissen.“

„Gute Idee“, sagte Kitty.

Und dann gingen Kitty und Jojo mit Jeremy aus dem Hauptgebäude hinaus. Auf dem Hof schauten sie noch mal nach einem etwa zehnjährigen, blonden Jungen, so wie Jeremy ihn beschrieben hatte. Aber bei so vielen Kindern war es nicht möglich, genau zu schauen.

Es gab drei kleine Häuser, die dem Internatskomplex angehörten. Sie lagen zwischen den Tennisplätzen und dem Hauptgebäude. Eines war nur eine Etage hoch und hatte einen kleinen Garten, der eingezäunt war. Darin lebte der Hausmeister. Im zweiten Haus wohnte Templeton. Es hatte zwei Etagen – wie auch das dritte Haus, in dem Leonie Linnore mit ihrem Mann Trent und ihren Kindern Kitty und Jojo wohnten.

Das Haus von Kitty und Jojo glich einer Berghütte, wie man sie etwa aus Österreich kennt. Auffällig waren die weißen Fensterläden, die sehr große Terrasse und die Blumenkästen an den Fenstern.

Eine Frau stand gerade auf besagter Terrasse auf einer Leiter. Sie hatte ein hübsches, oranges Sommerkleid an, was ihre mittellangen, blonden Haare zur Geltung brachte. Mit viel Mühe versuchte sie gerade, eine Lichterkette an der Brüstung anzubringen.

„Hi, Mom“, sagte Kitty.

„Hi, Mrs. Linnore“, grüßte Jeremy die Frau.

„Hallo, Mom“, begrüßte auch Jojo ihre Mom.

Leonie wackelte etwas. Mit viel Kraft hielt sie sich an der Brüstung fest.

„Na, Kinder“, rief sie ihren Kindern zu.