Der Stoff, aus dem die Helden sind - Jürgen Kalwa - E-Book

Der Stoff, aus dem die Helden sind E-Book

Jürgen Kalwa

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Beschreibung

Man kennt die Namen und ihre Triumphe. Was man oft nicht weiß: Wieviel Einsatz und mentale Stärke stecken eigentlich dahinter? Man wird emotional mitgerissen, wenn sie Titel und Trophäen gewinnen. Aber was man gewöhnlich nicht nachvollziehen kann: Wie werden Athleten zu lebenden Legenden, deren Geschichten noch Generationen später faszinieren? Und weshalb verehren wir sie überhaupt, wenn sich bei großen Skandalen immer wieder offenbart, dass sie doch nur Menschen sind wie wir? Dieser Sammelband enthält die Antworten auf solche – und andere – Fragen und zeichnet auf eine sehr persönliche Weise eine ungewöhnliche Archäologie des Sports von heute, aufgeblättert in 33 Reportagen, Essays und Interviews in all ihren Fasern, Farben und Facetten. Den Part der Helden spielen: JOHN CARLOS und TOMMIE SMITH STEFFI GRAF und ANDRE AGASSI VENUS und SERENA WILLIAMS DIRK NOWITZKI und MICHAEL JORDAN TIGER WOODS und BERNHARD LANGER MUHAMMAD ALI und FLOYD MAYWEATHER und viele andere Der Stoff, um den es dabei geht: AGONIE und ARBEITSETHOS DOPING und DURCHHALTEVERMÖGEN GELD und GEBETE NARZISSMUS und NOSTALGIE PHILOSOPHIE und POLITISCHE HALTUNG TEAMGEIST und THEATRALIK

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Jürgen Kalwa

DER STOFF, AUS DEM DIE HELDEN SIND

33 Sportreportagen, Essays und Interviews

Arete Verlag Hildesheim

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2022 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen.

Umschlagillustration: Peter Cusack

Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Druck und Verarbeitung: CPI, Leck

ISBN 978-3-96423-078-2

eISBN 978-3-96423-079-9

Inhalt

VORWORT

KAPITEL 1

WERKSTOFF – DER STOFF, AUS DEM DIE LEGENDEN SIND

THE SPIRIT

Das Koordinatensystem einer Sportwelt, die Helden produziert, weil sie Helden braucht.

DENKMALPFLEGE

Seit hundert Jahren glorifizieren Amerikas Ruhmeshallen den Sport mit Wallfahrtsorten für nostalgiebeseelte Fans. Allen voran: die Baseball Hall of Fame in Cooperstown.

TOTE LEBEN LÄNGER

Erst ein Gericht beendete das Tauziehen um den Jahrhundert-Athleten Jim Thorpe. So blieben seine sterblichen Überreste in der Stadt, die seinen Namen trägt. Ein Ortstermin.

MIRACLE ON ICE

Der Sieg der amerikanischen Eishockey-Amateure bei den Winterspielen von Lake Placid über die sowjetischen Favoriten gilt als der spektakulärste Außenseiter-Sieg aller Zeiten. Buzz Schneider war nicht nur dabei, sondern mittendrin.

ALLES NUR THEATER?

Amerikas berühmtester Football-Trainer war der Verfechter eines erbarmungslosen Körperkults. Ein Typ wie geschaffen für den Broadway.

VORNE WEG

Das Gelbe Trikot der Tour de France ist das berühmteste Stück Stoff im internationalen Sport. Ein knallfarbenes Hemd mit einer scheckigen Geschichte.

KAPITEL 2

FARBSTOFF – DIE DUNKLE SEITE

MIT GEBALLTER FAUST

Einst geächtet, heute geachtet: Tommie Smith und John Carlos waren die Protagonisten der symbolträchtigen Black-Power-Demonstration von Mexico City 1968. Zwei Interviews mit zwei bemerkenswerten Figuren der Sportgeschichte.

BLACKBALLED

Sein Hymnenprotest sollte auf die Brutalität der Polizei gegenüber seinen schwarzen Landsleuten aufmerksam machen. Statt dessen wurde Colin Kaepernick selbst zur Zielscheibe.

RICHARD LÖWENHERZ

Erfolg im Sport hat gewöhnlich viele Väter. In der Tennisfamilie Williams hatte er nur einen – einen kauzigen Selfmade-Man und Medien-Clown, der gleich zwei Töchter nacheinander an die Weltspitze brachte.

EIN MENSCH AUS PUREM GUTEN WILLEN

Die seltsame Verehrung für den stummen und zitternden Muhammed Ali. Versuch einer Erklärung.

KAPITEL 3

REIZSTOFF – FRAUEN-POWER

„THE CHAMP IS A VAMP“

Für Frauen im Sport gibt es mehr Entfaltungsmöglichkeiten denn je. Die werden jedoch von einer Wertewelt bestimmt, in der Optik oft genug mehr zählt als Leistung.

HERAUS AUS DEM WINDSCHATTEN

Eine Zeit lang war die IndyCar-Serie das perfekte Laboratorium für Wettbewerbsformate, in denen Frauen gegen Männer antreten. Dokument einer Spurensuche.

TIEFENRAUSCH

Obwohl eine Ausnahmeerscheinung in der Männerdomäne der Freitaucher hat Tanya Streeter nie vergessen, was beim Härtetest im warmen Meerwasser alles auf dem Spiel steht: Leben und Tod.

KAPITEL 4

TREIBSTOFF – DAS MENTALE SPIEL

EIN ESKIMO KENNT KEINEN SCHMERZ

Die Ureinwohner von Alaska haben eigene Olympischen Spiele. Mit Sportarten, in denen sich das Leben in einer der härtesten Klimazonen unseres Planeten widerspiegelt.

LUST AUF KARACHO

Für die ersten Mountain-Bike-Helden war die Kamikaze-Abfahrt von Mammoth Mountain die ideale Projektionsfläche für ein schwieriges Projekt: sich so konsequent wie möglich von alten Konventionen zu verabschieden.

AUS EINEM ANDEREN HOLZ

Einblicke in die innere Beschaffenheit des Golfprofis Tiger Woods.

ZUNGE AN DER WAAGE

Wie Andre Agassi den Aufschlag von Boris Becker entschlüsselte, gehört zu den faszinierendsten Fallbeispielen psychologischer Kriegsführung im Sport.

GLAUBENSSACHE

Ein Dialog mit Golfprofi Bernhard Langer über Religion, die Bibel und deren Bezug zum Spitzensport von heute.

NACH 83 STUNDEN OHNE SCHLAF FAHREN DIE MARSMÄNNCHEN MIT

Unterwegs mit dem Race Across America, dem härtesten Radrennen der Welt.

KAPITEL 5

SCHMIERSTOFF – GESCHÄFT IST GESCHÄFT

DOLLAR GEHT’S NIMMER

Kein Sportler besitzt ein derart unverstelltes Verhältnis zum Geld, wie der Boxer Floyd Money Mayweather.

DAS TRENDBRETT

Warum sich Snowboarding immer wieder neu erfinden muss, um einer Generation nach der anderen den coolen Lebenstraum von Freiheit und Abenteuer zu verkaufen.

WO NUR NOCH ZAHLEN ZÄHLEN

Der exzessive Umgang mit statistischem Datenmaterial ist zu einem eigenen Sport geworden. Nicht nur Nerds erliegen der Faszination, ein unkalkulierbares Geschehen berechenbar zu machen.

DIE GRÖSSTE PARTY DER WELT

In Amerika gibt es zwei bedeutende säkulare Feiertage: Thanksgiving Day und Super Bowl Sunday.

KAPITEL 6

SCHADSTOFF – KRIMINAL-TANGO

ZUR STRECKE GEBRACHT

Niemand hat einen größeren Anteil am Sturz von Lance Armstrong. Doch deshalb hält niemand Floyd Landis für einen Helden. Am wenigsten er selbst.

„WIE VIELE KLEINE AUTOUNFÄLLE“

Teure Schadenersatzprozesse haben dafür gesorgt, dass die Langzeitrisiken von Kopfverletzungen in Sportarten wie Football, Eishockey und Fußball ernst genommen werden.

JANE DOE VS. DAS ESTABLISHMENT

Der Fall der amerikanischen Turnerinnen demonstriert nachdrücklich, wie schwer der Kampf gegen sexuellen Missbrauch im Sport ist. Verbände und Funktionäre schützen lieber die Täter als die Opfer.

NARZISSTEN UNTER DER ZIRKUSKUPPEL – RATLOS

Wenn große Stars vom Sockel zu stürzen drohen, sehen sie oft nur noch einen Ausweg aus dem Dilemma: Gestehen, um Vergebung bitten, Reue zeigen. Die Flucht nach vorn kommt allerdings oft zu spät.

KAPITEL 7

BITTERSTOFF – MANCHMAL IST DER WEG DAS ZIEL

IM CAMP

Ein Box-Weltmeister braucht gute Reflexe, ein Gefühl für Balance und Tempo sowie eine Vision. Anders ist die Quälerei vor dem Kampf nicht auszuhalten.

DER TRAKTOR-FAKTOR

Dem Basketball-Genie Don Nelson ist in seiner Karriere so mancher Coup gelungen. Darunter: die Verpflichtung von Dirk Nowitzki. Eines war ihm jedoch nie vergönnt – der Gewinn einer Meisterschaft.

MAGIER AUS EINER FERNEN WELT

Einen Sommer lang erfüllte sich Michael Jordan einen Kindheitstraum. Er wurde Baseballprofi.

DAS VERGESSENE GENIE

Er mag der beste Stürmer sein, den das Mutterland des Fußballs hervorgebracht hat. Doch er stand im wichtigsten Spiel seiner Karriere nicht auf dem Platz. So wurde Jimmy Greaves zum Paradebeispiel für die Schattenseiten eines gnadenlosen Heldenkults.

WIE IN EINEM SCHLECHTEN FILM

Es gibt nur einen Augenzeugenbericht vom letzten offiziellen Spiel in der Tenniskarriere von Steffi Graf. Diesen.

EPILOG

BEND IT LIKE HEIDEGGER

Sinnsuche mit Hilfe von Sport. Das geht durchaus. Ein Gespräch mit einem Philosophen, der so tief im Fußball schürft wie nur wenige.

DER AUTOR

VORWORT

Der Tag war grau, fast zu grau. Aus dicken Wolken nieselte feuchter Schnee und verdeckte die hohen Berge hinter einem dichten Schleier. Die Stimmung schien alles in Watte zu packen.

Die Geräusche.

Das Rot der schweren Schlitten neben dem kleinen Starterhäuschen.

Die innere Anspannung.

Aber vielleicht sollte ich zuerst von den Schlitten erzählen, diesen knapp zwei Meter langen Metallgehäusen, die wie große, aufgebogene Cola-Dosen aussahen. Man setzte sich nicht einfach auf sie. Man schlängelte sich hinein und legte sich auf den Rücken. Dann stemmte man die Füße gegen ein schräg gestelltes Brett und verstaute den von einem Helm geschützten Kopf unter einem dünnen Überrollbügel aus Stahl.

Diese Schlitten gehörten auf der Bob- und Rodelbahn von Park City in den Jahren vor den Olympischen Spielen von 2002 zum Inventar. Man hatte ihnen den Namen Ice Rockets gegeben. Das klang werbewirksam und gefährlich, aber es führte in die Irre. Diese Eisraketen konnten nicht fliegen. Die Parallele existierte in einer anderen Dimension: Einmal angeschoben schossen sie steuerlos die spiegelglatte Rinne hinunter.

Die eigentliche Arbeit leistete die Schwerkraft. Sie beschleunigte das Vehikel auf 80 Stundenkilometer. Der Rest fand im Kopf des Reisenden statt und prägte sich dort für immer ein. Das begann, ehe es überhaupt losging, mit einer suggestiven Panik, ausgelöst von der Vorstellung, dass der Schlitten in einer Kurve hart gegen die Wand rempelt und man anschließend bäuchlings den Rest der 1.300 Meter langen Strecke hinabrast.

Am Ende stellte sich das Ganze als bloßes Spiel mit den Nerven heraus. Besonders in den Steilkurven, wo man sich – angeschnallt und eingeklemmt – wie ein hilfloses Bündel vorkam, wenn der Körper mit dem Fünffachen seines Gewichts Richtung Wand gepresst wurde. Ein Gefühl, als ob einem jemand Bleiplatten auf den Bauch legt.

Nach einer Minute war die Fahrt vorbei. Die Angst verwandelte sich in Euphorie. Ein Effekt, der sich in der Andeutung des Chefs des Utah Winter Sports Park verborgen hatte, als er bei der Begrüßung prophezeite: „Das nächste Mal, wenn Sie von der Bahn hören oder sie sehen, dann wissen Sie, was es bedeutet.“

Das nächste Mal ergab sich tatsächlich, Jahre später, als an derselben Stelle die olympischen Entscheidungen im Rodeln, Bob und Skeleton ausgetragen wurden. Ich sah die Bahn zwar nur von weitem – auf dem Fernsehbildschirm. Aber ich erinnerte mich an diesen Satz und beschäftigte mich damals zum ersten Mal mit der Frage, was es denn „bedeutet“, wenn man das Besondere an einer relativ gefährlichen Sportart schon einmal erlebt hat, aber diese Erfahrung in der Berichterstattung nicht widergespiegelt findet. Was fehlt einem als Zuschauer, wenn einem die Fernsehreporter in Park City die Bahn als bloße Kulisse in einer von Sonne und Schnee verwöhnten Winterlandschaft zeigen? Eine Kulisse, in der Sportler wie routinierte Darsteller in einem Medaillentheater wirken, eingehüllt in windschlüpfrige Kleidung und verborgen unter Helmen mit Vollvisier.

Es gehört nicht sehr viel dazu, und man begreift in einem solchen Moment, dass eine derartige Inszenierung den Stoff, aus dem die Helden der Eisrinne sind, überhaupt nicht zu erfassen vermag. Das Resultat: Ein regulärer Zuschauer, der in seinem Leben vermutlich niemals die Möglichkeit erhalten wird, sich eine Rodelbahn hinabzustürzen, wird nie herausfinden, worin die besondere sportliche Leistung eigentlich besteht.

Das Beispiel aus Park City ist übrigens nur eines unter vielen, bei denen die Medien von heute einen erheblichen Teil ihrer beachtlichen Kraft dazu benutzen, die Darstellung der Realität hauptsächlich in eine Richtung zu lenken: Dorthin, wo sich die vorgefundene Welt auf ein paar simple Aspekte reduzieren lässt. Und sei es auf so absurde Zeiteinheiten wie Tausendstelsekunden. Denn selbst das produziert Dramen und Kontroversen. Bei den Winterspielen von Nagano 1998 etwa betrug der Zeitunterschied nach vier Fahrten zwischen Gold- und Silbermedaille und den beiden deutschen Fahrerinnen Silke Kraushaar und Barbara Niedernhuber nur zwei Tausendstelsekunden. Umgerechnet auf die gefahrene Gesamtdistanz von mehr als vier Kilometern: die Länge eines kleinen Fingers. Zum Vergleich: Der Wimpernschlag des menschlichen Auges dauert 300 bis 400 Tausendstelsekunden.

Wie hanebüchen das alles ist, belegte eine technische Untersuchung zur systemimmanenten Fehlerquote der eingesetzten Lichtschrankentechnologie. Ihr Ergebnis: Sie beträgt bei jedem Lauf zwei Tausendstelsekunden. Es könnte also sein, dass die Platzierung und die Vergabe der Medaillen von Nagano gar nicht korrekt waren. Und dass die Erfolgsprämien der Deutschen Sporthilfe (15.000 Euro für die Goldmedaille, 10.000 für Silber) falsch verteilt wurden.

Aber mal abgesehen von einer Welt, in der eine solche surreale Resultatsdifferenzierung ganz reale Konsequenzen hat: Es wäre im Prinzip gar nicht so schwierig, sich stattdessen im Rahmen des journalistischen Alltags aus einer plausibleren Nähe mit den Persönlichkeiten und Phänomenen im Sport zu beschäftigen und für ein umfassenderes, vielfältigeres und vielschichtigeres Bild zu sorgen. Stoff gibt es mehr als genug.

Dazu müssten Journalisten allerdings an den Ort des Geschehens ein wenig mehr mitbringen als bloße Neugier und Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, das Erlebte hinterher nachzuerzählen. Sie müssten sich mit ihrem eigenen Gedächtnis auseinandersetzen. Das Gedächtnis, so hat der Hirnforscher Gerhard Roth mal geschrieben, ist „unser wichtigstes Sinnesorgan“: die Schaltstelle für die fünf anderen Sinne („die Tore des Gehirns zur Welt“1), wo das Erlebte „unter Zuhilfenahme angeborener und erworbener Gestaltungsmuster zusammengefügt“ wird, damit die sinnlich erfahrbare Welt auch tatsächlich Sinn ergibt. „Die aktuellen Sinnesreize sind nur der Anlass für unser Gehirn, bewährte Konstrukte aus dem Gedächtnis abzurufen“ und mit den neuen Informationen abzugleichen.2

Sportjournalisten scheinen theoretisch für das Abgleichen und Zusammenfügen bestens prädestiniert. „Von all den schrägen Vögeln im Zeitungszoo“, schrieb der Schriftsteller Paul Gallico in den dreißiger-Jahren in seinem Buch Farewell to Sport, „ist der Sportjournalist der eigenartigste. Er ist Reporter, Kritiker, Kommentator, Detektiv, PR-Agent, Zyniker und Heldenverehrer, und zwar alles in einem.“3

Für ihn selbst stimmte diese Beschreibung. Gallico betrieb das Metier so intensiv wie kaum ein anderer: beim Schwimmen zusammen mit dem Olympiasieger und späteren Hollywood-Tarzan Johnny Weismuller, beim Golf mit dem Ausnahmespieler Bobby Jones und beim Sparring im Ring mit dem Boxer Jack Dempsey. Das passierte vor einem Kampf, über dessen Vorbereitungen damals alle Zeitungen berichteten. Als Kameras zum ersten Mal ausführlich die Atmosphäre von Trainingslagern einfingen und Material drehten, das später im Stil von Wochenschauen nachvertont wurde. Mit übertrieben klingenden Kommentaren wie diesem: „Firpo knows that Dempsey can throw a punch so fast, you can’t even see it coming.“4

Für diese Einschätzung gab es eine Quelle: Paul Gallico, der wie keiner der angereisten Journalisten so weit gegangen und mit Dempsey in den Ring gestiegen war. Sein Schlagabtausch im August 1923 in Saratoga Springs mit dem damaligen Schwergewichtsweltmeister vor dem Titelkampf gegen den Argentinier Luis Ángel Firpo wurde zu einem eindrucksvollen Selbstversuch. Gallico ging zwar bereits nach einer Minute und 37 Sekunden K.o., aber gab schon eine halbe Stunde später seiner Redaktion, der Daily News in New York, am Telefon einen Erfahrungsbericht durch.5

Der großgewachsene Journalist hatte im Laufe der Jahre viele verschiedene Sportarten ausprobiert, aber vorher noch nie geboxt. Dennoch fühlte er sich in guter körperlicher Verfassung, nachdem er erst kurz zuvor sein Studium an der Columbia University in New York abgeschlossen und dort vier Jahre lang im Achter der Rudermannschaft gesessen hatte. Das sollte sich in der Vorbereitung auf eine Runde mit einem Box-Champion von Format als unzureichend herausstellen. Die Lektion war hart und unmissverständlich, aber ihr Erkenntniswert ließ sich selbst einem unerfahrenen Publikum nahe bringen: „Ich habe herausgefunden“, schrieb Gallico, „dass ein Boxer – so wie ein Soldat im Krieg, der nie die Kugel hört, die ihn umbringt – nicht den Schwinger sieht, der ihn mit einem Mantel aus Dunkelheit bedeckt und für ein Gefühl sorgt, das so wirkt, als würde die Schädeldecke explodieren. Und das einem alle Sinne raubt.“

Sein Experiment, als ungeübter Skifahrer 1936 den olympischen Abfahrtshang am Kreuzeck in Garmisch-Partenkirchen auszuprobieren, war kein minder dramatisches Erlebnis. Als er bei einem Sturz auf halber Strecke auf einer engen Passage direkt neben einer Kante landete, von der der Hang fast senkrecht 600 Meter in die Tiefe abfiel, hatte er „so viel Angst wie noch nie“. Irgendwie schaffte er es „auf wundersame Weise unverletzt“ bis ins Ziel und kam so auch hier zu einer wichtigen Erkenntnis: Bei den Abfahrern handele es sich um „eine großartige Gruppe von Sportlern, die die Bedeutung des Wortes ‚Furcht‘ nicht kannten“.6

Es wäre übertrieben zu verlangen, jeder „schräge Vogel im Zeitungszoo“ (und in den elektronischen Medien von heute) möge sich so unmittelbar wie Gallico mit der jeweiligen Sache auseinandersetzen. Immerhin haben es einige getan und auf diese Weise ihren Lesern das Milieu näher gebracht. So wie der Schriftsteller George Plimpton, als er sich der körperlich herben Erfahrung von Football-Profis auslieferte7. Oder der Journalist Steven Fatsis, der Jahrzehnte später etwas Ähnliches probierte8. Und was mit dem Blick auf die besondere Rolle einer klassischen Figur im Golfsport auch die Herangehensweise von Rick Reilly ausmacht. Er übernahm den Job des Caddies für prominente Spieler wie Jack Nicklaus, David Duval, Tom Lehman und John Daly.9

Er hatte in der Vorbereitung auf das Buch übrigens auch einen Einsatz an der Seite von Donald Trump, ehe der Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Das floss in ein späteres Buch ein10, das auch auf Deutsch erschien.

Als wir uns darüber unterhielten, bestätigte er eine alte Weisheit aus dem Golfspiel, wonach es den wahren Charakter von Menschen offenlegt, vor allem den von krankhaften Narzissten und notorischen Lügnern: „Auf der Runde hat er sich bestimmt sieben Mulligans zugestanden. Fehlschläge, die er nicht mitgezählt hat. Er hat vor einem Grün den Ball aufgehoben und behauptet, den Schlag hätte er garantiert eingelocht. Seine Caddies haben extra Holzstifte dabei, sogenannte Tees, mit denen er im tiefen Gras neben dem Fairway den Ball höher legen kann. Und sie legen Bälle an Stellen aus, von denen er viel besser weiterspielen kann.“

Allesamt klare Regelverstöße übrigens.

Gleichzeitig muss es erlaubt sein zu fragen, weshalb es nur sehr selten passiert. Denn den Porträts einer Welt mit Menschen im Zentrum, die im Laufe ihrer Karriere durch ein ganzes Kaleidoskop von Belastungen und Entbehrungen, Verletzungen an Körper und Seele und emotionale Hochs und Tiefs gehen, fehlt ohne einen Zugang zu diesen Erfahrungen etwas Wesentliches. Es mangelt an Augenhöhe.

Die über viele Jahre gesammelte Erfahrung lehrt übrigens, dass dies von den Beteiligten meist gar nicht als Defizit wahrgenommen wird. Eine regelmäßige gründlichere Auseinandersetzung mit sich selbst, das stellt sich bei ausführlicheren Gesprächen heraus, vermissen nur wenige Sportler. Oder sie gehen gleich so weit und verlangen ein Mitspracherecht bei der detaillierten Gestaltung der Berichterstattung.11 Sie versuchen, Journalisten zu Mitwirkenden in ihrem PR- und Propagandatheater zu machen.

Und die Medienmenschen? Viele empfinden Distanz als professionell, Annäherung als schwierig oder sogar kontraproduktiv. Auf eine Ich-Geschichte und die damit verbundene sich selbst zugemessene Rolle des Protagonisten verspüren sie kaum Appetit. Anders als ein Schriftsteller wie Norman Mailer in seinem Buch The Fight12 über den Kampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman im Oktober 1974 in Kinshasa (dem Rumble in the Jungle). Er nutzte den persönlichen Blickwinkel, um das Ereignis über den rein sportlichen Gehalt hinaus in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Als Stilmittel geht er darin so weit, dass er auch über sich selbst spricht, wenn auch in der dritten Person Singular, was gespreizt klingt. Zitat: „Nun, unser weiser Mann besaß ein Laster. Er schrieb über sich selbst. Er beschrieb nicht nur die Ereignisse, die er sah, sondern auch seinen eigenen, kleinen Einfluss auf die Ereignisse.“

Eine solche Vereinahmung des Mythenrservoirs des Boxens, des Kampfs gegen sich selbst mit der Aussicht auf Erfolg und sozialen Aufstieg, die eine Zuneigung zum männlichen Authentizitätskult intellektuell überhöht13, illustriert, wie viele unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten es gibt, „die Sozialfigur des Sporthelden in postheroischen Zeiten zu durchleuchten und die im Spitzensport vorfindbare Heroisierungspraxis auf ihre soziale Konstruiertheit hin zu befragen“, wie das der Sportwissenschaftler Professor Dr. Karl-Heinrich Bette in seinem Buch Sporthelden – Spitzensport in postheroischen Zeiten formuliert hat.14

Es ist eine Aufgabe, die ich mir selbst auch immer wieder stelle und die zu einem Leitmotiv für dieses Buch geworden ist, in dem es nicht nur ums Durchleuchten und Befragen geht. Sondern auch darum, sich das Vorgefundene einzuverleiben, wie das der wegen seiner Interviews bewunderte Fernsehmann und Dokumentarist Georg Stefan Troller häufiger genannt hat15. Und der dies unter anderem 1974 in seinem Halbstünder vor dem zweiten von drei Kämpfen zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali (Personenbeschreibung: Muhammad Ali – Der lange Weg zurück) auch mit einem Thema aus dem Sport eindrucksvoll demonstriert hat.

Wo das nicht geschieht, so hat der Journalist Bertram Job, Autor einer sehr empfehlenswerten Box-Anthologie16, mal vor einiger Zeit in einem Artikel in der taz geklagt, entsteht eine nicht zu übersehende Lücke: „Es ist immer das gleiche mit den Sportschreibern in diesem Land. Die affirmativ sind, kleben unkritisch an den Helden; die kritisch sind, wollen sich keine Affirmation leisten. Und an der Schnittstelle zwischen beiden liegt – Brachland.“17

Dieses Brachland ließe sich durchaus urbar machen und auf diese Weise gegen den allgemeinen Trend zum Clickbait-, Klatsch- und Kontroverse-Spektakel antreten.18 Denn fraglos bietet selbst der aalglatte, durchgetaktete, kommerzielle Sport von heute mannigfachen und ausgesprochen guten Stoff. Mehr als jene innere Spannung, die einen erfasst, wenn man eine olympische Rodelbahn hinabschlittert, in Kitzbühel auf eigenen Skiern die Hahnenkamm-Abfahrt attackiert, auf einem Polopferd – die eine Hand am Zügel, die andere mit dem Schläger bewaffnet – im Galopp dem kleinen Ball hinterherjagt oder ein paar Minuten vor dem Start eines Automobilrennens in Indianapolis zwischen den dröhnenden Boliden steht und in Richtung erste Kurve schaut. Mehr als die gängigen Denkschablonen und Plattitüden, die sich in der Sprache der Medienarbeiter festgesetzt haben. Mehr als die nervig klappernde Mühle mit ihren Transfergerüchten über irgendwelche Fußballer. Mehr als den Versuch, ein „Schlangennest aus sich bekämpfenden Interessen und Egos“ von Trainern, Agenten, Clubs und Sponsoren abzubilden, was nicht nur der britische Journalist Oliver Franklin-Wallis missbilligt19. Und mehr als die eine oder andere Geschichte, die erzählt, was hinter den Kulissen, beim Training, in den Vertragsverhandlungen, beim Doping-Doktor oder in einem Gerichtssaal passiert, in dem ein ungeimpfter Tennisspieler seine Einreise in ein fremdes Land einzuklagen versucht.

Um dieses Mehr geht es in diesem Buch, das sich dabei überwiegend an Vorbilder aus der amerikanischen Sportpublizistik orientiert, die über die erwähnten Autoren hinaus bemerkenswerte Maßstäbe gesetzt hat. Etwa mit der Sachbuch-Serie The Best American Sports Writing20, einer breitgefächerten und gleichzeitig aufschlussreichen Archäologie des Sports. Angelehnt an etwas, das Paul Gallico in Farewell to Sport bereits skizziert hatte: „Heldenverehrung ist menschlich. Vorausgesetzt der Held ist ebenfalls menschlich.“

Ein hilfreiches Zitat, um an dieser Stelle näher auf den Begriff einzugehen, der sowohl in Gallicos Muttersprache als auch im Deutschen ähnlich stark schillert. Klassischerweise werden nicht nur außergewöhnlich mutige Menschen mit dieser Vokabel belegt. Sie wird auch auf die Hauptgestalten von Romanen angewendet und auf ein ganzes Rollenfach beim Theater (wo es noch andere klischeehafte Figuren gibt wie den jugendlichen Liebhaber oder die Salondame). Die Ausdehnung des Begriffs auf den kommerziellen Sport ist also nachvollziehbar. Denn er liefert dem Geschehen mit seinen heldenhaften, theatralischen Taten im Zentrum einen zusätzlichen Fixpunkt und schwebt als sinnstiftende Vokabel über der Inszenierung von Sport und der Idol-Kultur, die sie fördert.

Oft genug allerdings steht die Vita von prominenten Athleten dem Bedürfnis nach versimpelnder Idolisierung und Heroisierung entgegen. Der damalige Spiegel-Redakteur Nils Minkmar etwa nahm nach dem Unfalltod des Basketballers Kobe Bryant eine Tendenz ins Visier, mit einer aufgeschminkten, selektiven Würdigung die unangenehmen Details seiner Biographie zu vertuschen. Bryant hatte einst wegen Vergewaltigung vor Gericht gestanden und war trotz starker Indizien nur deshalb freigesprochen worden, weil die betreffende Frau vor einer Aussage in einem öffentlichen Prozess zurückgeschreckt war und so das Verfahren zum Platzen gebracht hatte. Und der das Schweigen dieser Frau mit einem hohen Betrag entlohnt hatte.21

Was Minkmar zu der Anmerkung veranlasste: Es möge „besonders schwer auszuhalten“ sein, dass „Helden eine Schwäche haben, dunkle Charakterzüge, seltsame Ansichten oder gar schuldig wurden“. Man könne allerdings deshalb nicht einfach dafür plädieren, dass „auf den glatten Bildschirmen der digitalen Moderne“ immer „alles makellos erscheinen“ soll. Auf diese Weise „verrennt sich die Moral in den Bereich der Ästhetik: Die Schönen sollen gut sein und vice versa.“22

Was Gesellschaftswissenschaftler nicht überrascht. So hat der Freiburger Soziologe Prof. Dr. Ulrich Bröckling 2020 im Deutschlandfunk in einem Interview auf Folgendes hingewiesen23: „Der Sport verbindet etwas, was auch für Heldenfiguren ganz grundsätzlich ist: dieses Moment des Kämpferischen, des Sich-auszeichnen-Wollens, der außerordentlichen Leistung. Das alles bietet der Sport. Er bietet spannende Inszenierungen von Kämpfen, von Wettkämpfen. Und gleichzeitig ist es etwas, was politisch nicht so brisant oder moralisch so verwerflich ist wie militärisches Heldentum.“

Und das funktioniert so, wie Karl-Heinrich Bette in Sporthelden: Spitzensport in postheroischen Zeiten schreibt: „Der Spitzensport ist ein Sozialbereich, der real existierende Figuren der Außeralltäglichkeit“ in einer unterhaltsamen und sozial harmlosen Weise und im Kontrast zu anderen Teilen des Lebens hervorbringt. Dort, in diesen anderen Teilen des Lebens, habe die Marginalisierung traditioneller Heldenfiguren „eine Lücke hinterlassen, in die der Sport mit seiner Personen- und Körperorientierung, seiner Sichtbarkeit und Theatralität, seinen agonalen Konfliktinszenierungen, der Serialität seiner Ereignisse und seinen Stellvertretungsofferten mit Erfolg hineinstoßen konnte.“24

Die Wechselwirkung kommt folgendermaßen zustande: Einerseits existiert, so Bette, eine weltweit gestiegene Nachfrage „nach spannenden, heroischen, affektiv aufgeladenen, gemeinschaftsstiftenden, personen- und körperorientierten Sportleistungen durch ein interessiertes Massenpublikum“. Andererseits gebe es „Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels“. Zu denen gehören seiner Auffassung nach unter anderem solche Entwicklungen wie Körperdistanzierung, Gemeinschaftsverlust, Beschleunigung und „biografische Diskontinuität“. Der Spitzensport bediene damit und mit seinen Heldeninszenierungen „in einer klamm-heimlich-kritischen Weise die ausgeprägte Ambivalenz der Moderne“.

Eine Ambivalenz, die die COVID-Pandemie noch deutlicher herauskristallisiert hat. Mit einem „weniger heroischen, professionellen Typ von Athleten“ wie der amerikanische Sportjournalist und Buchautor Howard Bryant unlängst schrieb. Er meinte prominente Vakzin-Verweigerer wie Novak Djokovic, Aaron Rodgers und Kyrie Irving. Die seien „ganz sich selbst verpflichtet, unbelastet von der Gemeinschaft oder der Verantwortung für andere“ und benutzen die sozialen Medien „um Pseudowissenschaft zu verbreiten und sich selbst zu profilieren und abzusetzen.“ Deren Botschaft an den Rest der Welt: „Sie schulden uns gar nichts, weil sie soviel erschaffen: Einnahmen und Vermächtnis für die Männer in Anzügen. Spaßkultur für die Zuschauer und wirtschaftliche Sicherheit für ihre Familien.“25

Mit Stoff ist in diesem Zusammenhang übrigens keine einzelne Materie gemeint. Und keine fixe Größe. Der Begriff ist nicht minder ambivalent. Er dient vor allem als Inspiration und Gedankenstütze beim Brückenschlag zwischen Hauptkapiteln und innerhalb dieser Kapitel.

Es geht schließlich um unterschiedliche stoffliche Dimensionen: um Rohstoff und Wirkstoff, Farbstoff, Klebstoff und Schadstoff, natürlich auch um Lesestoff und Gesprächsstoff und sicher auch Lehrstoff und Zündstoff. Um unterschiedliche Idiome und Substanzen, in denen viele Fasern, Farben und Facetten aufgehen. Dinge wie Geld und Kommerz, wie Doping, Religion und Politik, wie Vermarktung und Narzissmus, wie Hautfarbe, Missbrauch und Nostalgie. Eigenschaften wie Mut und mentale Stärke, Arbeitsethos und Risikobereitschaft, genetische Vorprägung und Hybris. Empfindungen wie Agonie oder Teamgeist, aber auch so etwas Fundamentales wie pure Begeisterung für die Sache. Etwas, was ich im Laufe der Zeit aus Begegnungen und ausführlichen Gesprächen mit knapp 200 Aktiven, Trainern, Betreuern, aber auch mit Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Juristen herausdestillieren konnte.

Ein solches Kompendium kann am Ende nicht mehr sein als eine Auswahl, subjektiv und voller Besonderheiten und Eigenheiten. Sie deckt immerhin eine Zeitspanne von knapp dreißig Jahren ab und ist aus nachvollziehbaren Gründen vom geographischen Standort des Autors geprägt. Was im Kontext des internationalen Sports aber keineswegs ein schiefes Bild erzeugt. Denn nach der kreativen Phase im viktorianischen Großbritannien, als die Feudalgesellschaft einer Weltmacht die Kodifizierung und Popularisierung von einer ganzen Reihe von Sportarten vorantrieb, übernahmen die USA im 20. Jahrhundert eine treibende Rolle. Ihre Beimischung, die konsequente Ausrichtung auf Kommerz, Profitmaximierung und eine intensive Mythologisierung, markiert so etwas wie die zweite wichtige Phase eines globalen Ideentransfers im organisierten Sport in alle Teile der Welt.

Man denke nur an die Ruhmeshallen und Sportmuseen. Sie wurden zunächst in den Vereinigten Staaten entwickelt, aber haben mittlerweile auch in anderen Ländern Schule gemacht26. Oder an die wachsende Bedeutung amerikanischer Sportausrüster bei der Inszenierung und Vermarktung von Sport27. An den neuen Statistikwahn.28 An Computerspiele. Oder auch den Kampf gegen Doping, Korruption und sexuellen Missbrauch. Fast überall zeigen amerikanische Akteure seit mehreren Jahren modellhaft auf, wohin die Reise geht. Der Rest der Welt folgt je nach Ressourcen und eigenen Ambitionen irgendwann nach.

Was den Charakter der Texte anbetrifft: Sie nutzen den Formenreichtum, den wir in der alltäglichen journalistischen Arbeit kennen. Es handelt sich hierbei um Reportagen und Stimmungsbilder, um essayistische Betrachtungen sowie um Protokolle von ausführlichen Interviews mit profilierten Gesprächspartnern, die pointiert und substanziell zum jeweiligen Thema Auskunft geben.

Niemanden sollte überraschen, dass man als Journalist im Laufe der Zeit einiges aus dieser Stoff-Sammlung bereits publiziert hat: in meinem Fall in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den drei Programmen von Deutschlandradio, den nicht mehr existierenden Zeitschriften Sports und No Sports (nicht verwandt und nicht verschwägert miteinander), dem Sportmagazin der Schweizer Illustrierten sowie mehreren Büchern.

Um der zeitlichen Einordnung Rechnung zu tragen, erschien es angebracht, die Texte mit Angaben zu dem Jahr zu versehen, in dem sie entstanden sind oder in wesentlichen Passagen entwickelt wurden. Was aus den zentralen Figuren in der Zeit danach geworden ist, wird dort, wo es angebracht schien, in einem kurzen Anhang hinzugefügt.

Das Buch enthält daneben aber auch Texte, die bislang nicht erschienen sind. Und solche, die eigens für dieses Buch geschrieben wurden.

Natürlich reist stets eine Hoffnung mit: dass eine solche Anthologie auf mehr neugierig machen könnte. Deshalb an dieser Stelle noch ein Hinweis auf drei Bücher. Aus zweien habe ich für dieses Projekt jeweils eine längere Passage übernommen: Sowohl Tiger Woods. Charisma für Millionen29 als auch Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports30 und Dirk Nowitzki. So weit, so gut – von Würzburg zum Weltstar. Eine etwas andere Biographie“31 möchte ich an dieser Stelle gerne als weiterführende Lektüre empfehlen.

In jedem Fall wünsche ich viel Vergnügen auf dieser Tour d’Horizon, und bedanke mich bei allen Weggefährten, die durch ihre Ermunterung, ihre Aufträge, ihr Wohlwollen und ihre Kritik im Laufe der Jahre mein Schaffen ermöglicht haben.

Jürgen Kalwa West Cornwall, Februar 2022

1 Gerhard Roth: Erkenntnis und Realität – das reale Gehirn und seine Wirklichkeit in: Siegfried J. Schmidt (Herausgeber): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, 1987

2Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit, Interview, Bild der Wissenschaft, Oktober 1998

3 Paul Gallico: Farewell to Sport, New York. Die Anthologie veröffentlichte Gallico, als er aus dem Sportjournalismus ausstieg und sich dem Schreiben anderer Stoffe widmete. So erfand er die Figur des Journalisten Hiram Holliday, der kuriose Abenteuer erlebt, die in den fünfziger-Jahren fürs Fernsehen verfilmt wurden. Viele seiner Romane und Drehbücher wurden zu kommerziellen Erfolgen. Eine seiner Hinterlassenschaften ist der Amateurbox-Wettbewerb Golden Gloves, Durchgangsstation für viele namhafte amerikanische Profis.

4 Turn of the Century Fights, Inc.: Jack Dempsey vs. Luis Firpo for Heavyweight Championship, New York, September 14, 1923, veröffentlicht 1964

5 Der Kampf, der am 14. September 1923 im New Yorker Madison Square Garden stattfand, galt unabhängig von der Vorgeschichte aus dem Trainingslager jahrzehntelang als einer der denkwürdigsten in der Geschichte des Profiboxens. Eine Anspielung auf ihn („I’m telling ya if this guy sat ringside at the Dempsey-Firpo fight, he‘d be tryin‘ to tell us Firpo won!”) in der 1957 veröffentlichten Hollywoodfassung des Fernsehdramas und Theaterstücks Die zwölf Geschworenen demonstrierte seinen besonderen Stellenwert im kulturellen Gedächtnis der USA.

6 Paul Gallico: Farewell to Sport, Seiten 289-290

7 George Plimpton: Paper Lion – Confessions of a Last String Quarterback, New York, 1966. Sein Bericht über seine Zeit im Kader eines NFL-Teams gilt als „das beste Buch, das je über Profi-Football geschrieben wurde” (Saturday Review), weil es den Blickwinkel eines durchschnittlichen Football-Fans repräsentiert. Plimpton führte das gleiche Experiment mehrfach durch und schilderte seine Erfahrungen – darunter im Profi-Eishockey, in der NBA, in Major League Baseball, auf der PGA-Tour der Golfer und im Box-Ring – in insgesamt sieben Büchern. Seine Vorgehensweise nannte er konsequenterweise „participatory journalism“. Aus Teilnahme wird Teilhabe.

8 Steven Fatsis: A Few Seconds of Panic: A Sportswriter Plays in the NFL, New York, 2008

9 Rick Reilly: Who’s Your Caddy? Looping for the Great, Near Great, and Reprobates of Golf, New York, 2004

10 Rick Reilly: Der Mann, der nicht verlieren kann: Warum man Trump erst dann versteht, wenn man mit ihm Golfen geht, Hamburg, 2020

11 Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung machte im Januar 2020 bekannt, weshalb die Zeitung ein Interview mit dem ehemaligen Fußball-Profi Bastian Schweinsteiger und dem Schriftsteller Martin Suter abgelehnt hatte: Die Gegenseite hatte verlangt – „über die übliche Autorisierung des Wortlauts hinaus“ – sowohl Titel, Vorspann und Bildunterschriften vorab gegenzulesen. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Januar 2022, Seite 39). Eine Anmerkung zum Stichwort: „Autorisierung”. Keines der Interviews in diesem Buch (und nur ein einziges im Laufe meiner journalistischen Karriere) wurde einem solchen Prozess unterzogen. Dieses Entgegenkommen der Medien ist zwar in Deutschland „üblich”, aber nicht im Rest der Welt. Selbst ein so stark beachteter Rechtsstreit wie der zwischen Janet Malcolm vom New Yorker und einem namhaften Psychoanalytiker (David Margolick: Psychoanalyst Loses Libel Suit Against a New Yorker Reporter, New York Times, 3. November 1994) hat an der Praxis nichts geändert. Ebenso wenig mehrere prominente Fälle junger Journalisten, die frei erfundene Artikel veröffentlichen konnten wie Stephen Glass, dessen Aufdeckung im Hollywood-Film Shattered Glass nachgezeichnet wurde. Währenddessen kommt es in Deutschland schon lange auch und gerade im Sportjournalismus zu Konflikten (siehe auch: David Bernreuther: Zwischen Maulkorb und Meinungsfreiheit: Kritische Interviews von Fußballprofis und ihr Medienecho. Eine Inhaltsanalyse Berlin 2012, Seite 45

12 Norman Mailer: The Fight, New York, 1975

13 Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Die Verlagswerbung für die Box-Anthologie von Wolf Wondratschek (Im Dickicht der Fäuste, Berlin 2021) wirft ein Licht darauf, wie weit die Identifikation gehen kann. Die Texte handeln demnach unter anderem „vom Schriftsteller als ‚einzigem Bruder des Boxers, dem Verbündeten seiner Einsamkeit‘”. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung empfand bei der Bewertung der Erstausgabe des Buchs, das 2005 erschien, solchen Pathos als „dick aufgetragen” und kanzelte die Pose als „Vitalismus” ab.

14 Karl-Heinrich Bette: Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten, Bielefeld 2019, Seite 34

15 Susanne Marschall/Bodo Witzke: „Wir sind alle Menschenfresser“: Georg Stefan Troller und die Liebe zum Dokumentarischen, Norderstedt, 2012)

16 Bertram Job: Schwer gezeichnet. Geschichten vom Boxen. Göttingen, 2006

17 Bertram Job: Der Held rettet die Welt nicht, Taz, 22. November 1996

18 In seinem Artikel Sportjournalismus in der Krise: Lieber irgendwas über Ronaldo (Taz, 10. Dezember 2021) beschreibt der Journalist Martin Krauß die Entwicklung in einem erheblichen Teil der deutschen Medien als dramatisch. Ein Zitat von Tobias Schächter, Sportredakteur der Badischen Neuesten Nachrichten, vermittelt dabei, wie bestimmte Mechanismen wirken: „Immer mehr Redaktionen setzen auf Instrumente wie Readerscan, schauen also ganz genau, was am meisten gelesen, am meisten geklickt wird. Heraus kommt, dass Geschichten über Cristiano Ronaldo im Blatt stehen müssen.“

19 Oliver Franklin-Wallis: Inside the Athletic – the start-up that changed journalism forever, GQ British, Ausgabe März 2020

20 Die jährlich herausgegebenen Anthologien erscheinen seit 1991. Jedes Jahr betreut von einem anderen Gastlektor. Am häufigsten in diese Serie aufgenommen wurden Gary Smith, Wright Thompson, Steve Friedman, S.L. Price, Charles P. Pierce, William Nack, Rick Reilly, Roger Angell, Pat Jordan und Rick Telander. Das Glanzstück dieser Edition ist der 776 Seiten starke Sammelband The Best American Sports Writing of the Century.

21 Steve Henson: Bryant and His Accuser Settle Civil Assault Case. Los Angeles Times, 3. März 2005

22 Nils Minkmar: Idealisierung von Stars – Perfektion ist keine menschliche Kategorie, Spiegel Online, 2. Februar 2020

23 Ulrich Bröckling: Postheroische Helden – Ein Zeitbild, Berlin, 2020. Interviewzitate aus Deutschlandfunk, Büchermarkt, Ulrich Bröckling im Gespräch mit Miriam Zeh, 5. März 2020

24 Karl-Heinrich Bette: Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten, Seite 22ff.

25 Howard Bryant: Novak Djokovic is a profile in selfishness, and sports leaders are failing us all, ESPN.com, 12. Januar 2022

26 Siehe Denkmalpflege auf Seite 40ff.

27 Siehe Das Trendbrett auf Seite 250ff.

28 Siehe Wo nur noch Zahlen zählen auf Seite 263ff.

29Tiger Woods. Charisma für Millionen, Berlin, 1998

30Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports, Norderstedt, 2019

31Dirk Nowitzki – So weit, so gut: Von Würzburg zum Weltstar – eine etwas andere Biographie, Hildesheim, 2019

WERKSTOFF – DER STOFF, AUS DEM DIE LEGENDEN SIND

KAPITEL 1

THE SPIRIT

Das Koordinatensystem einer Sportwelt, die Helden produziert, weil sie Helden braucht

Es gibt Menschen, die jede Zurückhaltung ablegen, wenn sie ihn entdecken. Sie betasten seine Arme und Beine. Reden auf ihn ein. Und versuchen auf eine hypnotische Art, mit ihm zu kommunizieren.

Den Annäherungsversuchen ist er wehrlos ausgeliefert. Denn der Sockel, auf den ihn der Bildhauer gestellt hat, damit er mit ausgestrecktem Arm und einem Ball in der Hand für immer und ewig zu einem imaginären Korb fliegt, ist nur etwas mehr als 1,50 Meter hoch. Michael Jordan in Bronze – ein Denkmal des amerikanischen Sports mit dem Titel The Spirit – hat auf diese Weise sehr menschliche Dimensionen behalten.

Er ist zum Greifen nah.

Der Platz, an dem er aufgestellt wurde, ist gut gewählt. Es ist der Bereich vor Tor 4 des United Center in Chicago, einer der Kathedralen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Jordan, der in dieser Sporthalle mit den Chicago Bulls manchen Meisterschaftserfolg errungen und einen Klub zurückgelassen hat, der seitdem nie wieder auch nur in die Nähe der alten Erfolge kam, wird auch in Zukunft ihre bedeutendste Ikone bleiben. Die Stimmung des Jahres 1995, als er nach einem Baseball-Intermezzo in Alabama32 nach Chicago zurückkehrte, hat diesen Status gleichsam zementiert. Die Szenen von damals blieben unvergessen. „Es war verrückt“, sagte Bulls-Center Will Perdue. „Es gab Leute, die vor seiner Statue gebetet haben. Sie haben gebetet, dass er zurückkommt.“

Der beste Basketballer der Welt hat in jenen Tagen nicht nur seine Fans in eine ungewöhnliche Begeisterung versetzt. An der New Yorker Börse stiegen die Aktien der Firma Nike, des Herstellers der Air-Jordan-Schuhe.

Gerade weil seine Popularität so enorm war, ist sein Stellenwert nur schwer zu messen. Keine Statistik vermag zu erfassen, was der Mann aus North Carolina auslöste, als er zum Aushängeschild einer Stadt wurde, deren bekanntester Einwohner einst ein Gangster namens Al Capone war. Aber sein Einfluss auf die Umwälzungen in der Beziehung zwischen kommerziellem Sport und der modernen westlichen Gesellschaft lässt sich durchaus beschreiben. Michael Jordan, ein leichtfüßiger Spieler mit fast balletthaften Bewegungen und einem unbändigen Willen zum Sieg, war Symbol und Wegbereiter für eine Entwicklung, in deren Rahmen Athleten immer stärker Einfluss auf das Denken und Handeln von Millionen von Menschen nehmen. Von Menschen, die Sport wie eine Droge inhalieren.

Der Entwicklung haftet etwas Zwangsläufiges an – nicht nur in den USA. Dort zeigen sich manche Phänomene allenfalls deutlicher und ausgeprägter als in anderen Ländern – etwa beim Nachruhm eines Baseballspielers wie Babe Ruth, dessen Leben mehrfach verfilmt wurde. Oder wie im Fall von Joe DiMaggio, dessen Name in dem Pop-Song Mrs. Robinson von Simon & Garfunkel verewigt wurde (Zitat: „Where have you gone, Joe DiMaggio?“). Ihr Symbolcharakter wirkt stärker – bis an den Rand zur Groteske, wie im Fall des Boxers Muhammad Ali, dem einstigen Großmaul, der später krankheitsbedingt nur noch schweigend die Sympathien der Welt genießen konnte. Sie wirken gelegentlich wie morality plays33, etwa dann, wenn jemand wie Mike Tyson, im Ring ein gnadenloser Faustkämpfer, als verurteilter Gewalttäter im Gefängnis landet. Wenn ein Ausnahmegolfer mit einem Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar wie Tiger Woods aufgrund eines Sexskandals beinahe aus der Bahn geworfen wird. Oder wenn Steuerbehörden mit der Macht des Gesetzbuchs etwa in Deutschland Tennisprofis wie Boris Becker und Steffi Graf oder Fußballmanager wie Uli Hoeneß in heikle Situationen bringen.

Sie alle und ihre verschlungenen Biographien gehören zu der Stoffsammlung, die eine neue Art von Identifikationsfiguren geschaffen hat. Spitzensportler von Weltrang, die einerseits zwar durch ihr Können das Unterhaltungsbedürfnis der Massen über kulturelle und Sprachgrenzen hinweg bedienen, die zu unkritisch verehrten Ikonen stilisiert werden, aber nur selten den Anspruch der Gesellschaft erfüllen, die sie gerne allzu naiv zu Vorbildern machen würde.

Mit diesem Spannungsverhältnis hat Michael Jordan schon früh umzugehen versucht. Deshalb präsentierte er sich zwischendurch als angelernter Sportphilosoph und ließ seine Gedankenkrümel über die neurotische Wechselbeziehung zwischen Ehrgeiz, Sport und Öffentlichkeit zwischen die Buchdeckel der Motivationsfibel I Can‘t Accept Not Trying pressen. Das Werk offenbarte, dass Jordans Antriebskräfte offensichtlich einem manischen inneren Monolog entspringen: aus der ständigen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Scheiterns. „Es ist hart“, beschrieb er das Gefühl, „wenn man jedes Mal auf dem Spielfeld alles bringt, was man hat, und trotzdem verliert.“

Der real existierende Jordan ist das Produkt einer faszinierenden Sportkultur. Einer vielschrötigen Maschinerie ohne Vereinsmeierei und staatliche Lenkung, die mit den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft lebt und durch sie gedeiht. So ist sie auf der einen Seite bis zum letzten T-Shirt mit aufgedrucktem Club-Emblem konsequent durchkommerzialisiert und verlangt den Profis im Laufe ihrer Karriere alles ab, was sie haben: ihre Gesundheit und eine Söldnermentalität vom Zuschnitt der Angehörigen der französischen Fremdenlegion.

Aber Amerikas Stars kommen nicht aus dem Nichts. Die meisten besuchen Universitäten, die aus Tradition das Fundament und das Rückgrat des organisierten Leistungssports in den USA bilden. Das erklärt, weshalb die große amerikanische Sport-Show von heute in einem philosophischen Rahmen existiert, der in Elite-Universitäten wie Harvard und Yale gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wurde: Damals galt Sport als Inbegriff der Charakterschulung für junge Männer, die es zu etwas bringen wollen.

Der Anspruch mag übertrieben klingen. Denn die Idee hat, seitdem die Universitäten selbst das Sportgeschehen kommerziell ausschlachten, ihre naive Unschuld verloren. Dennoch produziert der College-Sport auch heute noch mit Hilfe des Fernsehens ein spezifisch amerikanisches Irresein. Bierselig feuern Ex-Studenten in Sportbars und auf Partys den sportlichen Nachwuchs ihrer Alma Mater an. Ganze Bundesstaaten wie Indiana und Kentucky im Basketball oder Alabama und Texas im Football identifizieren sich mit College-Athleten.

Die unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von ihren Kollegen in den Profiligen: Amerikas Studenten waren bis vor kurzem echte Amateure.34 Egal ob sie gewannen oder verloren – solange sie die Farben der Hochschule trugen, bekamen sie nichts außer einem Stipendium. Sie wurden streng abgeschirmt von Schuh-Deals, Prämien, Sachgeschenken, Vorverträgen und sogar von Essenseinladungen. Selbst jemand wie Tiger Woods hatte als Student keinen Spielraum. Als er mit seinem namhaften Golferkollegen Arnold Palmer eines Tages ein Restaurant besuchte, bezahlte der zwar die Rechnung. Woods jedoch musste ihm hinterher einen Scheck schicken. Hätte er Palmer nicht seinen Anteil erstattet, hätte er sein Stipendium einbüßen können und wäre gezwungen gewesen, die teuren Studiengebühren der Stanford University selbst zu bezahlen. Und dieses Geld hatte der Mann damals nicht, der später als allererster Sportler die Milliardengrenze an Bruttoeinnahmen überschreiten sollte.

Das vermeintliche Idyll produziert nicht nur Absurditäten. Es fabriziert Risse. Denn der Universitätssport kommt nicht mehr mit seiner selbstgewählten Rolle als Ausbildungslager für den Profibereich zurecht. Die Verzahnung mit den Medien hat an den Hochschulen zu einem Starsystem eigener Prägung geführt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Mythos vom erfolgreichen Amateurathleten und dem unbefleckten Helden- und Leistungskult endgültig seinen Glanz verliert.

Nicht alle Nachwuchstalente drängen in den Profibereich. Es gibt jene, die das, was sie an der Universität und auf dem Spielfeld erreicht haben, in andere Karrieren ummünzen. Einige fühlen sich sogar berufen, in die Politik zu gehen. Wie der Princeton-Absolvent und Basketball-Olympiasieger Bill Bradley, der nach einer Karriere bei den New York Knicks Senator in Washington wurde. Oder wie der Football-Quarterback Jack Kemp, der in den achtziger-Jahren unter den Präsidenten Ronald Reagan und George Bush das Wohnungsbauministerium leitete.

Sport und Politik stehen sich in den USA nicht weltfremd gegenüber. Die Morgenjogger Bill Clinton und George W. Bush waren nicht die letzten Golfer in einer Reihe sportaktiver Präsidenten, die mit Dwight D. Eisenhower begann. Nach dem Golfer (und College-Basketballer) Barack Obama demonstrierte Donald Trump, dass sich so etwas noch steigern lässt. Er spielte fast nur auf Golfplätzen, die ihm selbst gehören und die er penetrant mit seinem Namen plakatiert hat.

Auch amerikanische Intellektuelle und Schriftsteller haben sich mit Sport beschäftigt. Von Scott F. Fitzgerald (Football) und William Faulkner (Kentucky Derby) bis Norman Mailer (Boxen), Stephen King (Baseball) und John Irving (Ringen) spannt sich ein beeindruckender Bogen von literarischen oder essayistischen Annäherungen, die bemerkenswerten Lesestoff hervorgebracht haben. Wie etwa den Roman Der Sportreporter von Richard Ford, der eine vielschichtige, nachdenkliche Kunstfigur aus dem Typenspektrum der gleichnamigen journalistischen Subspezies herausgeschnitzte und in drei weiteren Romanen weiterentwickelte35.

Hollywood spielte mit einer Handvoll guter Filme ebenfalls einen Part. Und das auch, weil Schauspieler wie Robert Redford (The Natural) oder Paul Newman (Slapshot) keine Berührungsängste hatten, obwohl ihnen sicher die Schwierigkeit bewusst war, Sport fürs Kino zu inszenieren. Manche Filme sind so gut, dass sie einem das Milieu auf eine erotische und zugleich humorvolle Weise nahebringen. Unübertroffen: Susan Sarandon und Kevin Costner in dem Südstaaten-Baseball-Film Bull Durham.

Wenn man der Frage, worin die Dynamik der amerikanischen Sportkultur besteht, noch ein wenig weiter nachgeht, stößt man auf zusätzliche Elemente. Eines ist der Kalender mit einer beachtlichen Palette von Sportarten, die das ganze Jahr über für Höhepunkte und Abwechslung sorgen. Ein anderes ist ein spürbarer Eskapismus unter Männern, die mehrere Jahrzehnte nach dem Aufbruch der Frauenbewegung den Sport als Reservat für Männerkult und Sexismus pflegen. Hier können sie sich von der Emanzipationsrealität in eine Vorstellungswelt zurückziehen, die woanders in der Gesellschaft nicht mehr existiert, wie Mariah Burton Nelson schon vor einiger Zeit in ihrem provokativen Buch The Stronger Women Get, the More Men Love Football36 herausgearbeitet hat.

Es passt in die Landschaft, dass sich die USA seit der Bürgerrechtsbewegung und dem Krieg in Vietnam in einer anhaltenden gesellschaftspolitischen Sinnkrise befinden. Mögen Politiker, Professoren und Pastoren so viel reden wie sie wollen, immer weniger Amerikaner hören ihnen zu. Die konsumverwöhnte Mittelklasse hängt lieber den Siegertypen aus den Riesen-Arenen an den Lippen. Neue Helden und geheime Verführer, die mit Hip-Hop-Musik und über Social-Media-Kanäle Schuhe, Kappen, Trikots und Bälle verkaufen. Immer mit dabei: die prickelnde uramerikanische Ideologie des „Gewinnen ist alles“. Den Siegern gehört die Welt.

Viele dieser Sieger sind schwarz – nicht nur im Basketball, wo 80 Prozent der NBA-Profis eine dunkle Hautfarbe haben, oder im Football, wo mehr als 60 Prozent der NFL-Spieler Afro-Amerikaner sind. Eine erstaunliche Entwicklung nur ein halbes Jahrhundert nach der Abschaffung der Rassentrennung im Süden der USA. Schwarze Athleten haben einen Anteil daran, die Phobien von Weißen gegenüber großen und starken dunkelhäutigen Männern zu beschwichtigen. Aber das reicht nur bis zu einem bestimmten Punkt. Sobald afro-amerikanische Athleten Probleme mit der Polizei bekommen oder auf dem Platz ausflippen, hagelt es von Vorurteilen geprägte Kritik.

Mit anderen Worten: Selbst durch den Sport als Erfolgsmenschen ausgewiesene und bestens bezahlte Schwarze müssen im weißen Amerika mit seinen Mikroaggressionen und Herabsetzungen unablässig um Anerkennung und Respekt kämpfen. Dieser Kampf, der ihre Persönlichkeit formt und sich als unverstellte, authentische Erfahrung vermittelt, ist der Hauptgrund dafür, weshalb die erfolgreichen schwarzen Sportler in den USA mehr sind als Sprechpuppen der Sportartikelindustrie.

Wenn man tiefer schaut ins feine Gewebe eines Spieles wie Basketball, sieht man übrigens, wie schwarze Spielkultur die Wechselbeziehung von Mitspielern und Gegnern beim Kampf um Spielfläche und Dribbel-Wege modifiziert hat. Was früher ein Mannschaftsspiel war, in das sich der einzelne einordnet, ist heute ein Varieté von One-Man-Shows, ruppigen Rivalitäten, bei dem das Bedürfnis nach dem Übertrumpfen, nach sogenannter One-upmanship stärker ist als das Gefühl für Kameradschaft.

Obwohl der Bedarf an Stars angesichts der unübersehbaren Medienlandschaft mit ihren Live-Übertragungen, der angeflanschten Bierreklame und den wachsenden Erwartungen der Zuschauer groß ist, produziert die Heldenfabrik keine Fließbandfabrikate. Wer allzu früh hochgelobt wird und zu viel verdient, dem droht, frühzeitig zu scheitern. Schon besser, einer fängt ganz unten an. Erst dann entsteht der Stoff, aus dem der Glamour ist.

Als Michael Jordan 1984 nach dem Studium und nach dem Gewinn der Goldmedaille bei den Olympischen Spielen Profi wurde und zu den Chicago Bulls kam, waren sie eine der schlechtesten Mannschaften in der NBA. Er fand schnell heraus, was das heißt: „In den ersten paar Minuten des ersten Spiels wurde ich umgehauen und landete auf dem Boden.“ Es dauerte dreieinhalb Jahre, in denen er ackerte und artistischer und unberechenbarer wurde, bis die Bulls zum ersten Mal die Playoffs der besten 16 NBA-Mannschaften erreichten. In jener Saison spürte man, dass Jordan vielleicht eines Tages seine Sportart dominieren könnte. Er war bester Defensivspieler, erfolgreichster Korbschütze, Slam-Dunk-Champion und wurde als Most Valuable Player ausgezeichnet.

In den Jahren danach zeigte er, dass man als Sportler noch weiter gehen kann, als Titel und Meisterschaftsringe zu sammeln und Millionen von Dollar aufeinanderzuschichten. Kein anderer Athlet hat die Grenzen zwischen Privatheit und öffentlicher Person derartig subtil aufgelöst und aus der eigenen Person ein Mediengesamtkunstwerk à la Joseph Beuys oder Andy Warhol geschaffen. Nicht mal Muhammad Ali, der nach seinem Übertritt zum Islam den Wehrdienst verweigerte und dafür vom Boxverband gesperrt wurde. Das jüngste Resultat für diesen gesellschaftlichen Prozess: Der im Frühjahr 2021 veröffentlichte zehnteilige Dokumentarfilm, Titel The Last Dance, den der Fernsehsender ESPN produzierte und der den Kunstgriff benutzt, auf Jordans allerletzte Saison in Chicago 1997–98 zurückzublenden, während er gleichzeitig das Panorama der Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale des Basketballers und seinen Einfluss auf seine Mitspieler beleuchtet. Die Wirkung ließ sich an den Einschaltquoten ablesen: Die zehn Episoden erreichten im Schnitt live mehr als fünf Millionen Zuschauer und fast 13 Millionen pro Folge, die sie sich die Doku nachträglich on demand anschauten.

Der dramaturgische Faden des Films hat etwas. Besonders wenn man weiß, dass der Erfolg der Mannschaft damals mehr war als ein lockerer, glorreicher Spaziergang. Die Widrigkeiten und Eitelkeiten, die sich im Laufe der Jahre in der Umkleidekabine der Bulls aufgestaut hatten, waren nicht unerheblich und Teil der Geschichte. Regisseur Jason Hehir konnte dafür auf bis dahin nie gezeigte Aufnahmen aus dem Archiv zurückgreifen. Rund 500 Stunden an Rohmaterial, das eine Crew im Auftrag der NBA im Laufe jener Saison gedreht hatte, das aber nie das Licht der Welt erblickt hätte, wenn Jordan, dem die Liga Veto-Recht eingeräumt hatte, seine Zustimmung verweigert hätte.

Auf diese Weise erfährt die interessierte Welt nicht nur zum wiederholten Mal, was für ein genialer, sportlich überragender und extrem ehrgeiziger Typ dieser Michael Jordan war. Sondern sie erhält zusätzlich Einblick in das Sammelsurium aus neurotischen Charakteren, ohne die es die Nummer 23 nie zum ganz großen Erfolg gebracht hätte.

Die meisten von ihnen haben sich mit ihrer Rolle als Nebendarsteller abgefunden. Selbst der damalige Bulls-Center Luc Longley, der wenig später in seine Heimat Australien zurückkehrte und aus der Rückblende fast völlig herausradiert wurde. Angeblich wurde er für das Projekt nicht interviewt, weil die Kosten für eine Reise des Drehteams zu hoch waren und die COVID-Pandemie alles verkomplizierte. Longley war deshalb bereit, sich erstmals vom australischen Fernsehen ausführlich porträtieren zu lassen. Die Produzentin Caitlin Shea von der Australian Broadcasting Corporation (ABC) sagte dem amerikanischen Sender Fox Sports: „Er wollte, dass junge Australier erfahren, dass auch ein Aussie in dieser Mannschaft war.“37

Scottie Pippen ging noch weiter und beschwerte sich hinlänglich in seiner 2021 erschienenen Autobiographie über The Last Dance: Nicht nur war Pippen sauer, dass darin der damalige Kampf des gesamten Teams um den sechsten NBA-Titel zu einer Glorifizierung von Jordan umgedeutet wurde. Was ihn noch mehr genervt hatte, war dessen Einfluss im Hintergrund als Produzent mit Vetorecht über das eingesetzte Bildmaterial. „Michael erhielt 10 Millionen Dollar für seine Rolle in der Doku“, schrieb er. „Meine Mannschaftskollegen und ich erhielten keinen Cent.“38

Abgesehen davon, dass Jordan seine Erfolge auf dem Platz nicht alleine geschafft hat: Was seine Ausstrahlung außerhalb der Arenen betrifft, geht viel auf das Konto einer der kreativsten Werbeagenturen der Welt, Wieden & Kennedy in Portland im Bundesstaat Oregon. Dort entwirft man seit Jahrzehnten jene Nike-Werbespots, mit denen aus profanen Sportlern wahre Aktionskünstler werden. In dem eindrücklichsten Jordan-Clip steht er allein in einer leeren, halbdunklen Turnhalle und spielt den einsamen, nachdenklichen Helden, der so gern von dem Sockel herabsteigen möchte, auf den ihn die amerikanische Öffentlichkeit gestellt hat. „Was wäre, wenn mein Name nicht in Neonbuchstaben geschrieben würde?“, fragt er mit dieser tiefen Stimme aus dem Off, während er einen Ball nach dem anderen in den Korb wirft. „Was, wenn mein Gesicht nicht in jeder zweiten Minute im Fernsehen gezeigt würde?“

Die Kamera hängt weit oben unter der Decke und fängt ihn in ästhetisierenden Schwarzweißkontrasten ein.

„Was, wenn nicht hinter jeder Ecke ein Menschenauflauf entstünde?“

Das Tippen des Balles. Das Geräusch des Netzes.

„Was, wenn ich einfach nur ein Basketballspieler wäre? Kannst du dir das vorstellen?“

Es herrscht sekundenlang Stille. Und jeder darf rätseln, was er dem berühmtesten und reichsten Sportler der Welt auf eine solche Frage antworten würde. Aber bevor wir ihm etwas Gescheites zurufen können, nimmt er uns das Nachdenken ab.

„Ich kann.“

(2021)

Skulpturen von Sportlern wachsen seit den neunziger-Jahren allerorts aus dem Boden. Omri Amrany, der Maler und Bildhauer, der das Jordan-Denkmal, genannt The Spirit gestaltet hat, bekam seither ständig ähnliche Aufträge und entwarf Statuen von Basketballern wie Magic Johnson, Wilt Chamberlain und Jerry West, von Eishockeyspielern wie Gordie Howe und Bobby Hull und den bei einem Militäreinsatz von seinen eigenen Kameraden getöteten, ehemaligen Football-Profi Pat Tillman.

Den Auftrag von 1993 bekam er auf Initiative von Bulls-Eigentümer Jerry Reinsdorf, nachdem der für das Projekt Entwürfe von mehreren Künstlern eingeholt hatte. Die fertige Statue wurde am 1. November 1994 in einer Feierstunde enthüllt.

Im Umgang mit den Skulpturen ist man in Nordamerika durchaus flexibel. Als das NHL-Team der Edmonton Oilers innerhalb der Stadt in eine neue Halle umzog, musste der in Bronze gegossene Wayne Gretzky, der in dieser Darstellung den Stanley Cup in die Luft stemmt, natürlich mit und wurde umgepflanzt. Die Universität Penn State wiederum ließ kurzerhand die Statue des Football-Trainers Joe Paterno entfernen. Die hatte sie nur wenige Jahre zuvor als Würdigung für seine erfolgreiche Arbeit errichtet. Bauarbeiter rückten kurzerhand an und warfen eine blaue Plastikplane über den grinsenden, alten Mann mit der dicken Brille, der ein paar Jahre lang mit erhobenem Zeigefinger vor dem Stadion gestanden hatte. Ein Ruck mit einem Kran – und die 400 Kilogramm schwere Bronze in Lebensgröße war entwurzelt, abtransportiert und verschwunden. Zusammen mit der Inschrift „Joseph Vincent Paterno. Erzieher, Coach, Humanist“.

Der Grund: Während Paternos jahrzehntelangem Regime hatte einer seiner ehemaligen Assistenztrainer in den Umkleidekabinen des Football-Zentrums der Universität immer wieder Jungen sexuell missbrauchen können, unter anderem deshalb, weil Paterno es vermieden hatte, die Polizei einzuschalten.

Es gibt aber auch den Fall, der nur auf einer abgehobenen Ebene etwas mit dem organisierten Sport zu tun hat. Es ist das überlebensgroße Denkmal des fiktiven Boxers Rocky Balboa, gespielt vom Schauspieler Sylvester Stallone. Der hatte diese Figur erfunden und in einer Serie von mittlerweile neun Filmen auf die Leinwand gebracht. Mit ihr wollte er einem besonderen Typ von Athleten aus der Stadt Philadelphia einen Lorbeerkranz winden: dem heroischen Philly Fighter, der bis zum Schluss kämpft, egal ob er gewinnt oder verliert, und der niemals aufgibt.

Die Skulptur, eine bloße Requisite in der dritten Rocky-Folge und künstlerisch alles andere als bemerkenswert, schenkte Stallone nach den Dreharbeiten der Stadt. Die stellte sie zunächst vor einer Sporthalle auf, aber konnte irgendwann den Widerstand von kunstsinnigen Verantwortlichen aus dem Philadelphia Art Museum und der Philadelphia Art Commission überwinden. Und so landete die Figurine mit den hochgerissen Armen am unteren Ende der riesigen Freitreppe des Museums. Ein Ort, der zu den szenisch wichtigen Schauplätzen in den Filmen gehört.

Was dieser Rocky symbolisiert, ist die Fähigkeit vieler Amerikaner, Realität und Fiktion in eine Melange auflösen zu lassen, die neue Realitäten schafft. Wie sagte James Binns, ein ehemaliger Box-Funktionär und Freund von Stallone? „Kunst soll die Menschen inspirieren. Und genau das passiert hier. Rocky war ein Sieger. Und jetzt steht er als Sieger an der passenden Stelle. Neben den Treppenstufen, die er berühmt gemacht hat.“

Beim Phänomen der wachsenden Zahl an Sportlerskulpturen in allen Teilen der Welt kommen nach Ansicht des Darmstädter Sportsoziologen Professor Dr. Karl-Heinrich Bette einige Aspekte zum Vorschein. Er sagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk im Sommer 2020: „Der erste Punkt ist, dass der Sport im Moment mit Themen wie Doping, Korruption, Überkommerzialisierung, Hooliganismus durchaus kritisch in der öffentlichen Diskussion steht. Der Sport versucht sozusagen, das Negative so durch eine positiv gestimmte Erinnerungskultur und Gedächtnis- und Verehrungsindustrie zu kompensieren. Und der zweite Gesichtspunkt ist: Sportler sind nicht nur für sich selbst erfolgreich, sondern immer auch für ein Milieu, das sie entsendet hat. Das sind Vereine, das sind in Amerika die Universitäten, das sind die Nationalstaaten. Die Athleten sind im Grunde dann Stellvertreterfiguren. Das Aufbauen von Skulpturen, das Aufhängen von Büsten, das gehört mit zur Inszenierung des Sports.“39

Auf der Atlantik-Insel, auf der der Fußballer Cristiano Ronaldo aufwuchs, geht diese Inszenierung inzwischen so weit wie nirgendwo auf der Welt. Die Enthüllung einer Büste auf dem Inselflughafen mit dem offiziellen Namen Madeira Cristiano Ronaldo war nur das erste Ereignis in einer Kette, die demonstriert, welche Ausmaße die Heldenverehrung inzwischen annehmen kann. Denn die kleine Skulptur zeigte ein ziemlich verzerrt grinsendes Gesicht des Kapitäns derportugiesischen Nationalmannschaft und stieß auf großes Missfallen. Nicht zuletzt beim Abgebildeten selbst. Die Arbeit von Emanuel Santos wurde ausgewechselt und mit der Darstellung eines namenlosen spanischen Künstlers ersetzt, die neutraler, aber auch ziemlich ausdruckslos wirkt.

Wen das nicht beeindruckt, der kann alternativ allerdings ein ganzes Museum besichtigen, das sich ausschließlich mit dem Fußballer beschäftigt: das Museu CR7. In ihm steht unter anderen eine Skulptur von ihm in Lebensgröße, die aus Schokolade angefertigt wurde. Vielleicht genügt aber auch bereits ein Blick auf die drei Meter hohe Ronaldo-Bronze draußen vor der Tür. Die zeigt ihn nicht nur in seiner weltberühmten breitbeinigen Pose.

Das kurioseste Element ist das Gemächt, das der Bildhauer aus der Hose herausbeulen lässt. Das Perverse daran ist nicht mal, dass Besucher ganz offensichtlich diese Zone mit Wonne betatschen, weshalb sie besonders stark in der Sonne glänzt. Sie wurde zu einem Kommentar aus dem Leben des Fußball-Stars. Denn seit Jahren läuft ihm die Beschuldigung hinterher, er habe 2009 in Las Vegas eine Frau vergewaltigt. Ronaldo bestreitet die Tat. Die Ermittlungsbehörden sahen keine hinreichenden Belege für eine Anklage. Was allerdings unbestritten ist und aus Gerichtsdokumenten hervorgeht: Ronaldo zahlte 2010 insgesamt 375.000 Dollar an die Amerikanerin, die die Zahlung später als eine Art von Schweigegeld einstufte.

32 Siehe auch Magier aus einer fernen Welt auf Seite 357ff.

33 Wörtlich: Moralitätenspiel. Ein im amerikanischen Sportjournalismus gerne benutzter Begriff, wenn es um Themen aus dem Bereich Recht, Moral und Ethik geht. Dieselbe Vokabel kennt man in Deutschland nur in ihrem ursprünglichen Kontext aus dem Bereich des Theaters, wo vor mehr als hundert Jahren Stücke populär waren, die Moralitäten genannt wurden. Sie kamen mit einer simplen Botschaft daher: Dass die Welt eigentlich in Ordnung ist. Eine Welt, in der am Ende, wenn der Vorhang fällt, die tugendhaften Akteure das Übel jedes Mal besiegt haben.

34 Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Washington und ein neues Gesetz in Kalifornien, das College-Sportlern erstmals gestattete, ihren Namen und ihren Ruhm auf eigene Rechnung zu vermarkten, brach im Laufe des Jahres 2021 das alte System komplett auf. Andere Bundesstaaten zogen nach, weil sie befürchteten, dass sie im Wettbewerb mit jungen Talenten den Kürzeren ziehen, wenn sie ihnen nicht ermöglichen, nebenbei Geld zu verdienen. Eine bundeseinheitliche Regelung wird im Kongress in Washington diskutiert, steht allerdings noch aus.

35 Ford verfolgt in der über eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten ausgelegten Roman-Serie das Leben seines Protagonisten Richard Bascombe und verwebt im zweiten Titel Unabhängigkeitstag (Berlin 1995) den Besuch von gleich zwei Halls of Fame in den Handlungsstrang – die Basketball Hall of Fame in Springfield im Bundesstaat Massachusetts und die Baseball Hall of Fame in Cooperstown im Bundesstaat New York (siehe auch Denkmalpflege ab Seite 40ff.

36 Mariah Burton Nelson: „The Stronger Women Get, the More Men Love Football”, New York, 1994

37 Martin Rogers: The Story behind former Chicago Bulls Center Luc Longley’s Absence in the The Last Dance, 23. August 2021, https://www.foxsports.com/stories/nba/luc-longley-michael-jordan-chicago-bulls-last-dance-documentry-one-giant-leap zuletzt aufgerufen im Dezember 2021

38 Scottie Pippen mit Michael Arkush: Unguarded, New York, 2021

39 Jürgen Kalwa: Ehrung von Spielern – Nummer für die Ewigkeit, Deutschlandfunk, 15. August 2020

DENKMALPFLEGE

Seit hundert Jahren glorifizieren Amerikas Ruhmeshallen den Sport mit Wallfahrtsorten für nostalgiebeseelte Fans. Allen voran: die Baseball Hall of Fame in Cooperstown

Wenn man im Sommer in Amerika in ein Baseball-Stadion geht und sich ein Spiel der obersten Liga anschaut, fällt einem vor allem eines auf: Auf den Rängen herrscht eine unbeschwerte Stimmung.

Die produziert ein ständiges Raunen, durch das hin und wieder das Geräusch des Holzschlägers durchklingt. Und das Geschrei der Hot-Dog-Verkäufer.

In dem Treiben gibt es keine Hooligans. Keine Aggressivität. Keinen tiefsitzenden Hass. Baseball-Fans sind Menschen, die sich beim Spiel eine entspannte Auszeit von ihrem Alltag gönnen wollen.

Wenn dann der Herbst kommt und die Saison langsam zu Ende geht, erfasst sie eine gewisse Melancholie. Ein Gefühl, über das Bartlett Giamatti vor einigen Jahren einen ganzen Essay geschrieben hat: The Green Fields of the Mind40, eine zu einem Klassiker gewordene literarische Arbeit, inspiriert von einer typischen Saison der Boston Red Sox, deren Anhänger zu seinen Lebzeiten in einer nostalgisch verklärten, fatalistischen Enttäuschungsstarre lebten.41

„It breaks your heart. It is designed to break your heart.“

Baseball bricht dein Herz. Es ist entwickelt worden, um dein Herz zu brechen.

„The game begins in the spring, when everything else begins again, and it blossoms in the summer, filling the afternoons and evenings, and then as soon as the chill rains come, it stops and leaves you to face the fall alone.“

Das Spiel fängt im Frühling an, wenn alles andere wieder beginnt. Und es blüht im Sommer, wenn es die Nachmittage und Abende füllt. Und dann, sobald der kalte Regen kommt, hört es auf und lässt dich mit dem Herbst allein.

Giamatti, ein kleiner, korpulenter Mann mit einer kräftigen Stimme, war einer jener zahllosen amerikanischen Intellektuellen, die in dieser eigentlich profanen Sportart etwas mehr sehen als nur ein Mannschaftsspiel mit einem Holzknüppel und einem harten, faustgroßen Lederball.