Der Straßen-Doc - Gerhard Trabert - E-Book

Der Straßen-Doc E-Book

Gerhard Trabert

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Beschreibung

Gerhard Trabert ist ein internationaler Krisenarzt und bundesweit bekannt als der "Arzt der Armen". Er ist Mediziner, Sozialarbeiter, Professor und Buchautor. Wenn er nicht gerade in Katastrophengebieten unterwegs ist, sind seine Patienten seit über 20 Jahren Wohnungs- und Mittellose, Deutsche und Ausländer, denen er eine kostenlose medizinische Behandlung gibt. Er begegnet den armen Menschen auf Augenhöhe und gibt ihnen ein Stück Würde zurück. In diesem Buch erzählt er seine berührendsten Erlebnisse und schafft ein Bewusstsein dafür, stehenzubleiben, genauer hinzuschauen und selbst zu handeln. Für ihn ist jede einzelne Begegnung ein Stück persönliche Lebensqualität, das man mit Geld nicht bezahlen kann. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Humanität und richtet sich gegen alle Formen bürgerlicher Gleichgültigkeit.

  • Ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Menschlichkeit
  • Berührende Begegnungen mit den Ärmsten der Gesellschaft
  • Eine sensible Reportage über soziale Ungerechtigkeiten

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Seitenzahl: 268

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Gerhard Trabert

Der Straßen-Doc

Unterwegs mit den Ärmsten der Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Andreas Reeg, Darmstadt

ISBN 978-3-641-24977-9V001

www.gtvh.de

INHALT

Warum ich dieses Buch schreibe

Prolog

1. »DAS SCHICKSAL HAT MICH HART GETROFFEN!«

Gut zu wissen: »Life-Event-Erfahrungen« und Entwurzelung

Der Tod auf dem Zebrastreifen

Baumfäll-Arbeiten

2. »DER VERLUST MEINER ARBEIT HAT MIR DAS GENICK GEBROCHEN«

Gut zu wissen: Arbeitslosigkeit als Einstieg in den sozialen Ausstieg

Der schwere Weg zurück

Auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch

Amputation von Seele und Körper

Gut zu wissen: Kreativität in Form eines Kochbuches

Aus der JVA in die Wohnungslosigkeit

3. »ES IST DIE HÖLLE, ALS FRAU WOHNUNGSLOS ZU SEIN!«

Gut zu wissen: Wohnungslose Frauen und Gewalterfahrung

Die Nacht, in der sich alles veränderte

Exkurs: Prostitution und Menschenhandel

Vom Krankenhaus auf die Straße entlassen

Lena findet keinen Halt!

Exkurs: Wohnungslosigkeit in New York City

Silvia und ihre Kinder

4. »PRINZ WOLLTE ICH WERDEN UND NICHT SCHIZOPHREN!«

Gut zu wissen: Psychische Erkrankungen als Stigma

Der Waldmensch

Gut zu wissen: Sucht hat immer eine Geschichte

»Für die Prinzessin!«

Exkurs: Unser Phil-Collins-Musik-Video-Clip

Exkurs: Sozialrassismus

Exkurs: Polizeilicher Übergriff auf eine soziale Einrichtung

5. »ALS SOLDAT TÖTEN ZU MÜSSEN, VERGISST DU NIE!«

Gut zu wissen: Ehemalige Soldaten und Wohnungslosigkeit

Der Fremdenlegionär

Als Blauhelm in Somalia und Ruanda

6. »ICH DACHTE, DIE VERBRENNEN MICH JETZT!«

Gut zu wissen: Gewalterfahrungen als Wohnungsloser

Penner beim Pinkeln angezündet – Rechtsextremer Rassismus

Der fast verbrannte Psychologe

Der angebliche »Mörder«

Horst und Freddy und das Schicksal

7. »DANKE, DOKTOR, DASS DU MIR ZUGEHÖRT HAST!«

Gut zu wissen: Ausländische Mitbürger, geflüchtete Menschen, Asylbewerber

Der Vater starb vor ihren Augen

Der syrische Vater

Exkurs: Traumatisierung

Ein Opfer, das sich schuldig fühlt

8. »ALT WERDEN IST NICHTS FÜR FEIGLINGE!«

Gut zu wissen: Altersarmut – die Zukunft vieler

Wolfgang, der ruhige Kämpfer

Gut zu wissen: Psychische Grenzen

Im Rollstuhl in der Tiefgarage

Gut zu wissen: Zufriedenheitsparadoxon

Die Rente ist zu gering

Der alte Mann ist wieder mobil

»Ihr habt mein Leben gerettet!«

9. »WAS MACHT DAS LEBEN NOCH FÜR EINEN SINN?«

Gut zu wissen: Sozialer Abstieg und Suizidalität

In Begleitung des SEK (Sondereinsatzkommando)

Das Gefrierschutzmittel

10. »NOCH NACH DEM TOD AUSGEGRENZT!«

Gut zu wissen: Die Versorgungssituation von EU-Bürgern insbesondere aus Osteuropa

Beerdigungszeremonie vor und nicht in der Kapelle

Lebensrettung durch ein Kind

Exkurs: Emotionalität versus Rationalität

Die Sehnsucht nach den Störchen in Masuren

Exkurs: »Empört Euch!«

Und wo bleibt die ärztliche Ethik?

11. »DA FRAGT MICH JEMAND NACH MEINEN TRÄUMEN!«

Gut zu wissen: Elternarmut bedeutet Kinderarmut

Tod in einer Obdachlosensiedlung

Paul, der Straßenjunge

Gut zu wissen: Straßenkinder in Deutschland

Der Raubtier-Dompteur

Exkurs: Gleichheit bedeutet mehr Glück für alle

Jasmin und ihr Traum

Exkurs: Ökonomisierung versus soziale Gerechtigkeit

Epilog

Warum ich dieses Buch schreibe

Ich stehe als sogenannter Obdachlosen- oder Armenarzt immer wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung. Aber nicht ich sollte im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sondern die von Armut- und Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen.

Mein Alltag ist einerseits geprägt durch den unmittelbaren praktischen Bezug zu Menschen, die in Armut leben, sowie andererseits von meinem theoretischen Wissen und der Reflexion darüber. Das ermöglicht mir eine andere Dimension der Armutsdarstellung, eine authentische Form. Und diese Form ist es, die ich auch diesem Buch geben möchte. Denn sie ist ganz nah an den Menschen, um die es geht, um ausgegrenzte, benachteiligte, von Armut geprägte Mitmenschen.

Mein Beruf ist seit 20 Jahren, als Professor an einer Universität im Fachbereich Soziale Arbeit die Themen Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie zu lehren. Meine Berufung ist es, als Arzt und Sozialarbeiter auf der Straße, in Flüchtlingsunterkünften, in Krisenregionen dieser Erde zu arbeiten. Meine ärztliche Praxis ist in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert ein umgebauter Sprinter, mein Arztmobil oder auch »fahrendes Sprechzimmer«. Hierin behandle ich meine Patienten, egal, ob mit oder ohne Krankenversicherung, Deutsche oder Ausländer, Atheisten, Christen, Muslime oder was auch immer. Ich fahre damit zu den Menschen, zu den wohnungslosen und zu den armen. Pro Jahr sind dies immer rund 800 Patienten und 5.000 Behandlungskontakte.

Meine erste Begegnung mit Armut

Eine meiner ersten Begegnungen mit Armut war der Kontakt zu Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten und in Notunterkünften oder auf der Straße lebten. Meine damalige Frau arbeitete als Sozialarbeiterin in einem Wohnheim für wohnungslose Männer, und ich bot dort, als damals aktiver Leistungssportler in der Leichtathletik und Medizinstudent, eine Sportgruppe an. Dabei spürte ich immer wieder meine Betroffenheit, aber auch meine Vorurteile und mein Unverständnis den Bewohnern gegenüber. Ich kannte sie nicht, und dennoch urteilte ich über sie. Ich verstand vieles nicht von dem, was ich sah und erlebte. Ich hatte so viele Fragen: Was muss in jemandem vorgehen, der eine große schmerzhafte Wunde am Unterschenkel hat und sie, wenn überhaupt, mit einem winzigen Pflaster bedeckt? Welche Ängste muss derjenige vor dem Arztbesuch haben, wenn er lieber die Schmerzen erträgt? Warum kehrt er dem bürgerlichen Leben den Rücken zu? Warum wählt ein Mensch ein Leben, das mit so viel Leid verbunden ist? Ich wollte einfach mehr über diese, mir oft so fremd erscheinenden Menschen erfahren.

Von Indien nach Deutschland

In Indien lernte ich als junger Mann erstmals die sogenannte aufsuchende medizinische Versorgung, Medical-Streetwork, in Form der ambulanten Betreuung von Leprapatienten kennen. Diese ersten Erfahrungen im Bereich einer medizinischen Versorgungsstruktur nahm ich mit nach Deutschland und übertrug sie auf die Gesundheitsversorgung von Wohnungslosen. Neue Wege, die direkt zu den Menschen führen, war mein Motto: »Kommt der Patient nicht zum Arzt, muss der Arzt zum Patienten gehen.« Ich betrat die Lebenswelten von Menschen, die in Armut lebten, als der, der vorgab, vieles zu wissen, und ging als jemand, der unendlich viel durch diese Begegnungen gelernt hatte. Als Sozialarbeiter und Arzt lernte ich durch die Betroffenen selbst, Zugänge zu Menschen am Rande der unterschiedlichsten Gesellschaften zu schaffen und ein authentisches Begegnen zu ermöglichen.

Prägendes aus meiner Kindheit

In diesem Buch möchte ich auch von meinem biografischen Weg erzählen, davon, wie ich durch meine eigene Familiengeschichte früh lernte, dass Menschen ungerecht behandelt und ausgegrenzt werden und das beliebte Sprichwort »Du bist deines Glückes Schmied« oft nicht den realen Lebensbedingungen entspricht. Meine als Kind auf diesem Weg empfundene Ohnmacht dieser Ungerechtigkeit so gut wie nichts entgegensetzen zu können, mündete in dem festen Vorsatz, als Erwachsener dagegen aktiv etwas zu tun.

Ich wuchs in einem Waisenhaus auf. Doch nicht als betroffenes Kind, nicht betroffen davon, dass die Eltern verstorben oder geschieden waren, sich nicht mehr um das eigene Kind kümmern konnten oder wollten. Nein, mein Vater war Erzieher in diesem Kinderheim. Oft spielte die ökonomische Lebenssituation der Eltern eine mitentscheidende Rolle für das »Weggeben« der Kinder. Diesen meinen Spielkameraden ging es in vielerlei Hinsicht schlechter als mir, sowohl materiell als auch emotional. Und ich musste miterleben, wie sie zum Beispiel in der Schule »als die Heimkinder« benachteiligt wurden. So erfuhr ich schon sehr früh, was es heißt, privilegiert zu sein – oder benachteiligt zu werden. Es machte mich wütend, hilflos und ohnmächtig. Und ich beschloss, als Erwachsener etwas gegen die Ungerechtigkeit zu tun. Als Kind war ich allzu oft machtlos den Mechanismen der Erwachsenenwelt von Unterdrückung und Ausgrenzung ausgesetzt.

Wieder bestimmten zahlreiche drängende Fragen meinen damaligen und späteren Alltag. Was mir schon damals bewusst wurde: Der erste und beste Weg ist immer Begegnung. Begegnung, gegenseitiges Kennenlernen und Kommunikation. Also suchte ich immer wieder als Erwachsener den Kontakt, das Gespräch zu ausgegrenzten, zu benachteiligten, zu wohnungslosen Menschen, die extremste Form von Armut in meinem Heimatland. Sehr schnell fand ich offene, authentische Gesprächspartner, die häufig über mein Interesse an ihrem vermeintlich so armseligen Leben erstaunt waren. Die Gespräche erlaubten mir einen neuen Zugang zu mir bisher unbekannten Realitäten. Ich wollte mehr wissen, und mehr wissen bedeutet für einen wissenschaftsgläubigen Menschen eine Studie, eine operationalisierte Untersuchung durchzuführen. Im Rahmen meiner Dissertationsarbeit als Arzt ergab sich diese Möglichkeit. Bei meinen Recherchen wurde sehr schnell deutlich: Über diese Lebensform, wohnungslos zu sein, unter besonderer Berücksichtigung des gesundheitlichen Status wurde bisher in Deutschland kaum, ja gar nicht geforscht. Schwierig, einen Doktorvater zu finden, schwierig, die Sensibilität einer Universität für dieses Thema zu erwecken. Aber nach vielen Gesprächen gelang mir dies an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Die Studie wurde später von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe als eine Pionierarbeit bezeichnet. Die Mediziner selbst interessierten die Ergebnisse relativ wenig.

Eine meiner Fragen darin: Warum entscheidet sich jemand für dieses Leben? Ist es das Resultat einer bewussten Entscheidung oder das Ende eines Prozesses, eines irgendwie ausgelösten sozialen Abstiegs? Ich fragte also danach, was die Betroffenen selbst für ausschlaggebend für die Wohnungslosigkeit hielten. Die Antworten erstaunten mich, denn es kristallisierten sich zwei Hauptgründe heraus. Zum einen wurde immer wieder die Arbeitslosigkeit als entscheidender Wendepunkt in ihrem zuvor »normalen« Leben benannt. Der zweite Grund war ein gravierendes traumatisches Erlebnis: Trennung, Scheidung, aber auch der Verlust, der Tod des Partners, der eigenen Kinder oder auch der Eltern.

Gerade diese Antwort und das, was ein solcher Schicksalsschlag bedeuten kann, ist als vielfach zutreffende Realität geblieben: In meiner mittlerweile 25-jährigen praktischen Begegnung mit wohnungslosen Menschen sind es immer wieder solcherart traumatische Erlebnisse, die sie aus ihrem bisherigen Leben gerissen haben. Und plötzlich waren für mich diese so fremden, nicht nachvollziehbaren Leben fassbar, ja verständlich geworden. Denn wie würde ich reagieren, wenn meine Frau oder eines meiner Kinder plötzlich versterben würden? Wie würden Sie, wie würde jeder von uns reagieren? Sicherlich erleiden dieses Schicksal zahlreiche Menschen, ohne auf der Straße zu landen. Aber was wäre, wenn ich zu diesem Zeitpunkt keine wahren Freunde hätte, keine intakten sozialen Beziehungen, niemand, mit dem ich die Trauer aufarbeiten, teilen könnte? Kein soziales Netz hätte, das mich auffinge? Wären wir, wäre ich so gefestigt, dass ein Abgleiten in die Hoffnungslosigkeit, in die Aufgabe eines eigenen strukturierten Lebens, in die Wohnungslosigkeit nicht auch möglich wäre? Mir fallen sofort viele Begegnungen mit wohnungslosen Menschen ein, deren Schicksal mich sehr berührt hat und deren Lebensweg ich nachvollziehen kann. Beispielhaft möchte ich einige davon in diesem Buch erzählen.

Ich möchte zudem berichten, warum mich gerade diese Form der originären Armut fasziniert. Woher rühren dieses Interesse und zugleich dieses Unverständnis darüber, weshalb Menschen hier, in einem reichen Land, so leben müssen, leben wollen? Ist es Rebellion oder Resignation als logische Folge in einer Gesellschaft, die so sehr am Materiellen interessiert ist? In der »Haben« mehr zählt als »Sein«? Ich empfinde Bewunderung und Irritation ihnen gegenüber. Ich möchte verstehen, möchte wissen. Aber nicht aus Büchern, sondern durch die Nähe der Begegnung und Gespräche mit den betroffenen Menschen anstelle einer selektiven Wissensvermittlung, aufgrund von Analysen und Interpretationen durch andere über diese, sich so »verkehrt« verhaltenen Individuen. Was sind dies für Menschen, Charaktere, Provokateure? Verlierer oder die wahren Wissenden? Oder eine Mischung aus all dem? Meine Begegnungen und Erfahrungen möchte ich teilen.

Keine Fakten und Daten können die zwischenmenschliche Begegnung, den Kontakt mit der Armut ersetzen. Ich möchte von diesen Begegnungen, von den Menschen berichten, die am Rande dieser Gesellschaften leben. Ihnen eine Stimme und ein Gesicht geben, ihre Geschichten erzählen quasi als Vermittler, als Gatekeeper für diese so besondere Welt.

Der Armut ein Gesicht geben

Bertolt Brecht hat leider zeitlos Recht mit der Aussage in der Dreigroschenoper: »Denn die einen sind im Dunkeln – und die andern sind im Licht – und man siehet die im Lichte – die im Dunkeln sieht man nicht.«

Dabei ist es mir wichtig, eine Synthese herzustellen zwischen der beschreibenden Darstellung von Armutsschicksalen und der theoretischen Reflexion von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Durch diese Form der Bearbeitung wird es schwierig, Distanz zu der Lebenswirklichkeit dieser Menschen aufzubauen, und genau dies ist eines meiner Ziele. Betroffenheit durch Informiertheit zu erzeugen, die dann zu einem solidarischen Handeln führen kann. Zumindest zu mehr Verständnis.

Denn je dichter ich Armut begegnete, umso näher war ich den Menschen und somit auch meinem eigenen Selbst. Nirgendwo habe ich so viel Wärme, Tiefe und Liebe gespürt wie in der Begegnung mit »armen Menschen«. Ich erhalte Reichtum und Hoffnung, wo ich Armut und Hoffnungslosigkeit erwartete – ohne das Ausblenden von Diskriminierung, Stigmatisierung, Not, Leid und Tod. In meinem Erfahren von Armut stehen Fragen existenzieller Art im Vordergrund, ohne zu erdrücken. Für Oberflächlichkeit, für Small Talk ist hier kein Platz, und doch ging für mich die Leichtigkeit und die Lebensfreude nie verloren. Nein, ich glaube, ich habe sie gerade hierdurch gewonnen.

Gleichwürdigkeit

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul benutzt den Begriff der »Gleichwürdigkeit« für die Beschreibung einer gelungenen Beziehung zwischen Eltern zu ihren Kindern. Ich habe diesen Begriff, der in der deutschen Sprache so überhaupt nicht existiert, übernommen, da er meines Erachtens eine fokussierte universelle Charakterisierung einer von Empathie und Respekt geprägten und immer anzustrebenden Beziehungs- und Kommunikationsebene, gerade gegenüber sozial benachteiligten Menschen, darstellt. Anderen in Würde zu begegnen und ihnen damit ein Stück Würde, die bei armen Menschen oft verloren gegangen ist bzw. die man ihnen verweigert hat, wieder zurückzugeben. Diese Würde möchte ich mit den Geschichten in diesem Buch zeigen und den Betroffenen erweisen. Deshalb ist eine weitere Intention dieses Buches, der Entsolidarisierung mit ausgegrenzten, unterdrückten und armen Menschen Widerstand entgegenzusetzen. Der Aushöhlung unserer sozialen Versorgungsgesetze mit Kreativität und Fantasie zu begegnen. Und vor allem den Betroffenen Gehör zu verschaffen.

Ich schreibe daher kein Buch über Armut, sondern – gewissermaßen – mit der Armut. Für mich hat Armut ein Gesicht. Ich begegne ihr täglich. Ich sehe, fühle, rieche, schmecke sie. Das hat mich geprägt, und es fasziniert und berührt mich zutiefst. Es gibt Menschen, die sind visuell, akustisch, olfaktorisch orientiert. Ich verstehe mich als ein haptischer Mensch. Jemand, der berühren will und berührt werden möchte. Die Begegnung mit armen Menschen, mit kranken Menschen hat mich schon immer betroffen gemacht und berührt, aber niemals gelähmt. Nähe, Begegnung und Beziehung zulassen, das bedeutet, nicht mehr wegschauen zu können. Ich wollte immer hinschauen, verstehen, im wahrsten Sinne des Wortes begreifen und damit berühren. Beziehung durch Berührung ist eine Qualität des menschlichen Daseins, die zutiefst befriedigt, sie ist ein elementares menschliches Bedürfnis. Und dennoch haben wir häufig Angst davor. Angst vor der Konfrontation mit uns, mit dem, was Menschsein ausmacht. Dabei bedeutet Begegnung eine Lebensqualität, die man nicht erkaufen kann. Materielles stellt eine Form des Kompensationsversuches dieses Begegnungsdefizits dar. Haben wir den Mut zur Begegnung, zur Berührung!

Gerhard Trabert

Im Sommer 2019

(Alle wissenschaftlichen Basics dieses Buches entstammen dem Fachbuch des Autors, zusammen mit Prof. Dr. Heiko Waller: Sozialmedizin – Grundlage und Praxis, 7. aktualisierte und erweiterte Auflage, Kohlhammer 2013.)

Prolog

Armut ist die schlimmste Form von Gewalt!

Mahatma Ghandi

Erfahrungen als Notarzt

»Arm im Beutel – krank am Herzen«. Diese Aussage von Johann Wolfgang von Goethe , die nach wie vor ihre Berechtigung hat, zeigte sich mir gerade auch als notärztlich tätiger Arzt. Menschen, die von Armut, von sozialer Benachteiligung betroffen sind, sind kränker als wohlhabendere Mitbürger, und sie sterben früher. Dies bedeutet eben auch, dass notärztliche Einsätze häufiger bei von ökonomischer Armut betroffenen Menschen nötig sind. Der Notarzt wird in den intimen Lebensbereich erkrankter Menschen hereingelassen, ja er ist dort, in der Regel, willkommen und wird nicht als Eindringling empfunden. Ich habe dies immer einerseits als ein Privileg des Arztseins und andererseits als eine immens hohe, originäre, dem Arztberuf innewohnende Verantwortung empfunden, das körperliche, aber auch seelische und soziale Wohl des Patienten nie zu vergessen.

So bin ich auch als Notarzt immer wieder von Wohnungslosigkeit, von extremer Armut betroffenen Menschen begegnet. Teilweise auch Menschen, die ich schon von meiner Arbeit als »Obdachlosenarzt« kannte. Deshalb möchte ich in diesem Buch auch von Begegnungen in der Funktion als Notarzt mit dem Phänomen Wohnungslosigkeit und Armut berichten. Gerade diese Erlebnisse zeigen wie dramatisch das körperliche Überleben wohnungsloser Menschen oft gefährdet ist, und zudem, was es heißt, in extremer Armut zu leben.

Unser erstes Arztmobil

Unser erstes Arztmobil, unsere fahrbare medizinische Ambulanz für wohnungslose Menschen in Mainz und Umgebung, wurde von Phil Collins finanziert. Klingt etwas schräg! Wie kommt der Weltstar Phil Collins dazu, unser Arztmobil zu finanzieren, mit dem alles anfing. Viele werden den Song »Another day in paradise«, von ihm komponiert und gesungen, kennen. In diesem Lied beschreibt er die Situation einer wohnungslosen Frau und zugleich eine Erfahrung, die er selbst gemacht hatte. Phil Collins sah regelmäßig, wenn er in sein Studio ging, eine wohnungslose Frau an einer Brücke sitzen. Er ging viele Male an ihr vorbei, ohne sie anzusprechen, ja er beachtete sie kaum. Eines Tages entschied er sich, diese Frau doch anzusprechen, um mehr über sie zu erfahren. Diese Begegnung berührte ihn so sehr, dass er den Song »Another day in paradise« komponierte. Im Jahre 1997 spendete er von den Einnahmen durch dieses Lied 200.000 DM dem Caritasverband Deutschlands mit der Auflage, dass das Geld für die medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen eingesetzt werden sollte. Als ich davon hörte, stellte ich einen Antrag beim Caritasverband auf Finanzierung eines Arztmobiles, was zu dieser Zeit ein einmaliges und erstmalig konzipiertes Versorgungsprojekt war. Der Deutsche Caritasverband genehmigte meinen Förderantrag und überwies 20.000 DM. Und von genau diesem Betrag kauften wir das erste mobile Gesundheitssprechzimmer für wohnungslose Menschen, das Arztmobil.

Die Geschichte mit Phil Collins und diesem Lied geht aber noch weiter. Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin und Sängerin Anita Zimmermann, die einige Jahre ebenfalls mit dem Arztmobil unterwegs war, kreierte ich einen deutschen Text dieses Liedes mit dem Titel: »Wo ist der Weg zum Paradies?« (Buchumschlag) Es ist keine reine Übersetzung, sondern ein Text, der unsere Erfahrungen in der Behandlung wohnungsloser Frauen im fahrbaren Sprechzimmer widerspiegelt. Die Agentur von Phil Collins wollte dann die englische Übersetzung unseres deutschen Textes und gestattete uns, was ein absolutes Novum darstellte, dieses Lied in dieser deutschen Übersetzung zu veröffentlichen, allerdings nur zu Benefizzwecken, was natürlich auch unsere Absicht war. Wir haben dann im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit unseres Vereins, Armut und Gesundheit in Deutschland, eine Musik-CD aufgenommen und ein Musik-Doku-Video-Clip mit diesem Song durch befreundete Filmemacher gedreht. Anita Zimmermann singt dieses Lied wunderschön einfühlsam auf der CD sowie der DVD.

Mein Selbsterfahrungsversuch

Die Lebenssituation wohnungsloser Menschen nachvollziehen zu können, ist schwierig, ja fast unmöglich. Vor Jahren habe ich im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie versucht, dies etwas stärker zu erfühlen, zu spüren, zu verstehen. Auf die Straße zu gehen und dort zu leben, davor hatte ich zu großen Respekt, ich wählte den Weg des 6-wöchigen Lebens in einer Obdachlosensiedlung in Mainz.

Schon während meines Studiums der Sozialen Arbeit empfand ich den Ansatz der Selbsterfahrung als Annährungsversuch zur Lebensrealität von Menschen, die oft am Rande, zumindest immer noch ausgegrenzt und benachteiligt sind, sehr interessant.

Während der Studienzeit praktizierte ich dies hauptsächlich im Bereich der Zusammenarbeit und Unterstützung von körperbehinderten Menschen.

Wie kann ich mein Gegenüber besser verstehen?

Diese Frage erscheint mir als eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste innerhalb einer ehrenamtlichen oder professionellen Beziehung zu Menschen, die in gesellschaftlichen »Randgruppen« leben.

Trotz einer Psychologisierung und Soziologisierung unseres Alltags fällt es uns immer noch sehr schwer, eine vorurteilsfreie Sensibilität für andere Menschen zu entwickeln. Dieser Umstand spiegelt sich auch oder gerade in einer von sozialer Hilfestellung bzw. Begleitung charakterisierten Beziehung zwischen Vertretern sozialer Berufe (ehrenamtlich sowie professionell) und deren Klienten, Menschen, die aus verschiedensten Gründen in gesellschaftliche Randgruppen gedrängt wurden, wider. Die letzten Jahrzehnte brachten uns einen Boom abstrakt-gesellschaftlicher Analysen. Der Wirkungsmechanismus und die Ursachen des Randgruppenphänomens, der Armut und sozialen Benachteiligung wurden detailliert und ausführlich theoretisch dargestellt und vermittelt. Viele Vertreter sozialer Berufsstände haben sich dieses Wissen auf theoretischem Weg angeeignet.

Angemessene Konsequenzen aufgrund solcher Analysen in der konkreten Arbeit fanden jedoch nur sehr spärlich und vereinzelt statt. Die notwendige Solidarisierung mit von Ausgrenzung und Benachteiligung betroffenen Menschen wurde kaum vollzogen.

Die logisch daraus resultierende Frage muss nun heißen:

Warum findet keine Solidarität mit den Betroffenen statt?

Und genau bei der Beantwortung dieser Frage setzt die Entwicklung und Notwendigkeit der Konzeption und praktischen Umsetzung von Selbsterfahrungserlebnissen ein. Ich bin der Auffassung, dass angemessene arbeitskonzeptionelle Konsequenzen sowie Solidarisierungsmaßnahmen mit Betroffenen aufgrund theoretischer Analysen der Ursachen-Wirkungs-Mechanismen gesellschaftlicher Diskriminierung deshalb nicht stattfand und stattfindet, weil dieses Wissen in den meisten Fällen weder verinnerlicht wurde noch in irgendeiner individuellen persönlichen dann auch emotionalen Beziehung gebracht wurde bzw. werden konnte. Der Grad der persönlichen Verinnerlichung von oder die individuelle Beziehung zu theoretischem Wissen ist ausschlaggebend für das Ausmaß der arbeitskonzeptionellen Konsequenzen im Hinblick auf Solidarisierungsaktivitäten.

Wie ist eine solche Verinnerlichung von theoretischem Wissen möglich?

Ich sehe in der Selbsterfahrungsmethode eine Möglichkeit, eine Verinnerlichung von theoretischem Wissen zu erreichen. Wobei das Theoretische um das Praktische entscheidend ergänzt wird und somit erst in dieser Verbindung an Bedeutung gewinnt.

Wie funktioniert die Verinnerlichung, und was beinhaltet die Selbsterfahrungsmethode?

Die Selbsterfahrungsmethode beruht auf der Durchführung von Selbsterfahrungsversuchen. Unter Selbsterfahrungsversuchen verstehe ich in Abgrenzung zur üblichen Definition von Selbsterfahrung Versuche, bei denen man durch eine Art der Simulation der Situation der Lebensrealität von sozial benachteiligten Menschen Selbsterfahrungen in dieser simulierten Situation sammelt, registriert und später auswertet. Es geht bei dieser Art von Selbsterfahrung daher weniger um intellektuelle, theoretisch angeeignete Informationen als um das gefühlsmäßige Sich-Selbst-Wahrnehmen in einer fremden realen Situation, das persönliche Empfinden von Angst, Unsicherheit, Diskriminierung, Stigmatisierung, Hilflosigkeit, Abhängigkeit und vieles mehr.

Durch diese individuelle Wahrnehmung des eigenen Ichs wird eine emotionale Betroffenheit erzeugt. Diese individuelle emotionale Betroffenheit ist nun der Schlüssel zur Verinnerlichung von theoretischem Wissen. Das Kognitive (Rationale) wird über den Weg des Emotionalen verinnerlicht.

Bei der Durchführung von Selbsterfahrungsversuchen müssen bestimmte Grundbedingungen eingehalten werden, diese sind unter anderem: Freiwilligkeit der Versuchsdurchführung, sich vorurteilsfrei den Eindrücken und Erfahrungen stellen, Gefühlsnähe zulassen, selbst bleibend – keinen wirklich betroffenen Menschen simulieren wollend, Gruppenauswertung, Austausch mit wirklich Betroffenen nach Versuchsabschluss.

Als relativierendes Moment möchte ich ausdrücklich aufführen, dass es nicht um das exakte Nachvollziehen der konkreten individuellen Empfindungen eines wirklich betroffenen Menschen geht, dies kann niemand, der sich nicht wirklich in der entsprechenden Lebenssituation befindet. Es geht um das Wahrnehmen der eigenen Person in der simulierten Situation des Betroffenen, einschließlich des Bewusstseins, nach Beendigung des Versuchs in die eigene reale Lebenssituation zurückkehren zu können.

In der Obdachlosensiedlung

Die Obdachlosensiedlung in Mainz kannte ich schon von einem Praktikum im Jugendamt. Dort zu wohnen, den Menschen näher sein zu können, am eigenen Leib, an Körper und Psyche zeitlich begrenzt zu erleben, was es heißt, in dieser Siedlung den Alltag zu verbringen, war eine große Herausforderung, mit Wissensdrang, einem Gefühl der Solidarität mit den Menschen und Neugierde verbunden.

Im Vorfeld des Wohnens in einer Obdachlosensiedlung kamen immer wieder Gedanken auf, die in die Richtung gingen: »Da wird immer etwas los sein, bestimmt gibt es Schlägereien, Gewalt und viel Lärm.« Gerade der Aspekt der erwarteten Gewalterfahrung erwies sich als eine Form von bewussten und/oder unbewussten Vorurteilen, die ich in mir trug.

Im Vorfeld mussten meine Versuchspartnerin und ich erst einmal viele bürokratische Hürden nehmen, um überhaupt in dieser Obdachlosensiedlung wohnen zu dürfen. Denn man wird dort nur bei Wohnungsverlust durch das Ordnungsamt eingewiesen. Es gibt keinen Mietvertrag, lediglich eine Nutzungsgenehmigung. Bürokratie pur! Entscheidend war bei diesem Genehmigungsverfahren, dass wir die Hauptverantwortlichen persönlich aufsuchten und alle maßgebenden Beamten in diese Kommunikation miteinbezogen haben. Nur nach Vorsprache und diesen persönlichen Kontakten erhielten wir nach Wochen eine Sondereinzugsgenehmigung. Interessant hierbei war allerdings, dass an keiner Stelle der Bürokratie auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den diesem Selbsterfahrungskonzept zugrundeliegenden Inhalten Wert gelegt wurde. Auch wohl kennzeichnend für bürokratisch gesellschaftsstrukturelle Reaktionsweisen. Klingt komisch, aber wir waren auch etwas stolz, es geschafft zu haben, in eine Obdachlosensiedlung einziehen zu dürfen.

Bei Einzug in unsere Wohnung fiel zuerst die Unsauberkeit im Hauseingangsbereich, in den Hausfluren, in den Treppengängen und den Duschen auf. Die Wohnung selbst hatte viele Mängel, die aber für das Wohnen in dieser Siedlung »normal« waren. Die Wände waren sehr porös, beim Einschlagen von Nägeln fiel der Putz von den Wänden. Die Decken waren aus Stahlbeton, deshalb war es fast unmöglich, dort Gardinenstangen zu befestigen. Die Wände waren so dünn, dass man fast jedes lautere Gespräch in der Nachbarwohnung mithören konnte und viele andere Geräusche! Die Wände waren zudem ungleich hoch. Auf Handwerker musste man sehr lange warten, manche kamen überhaupt nicht in die Siedlung. Dass die Etagenduschen im Keller waren und zudem fast immer verdreckt, war für uns besonders belastend.

Die randständige Lage der Siedlung verdeutlichte zudem den Ausgliederungs- und Isolations- sowie Diskriminierungscharakter, der dem Wohnen in diesem Wohnareal anhaftete. Diese Isolation sowie Ghettoisierung wurde dadurch verstärkt, dass die Obdachlosensiedlung in einem Industriegebiet lag und von einer Bundesstraße, einer Schnellstraßentangente, zwei Eisenbahnstrecken und einem Tierheim umschlossen war. Hierdurch war der Lärmpegel ausgesprochen hoch. Die Bildqualität des Fernsehers war bei vorbeifahrenden Zügen stark eingeschränkt, und im Sommer kam es aufgrund des Bahndamms regelmäßig zu einer Ratten- und Kaninchenplage. Es gab auch keinen Zebrastreifen von der Siedlung über die Straße zum nahe gelegenen Bolzplatz. Durch diese Lage werden ganz eindeutig geografisch und gestalterisch eine oder mehrere Trennlinien gezogen, die den »normalen« Bürger von dem obdachlosen Bürger und umgekehrt trennen. Des Weiteren wird durch diese Form der Ausgrenzung, ich denke, man kann auch von gesellschaftlicher Bestrafung sprechen, die Teilnahme am »öffentlichen Leben« deutlich erschwert. So müssen bei Besuchen von Ärzten, Ämtern, Jugendzentren, Geschäften, besonders gravierend bei Einkäufen in Supermärkten und Lebensmittelläden weite Wegstrecken bewältigt werden. Dies bedeutete, dass es keine direkten Einkaufsmöglichkeiten, außer bei Straßenhändlern, gab. Diese wiederum nutzten die Lage und die Situation der Bewohner oft schamlos, gerade was das Preisniveau betraf, aus. Dies erfuhren wir fast täglich am eigenen Leib. Sie verhielten sich oft distanzlos. Immer wieder bemerkten wir, dass sie auch nicht das in die Verkaufstüte gaben, was man bestellt und gekauft hatte.

Mich interessierte es brennend, ob alleine die Anschrift der Siedlung schon nachteilige Auswirkungen habe, wenn dies zum Beispiel bei Bewerbungen angegeben werden musste. Ich führte also einen besonderen Testversuch durch. Ich verschickte 15 Bewerbungsschreiben bezüglich mehrerer in der Zeitung ausgeschriebener Stellen mit Angabe meiner authentischen Vita, aber mit dem Absender dieser Siedlung. Ich bekam drei Absagen und zwölf Mal überhaupt keine Antwort. Allein die Anschrift der Wohngegend war wohl für viele Arbeitgeber ein Ausschlusskriterium. Eine wichtige Erkenntnis zu Bemühungsversuchen von Betroffenen, die in dieser Siedlung wohnten und versuchten, eine Arbeit zu finden. Das Stigma des Wohnens in dieser Gegend wiegt schwer und senkt massiv die Chance, eine Arbeit zu finden.

Was haben all diese Eindrücke mit mir gemacht? Als Erstes stellte ich mit Scham besetzter Verwunderung fest, dass ich bei mir relativ schnell Anpassungssymptome an die dortigen Lebensbedingungen registrierte. So reinigte auch ich nicht mehr das Treppenhaus oder den Duschbereich. Schnell distanzierte ich mich von diesen normalen Pflichten der Sauberkeitserhaltung, indem ich Duschen und Treppenhaus als öffentliche Bereiche ansah, für die ich nicht zuständig war. Die Nähe zu den Bewohnern fand über die ähnlich empfundenen, zuvor schon beschriebenen Wohnbedingungen rasch statt. Natürlich hatten wir den Versuchscharakter und das Modell der Selbsterfahrung als Weg zu mehr Verständnis gegenüber wirklich betroffenen Menschen zuvor den Bewohnern der Obdachlosensiedlung vermittelt. Und natürlich war uns jederzeit bewusst, nach diesen sechs Wochen werden wir wieder in unser beschütztes und bürgerliches Zuhause wechseln können.

Auch ich verspürte Ärger und Wut über die mangelhafte Isolierung und Qualität des Wohnraums. Über den Lärm durch ständig vorbeifahrende Züge und Autos. Über das ständige Hundegebell des Tierheimes. Über den Gestank des Nestle-Industriebetriebes. Über das distanz- und respektlose Verhalten der Straßenhändler. Oder über die Blicke der mitfahrenden Passagiere in der Straßenbahn, wenn wir an der Haltestelle der dann zwar immer noch entfernten Obdachlosensiedlung ausstiegen, aber jeder wusste, wer hier die Bahn verließ, musste in dieser stadtbekannten Siedlung wohnen. Besonders beschämend waren für mich als Sozialarbeiter der Argwohn, das Unverständnis und die Ignoranz der involvierten Sozialarbeiter*innen den Menschen in der Siedlung gegenüber. Die zudem überhaupt nicht verstanden, wozu diese Selbsterfahrung von uns, gerade im Kontext einer betroffenenzentrierten Sozialen Arbeit, dient. Wir wurden, gerade auch mit dieser Vorgehensweise, die das Verhalten und die Lebenssituation dort lebender Menschen nachvollziehbarer und verstehbarer machen sollte, überhaupt nicht ernst genommen. Hinter diesem »Nicht-ernst-Nehmen« von uns, und das wiegt natürlich viel schwerer, war eine Respektlosigkeit und Geringschätzung der betroffenen Menschen zu spüren. Leider musste ich dieses Verhalten von Seiten der Sozialarbeiter*innen im Arbeitsfeld der Wohnungslosenhilfe immer wieder feststellen. Noch vor Kurzem hatte ich eine heftige Auseinandersetzung mit einer kirchlichen Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, da zum einen ein sexistisch diffamierender offizieller Aushang als normal charakterisiert und verteidigt wurde. Diese Sprache sei eben eine Sprache, die die wohnungslosen Männer verstehen würden. Zum anderen erfuhr ich etwas später, dass in diesem Männerwohnheim morgens mit einer Trillerpfeife geweckt wurde. Ich forderte die Heimleitung umgehend auf, dieses respektlose Verhalten zu verändern, da ein Wohnheim keine Kaserne sei. Natürlich kann man sich auch fragen, ob es angebracht ist, in einer Kaserne mit einer Trillerpfeife zu wecken. Widerwillig, mit viel Uneinsichtigkeit und wenig Reflexionsvermögen wurde die Pfeife durch einen Gong ersetzt. Somit war eine Erkenntnis des Selbsterfahrungsversuches in dieser Obdachlosensiedlung auch die, dass die Sozialarbeit selbst noch sehr viele Vorurteile gegenüber den betroffenen Menschen besitzt und auch generiert.

Wir erlebten dort aber wahrlich nicht nur Negatives. Die Bewohner gaben uns durchweg ein positives Feedback. Sie fanden es gut, dass wir uns selbst vor Ort ein Bild machen und nicht aus der Distanz urteilen und verurteilen würden. Man interpretierte unseren Versuch auch als einen Akt der Solidarität, was er auch war. Besonders sind mir verschiedene Erlebnisse mit Kindern und Jugendlichen in Erinnerung geblieben. Schon am ersten Tag unseres Einzugs half ein Junge uns beim Einrichten und Möbeltragen, den ich zuvor nur als aggressiv und uneinsichtig wahrgenommen hatte. Er war hilfsbereit und zeigte eine vollkommen andere Seite seiner Persönlichkeit. Als wir ihn zum Essen einluden, orientierte er sich an unserem Essverhalten, imitierte dies, war aufgeschlossen und offen, so wie ich ihn bisher nie erleben durfte. Ein kleines Mädchen besuchte uns sehr oft. Jedes Mal hatte sie Hunger und Durst. Sie bekam von uns immer etwas zu essen und zu trinken. Sie aß dann immer nur die Hälfte und erklärte uns, dass sie die andere Hälfte für »unterwegs« mitnehmen würde. Vom Fenster unserer Wohnung aus konnten wir sehen, dass sie den Rest ihrem jüngeren Bruder gab. Das deutet natürlich auf eine Unterversorgung durch die Eltern hin, zeigt aber auch diese so früh, mit so jungen Jahren schon gelebte Fürsorge und Verantwortlichkeit.

Das Abschiednehmen fiel uns, mehr als erwartet, nach diesen sechs Wochen sehr schwer. Wir empfanden ein Gefühl der Schuld. Schuld deshalb, da wir glaubten, die Menschen im Stich zu lassen. Wir berichteten den verantwortlichen Beamten und kommunalen Repräsentanten für diese Obdachlosensiedlung von unseren Erfahrungen. Dies änderte nicht viel. Es wurde lediglich ein Zebrastreifen zwischen Siedlung und Bolzplatz geschaffen und etwas später sogar eine Fußgängerampel. Und wir transportierten den Selbsterfahrungsansatz in verschiedene Diskussionsforen, die sich mit Wegen zu mehr Verständnis, Erkenntnis und Solidarität zwischen den Zielgruppen von sozialem professionellem Engagement und der sozialen Arbeit befassten.

Mich ließen diese Siedlung und die Menschen, die dort lebten, nie mehr los. Jahre später konzipierte ich ein Projekt »Gesundheit jetzt! – in sozialen Brennpunkten«. Der von mir mitinitiierte Verein Armut und Gesundheit in Deutschland kreierte in dieser Siedlung verschiedene Gesundheitsangebote und Beteiligungsmaßnahmen für die Bewohner, besonders für die dort lebenden Kinder. Jetzt leben dort geflüchtete Menschen, und unser Verein bietet wiederum Gesundheitsinformation, Sport, Spiel, Ernährungsinformationen und konkretes Verteilen von gesunder Nahrung usw. für die Kinder an. Zudem haben wir ein Kinderarztmobil und können damit gesundheitsfördernde und gesundheitspräventive Maßnahmen vor Ort praktisch anwenden. Ich werde die Zeit, während der ich dort lebte, nie vergessen. Es waren ganz wichtige elementare Lehrwochen für mich.

1. »DAS SCHICKSAL HAT MICH HART GETROFFEN!«

Gut zu wissen: »Life-Event-Erfahrungen« und Entwurzelung

Warum sind wohnungslose Menschen so krank? Neben dem individuellen Risikoverhalten und gesellschaftsstrukturellen Benachteiligungs- und Ausgrenzungsfaktoren spielt Stress eine große Rolle. In der sogenannten Life-Event-Forschung wurde versucht, Krankheitsgefährdungen anhand eines quantifizierenden Zugangs vorhersagen zu können. Dieses Forschungsmodell basiert auf der Annahme, dass das Erkrankungsrisiko mit der Häufung von belastenden Lebensveränderungen zunimmt. In zahlreichen meist epidemiologischen Studien konnte die vermutete Beziehung von Lebensbelastung und Erkrankungsrisiko bestätigt werden.

Zudem spielen individuelle Verarbeitungsressourcen, sogenannte Coping-Strategien, und die soziale Unterstützung (Social Support) im Umfeld des Betroffenen eine bedeutsame Rolle.