Der Streckenwärter - Ueli Bachmann - E-Book

Der Streckenwärter E-Book

Ueli Bachmann

0,0

Beschreibung

Eingepfercht in den Alpen, liegt das kleine, beschauliche Bergdorf zu Füssen der mächtigen Berggipfel. Giuseppe Mancini ist vor Jahren mit seiner Frau aus Bergamo in die Schweiz gezogen, um bessere Arbeitsbedingungen zu finden. Bei der Bahn wurde er fündig, er erhielt eine Anstellung als Magaziner im Güterschuppen. Später konnte er die Stelle als Streckenwärter übernehmen. Schritt um Schritt, von Schwelle zu Schwelle ist er bei seiner Arbeit auf dem Geleisestrang unterwegs. Ein Tunnel in seinem Streckenabschnitt lässt ihn immer wieder die Einsamkeit bis auf die Knochen spüren. Plötzliche, seltsame Vorkommnisse begleiten Giuseppe auf seiner Arbeit. Es scheint, als hüte der Tunnel ein Geheimnis in der pechschwarzen Dunkelheit. Giuseppe erlebt eine Tragik, die er im Leben nie für möglich gehalten hätte. Der Eisenbahntunnel fordert seinen Tribut.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024

KunstwÄrker/Ueli Bachmann

Foto Umschlag:

David Birri Photography GmbH, Meiringen

Printed in Germany

Über den Autor

Ueli Bachmann hat Jahrgang 1954, ist pensioniert, aber nicht im Ruhestand, weise, aber nicht leise. «Der Streckenwärter» ist sein dritter Roman. Kreativität, Ideenreichtum und Fantasie waren immer der rote Faden in seinem Leben. Sein Hauptinteresse liegt neben dem Schreiben in der Realisation von Kurzfilmen. Wohnhaft in Frauenfeld, zu erreichen unter:

[email protected]

Sehenswertes unter:

www.youtube.com/@UBA-Film

Der Streckenwärter

Intro

Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, heisst es noch lange nicht, dass es nicht geschehen kann.

1

Für einmal schüttete es nicht aus Kübeln, Blitz und Donner sowie eisige Kälte waren auch kein Thema, Nebel und andere spannende Wetterereignisse fehlten an diesem Tag gänzlich. Die Sonne, vor zwanzig Minuten hinter dem Berg im Osten hervorgekrochen, schien zögernd, strahlenförmig in das von hohen Bergen eingepferchte Bergdorf. Dicht an dicht standen die Riesen in einem Kreis um das letzte Dorf zuhinterst im Tal. Zwei- bis beinahe Viertausend Meter ragten diese Giganten gegen den Himmel. Die unverrückbaren und unverwundbaren Kolosse wurden jedoch schon seit Längerem vom Treiben der Zweibeiner gebeutelt. Jahr für Jahr, schneller, immer schneller verloren sie das kostbare gespeicherte Element H2O in Form von Eis. Der Temperaturanstieg im Sommer, die niederschlagsarmen Wintermonate setzten den Gletschern arg zu. Die Älteren im Dorf betrachteten diesen augenfälligen Vorgang mit grosser Sorge. Sie stammten aus einer Zeit, als es im Winter Schnee in Hülle und Fülle gab und in der die Bäche im Sommer reichlich Wasser führten. Schnee- und Wassermangel, Felsabbrüche durch auftauenden Permafrost oder dass Berghütten wegen Wassermangel aufgegeben werden mussten, kannten sie nicht. Das Bergdorf mit etwa tausendeinhundert Einwohnern bestand zum einen aus dem alten Dorfkern mit Kirche und Bahnhof, zum andern war auf der Südseite, an erhöhter Lage, links und rechts je ein Quartier mit neuen Ferienhäusern entstanden. Die Ferienhäuser waren allesamt in moderner Architektur gehalten und mit grossen Glasfronten versehen. Die Bauvorschriften der Gemeinde liessen den Architekten viel Spielraum, was diese zum Teil bis zur Unanständigkeit ausnützten. Am Abend, wenn überall in den Häusern die Lichter brannten, konnte man meinen, es handle sich um grosse Vitrinen, in denen sich das Leben zur Schau stelle. Diereformierte Kirche, mit einem spitzen Kirchturm, der mit Holzschindeln eingedeckt war, war um 1500 erbaut worden. Die Kirche stand inmitten des Dorfes und war von weiteren geschichtsträchtigen Bauten umgeben. Alte Holzhäuser im Chalet-Stil wurden zum Teil durch Hotelbauten aus der Zeit der Jahrhundertwende unterbrochen. Augenfällig war im Sommerhalbjahr der bunte Blumenschmuck an den Fensterfassaden sowie in vielen eingefassten Blumenbeeten. Die Tourismusbranche war nebst der Bauwirtschaft und einigen Handwerksbetrieben der wichtigste Arbeitgeber im Dorf. Wobei die Winter drei Viertel und die Sommersaison ein Viertel der Einnahmen in die Kasse spülten. Der Höhepunkt der Gästezahlen war stets über die Weihnachts- und Neujahrstage zu verzeichnen, das Dorf glich in dieser Zeit einem verschneiten Ameisenhaufen. Wie üblich in den Alpen, wurde im Tal und an den Berghängen Landwirtschaft mit Vieh betrieben. Hinzu kamen Hühner, Schafe, Ziegen, Lamas und einige Pferde. Auf der Alp, wo Käse hergestellt wurde, grunzten neben gackernden Hühnern noch Alpschweine. Das Dorf lag 1170 Meter über Meer, Ackerbau wie im Flachland war daher nicht möglich, die Bauern hier oben mussten sich infolgedessen ausschliesslich um die Milchwirtschaft kümmern. Die Käsereigenossenschaft verkaufte die Produkte wie diverse Sorten von Alpkäse, Butter, Rahm, Joghurt, Fonduemischungen und vieles mehr an Privatpersonen und Hotels. Um der von den hohen Bergriesen geschuldeten drückenden Enge zu entrinnen, gab es nur drei Möglichkeiten: dem Fluss entlang in nördliche Richtung aus dem Tal hinaus, zu Fuss über einen Bergpass, was nur im Sommer möglich war, oder durch den Eisenbahntunnel auf die südliche Seite. Wer nicht ging, blieb im Ort und wurde unweigerlich mit Scheuklappen für die Weite der Welt versehen. Natürlich gab es jede Menge an Touristen aus allen möglichen fernen Ländern. Die aber kamen und gingen wieder, ohne etwas aus ihrer Welt zurückzulassen, womit sich die Bergler den Horizont hätten erweitern können. Wetter und Jahreszeiten waren die sicheren Garanten für Abwechslung im monotonen Alltagsleben.

Seiteinigen Wochen stand er mitten im Dorf und überragte mit fünfunddreissig Metern die Spitze der Kirche bei weitem. Nicht gelb, sondern in Pink präsentierte sich die Stahlgiraffe. Sie wurde daher von überall her gesehen und von den unzähligen Handyfotografen zum Teufel gewünscht. Wer kein Bildbearbeitungsprogramm bedienen konnte, musste mit der Verunstaltung des Bildes durch den Baukran leben können. Für die einen zum Symbol des Fortschritts erklärt, für andere als Störenfried der intakten Bergwelt gebrandmarkt. Der Bauplatz war in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof, was unweigerlich Zentrumsnähe bedeutete. Ein imposanter Komplex sollte hier binnen zwei Jahren hochgezogen werden. Der Baulöwe Joris de Jong hatte das Projekt durch alle Instanzen gepeitscht, die Bevölkerung mit Steuergeldern und Arbeitsplätzen geködert. Der reiche Holländer war vor fünfzehn Jahren am Ort sesshaft geworden, nachdem er dort zuvor mehrmals mit der Familie in den Ferien geweilt hatte. Der gewitzte Geschäftsmann hatte das Potenzial im damals noch verschlafenen Dorf im Bereich Immobilien schnell erkannt. Das nahezu makellose Verhalten der Familie de Jong liess das Eis zwischen ihnen und der Bevölkerung schnell schmelzen. Joris de Jong, etwa 185 cm gross, mit graumeliertem vollem Haar, tiefliegenden Augen im quadratischen Gesicht und ein paar Kilos Übergewicht, immer gut gekleidet, meist mit Anzug und weisser Krawatte zum weissen Hemd, und Lieke de Jong, etwa 175 cm gross, mit hellbraunen Haaren, vollschlank und einer Brille. Die Kinder: zwei Mädchen, eineiige Zwillinge im Alter von zwölf Jahren. Schon nach einigen Ferienaufenthalten konnte die Familie an der Sonnmatte ein grosszügiges Ferienhaus kaufen. Nachdem sie den Wohnsitz von den Niederlanden ins beschauliche Bergdorf verlegt hatten, wurde exklusiv umgebaut. Die de Jongs nahmen am Dorfleben rege teil und liessen sich überall sehen. Insbesondere Joris de Jong zielte mit seinen Beziehungen auf die Exponenten in der Gemeinde. Es ging nicht lange und er konnte sich bei Bauprojekten finanziell beteiligen. So bekam er nebenbei mit, wo und bei wem Grundstücke zu kaufen waren. Und diese Informationen liess sich de Jong nicht entgehen.

Giuseppe Mancini stand auf der Rampe beim Güterschuppen mit Blick auf die grosse Baustelle. In der Hand hielt er den frisch angezündeten Zigarillo, blies den Rauch gemütlich in die frische Morgenluft hinaus. Vor fünfzehn Minuten war er von seiner Nachttour als Streckenwärter bei der Bahn zurückgekommen. Giuseppe war vor fünfundzwanzig Jahren in das abgeschiedene Dorf gekommen und hatte sich sehr schnell dort eingelebt. Als er bei der Bahn anfing, wurde er zunächst als Magaziner angestellt. Nach ein paar Jahren konnte er zum Streckenwärter wechseln. Dies, nachdem Giuseppe eine innerbetriebliche Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte. Mit Stolz schritt er seinen Streckenabschnitt ab und war im Team seines Chefs ein zuverlässiger Mitarbeiter. Als Nesthäkchen in der Familie aufgewachsen, lagen seine Fähigkeiten und Ambitionen nicht in der akademischen Richtung wie bei seinen zwei Geschwistern, er musste die Dinge in die Hand nehmen können. Giuseppe war ein beliebter und gewissenhafter Mitarbeiter und wurde von allen geschätzt. Die Familie Mancini war im Dorf mit Wohlwollen aufgenommen worden, das italienische Flair hatte innert kurzer Zeit das Misstrauen der Bergler durchbrochen.

Mit ernster Miene betrachtete Guiseppe den Glimmstängel, wohlwissend, dass er seiner Frau Mariella versprochen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören. Zunehmend verspürte er auf seinen Kontrolltouren Atemnot. Lange hatte er diesen Umstand seinem Alter zugeschrieben, war er doch schon über fünfzig. Sein Hausarzt hatte ihn jedoch bei einer Routinekontrolle eines Besseren belehrt. «Hör auf zu rauchen», hatte er ihm unverblümt gesagt.

Aufder grossen Baustelle gegenüber vom Bahnhof kannte Giuseppe schon einige Bauarbeiter. Vor oder nach Arbeitsbeginn war er schon mehrmals bei der Baustelle stehen geblieben, um den Baufortschritt aus der Nähe zu betrachten. So war er schnell mit den Arbeitern ins Gespräch gekommen. Viele von ihnen hatten wie er italienische Wurzeln, und so verstand man sich unweigerlich gut. Die Bauarbeiter kamen fast alle aus dem Süden Italiens, er, aus Bergamo gebürtig, war dagegen ein Norditaliener. Im Heimatland klafften der Nord- und Südteil Italiens weit auseinander, hier in der Schweiz war man aber zwangsläufig eine Familie. Kam er von der Nachttour zurück, was für ihn sein Arbeitsende bedeutete, hiess es für die Arbeiter auf der Baustelle Arbeitsbeginn. Pünktlich, fünf Minuten vor sieben, kletterte Alfredo die Kranleiter hoch, wo sich sein Arbeitsplatz in luftiger, schwankender Höhe befand. Giuseppe verfolgte die Kletterpartie und war froh, nicht selbst hochsteigen zu müssen. Bei der zweiten Kanzel winkte Alfredo mit der Hand Giuseppe zu. Wie sie irgendwann herausgefunden hatten, kamen beide aus der Region Bergamo in der Lombardei. Giuseppe winkte zurück, trat dann in den Güterschuppen, wo seine Kleider in der Garderobe abgelegt waren. Nach einigen Minuten hatte er sich umgezogen und war bereit für einen Kaffee im Restaurant Sennhütte, dies, bevor er nach Hause wollte. Er stieg, um den Güterschuppen zu verlassen, die Rampentreppe hinunter, als er einen lauten, tiefen Knall vernahm. Ruckartig drehte sich Giuseppe um, suchend nach dem Grund für den aussergewöhnlichen Knall. Sein Blick schweifte von der Baustelle zum nahegelegenen Haus, wo sich ihm eine bizarre Szenerie bot. Der Kranausleger schwenkte langsam von der Baustelle weg, unten am Hacken hing der rote Krankübel, gefüllt mit achthundert Kilo Beton, und polterte über das Dach des danebenstehenden Hauses. Dort, wo der Kübel eingeschlagen hatte, war im Dach ein grosses Loch zu sehen. Der Kranarm zog den roten Kübel ungebremst weiter das Dach hoch. Giuseppe blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf das Geschehen. Ziegelreihe um Ziegelreihe ging in die Brüche. Nur noch wenige Augenblicke und der Kübel würde den Dachfirst erreichen und dann unweigerlich im nächsten Dach einschlagen. Schrille Rufe ertönten von überall auf der Baustelle: «Stoppt den Kran» war der allgemeine Befehl. Oben in der Krankabine sah man den regungslosen Alfredo, der scheinbar nichts hörte und die Lage nicht mehr unter Kontrolle hatte. «Schaltet den Hauptschalter aus», rief der Polier lauthals aus der Fensteraussparung im vierten Stock. Plötzlich blieb der Kranarm stehen, der Betonkübel hatte mit dem Fuss die obersten Ziegel erreicht und hing nun schräg über dem Dachfirst. Manfred, der Elektriker, war zum Zeitpunkt des Geschehens am Hauptverteiler neben dem Kran beschäftigt gewesen, hatte die gefährliche Situation erkannt und war in wenigen Schritten beim Hauptschalter für den Kran. Der Polier, der durch das im Rohbau befindliche Treppenhaus hinuntergepoltert war, stand nun am Fuss des Krans und gab weitere Anweisungen. In einer Hand hielt er das Handy, er hatte bereits die Notfallnummer gewählt, mit der anderen Hand zeigte er hoch, zur Krankabine. Zwei Bauarbeiter kletterten, so schnell es ging, hintereinander auf der Leiter im Innern der Stahlkonstruktion zur Kabine hoch. Oben trafen sie den bewusstlosen Alfredo an, dem sie jedoch nicht helfen konnten, da sie hierfür nicht ausgebildet waren. Giuseppe, vom Ereignis überwältigt, stand immer noch regungslos vor dem Güterschuppen. Eine solche Stresssituation war nicht sein Ding, er betrachtete das Geschehen teilnahmslos von seiner Position aus. Er überlegte nicht einmal, ob er helfen könne. Eher kam in ihm das Verlangen auf, unverzüglich den Ort zu verlassen.

Vor ihm nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Die Polizei, der Krankenwagen und die Feuerwehr waren vorgefahren. Die Polizei sperrte den Unfallort ab, Sanitäter und Feuerwehrmänner versammelten sich am Fuss des Krans, um die nächsten Schritte zu besprechen. Zwei Männer, ein Rettungssanitäter mit der Notfalltasche und ein Feuerwehrmann, stiegen mit Helm und signalfarbigen Westen die Kranleiter hoch. Auch nahm Giuseppe den blauen BMW XM wahr, wusste, wer hier angerauscht kam, blieb jedoch immer noch regungslos an Ort und Stelle stehen. Erst als Ottmar, Giuseppes Arbeitskollege, neben ihn trat und ihn fragte, was los sei, löste sich seine Starre allmählich. Zuerst verstand er nicht, was die Frage von Ottmar sollte.

«Der Kran, der Kran»

war alles, was er hervorbrachte.

De Jong sprang aus dem Auto, lief schnurstracks zum Polier und fuchtelte mit den Armen herum. Er wollte versuchen, die Auswirkungen des Ereignisses möglichst in Schranken zu halten. Schlechte Publicity konnte er auf keinen Fall gebrauchen. Das Bauprojekt wurde bei den Gegnern mit Argusaugen verfolgt und die warteten nur darauf, dass etwas schieflief. Als de Jong den Krankübel am Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses erblickte, liess er die Arme fallen, wusste er doch, was in den nächsten Tagen auf ihn zukommen würde.

Giuseppe wollte nicht länger als Gaffer dastehen. Er gab Ottmar zu verstehen, dass er ins Restaurant auf einen Kaffee gehen würde. Insgeheim hoffte er, dass Alfredo in der Krankabine nur etwas schwindlig geworden sei. Er bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen, die nun zahlreich von überall hergekommen waren, um das Unglück zu bestaunen, und ging beim Bahnhofgebäude vorbei in Richtung Sennhütte. Nach der Hälfte seines Weges vernahm er zuerst leise, dann immer lauter den herannahenden Helikopter. Ihm war klar, wenn Alfredo geborgen werden musste, würde das mit dem Helikopter und der Winde am besten zu bewerkstelligen sein. Rettungseinsätze mit dem Helikopter gehörten für das Bergdorf schon fast zur Tagesordnung. Im Sommer waren es unvernünftige Touristen, die sich mit schlechter Ausrüstung am Berg zu viel zutrauten. Im Winter waren es Ski- und Lawinenunfälle, bei denen die Verunfallten auf dem Luftweg ins Spital gebracht werden mussten. Schon von weitem sah Giuseppe die Serviererin Hulda und zwei Gäste vor dem Restauranteingang stehen. Das Ereignis beim Bahnhof war, wie es schien, bereits wie ein Buschfeuer im Restaurant Sennhütte angekommen. Hulda, ihrer neugierigen Art entsprechend, wollte natürlich sofort von Giuseppe wissen, was denn beim Bahnhof passiert sei. Schliesslich komme er von dort und müsste es doch wissen, folgerte sie ins Blaue hinaus. Zum einen wusste er nicht genau, was der Grund des Geschehens war, zum andren wollte er jetzt ohne Tratsch zu seinem Kaffee kommen. Daher blieb Giuseppe nicht bei Hulda und den Gästen stehen, sondern gab seinen Kommentar im Vorbeigehen ab: «Der Kranführer ist ohnmächtig geworden» und so sei die Kranlast beim Nebengebäude ins Dach geschlagen, erklärte er in einem Satz. Hulda marschierte hinter Giuseppe her in die Gaststube, um ihm den Kaffee zu servieren und möglichst weitere Informationen aus ihm herauszuholen.

2

Martinella war ein Stadtteil mit circa hundert Einwohnern an der Stadtgrenze von Bergamo. Signora Mancini wohnte in einem Einfamilienhaus mit grünem Umschwung an der Via Martinella. Das Haus stand etwas abseits von der Strasse und war durch einen Privatweg erreichbar. Eine grüne Hecke trennte das Grundstück vom Nachbarn auf der linken Seite ab, ein Maschendrahtzaun das übrige Terrain vom Weideland. Nebst einigen Gemüsebeeten beherbergte der Garten einen grossen Nadelbaum, zwei Pappeln und einen frisch gepflanzten Kakibaum. Drinnen im Haus war für 16 Personen der Tisch gedeckt. Eigentlich sollte Lucia in der Küche stehen. Was noch garen musste, garte vor sich hin, was kurzfristig zubereitet werden konnte, wartete auf die flinke Zubereitung. Brot, Salami, Trockenfleisch, Käse, Oliven und warme Bruschetta waren als Antipasti gedacht. Pasta Casoncelli alla bergamasca war als Primo Piatto vorgesehen.Und zur Krönung sollte Kaninchen in Form von Coniglio o Brasato con la Polenta als Secondo Piatto aufgetragen werden. Wein aus dem Valcalepio musste nicht sonderlich erwähnt werden, dieser gehörte auf den Tisch wie Teller und Besteck. Nebst Espresso und Grappa durften Dolce in Form von Polenta e Osei, Torta di Treviglio sowie Kekse von San Pellegrino und Stracciatella-Eis nicht fehlen. Mit einem Ausdruck im Gesicht «Ich habe alles im Griff» sass Lucia oben am langen Esstisch. Ihre grauweissen Haare waren wellenförmig zurückgekämmt, halblang fielen sie auf ihre Schultern. Die Furchen der Haut, einem gepflügten Acker ähnlich, verliefen waagerecht über die Stirn, kreuz und quer über das ovale Gesicht. Das Lebendige, fast Jugendliche kam vom Dreigestirn: leuchtende Augen, wohlgeformte Nase, ein schmunzelnder Mund mit gepflegten, hellen Zähnen. Giuseppe sass rechts, Mariella links von ihr, beide mit Blick auf Nonna Mancini. Im Gesicht der Siebenundachtzigjährigen war deren Position im Familienclan unmissverständlich zu erkennen. Die Launen, Verrücktheiten und Tiefschläge des Lebens hatten sie zu einem Fels in der Brandung gemacht. Ihr Mann Alfonso war vor zehn Jahren gestorben, was sie unweigerlich zum Dreh- und Angelpunkt der Familie hatte werden lassen. Sie war immer für alle da, kochte himmlische Gerichte, hatte ein Ohr für die Sorgen der Familienangehörigen. Gegen alle Überzeugungen musste sie Giuseppe vor achtundzwanzig Jahren in die Schweiz ziehen lassen. Sonst immer für eine Lösung eines Problems gut, hatte sie der Arbeitslosigkeit in der Region Bergamo nichts entgegenzuhalten vermocht. Heute und jetzt war ihr Sohn mit seiner Frau an ihrem Tisch, tiefste Freude strahlte aus ihren dunkelbraunen Augen. Die beiden hatten von ihrer Überzeit ein paar Tage Ferien bezogen, um die Familie und Verwandten in Bergamo zu besuchen. Die Auszeit war vor allem wegen Mariella kurzfristig geplant worden. Nachdem alle Kinder aus dem Elternhaus ausgezogen waren, hatte die Nonna genügend Platz, und so stand immer ein Zimmer für Gäste bereit.

Mariella und Giuseppe hatten sich im ehemaligen Zimmer von Giuseppe einquartiert. Lucia genoss das Beieinandersein mit ihrer Schwiegertochter und ihrem Sohn, bevor der Rest der Familie mit lautem Palaver aufkreuzen würde. Mit grossem Interesse nahm sie die vielfältigen Nachrichten der beiden zur Kenntnis, insbesondere das Neuste ihrer zwei Enkel in der Schweiz. An Weihnachten würden Giulia und Matteo mit Sicherheit nach Bergamo kommen, versprachen die beiden der Nonna.

Lucia Mancini wusste seit langem von den Spannungen der beiden am Tisch. Mariella war schon seit mehreren Jahren unglücklich in der Schweiz, das Heimweh frass sich Jahr für Jahr tiefer in ihre Seele. Völlig anders bei ihrem Sohn. Dieser war mit seiner Arbeit verwurzelt, Mitarbeiter schätzten ihn, im Freundeskreis war er gut aufgehoben. Nur ab und zu machte ihm im Winter das Bergwetter zu schaffen, ansonsten war er stolz auf seine Familie und rundum zufrieden. Nach allen Nettigkeiten kam zwangsläufig das Reizthema, wider die schlichtenden Versuche Lucias, auf den Tisch. Beide versuchten die Nonna auf ihre Seite zu ziehen, in der Hoffnung, Unterstützung zu finden. Giuseppe hatte das Gefühl, bei Mariella an eine Wand zu reden:

«Ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass ich hier in Bergamo keine vergleichbare Arbeit finden werde.»

«Du hast es ja noch gar nie versucht»,

gab sie zurück.

«Was meinst du, was ich schon alles versucht habe. Jeder, den ich hier auf einen Job anspreche, sagt mir immer das Gleiche: ‹Bleib in der Schweiz, so viel verdienst du hier nie.› Und vergiss nicht, eine frühere Heimkehr vor dem Pensionsalter zieht eine massive Kürzung der Altersvorsorge nach sich.»

Bevor Mariella die Möglichkeit hatte, zu kontern, bat Lucia die beiden, Ruhe zu bewahren und auch an ihre Kinder Matteo und Giulia zu denken.

Diese seien schliesslich in der Schweiz auf die Welt gekommen. Zudem wohnten sie vorläufig noch unter ihrem Dach, gab die Nonna den beiden zu bedenken. Mit diesen Worten war vorerst das Streitthema vom Tisch. Eigentlich hatte Lucia den beiden von ihrem baldigen medizinischen Eingriff noch nichts sagen wollen. Doch sie hatte es sich anders überlegt. Nach einer kurzen Pause nahm ihr Gesicht, sonst immer mit einer positiven Ausstrahlung gezeichnet, einen nachdenklichen Ausdruck an. Mariella und Giuseppe, denen die Veränderung nicht entgangen war, sahen sich fragend an, gespannt, was Lucia ihnen mitteilen würde.

Siebegann damit, die beiden daran zu erinnern, dass sie ihnen bereits vom Arztbesuch vor drei Wochen am Telefon berichtet hatte. Der Arzt habe sie dann ins Spital überwiesen, damit gründliche Abklärungen gemacht werden konnten. Vor zwei Tagen sei sie beim Arzt zur Besprechung gewesen. Die Spannung am Tisch war zum Greifen nah, die zwei besorgten Gesichter waren auf die Nonna fixiert.

«Das Herz macht Probleme, es gibt Anlass zur Sorge»,

kam über ihre Lippen. Ihre Müdigkeit rühre daher, dass eine der vier Herzklappen nicht mehr richtig funktioniere. Weiter meinte sie:

«Eine Operation in den nächsten Wochen sei unumgänglich.»

Giuseppe stand die Bestürzung über die Worte seiner Mutter tief ins Gesicht geschrieben.

Er und Mariella waren der Meinung gewesen, bei den Beschwerden müsse es sich um etwas Banales wie Vitamin- oder Eisenmangelhandeln. Aber eine defekte Herzklappe mit einer unumgänglichen Operation war doch ein starkes Stück. Lucia schob zur Beruhigung von Giuseppe die Worte nach:

«Der Arzt hat mir versichert, dass es sich um einen Routineeingriff handelt. Fast täglich würden mehrere solcher Eingriffe im Spital durchgeführt.»

«Hast du denn bereits einen festen Termin für die Operation erhalten»,

wollte Mariella wissen. Die Nonna musste die Schwiegertochter enttäuschen, denn das Aufgebot vom Spital war noch nicht eingetroffen. Einen Moment herrschte Ruhe am Tisch, mussten doch beide die Nachricht erstmal verdauen. Lucia hatte mit dieser Reaktion gerechnet, versprach ihnen deshalb hoch und heilig, sie auf dem Laufenden zu halten.

«Sobald ich den Spitaltermin erhalte, rufe ich unverzüglich an»,

schob Lucia zur Beruhigung nach.

Lucia, ihre Schwiegermutter, war Mariella mit den Jahren ans Herz gewachsen. Die schlechte Nachricht, die sie soeben gehört hatte, löste daher in ihr grossen Kummer aus. Unter all den unzähligen Gedanken, die ihr nach der Hiobsbotschaft unweigerlich durch den Kopf schossen, sah sie urplötzlich auch eine Chance: «Vielleicht kann ich die Pflege für Lucia übernehmen – und so komme ich wieder nach Bergamo», war ihr Blitzgedanke. Um es doch schon einmal aufs Tapet gebracht zu haben, erwähnte sie die Idee, wenn auch nur in einem Nebensatz:

«Nonna, wenn ich dich unterstützen kann, so komme ich gerne für eine gewisse Zeit zu dir nach Bergamo.»