Der Sündenbock - J. Müller-Späth - E-Book

Der Sündenbock E-Book

J. Müller-Späth

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Beschreibung

Die junge Psychotherapeutin Kathy von Bergen kann es kaum abwarten, ihre Arbeit auf der geschützten Station der Psychiatrie zu beginnen. Doch schon bald muss sie sich nicht nur mit den Abgründen der menschlichen Psyche auseinandersetzen, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit, welche sie brutal jagt. Ein ominöser Fremder hat sich geschworen, Rache zu nehmen. An der Frau, die sein Leben zerstörte. Kathy von Bergen. Geschickt nistet er sich in ihr Leben ein, ohne dass sie es bemerkt. Er sieht alles. Er hört alles. Und er ist bereit zu töten.

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Seitenzahl: 217

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Der Sündenbock

J. Müller-Späth

Der Sündenbock

Thriller

fischer krimi

Sag ihnen,mein Handwerk ist (Wieder)Vergeltung –Rache ist mein Gewerbe.

Friedrich Schiller

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Prolog

Angst kommt nicht leise angeschlichen, tippt einem nett auf die Schulter und entschuldigt sich, weil sie nach dem Weg fragen muss. Angst schlägt einem direkt in den Bauch, sodass die Innereien zerquetscht werden und man nicht mehr atmen kann. Angst ist brutal und vorsätzlich.

Noch nie im Leben hatte die Angst so stark zugeschlagen wie jetzt.

1

Kathy bemerkte, dass ihr Gegenüber nervös mit der Serviette herumspielte. Entweder war er gänzlich aus der Übung, was den Umgang mit Frauen betraf, nicht an ihr interessiert oder schlichtweg der schüchterne Typ, was ihr aber in Anbetracht seiner überdurchschnittlichen Erscheinung eher unwahrscheinlich vorkam. Die Beschreibung seines Online-Profils und die Tatsache, dass er sie zuerst angeschrieben hatte mit einem netten »Guten Abend, die Dame«, passten so gar nicht zu dem Menschen, der schwitzend und stotternd vor ihr saß, was ihn mit einem Mal unattraktiv machte.

Nicht einmal die gemütliche und dennoch edle Atmosphäre des Restaurants vermochte ihre Stimmung aufzuhellen. Doch der Lachs schmeckte hier vorzüglich. Nicht jeder traf die genaue Mitte zwischen buttrig und dennoch nicht zu fettig. Vorzüglich. Sie würde hier noch mal einkehren. Aber ohne ihn.

Michael, 34

Suche die Frau, mit der ich romantische Abende bei einem Glas Champagner und einem funkelnden Sternenhimmel auf meiner Dachterrasse verbringen kann. Mit mir wird es dir niemals langweilig.

Seltsam. Denn langweilig war das perfekte Attribut für diesen Abend. Sie trank einen großzügigen Schluck Rotwein.

In den letzten fünfundzwanzig Minuten hatte sie ihm seinen Lebenslauf förmlich aus der Nase ziehen müssen und trotzdem war sie nicht viel schlauer als vorher, dabei hatte er bei den nächtlichen Chats so vielversprechend gewirkt. Doch mittlerweile lockte sie nicht einmal mehr die im Profil versprochene Dachterrasse.

Wahrscheinlich besaß er nicht einmal eine solche und trank billigen Wein. Sie hatte explizit für heute Abend ihre reizvolle Unterwäsche angezogen, die mit der roten Spitze, die eigentlich jeden Mann oder sogar Frau neugierig machte. Doch nicht einmal die recht großzügig ausgeschnittene Bluse schien ihn zu locken, oder er vermied den Blick in diese Richtung mit Absicht. Mit einem Mal kam sie sich albern vor, als würde sie in einer Verkleidung stecken, die gar nicht zu ihr passte. Sie rückte unauffällig ihren Kragen zurecht, sodass der Ausschnitt sich verkleinerte.

Reine Zeitverschwendung, dachte sie und lehnte sich in dem samtenen Stuhl zurück. Sie hatte doch nur ihrem tristen Alltag entfliehen und einen entspannten und mit Leidenschaft erfüllten Abend genießen wollen, doch damit dieser noch eine positive Wendung nahm, musste sie eben selbst dafür sorgen.

Sie atmete laut hörbar aus und leerte ihren verbliebenen Rotwein in einem Zug. Trockener Abgang. Genau wie dieser Abend.

»Du, das wird nichts mit uns«, stellte sie nüchtern und sachlich fest und ließ ihre Stimme bewusst kalt klingen. Emotionslos. Zum ersten Mal an diesem Abend schaute er ihr direkt ins Gesicht. Das flackernde Kerzenlicht spiegelte sich in seinen Augen und beinahe sah es so aus, als müsse er weinen. Armer Kerl.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte er. Seine Enttäuschung konnte er nicht verbergen.

Sollte sie ihm sagen, dass sie eine tiefe Abneigung verspürte? Gegen die Art von Mann, die sich online auf inszenierten Fotos perfekt darstellte, aber im wahren Leben nicht mal ansatzweise eine dezente Konversation führen konnte? Die Art Mann, die die Bezeichnung nicht einmal verdiente? Nein, das wäre taktlos und gemein, obwohl ihr passende Worte schon auf der Zungenspitze lagen und sie sich gewaltig auf diese beißen musste. Irgendwann würde er schon eine Frau finden, die mehr Geduld hatte oder einfach dumm genug war, auf diese Show hereinzufallen. Nun gut, in diese Falle war sie selbst auch hineingetappt. Wie schnell man sich doch von äußerlichen Dingen blenden lassen konnte, war immer wieder erstaunlich. Aber träumte nicht jeder von einem besseren Leben? Um dem eigenen zu entfliehen? In der Hierarchie aufzusteigen?

»Ach, es liegt an mir«, log sie. »Ich bin einfach noch nicht bereit für das alles hier.« Sie deutete mit dem Finger auf sie beide. »Die letzte Trennung macht mir immer noch sehr zu schaffen …« Sie senkte den Blick in gespielter Trauer, drückte sogar eine Träne aus dem Augenwinkel, und es verfehlte seine Wirkung nicht. Die letzte Trennung lag schon einige Jahre zurück, aber das musste er ja nicht wissen. Sie hatte eben kein Glück mit Männern.

Stefan hatte sich vor einigen Jahren von ihr getrennt. Sie hatten sich im letzten Jahr des Abiturs kennengelernt und waren schnell zusammengekommen. Doch im Laufe der Jahre stellte sich immer mehr heraus, dass ihre Ambitionen in verschiedene Richtungen gingen. Stefan war der typische Karrieretyp. Auf das große Geld hinaus. Ein reiches Muttersöhnchen, das den Sportwagen seines Vaters zu Spazierfahrten ausführte. Mit den Jahren konnte sie nicht mehr mithalten und verlor sein Ansehen. Sie lebten sich auseinander.

Sicher, dass deine Trauer gespielt ist? Er war immerhin die Liebe deines Lebens …

»Das verstehe ich«, sagte er mitfühlend und wollte ihre Hand ergreifen, in der Hoffnung, vielleicht noch ein paar Minuten mit ihr verbringen zu können. Sie entzog sie ihm sofort. Er bestand darauf, die Rechnung zu bezahlen, was ihrer Ansicht nach das mindeste war, um diesen Abend wieder gutzumachen.

Kathy bedankte sich mit ihrem überzeugendsten Lächeln, versprach, ihn demnächst anzurufen, was sie nicht tun würde, verabschiedete sich, verließ das Fünf-Sterne-Restaurant und ließ ihn verstört zurück.

Draußen wählte sie umgehend die Nummer ihrer besten Freundin, die beim zweiten Klingeln abnahm.

»Lissy, du glaubst es nicht. Der Typ ging mal gar nicht.«

»Warum? Was war los mit Mr. Perfect?«, wollte Lissy wissen.

Kathy hatte ihrer Freundin tagelang von Mr. Perfect vorgeschwärmt, der ihr wie der Eine vorgekommen war. Lissy war auf den Wagen aufgesprungen und hatte sie ermutigt, das Treffen endlich anzugehen. Also musste sie jetzt auch als Therapeutin hinhalten.

»Mr. Perfect …«, Kathy lachte laut auf, »perfektes Aussehen, Geld, aber nicht Manns genug, um seinen Mund aufzumachen? Ich musste mir schon Geschichten ausdenken, um aus diesem Date herauszukommen.«

Lissy lachte. Wahrscheinlich konnte sie sich den Verlauf des Abends bildlich vorstellen. Ein schweigender Mann und die mit wenig Geduld gesegnete Kathy auf der anderen Seite des Tisches, die genervt mit den perfekt manikürten Fingernägeln auf der Tischplatte trommelte.

»Gib nicht auf«, holte sie aus, »Mark und ich haben uns auch so kennengel…«

»Jaaaa, ich weiß«, unterbrach Kathy sie, »und jetzt seid ihr schon drei Jahre zusammen, bla, bla … Aber vielleicht findet man auch in der Realität einen Partner.«

Kathy wusste selbst nicht, ob sie hinter diesen Satz einen Punkt oder ein Fragezeichen setzen sollte.

Überall, wo man nur hinschaute, flüchteten sich Menschen über ihr Smartphone in eine andere Welt. Eine bessere Welt? Zumindest anonymer. Je mehr man von sich preisgab, umso größer war die Verletzungsgefahr.

»Online-Dating ist die neue Realität.« Lissy klang wie der Vertreter einer Datingseite. Doch bevor sie weiter die Vor- und Nachteile des Online-Datings ausschmücken konnte, äußerte Kathy, dass sie nun nach Hause fahren und sich morgen melden würde.

Sie legte auf und schaute auf ihre goldene Armbanduhr. Halb neun. Viel zu früh, um an einem Samstagabend nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen.

Sie steuerte eine Bar an, die nur vier U-Bahn-Stationen von hier entfernt und sowieso auf ihrem Nachhauseweg lag. Ihr Auto ließ sie in einer Seitenstraße stehen, um es am nächsten Tag dort abzuholen. Hier in der Gegend stand es sicher und würde nur sehr unwahrscheinlich Opfer eines Brandanschlages oder Autodiebstahls werden, wie es in anderen Stadtteilen häufiger vorkam.

Dort angekommen betrat sie die von außen einladend aussehenden Räumlichkeiten. Zwei in voller Blüte stehenden Birken gaben den verschleierten Blick auf hohe, weiß gerahmte Fenster frei, durch die man Menschen bei einem Glas Wein sitzend erkennen konnte.

Das fahle Kerzenlicht verlieh dem Raum einen goldenen Schimmer und warf zarte flackernde Schatten an die Wände. Schatten von Menschen, die sich in diese Atmosphäre fallen ließen. Die perfekte Weinbar. Hier gab es ausschließlich erlesene Tropfen. Kathy war kein Freund von Kneipen oder Pubs. Sie waren ihrer Meinung nach viel zu stickig und die Gäste zu gewöhnlich. Kein Ort, um den Mann fürs Leben kennenzulernen.

Ein Glas Merlot und eine Zigarette waren jetzt genau das Richtige, um dieses »Date«, was wohl kaum diese Bezeichnung verdiente, zu vergessen.

Sie erspähte einen männlichen Gast, der ihr vage bekannt vorkam, wahrscheinlich war er öfter hier. Sie bahnte sich einen Weg an die Bar. Er grinste sie an und sie winkte ihm zu, als würden sie sich schon ewig kennen. Er stellte sich als Markus vor und bemerkte, wie gut sie doch an diesem Abend aussah, wobei sein Blick direkt zu ihrem Ausschnitt wanderte. Die Art und Weise, wie er ihr ein Glas Wein spendierte, ihr dann die Zigarette anzündete, obwohl sie offensichtlich ein Feuerzeug in der Hand hielt, wie sie den Rauch langsam und gezielt ausatmete und ihn dabei ansah, ließen keine Zweifel übrig. Er wollte sie. Sie wollte ihn. Und er sah dazu noch sehr attraktiv aus mit seinen dunklen Locken. Seinen Bart würde sie sich schön trinken. So lief das hier. Falsch. So lief das bei ihr. Sie nahm sich, was sie wollte, zumindest, wenn es um das Stillen ihrer körperlichen Bedürfnisse ging. Gesunder Egoismus.

Aus den Boxen in der Ecke ertönte romantische Jazzmusik, die dem ganzen Ambiente einen nostalgischen und nahezu romantischen Anstrich verlieh.

Eine schwache Seite in ihr sehnte sich danach, einfach nur gehalten und geliebt zu werden, doch diese verstummte mit dem zweiten Glas Merlot.

2

Etwa sechsunddreißig Stunden später schloss Kathy die Tür zu ihrem Büro in der Psychotherapeutischen Klinik auf, welche im zweiten Stock des U-förmigen Kastens lag. Dieser wirkte von außen nicht sehr einladend mit seinem gräulichen Anstrich und den teilweise vergitterten Fenstern, die eher an ein Gefängnis erinnerten, was es im Grunde auch war. Umgeben war die Klinik von weiteren kleineren Häusern mit rotem Ziegelbau, in welchen unter anderem kreative Therapien stattfanden, wie beispielsweise Musik- oder Kunsttherapie.

Im Nationalsozialismus waren in diesen Gebäuden undenkbare Dinge an alten, kranken und behinderten Menschen verrichtet worden. Manchmal hatte Kathy das Gefühl, dass man die Schreie noch immer hören konnte, als hätten die Steine sie aufgesogen, um die Geschichten erzählen zu können, damit man sie nie vergessen würde.

Sie wusste selbst nicht, ob sie an Geister glaubte. Der Gedanke hatte etwas Unheimliches, aber auch recht Tröstliches.

Der eher spärlich bepflanzte, aber dafür mit vielen Laubbäumen ausgestattete Park verschaffte zwar dem ganzen Anwesen ein wenig Farbe und einen Hauch von Gemütlichkeit, die aber sofort durch die vielen nikotinabhängigen Patienten zerstört wurde, welche mit ihren Glimmstängeln eine gewaltige Rauchwolke produzierten, die den Haupteingang zierte. Manchmal wusste sie nicht zu sagen, ob sie die Menschen da draußen vor den Menschen hier drinnen beschützte oder umgekehrt. Diejenigen, die sich keine Hilfe suchten, obwohl Hilfebedarf bestand, waren viel gefährlicher. Unberechenbar.

Sie war immer noch stolz, wenn sie das goldene Schild sah, dass ihr Vater extra hatte anfertigen lassen und ihr feierlich überreicht hatte, als sie ihren Abschluss gemacht hatte. Wenn es um ihren Erfolg ging, war er immer förderlich gewesen. Sie hatte sich trotzdem geschämt, als man sie für das Medizinstudium abgelehnt hatte. Ihr Numerus Clausus war zu schlecht gewesen. Sie hatte sich im letzten Jahr des Abiturs etwas gehen lassen, da ihr Partys und Jungs viel mehr zugesagt hatten, als sich hinter Schulbüchern zu verkriechen. Doch dafür bezahlte sie heute noch.

Natürlich hatte er sie sofort in »seiner« Klinik angestellt, wo er Chefarzt war und seitdem mit ihr Seite an Seite arbeitete. Sie wusste nicht genau zu sagen, ob er sie aus Mitleid oder Nächstenliebe angestellt hatte oder weil er tatsächlich Hoffnung und Nutzen in ihrer Tätigkeit sah. Die einzige, noch dazu sehr eigensinnige Tochter, die es doch noch zu etwas gebracht hatte. Bravo!

Katharina S. von Bergen.

Psychotherapeutin.

Sie hatte das beste Büro der Station bekommen. Geräumig, sonnig. Die von ihr ausgesuchte Inneneinrichtung in Cremefarben und zartem Grün sprach ihrer Meinung nach für guten Geschmack und Eleganz, zugleich strahlte sie aber auch Ruhe und Ordnung aus. Gerade Schnitte, kein unnötiger Schnickschnack. Grünpflanzen und filigrane Dekorationsartikel verschafften eine gemütliche und zugleich gehobene Atmosphäre. Man hatte nicht das Gefühl, in irgendeinem Hinterzimmer behandelt zu werden. Hier wurden neben Kassenpatienten unter anderem hochkarätige Privatpatienten behandelt, die unter Schlafstörungen litten, eine unglückliche Ehe führten oder Errektionsprobleme hatten. Ihrer Meinung nach waren sie in einer Einrichtung wie dieser fehl am Platz. Aber wer das nötige Kleingeld hatte, der konnte sich einen Aufenthalt hier schon mal leisten im abgetrennten Bereich der Klinik. Letzten Endes diente der besonders zurechtgemachte Flügel des Hauses auch nur dazu, den vornehmen Herrschaften vorzugaukeln, dass sie nicht in der »Klapse« waren. Nach ihrer Behandlung konnten sie getrost zurück zu ihren Golfclubs und schicken Geschäftsessen und berichten, dass sie den Sommer über in einer Residenz verweilt hatten, um ihre Mitte zu finden. Blödsinn, aber gut.

Zu ihrem Bedauern hatte sie bisher nur wenige Menschen behandelt, die »ernsthafte« Diagnosen hatten und ihr das Gefühl vermittelten, eine Sinnhaftigkeit ihrer Existenz zu erkennen. Manchmal hatte sie sich ernsthaft gefragt, wofür sie eigentlich studiert hatte, wenn sie ihren Patienten Ratschläge erteilte, die sie jedem Fremden auf der offenen Straße hätte geben können. Sie hatte im Studium diverse und komplexe Krankheitsbilder mit entsprechender Diagnostik und Behandlungsstrategien kennengelernt und konnte im Alltag maximal zwanzig Prozent ihres Wissens wirklich ausschöpfen. Ihr Traum war es gewesen, in einer Psychiatrie mit »Härtefällen« zu arbeiten. Schizophrenie. Paranoia. Suizidales Verhalten. Psychopathen.

Doch ihr Vater, der zugleich auch ihr Vorgesetzter war, hatte zunächst entschieden, dass sie zu zartbesaitet wäre und ihr verweigert, auf der »geschlossenen« Station zu arbeiten, auf die sie sich ihr ganzes Studium vorbereitet hatte.

Bis vor einem Monat. Eine Stelle war plötzlich frei geworden, da die Kollegin unverhofft schwanger geworden war. Nachdem sie ihn förmlich auf Knien angefleht hatte, ließ er sie doch versetzen. Sie wollte ihm beweisen, dass sie in seine Fußstapfen treten konnte. Und sie würde ihn nicht enttäuschen. Sie hatte ihr kleines Büro gegen dieses schicke Zimmer eingetauscht und war durchaus stolz auf ihren Fortschritt. Verwöhnte und snobistische Patienten hin oder her, die sich weigerten, sich von anderen Therapeuten behandeln zu lassen und nur eigens für sie herkamen. Wahrscheinlich lag es eher an ihrem Namen. Von Bergen versprach Behandlungserfolge.

Sie blickte auf die Gemälde an der Wand, welche wohl das Wertloseste im Raum, aber gleichzeitig das für sie Wertvollste waren. Ihre Mutter malte sie, als sie noch lebte, aber Kathy hatte es nie über das Herz gebracht, sie wegzugeben, obgleich sie nicht zum Rest der Einrichtung passten. Es waren Stillleben von Vasen und Pflanzen, in zarten Pastelltönen gehalten, und sie zeigten die Natur ihrer Mutter, ihre Beschwingtheit und Leichtigkeit. Zarte Pflanzenstrukturen, zerbrechlich. So war sie zuletzt gewesen, als der Krebs sie langsam aufgefressen hatte. Kathy war damals noch zu klein gewesen, um zu verstehen, was Tod bedeutete. Sie hatte lange nach ihrer Mutter gesucht, die so plötzlich weg war. Und in diesen Bildern fand sie jedes Mal ein weiteres Fragment, welches ihre Mutter beschrieb.

Selbstlos. Liebevoll. Präzise.

In der linken Hand hielt sie einen doppelten Espresso vom Café an der Ecke, dessen Geruch allein schon alle ihre Sinne zu erwecken vermochte.

Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass sie noch genug Zeit hatte, bevor ihr erster Patient eintraf.

Zwischen sieben und acht Uhr begann der Klinikalltag der Patienten, die sich mühsam aus den Betten quälten, gedankenverloren auf ihr kärgliches Frühstück starrten und versuchten, mit dem wahrscheinlich entkoffeinierten Kaffee wacher zu werden, sofern das unter einer Sedierung überhaupt möglich war.

Sie hatte den Termin auf halb zehn angesetzt, sodass sie in Ruhe ihr koffeinhaltiges Getränk genießen und das Zimmer lüften konnte, welches an warmen Frühlingstagen, wie es heute einer werden würde, immer schnell aufheizte.

Sie praktizierte schon seit einigen Jahren und hatte sich einen guten Ruf erarbeitet. Nicht zuletzt durch die Bekanntschaft und Reichweite ihres Vaters. Der Chefarzt der Psychiatrie. Herr Dr. Martin von Bergen. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Sie waren vielmehr Kollegen als Vater und Tochter. Aber das war ihr gleich.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah eine Handvoll Patienten über den Hof schlurfen. Arme Kreaturen. Aber sie waren hier, um Hilfe zu bekommen. Und das erfüllte sie auf eine ganz besondere Weise. Denn sie war an diesem Prozess beteiligt, hörte zu und wurde Teil eines prägenden Lebensabschnittes.

Die Magnolie vor dem Haus, die gerade erst begonnen hatte, ihre wahre Pracht zu entfalten, verlor schon die ersten Blüten, welche vom Wind im ganzen Garten verstreut wurden und dort einen zarten weißen Teppich bildeten. Schönheit war vergänglich, und hätte sie eine Metapher dafür wählen müssen, so wäre es dieser Baum.

Doch niemand schien diese Schönheit sehen zu wollen. Zu sehr war jeder in seinen eigenen dunklen Gedanken gefangen.

Pünktlich um halb zehn klopfte es energisch an ihre Tür. Sie öffnete.

»Guten Morgen, Frau von Bergen«, begrüßte Tim sie aufgedreht. Er war nach einem Suizidversuch eingeliefert worden und hatte die ersten Wochen auf der geschützten Station verbracht. Mittlerweile war er auf der offenen Station, auf der sie vorher praktiziert hatte, aber er hatte ausdrücklich verlauten lassen, dass er ausschließlich mit ihr kooperieren würde. Seine Aussage hatte sie beflügelt. War sie so gut? Konnte sie dieser gebrochenen Seele tatsächlich dabei helfen, wieder einen Sinn im Leben zu erkennen?

Der eher konservative Stationsarzt hatte nach einer längeren Diskussion widerwillig zugestimmt. Immerhin stand das Wohlbefinden der Patienten an oberster Stelle.

Kathy kannte ihren Patienten mittlerweile schon zu gut, als dass er sie täuschen könnte. Es ging ihm heute gar nicht gut. Sein Aufzug aus zerbeulter Jogginghose und verwaschenem T-Shirt, dessen Logo schon längst nicht mehr zu erkennen war, und seine viel zu kleinen Hauspantoffeln gaben Aufschluss über seinen Gemütszustand, denn üblicherweise achtete er auf sein Aussehen. Hose und Shirt mussten farblich aufeinander abgestimmt sein. Meist trug er dunkle Jeans und Poloshirt, denn seiner Aussage nach war das Poloshirt die perfekte Mischung aus lässig und elegant.

Seine Haare hingen ihm heute allerdings verwahrlost in die Stirn und gaben nur Blick auf ein Auge frei, welches ihr nicht direkt ins Gesicht sehen wollte.

»Hallo, kommen Sie doch herein.« Er musste wohl bemerkt haben, dass sie ihn durchschaut hatte.

Er ging direkt in den Behandlungsraum, wo er sich umgehend auf dem grünen Sofa niederließ, welches ihn beinahe zu verschlucken schien. Kathy ließ all ihren Patienten die Wahl, ob sie sitzen, stehen, gehen oder liegen wollten. So wie es für den Einzelnen komfortabel war. Zudem sollte es ihnen vermitteln, dass sie über einen freien Willen verfügten und war zeitgleich eine gute Übung, selbstständige Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf den Heilungsprozess auswirken sollten.

Seit ein paar Wochen traf Tim fast ausnahmslos jeden Montag bei ihr ein und war ihr in der kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen. Er wirkte jünger als er war. So zerbrechlich und blass, obwohl er nicht untergewichtig war. Seiner Akte nach war er Anfang zwanzig. Ein Alter, in dem man noch jegliche Lebenskraft besaß. Der Jugend gerade entflohen. In den Anfängerschuhen des Erwachsenseins, und doch sah er aus, als trüge er alle Lasten der Welt zugleich auf seinen Schultern, wodurch diese gebeugt herabhingen. Anfangs war er ihr gegenüber sehr verschlossen gewesen, nahezu feindselig, und sie hatte sich umso mehr gewundert, dass er sie als seine behandelnde Therapeutin verlangte. Doch dann ließ er sie näher an sich heran, begann sich langsam zu öffnen, und sie hatte das aufrichtige Gefühl, dass er ihr vertraute.

Sein fröhliches Wesen war eine Maske, die er sich über Jahre hinweg angeeignet hatte, und Kathy musste zugeben, dass sie aufrichtig betrübt war, dass so junge Menschen wie Tim schon derartig depressiv sein konnten, dass ihnen nur der Tod noch verlockend erschien. Ein einfacher Ausweg. Befreit.

Kathy nahm ihm gegenüber auf dem Stuhl Platz, zückte ihren Notizblock und eröffnete das Gespräch.

»Wie geht es Ihnen?«

»Ich hatte eine gute Woche, ein paar Aufs und Abs, aber allgemein echt gut.« Er versuchte, sie mit oberflächlichen Antworten abzuspeisen, doch damit gab sie sich nicht zufrieden. Seine Stimme war hoch und ließ ihn noch jünger wirken, auch wenn er sich noch so Mühe gab, dieser Kraft zu verleihen.

»Erzählen Sie mir von den ›Aufs‹?«

»Ich habe endlich ein Einzelzimmer bekommen. Der alte Zimmernachbar hat echt nervig geschnarcht, das ging gar nicht mehr.«

»Das klingt doch sehr gut, das freut mich sehr für Sie.«

»Ja und die Aussicht ist gar nicht so schlecht. Ich sehe sogar tatsächlich mal einen Baum anstatt diesen langweiligen Innenhof.« Er versuchte zu lachen, doch es gelang ihm nicht so recht.

»Möchten Sie heute über Ihre negativen Gefühle sprechen? Sind Sie dafür stark genug?«

»Ja, vielleicht … also ich denke, dass ich es kann …« Er wich ihrem Blick aus, wie er es immer tat, wenn es für ihn zu persönlich wurde. »Manchmal werden die Gedanken einfach zu viel, aber ich kann mich mittlerweile besser beruhigen, vor allem mit diesen Atemübungen, die Sie mir das letzte Mal gezeigt haben.« Er atmete tief ein und aus, um es zu verdeutlichen.

»Das freut mich, haben Sie denn Ihre Skills anwenden können?«

Unter Skills versteht man in der Psychotherapie Fertigkeiten, die man in stressenden Situationen ausführen kann, um die Anspannung zu lindern und sich von negativen Gedanken oder gar selbstverletzendem Verhalten abzuhalten. Viele Patienten reagieren gut auf Wechselduschen, Spaziergänge oder ein Gummiband, welches man um das Handgelenk trägt und mit dem durch Anspannen und abruptem Loslassen ein Schmerz erzeugt wird, um sich von selbstverletzenden Gedanken und etwaigen Handlungen abzulenken. Tim bevorzugte die Wechseldusche und das Gummiband. Es hatte auch schon Zeiten gegeben, wo sein Handgelenk derart rot gewesen war, dass sich die Frage nach seinem Wohlbefinden erübrigt hatte. Und es hatte wieder andere Zeiten gegeben, wo weder Skills noch Medikamente geholfen hatten und er sich mit einer Glasscherbe die Arme verunziert hatte. Keine tiefen Schnitte, aber tief genug, um sichtbare Narben zu hinterlassen, die er vor ihr zu verstecken versucht hatte. Sie konnte ihn nicht zwingen, ihr seine Arme zu zeigen, aber gelegentlich fragte sie danach.

Als könne er ihre Gedanken lesen, hielt er ihr die Handgelenke hin und krempelte auch seine Ärmel hoch. Keine neuen Schnitte. Sie lächelte.

»Die Dusche hat ausgereicht.« Er grinste, was ihn noch jünger, aber auch auf eine gewisse Weise attraktiv erscheinen ließ.

»Sie dürfen aber auch ruhig Ihre Bedarfsmedikation einfordern, wenn es Ihnen zu viel wird. Denken Sie daran, Ihre Grenzen nicht zu überreizen.«

»Das Zeug macht mich aber immer so müde …«

Er berichtete ihr von den Herausforderungen seines Alltags außerhalb der Klinik. Er hatte angefangen, Betriebswirtschaftslehre zu studieren, jedoch das Studium zügig abgebrochen, um eine Lehre als Kfz-Mechaniker anzufangen, die er ebenfalls abgebrochen hatte und nun »schwarz« in der Werkstatt seines Onkels arbeitete. Es belastete ihn, dass er mit Mitte zwanzig noch »nichts erreicht« hatte, wie er häufig betonte. Sie notierte sich, wem er wohl etwas beweisen wollte. Sie würde ihn zu gegebener Zeit danach fragen.

Er hatte das Gefühl, ein Versager zu sein, von der eigenen Familie verstoßen. Schon in der ersten Stunde hatte sie bei Tim die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erkannt und jede weitere Therapiestunde lieferte ihr neue Indizien, die ihre Vermutung bestätigten. Jedoch würde es noch eine Weile dauern, bis sie der eigentlichen Ursache näherkommen würden, die ihm vermutlich selbst noch nicht gänzlich bewusst war.

Er sprach immer wieder von »dem Monster«. Die dunkle Seite in ihm, die nicht mehr kämpfen wollte. Das Wesen, das ihn auffraß. Die Angst. Das, was ihn schon einmal beinahe in den Tod geführt hatte.

Die fünfundvierzig Minuten verstrichen viel zu schnell.

Die nächste Patientin wartete bereits vor der Tür, als Tim den Raum verließ.

»Kommen Sie herein, Frau Krämer.«

Die sichtlich verstörte junge Frau war seit einer Woche auf der geschützten Station. Nachdem sie von einem Passanten apathisch und nur spärlich bekleidet in einem Park gefunden worden war, hatte man sie zunächst in ein gewöhnliches Krankenhaus gebracht, um sie körperlich untersuchen zu lassen.

Sie war vergewaltigt worden. Kurz nach der Nachricht hatte sie sich selbstständig entlassen und war ihrem Alltag nachgegangen, als wäre nichts gewesen. Schockzustand.

Eine Freundin redete ihr jedoch zu und meldete sie hier an. Dies war ihre erste Begegnung mit einer Psychiatrie, und Kathy vermutete, dass es sehr aufwendig sein würde, Informationen zu erhalten, wenn die Patientin die Tat leugnete, um sich zu schützen.

Wenn man sich eine Lüge lang genug erzählt, dann glaubt man sie irgendwann. Doch die Wahrheit findet immer einen Weg ans Tageslicht. Nur war es beruhigender, wenn sie diese in einem geschützten Umfeld mit medizinischer Betreuung realisieren würde.

3

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, beobachte ich aus meinem Versteck hinter den Büschen auf der anderen Straßenseite, wie du das Haus verlässt, in welchem sich deine Wohnung befindet. Du schaust auf dein Handy.

In dem Trubel falle ich nicht auf. Ich grinse. Es ist eine gute Nachricht, die du gerade liest. Ich weiß es genau, denn ich habe sie geschickt.

Auf Social Media habe ich deinen Account schnell gefunden, durch die Bilder gescrollt, die überwiegend teure Mahlzeiten und Partygeschehen zeigen. Ich legte mir einen Account unter dem Namen derTraumschwiegersohn_Daniel