Der Sündenfall des Christentums - Gerrit Jan Heering - E-Book

Der Sündenfall des Christentums E-Book

Gerrit Jan Heering

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Beschreibung

Der Erste Weltkrieg führte den niederländischen Theologen Gerrit Jan Heering (1879-1955), Hochschullehrer am Seminar der Remonstranten und Mitbegründer der Vereinigung "Kerk en Vrede" (Church and Peace), zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt. Im Vorwort zu dem hier neu edierten Werk "Der Sündenfall des Christentums" (Erstauflage NL 1928, dt. Übersetzung 1930) schreibt er: Ich will "ernsthaft auseinandersetzen, dass Christentum und Krieg - jetzt mehr denn je - unversöhnliche Gegensätze sind. Ich will zwischen die christliche Lehre und die Ideologie des Krieges einen Keil treiben. Beide Systeme sind von der Geschichte zwangsweise zusammengeführt und werden jetzt in künstlicher Weise zusammengehalten. Ich will an das christliche Gewissen und an das von diesem Gewissen gelenkte vernünftige Denken appellieren und fragen, ob es nicht die höchste Zeit ist, dass Kirche und Christen sich prinzipiell gegen das ganze Kriegswesen auflehnen. ... Es war eine verhängnisvolle Wendung in der Geistesgeschichte, die während und nach der Zeit von Kaiser Konstantin sich vollzog; durch das enge Bündnis zwischen Staat und Kirche ging das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen Christentum und Krieg ... verloren ...; das schlimmste ist, dass man (seither) ... ruhig Böses gut nennt. ... Die Art, wie in allen christlichen Ländern die Kirche direkt in das gegenseitige Gemetzel des letzten Krieges hineingezogen worden ist, nämlich als unentbehrlicher, als inspirierender Faktor, demonstriert jenen Sündenfall in deutlichster und greulichster Weise. Es ist kein größerer Abstand und Gegensatz denkbar, als zwischen Christus und dem modernen Krieg. Wer dies verneint, hat die Realität eines von beiden oder beider nicht klar gesehen. Das militärische Christentum unserer Tage kann nicht schärfer gerichtet werden, als es durch das Christentum Christi geschieht." edition pace. Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4. Herausgegeben von Peter Bürger, In Kooperation mit: Lebenshaus Schwäbische Alb, Ökumenisches Institut für Friedenstheologie, Thomas Nauerth (Portal: Friedenstheologie).

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Seitenzahl: 520

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Diese Buchausgabe

folgt der schon erschienenen

Digitalversion des Online-Regals

(OekIF / Lebenshaus Schwäbische Alb)

Inhalt

Zum Geleit ǀ

Vorwort des Verfassers ǀ

E

RSTES

K

APITEL

.

D

AS

U

RCHRISTENTUM UND DER

K

RIEG

ǀ

A. Das Neue Testament ǀ

I. Wie es im Alten Testament wurzelt. Zweierlei Messias-erwartung. Jesus der Friedens-Messias. Die Ethik des Neuen Testamentes ist unvereinbar mit dem Krieg ǀ

II. Versuche zur Aussöhnung. Die „Beweisstellen“. Das „Argumentum e silentio“ ǀ

B. Das ablehnende Urteil der ältesten Kirchenväter über den Krieg, Märtyrertum der Soldaten. Die hauptsächlichsten Motive ǀ

C. Der Umschwung ǀ

Konstantins Übertritt. Christus victor! Entartung der „Militia Christi“. Schwenkung der Theologie. Augustins Beweggründe

D. Schlußbetrachtung ǀ

Die Anerkennung des Staates keine genügende Rechtfertigung des Krieges. Das Problem nicht gelöst, sondern erst gestellt

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WEITES

K

APITEL

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C

HRISTENTUM UND

S

TAAT

ǀ

I. Die alt-christliche und die katholische Synthese. Notwendige Synthese und notwendige Spannung zwischen zwei heterogenen Mächten. Paulus. Augustinus „zwei Staaten“. Thomas von Aquino. Das „corpus christianum“ ǀ

II. Die lutherische Synthese. Luther und der Krieg. Doppelte Moral der Person und des Amtes. Luthers utopistisches Urteil über Staat und Krieg ǀ

III. Die calvinistische Synthese. Monistisch, alttestamentlich, gesetzlich. Geringschätzung des Menschen ǀ

IV. Der christliche Humanismus. Stoa und Christentum. Erasmus und der Krieg ǀ

V. Christlicher Imperialismus und Pazifismus: Cromwell und Fox. Quäker und Mennoniten ǀ

VI. Das Fehlen einer christlichen Soziologie für unsere Zeit. Der Konservatismus, Militarismus und Monarchismus der Orthodoxie ǀ

VII. Der christliche „Zusatz“. Der christliche Zusatz zum heidnischen Staat. Friedrich Naumann. Christus das Licht der Welt? ǀ

VIII. Der christliche Sozialismus. Seine Haltung dem Staat und dem Krieg gegenüber ǀ

D

RITTES

K

APITEL

.

S

TAAT UND

K

RIEG

ǀ

I. Machtstaat und Rechtsstaat. Die zwei Gesichter des Staates. Volk und Vaterland. Recht und Gerechtigkeit. Gesetzliche Autorität und Autorität des Rechts ǀ

II. Die Staatsraison. Machiavelli. Das Buch von Meinecke. Die römische Moral ǀ

III. Hegel und der souveräne Machtstaat. Machiavelli dringt in den Idealismus ein. Die höhere Sittlichkeit. Der Krieg als Gottesgericht ǀ

IV. Fichte und der souveräne Nationalstaat. Das Leben des Volkes, die „irdische Ewigkeit“. Der Begriff des „wahrhaften Krieges“. Optimistisches Urteil über das Kriegshandwerk. Schleiermacher ǀ

V. Staatsverherrlichung und Kriegsverherrlichung. Treitschke, Steinmetz. Das Christentum auf den Kopf gestellt ǀ

VI. Kant: Rechtsstaat und Krieg. Politik und Moral. Der moderne Krieg das Radikal-Böse ǀ

VII. Doppelte Moral? Max Huber: „Entweder Christus oder Caesar“ das Dilemma unserer Zeit ǀ

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AS SITTLICHE

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RTEIL ÜBER DEN

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RIEG

ǀ

A. Die Aufgabe des Staates ǀ

1. Die Handhabung des Rechts. Der Krieg führt zur Untergrabung des Rechtsbewußtseins ǀ

2. Schutz der geistigen Güter? Der Krieg erzeugt Geringschätzung des Menschen, seines Lebens, seiner Seele und ihres geistigen Besitzes ǀ

3. Schutz von Land und Volk. Im zukünftigen Krieg kann von Schutz nicht die Rede sein ǀ

B. Ist der Krieg sittlich erlaubt? ǀ

1. Staatsmoral und christliches Prinzip. Staatsmoral ein Kompromiß zwischen dem christlichen Prinzip und der Staatsnotwendigkeit. Der Krieg kein Kompromiß mit dem christlichen Prinzip, sondern dessen Zerstörung ǀ

2. Entwicklung des christlichen Humanitätsgedankens. Früher gehörte der Krieg in den Rahmen der Zivilisation; jetzt nicht mehr ǀ

3. Entwicklung der Art der Kriegführung. Der Intellekt des Krieges kennt keine Grenzen, nach keiner Richtung hin; dadurch wird der Krieg stets raffinierter, stets gemeiner. Das Urteil der christlichen Führer verzerrt ǀ

C. Die Verteidigungsargumente ǀ

1. „Gottes Führung; das Erbteil und Vorbild unserer Väter“ ǀ

2. „Es sind Exzesse“! ǀ

3. „Eine Gefühlssache, kein sittliches Problem“ ǀ

4. Gewalt ist Gewalt; Auftreten der Polizei ist dem Krieg gleich ǀ

5. „Verweigerung des Militärdienstes ist Verleugnung der Liebe und der Solidarität“ ǀ

6. „Notwehr ist erlaubt“ ǀ

7. „Der Krieg ist eine Naturerscheinung“ oder: „Der Krieg geht aus der Sünde hervor“ ǀ

Schlußbetrachtung ǀ

Den Krieg kann man in keiner Weise rechtfertigen. Ein „gerechter Krieg“ unmöglich. Otto Dibeliusʼ „Frieden auf Erden?“

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UFGABE DES

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HRISTENTUMS IN DIESER

Z

EIT

ǀ

Eine grundsätzliche Haltung tut not ǀ

A. Das kirchliche Christentum ǀ

I. In erster Linie soll das kirchliche Christentum gegen jeden Krieg und alle Vorbereitungen dazu, weil sie im vollkommenen Widerspruch mit den christlichen Grundsätzen stehen, prinzipiell protestieren ǀ

II. Das kirchliche Christentum unterstütze den Völkerbund, überlege jedoch, worin die richtige Unterstützung besteht ǀ

III. Das kirchliche Christentum unterstütze den Völkerbund nicht ohne Kritik. Keine militärischen Sanktionen ǀ

IV. Es unterstütze und kritisiere ebenfalls den Kellogg-Pakt ǀ

V. Das kirchliche Christentum entziehe in radikaler Weise dem Krieg seine Hilfe, die es ihm so lange geleistet hat und fordere (auch nationale) Abrüstung ǀ

VI. Das kirchliche Christentum bevorzuge auf religiös-ethischer Grundlage das Risiko der Abrüstung vor dem der Rüstung ǀ

VII. Das kirchliche Christentum beurteile furchtlos die Kolonialfrage im Lichte der christlichen Wahrheit. Die Mission und das militaristische Abendland ǀ

VIII. Das kirchliche Christentum lasse sich durch die „rote Gefahr“ nicht irre machen. Der Militarismus züchtet Anarchismus und Revolution ǀ

IX. Wo der Militarismus verschwindet, entsteht eine psychologische Leere. Das Christentum schaffe dort eine strengere Ethik und ein stärkeres Gottvertrauen ǀ

B. Die persönliche Haltung des Christen ǀ

I. Die persönliche Haltung dem Staat gegenüber: die Dienstpflicht. Vom sittlichen Standpunkt nicht zu verteidigen. Motive der Dienstverweigerung ǀ

II. Die persönliche Haltung und die Partei ǀ

III. Aufreizung zur Dienstverweigerung? ǀ

IV. Die Dienstpflicht kann nicht aufrecht erhalten werden. Freiwilligen-Heer? ǀ

V. Durch die persönliche Haltung ihrer Glieder erwacht die Kirche ǀ

VI. Die „Militia Christi“ lebt wieder auf ǀ

VII. Wir sind mehr als Pazifisten. Es geht uns vor allem um die Ehre Gottes und Christi Namen ǀ

_____

Anmerkungen zur vorliegenden Neuedition

des Werks „Der Sündenfall des Christentums“

von Gerrit Jan Heering ǀ

_____

ZUM GELEIT

(1930)

Wenn ein Buch – zum mindesten im Herzen des Christen – den Krieg töten könnte, so würde es dieses Buch tun. Für die christliche Ethik ist der Krieg erledigt. Was man zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung von dieser Seite noch geltend macht, ist nur Rück-zugsgefecht der Nachhut eines geschlagenen Heeres.

Wenn der nächste Krieg kommt, werden die Kirchen nicht mehr geschlossen zu den Armeen stehn. Es wird dann nicht ohne schwere innere Konflikte gehen. Wie sie sich abspielen, wie sie sich lösen werden, weiß kein Mensch. Je länger die gegenwärtige Atempause dauert, desto besser mag es sein. Es ist nur ein sogenannter Friede, den wir haben. Aber doch eine Gottesgnade immerhin, den Völkern zur Besinnung gegeben. Denn das tut am meisten not: Besinnung. Und dann zur Besinnung ein Wille. Beidem möchte dies Buch Vorspann leisten.

Der Verfasser ist Holländer. Bürger eines „neutralen“ Staates. Die Völker der neutralen Staaten haben den letzten Krieg anders erlebt, als wir mitwirkenden. Das half ihnen manches anders sehen und beurteilen, als wir. Wenn die Ausführungen dieses Buches gelegentlich merkbar davon bestimmt sind, so wird es dadurch nur um so interessanter. Deutschland ist ja jetzt auch mehr oder minder ein neutraler Staat.

Während dies Buch ins Deutsche übertragen wurde, erschien aus deutscher Feder ein verwandtes, mit Recht viel beachtetes: „Friede auf Erden?“ von Generalsuperintendent D. Dibelius in Berlin. Unsere Übersetzung wurde dadurch nicht überflüssig. Es ist von hohem Reiz, die beiden Bücher zu vergleichen.

Wir leben in einer wunderlichen Zeit. Das heißt: in einer Zeit, über die sich unsere Vernunft wundert. Aber unser Glaube sagt: es ist Gottes Stunde.

Martin Rade

VORWORT DES VERFASSERS

Es war nicht mein Wunsch, dieses Buch zu schreiben, sondern das Bündnis, das Christentum und Militarismus in aller Ruhe zusammengeschlossen hatten, und dem ich nicht länger zusehen konnte, nötigte mich dazu.

Ich will weder über die Ursachen des Krieges sprechen (außer über die eine große, die in besagtem Bündnis liegt), noch ein Geschichtsbuch schreiben. Ich will nur auf Grund einiger in ehrlicher Weise geprüften und mitgeteilten Tatsachen ernsthaft auseinander setzen, daß Christentum und Krieg – jetzt mehr denn je – unversöhnliche Gegensätze sind. Ich will zwischen die christliche Ideologie und die des Krieges einen Keil treiben. Beide Systeme sind von der Geschichte zwangsweise zusammengeführt und werden jetzt in künstlicher Weise zusammengehalten. Ich will an das christliche Gewissen und an das von diesem Gewissen gelenkte vernünftige Denken appellieren und fragen, ob es nicht die höchste Zeit ist, daß Kirche und Christen sich prinzipiell gegen das ganze Kriegswesen auflehnen.

Dem historischen Christentum, das sich auf mancherlei Gebiet in heilsamer Weise betätigt hat, und dem ich das Beste, was ich habe, verdanke, stehe ich ehrfurchtsvoll gegenüber – auf dem Gebiet der christlich sanktionierten Staats- und Kriegsmoral weist jedoch seine Geschichte so dunkle Seiten auf, daß ich vor der inhaltsschweren Symbolik meines Titels: „Der Sündenfall des Christentums“ nicht zurückgeschreckt bin. Es war eine verhängnisvolle Wendung in der Geistesgeschichte, die während und nach der Zeit Konstantin des Großen sich vollzog; durch das allzuenge Bündnis zwischen Staat und Kirche ging das Bewußtsein des Gegensatzes zwischen Christentum und Krieg (das als Konsequenz des Evangeliums in den ersten Jahrhunderten entstanden war) verloren und damit das Bewußtsein eines großen christlichen Wertes.

Eine verhängnisvolle Wendung in der Geistesgeschichte. Denn das Schlimmste ist nicht, daß man in gewissen Dingen gegen die christliche Grundstellung sündigt; das schlimmste ist, daß man sie nicht mehr sieht, und ruhig Böses gut nennt. Wie viel geschichtlich-psychologische Gründe auch zur Erklärung dieser Wendung in der Geistesgeschichte beigebracht werden können, im Prinzip war sie ein Abfall. Am Ende eines Weges sieht man oft besser, daß er falsch war, als am Anfang. Die Art, wie in allen christlichen Ländern die Kirche direkt in das gegenseitige Gemetzel des letzten Krieges hineingezogen worden ist, nämlich als unentbehrlicher, als inspirierender Faktor, demonstriert jenen Sündenfall in deutlichster und greulichster Weise. Es ist kein größerer Abstand und Gegensatz denkbar, als zwischen Christus und dem modernen Krieg. Wer dies verneint, hat die Realität eines von beiden oder beider nicht klar gesehen. Das militärische Christentum unserer Tage kann nicht schärfer gerichtet werden, als es durch das Christentum Christi geschieht.

Es ruht eine schwere Schuld auf unserem Christentum, namentlich auf seiner Theologie. Sie hat den Staats-Absolutismus und den Nationalismus viel mehr in sich aufgenommen und verehrt, als die christliche Idee ertragen kann. Sie hat in viel stärkerem Maß mit der Sünde und den Notwendigkeiten dieser Welt gerechnet, als die christliche Ethik erlaubt. Sie hat mit ihrem Glauben an die Weltschöpfung den an eine notwendige Neuschöpfung verdrängt und diese von Christus abgewandte Welt gelehrt, dem gläubig zuzustimmen. Sofern sie kulturkritisch blieb oder wurde, hat sie diese Kritik durch zu hochgespannte Jenseitigkeit gelähmt, eine Jenseitigkeit, die der Militarisierung und der Verderbnis dieser Welt mit eschatologischer Gelassenheit zuschaute. Die Theologie hat es infolgedessen fertig gebracht, daß das Christentum sich auf individuelle Heilsarbeit beschränkte und seinen welterneuernden Charakter verlor. So hat die Theologie es erreicht, den Christen mit dem Krieg zu versöhnen, seinen Widerstand zu besiegen und dem Militarismus jene geistige Basis zu verschaffen, ohne die er sich in Ländern christlicher Konfession nicht hätte halten können.

Damit ist die reine und erhabene Ethik des Evangeliums hoffnungslos verzerrt und getrübt. Soll diese Ethik wieder zu ihrem Recht kommen, dann muß sie – trotz, nein kraft des Glaubens, der sie trägt – sich die Dogmatik vorläufig fern halten, um zu verhüten, daß diese sie im voraus entnervt, ehe sie ihr Ziel und ihre Kraft hat zeigen können.

Man verstehe mich nicht falsch. Ich vermesse mich nicht, die Geschichte zu bekritteln; Gottes Wege sind nicht unsere Wege. Und Harnack hat schon recht, wenn er sagt, daß das Christentum sich verblutet hätte, wenn es sofort die Durchführung seiner Prinzipien im Staat und in der Gesellschaft gefordert hätte. Es ist mitunter göttliche Weisheit, wenn sie einen Vorhang vor die Augen der Menschheit zieht, so daß die Grundstellung des Christentums zum Teil verdeckt wird und sie die Folgerungen, die ihr eigenes Prinzip verlangt, nicht übersehen kann. Wenn aber die Zeit kommt, wie es jetzt der Fall ist, daß Gott den Vorhang wegzieht und der Ausblick wieder frei wird, so daß das in Verblendung begangene Unrecht in seinem sündigen Charakter klar an den Tag tritt, dann ist es unverzeihlich, die Augen davor zu schließen, und unmöglich, schwarz weiß zu nennen. Dann gilt auch kein Appell mehr an die Geschichte. Wir dürfen für unser Verhalten keine andere Norm als die sittliche anerkennen. Die kosmischen Richtlinien der Geschichte kennen wir nicht; wir müssen sie der Vorsehung überlassen, deren Rolle wir nicht zu spielen versuchen dürfen.

Man halte mich nicht für hochmütig. Ich erhebe mich nicht über die Kirche, aus der ich hervorgegangen bin, der ich diene, und deren Schuld ich trage. Ich erhebe mich nicht über meine christlichen Gegner; ich weiß nur zu gut, daß wir alle Sünder sind vor Gott. Aber in der einen Sache, um die es hier geht, sind mir nach langem und schwerem Kampf die Augen geöffnet worden; diese Offenbarung ist mir heilig und darum absolut. In ihrem Licht, das nur die Verlängerung eines Lichtstrahls des Evangeliums ist, habe ich versucht, mir über den Krieg, seinen Charakter, sein Verhältnis zur Persönlichkeit, zur Gesellschaft, zu Recht und Staat, Rechenschaft zu geben.

Ich muß die Frage offen lassen, ob es mir gelungen ist und ob ich dazu befugt war. Ich bin weder Historiker noch Exeget, weder Staats- noch Rechtsphilosoph. Auf diesen Gebieten mußte ich mich oft von zuverlässigen Führern belehren lassen. Je mehr jedoch die Probleme ethischer und prinzipieller Natur wurden, um so sicherer fühlte ich mich. Es versteht sich von selbst, daß meine Schrift, die so vielerlei Gegenstände berührt und berühren mußte, ihre schwachen Seiten hat. In der Hauptsache aber, nämlich in der Auseinandersetzung, daß ein „gerechter Krieg“ – wenn er je möglich war – jetzt undenkbar ist, und daß es einer christlichen Nation durch ein heiliges Verbot untersagt ist, den Krieg noch länger mitzumachen, fühle ich mich stark. Die viele Kritik, die mir in Holland zuteil wurde, und die bewirkte, daß die erste Auflage meines Buches binnen Jahresfrist vergriffen war, hat meine Überzeugung nur gefestigt. Die Kritik wurde schwächer, je mehr sie sich der Hauptsache näherte, und gegen die Hauptsache vermochte sie nichts.

Das Beste in dem Buch ist nicht von mir, sondern von Dem, der mich zum Schreiben nötigte. Darum wage ich zu hoffen, daß es auch in jenen Ländern, die in deutscher Sprache Christus verehren und Gott anbeten, seinen Weg finden wird. (Die englische Übersetzung wird im Herbst bei George Allen & Unwin Ltd. in London erscheinen.)

Die vorliegende deutsche Übersetzung von Octavia Müller-Hofstede de Groot und ihrem Gatten, zu der neben Anderen auch Dr. Liechtenhan (Basel) wertvolle Arbeit geleistet hat, möge dies vermitteln.

Leiden, Frühjahr 1930.

Dr. G. J. Heering

Professor an der Universität Leiden

Erstes Kapitel

Das Urchristentum und der Krieg

A. DAS NEUE TESTAMENT

I. Wie es im Alten Testament wurzelt. Zweierlei Messiaserwartung. Jesus der Friedens-Messias. Die Ethik des Neuen Testamentes ist unvereinbar mit dem Krieg.

Das Neue Testament wurzelt im Alten. Man könnte also verlangen, daß wir zunächst fragen: Welche Gedanken hat die Bibel zur Frage des Krieges? Darauf müßten wir antworten: sehr verschiedene. Bei wenigen Fragen bietet die Bibel so von einander abweichende und unter sich unvereinbare Gesichtspunkte wie bei der des Krieges. Für den, der die Bibel als eine in sich geschlossene Einheit von Gedanken ansieht, die alle auf derselben Höhe liegen, ist dieses Problem unlösbar. Wer dagegen in der Schrift nicht eine in sich starre, sondern eine organische Einheit (ein Organismus kennt Phasen des Wachstums), eine fortschreitende und stets vollkommenere Offenbarung von Gottes Wesen und Absichten sieht, wird auch in bezug auf unser Problem eine steigende Linie erkennen, die ihren Höheund Ruhepunkt in Jesus Christus findet. Sein göttliches Licht scheint seitdem in der Welt und zeigt den Weg zu seinem Reiche.

Der große Aufstieg der Offenbarungslinie liegt natürlich zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Aber auch das Alte Testament kennt eine fortschreitende Entwicklung. Ein merkwürdiges Beispiel dafür bietet der Verfasser der Chronik, der gegen den gefeierten König David den Einwand erhebt, daß er den Tempel nicht bauen dürfe, weil er „viel Blut vergossen“ habe, während die älteren Bücher Samuelis und der Könige dieses Bedenken nicht kennen; waren es doch „Kriege des Herrn“ (1. Chron. 22,8). Dr. J. C. de Moor1 versucht, diese sich widersprechenden Ansichten auf merkwürdige Weise auszugleichen, und er ist von seinem Standpunkt aus dazu gezwungen: Wie hätte derselbe David sonst sagen können, „daß Gott ihn das Kriegführen gelehrt hätte“ (2. Samuel 22,35: „Er lehrt meine Hände streiten“), ein Beispiel für die schwierige Lage, in die man kommt, wenn man in der Schrift keine fortschreitende Entwicklung sehen kann und darum all ihre Aussprüche auf eine Ebene stellen muß. Es gibt im Alten Testament einen Fortschritt der Gedanken (wie viele Jahrhunderte umfaßt die Entstehung dieser Schrift!) und wir finden dort Gipfel, die fast an die Höhen des Neuen Testamentes heranreichen.

Dem Kriegsproblem gegenüber ziehen sich durch das Alte Testament zwei Gedankengänge: der eine ist stark national-kriegerisch; der andere wächst darüber hinaus zu einer Gesinnung, die sich dem Evangelium nähert. Der erste Weg, in der alten Zeit der natürliche, wird der Weg der Verstockung Israels; mit Jesu Kommen wird er gerichtet und ist damit erledigt. Den zweiten Weg betritt Christus selbst.

Auf dem ersten Weg, auf dem Jahwe ausschließlich als Israels Stammes- und Kriegsgott verehrt wird, begegnen wir den „heiligen“ Kriegen Israels mit all den Grausamkeiten, von denen Josua in den Kapiteln 6, 7, 10 und 11 erzählt; wir begegnen Deborah mit ihrem grotesken und unmenschlichen Siegessang (Richter 5), auch Samuel mit seiner Aufreizung zur erbarmungslosen Rache (1. Sam. 15). Hier erklingen die leidenschaftlichen Rachepsalmen, zum Beispiel Psalm 74, 3. 22; 79, 12; 83, 10ff.; 137, 7-9. Aus diesem Geist ging auch zum größten Teil die jüdisch-nationale Messias-Erwartung hervor, deren Zeloten sich später immer wieder in blutiger Empörung gegen die römische Gewalt erhoben, bis sie in den Jahren 70 und 135 n. Chr. endgültig besiegt und aus ihrem Land vertrieben wurden.

Hier herrscht eine Gesinnung – sie geht nur allzu deutlich aus den angeführten Stellen hervor –, die dem Geist Jesu Christi auf das schärfste widerspricht. Diejenigen, die die Inspiration der Heiligen Schrift in allen Einzelheiten anerkennen, machen verzweifelte aber vergebliche Versuche, diese Teile des Alten Testamentes mit dem Evangelium in Übereinstimmung zu bringen. Diese antik-barbarische Gesinnung hindert viele Strenggläubige daran, sich zum Krieg so zu stellen, wie es sich für einen Christen gehört. In diesem Sinne hat Dr. Macpherson recht, wenn er sagt, daß „die orthodoxe Auffassung der Bibel als inspiriertes Ganzes in vergangenen Jahrhunderten der Kirche die Möglichkeit genommen hat, den Krieg von ganzem Herzen zu verurteilen“2. Wir fügen hinzu: „das ist noch immer der Fall“. Noch immer wird in manchen kirchlichen Kreisen zur Bekämpfung des Pazifismus König David zitiert, der ein „Mann war nach Gottes Herzen“ (1. Sam. 13,14) und trotzdem viele Kriege geführt hat. Wir wollen gern die edeln und frommen Züge dieses Königs anerkennen, wenn wir aber lesen, in welcher Weise er die „Kriege des Herrn“ führte – (1. Sam. 27,9: „Da aber David das Land schlug, ließ er weder Mann noch Weib leben“; und 2. Sam. 12,31: „Aber das Volk drinnen in der Stadt Rabba führte er heraus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammon“) –, dann fühlt jeder unbefangene Leser: hier spricht nicht Gott, sondern eine barbarische Zeit mit einer rohen Auffassung Gottes und seines Willens.

Es ist selbstverständlich, sagt Professor Windisch in seiner Schrift: „Der Sinn der Bergpredigt“, 1929, S. 154, daß nicht alle alt-testamentlichen Begriffe in das Evangelium eingefügt werden können. „Die brutalen Kriegs- und Staatsgebote des Alten Testamentes kommen für den, der die Antithesen der Bergpredigt verstanden hat, nicht in Frage.“ Es ist kein Wunder, daß der bekannte Missionar Stanley Jones, als er in Britisch-Indien den Hindus und Mohammedanern die Eindeutigkeit und Größe des Christentums in diesen Fragen predigen wollte, immer mit Gegnern Schwierigkeiten hatte, die sich gegen ihn auf die genannten Stellen des Alten Testamentes beriefen. Er begegnete ihren Einwänden mit der Erklärung: „Christus ist für mich das Christentum.“ Seine Gegner fragten: „Was berechtigt Sie, in der Heiligen Schrift diesen Unterschied zu machen?“ Jones antwortete treffend: „Daß sein eigner Meister, der ja selbst gesagt habe: ‚Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist. … Ich aber sage euch …‘ ihm das Recht dazu gegeben habe.“ Jones verstand von da an und lehrte es andere, daß die Offenbarung fortschreite und in Ihm den Höhepunkt erreiche.

Wer mit der Schrift das Friedensproblem in christlicher Weise erfassen will, muß „der ganzen Bibel“ unabhängig gegenüberstehen, und muß allein Christus und was im Alten Testament auf ihn hinzielt, im Auge haben; sonst ist, wie gesagt, das Problem unlösbar.

Am Anfang dieses zweiten alttestamentlichen Weges steht das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten“, das ursprünglich im engern Sinne aufgefaßt (den Mitbürger schonen) eine immer tiefere und umfassendere Bedeutung erhielt. Auf diesem Wege bewegt sich die andere Messias-Hoffnung, die das Edelste der nationalen Erwartung übernimmt und vergeistigt, bis sie die Höhe wie bei Jesaja erreicht. Dieser Prophet sieht im Geiste, wie die Völker künftig nach Jerusalem ziehen, um dort zu hören, daß man „die Schwerter zu Pflugscharen und die Spieße zu Sicheln machen wird, denn es wird kein Volk mehr gegen das andere ein Schwert aufheben und wird nicht mehr kriegen lernen“ (Jes. 2,2-4; 9,1-6; 11,1-9). Ebenfalls Psalm 46, 8-11 und Sacharia 9,9-10: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem jungen Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen abtun von Ephraim und die Rosse von Jerusalem und der Streitbogen soll zerbrochen werden, denn er wird Frieden lehren unter den Heiden; und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis ans andere und vom Strom bis an der Welt Ende.“

Der rachsüchtige und kriegerische Messianismus hat die letzten Jahrhunderte des israelitischen Volkes in überwältigender Weise beherrscht. Nach dem makkabäischen Freiheitskrieg „blieb das jüdische Land auch weiterhin unter römischer Herrschaft vulkanischer Boden“3. Von der Rachsucht und dem Blutdurst der fanatisch religiös-nationalen Juden bekommt man aus dem Buch Henoch einen klaren Eindruck: „Die Männer, die Gott mit der Führung des messianischen Krieges betraut, sind genau so grausam und barbarisch, wie die heidnischen Unterdrücker der Juden4.“ Dieser „religiöse Kriegsfanatismus“ endigte mit einem Blutbad. „Aber unmittelbar, bevor dieses verblendete Volk seine weltgeschichtliche Rolle verspielte, hatte sich von seinem Boden eine neue religiöse Bewegung losgelöst, die die großen, der Welt unentbehrlichen geistigen Güter, den Gottes- und Erlösungsglauben und die Moral, in einer unerreichten Reinheit und unvergleichlichen Kraft in sich barg, aber den sich selbst aufzehrenden Kriegsfanatismus abgestoßen hatte. Seit dem Erscheinen Jesu und der Entfaltung der urchristlichen Mission hatte das Judentum der Menschheit nichts mehr zu sagen. Nun trieben es die niedern Instinkte, die es nicht lassen mochte, ins Verderben. Ohne das Christentum wäre seine Weltmission verpfuscht. Beides, die Entstehung des friedlich gerichteten Christentums und der darauf folgende Untergang des kriegerischen Judentums, muten wie Fingerzeige Gottes an. Auch der oberflächlichste Beobachter kann hier mit Händen greifen, wie die Geschichte der Menschheit von Vernunft geleitet wird. Der Christ sieht in ihnen unanzweifelbare Zeugnisse für ein Walten der Vorsehung Gottes in der Geistesgeschichte5.“

Den Charakter des ersten Christentums verdanken wir der schöpferischen Persönlichkeit, die diese Bewegung hervorrief: dem Messias Jesus, der die reinsten Messiaserwartungen der Besten Israels erfüllt hat. „Das wichtigste negative Charakteristikum seines Messiastums liegt darin, daß er den messianischen Krieg ablehnte. … Er hätte seine Mission verdorben, wenn er den Kriegsfanatismus entfacht hätte. Die Verfeinerung des Gewissens, die er darbot, wäre verloren gegangen. Aber er nahm auch die Folgen seiner Entscheidung wider das Volksideal auf sich. Er duldete, litt und ließ sich töten. So ward er den Juden zum Trotz dennoch der Messias Triumphator. Ohne Kampf hat der Galiläer doch gesiegt6.“

Einige Ausdrücke im Evangelium haben mitunter zu einer falschen Auffassung des Messiascharakters Jesu Veranlassung gegeben; besonders Stellen wie Matth. 10,34 und Luk. 22,36-38 könnten gedeutet werden, als ob er sich dennoch mit Waffengewalt hätte durchsetzen wollen. Matth. 10,34 lesen wir: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.“ Die Fortsetzung jedoch zeigt, daß hier das Schwert der Zwietracht in einer Welt, die sich für oder gegen Christus entscheiden wird, gemeint ist. Das Schwert des Hasses und der Verfolgung, das sich gegen die Christen richten wird. Wie könnte es anders gemeint sein, da kurz vorher gesagt wird (Vers 16): „Siehe ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“ Luk. 12,51 vermeidet das Mißverständnis, indem er statt „Schwert“ „Zwietracht“ schreibt.

Größere Schwierigkeit bietet Luk. 22,36-38, eine der dunkelsten Stellen des Neuen Testaments. Im Hinblick auf die schweren Zeiten, die kommen werden, ermahnt Jesus hier seine Jünger: „Wer kein Schwert hat, verkaufe sein Kleid, und kaufe ein Schwert.“ Sie sprachen aber: „Herr, siehe hier sind zwei Schwerter.“ Er aber sprach zu ihnen: „Es ist genug.“ – „Seht ihrʼs“, rief der deutsche Theologe Spitta im Krieg aus: „Jesus war kein weichlicher Pazifist und Kosmopolit. Seine Jünger hat er zur Notwehr aufrufen können7.“ Aber fast alle Neu-Testamentler stecken hier in der Klemme. Professor Oort in der Leidener Übersetzung nennt diese Stelle „rätselhaft“ und im Widerspruch mit vielen anderen Stellen im Neuen Testament. Joh. Weiß urteilt in seinem Kommentar: „Die äußerst kriegerische Stimmung dieses Wortes steht im Widerspruch mit vielen andern, die den aktiven Widerstand geradezu verbieten (z. B. Matth. 26,52ff. Offenb. 13,10. Matth. 5,39. Luk. 6,29ff.). Es widerspricht überhaupt dem ganzen Geist des Urchristentums und ist aus Stimmung und Lage der alten Gemeinde in der Verfolgung nicht zu erklären“, nicht aus der Stellung jener „kleinen Minderheiten“ und auch nicht aus der Stellung Jesu vor seiner Gefangennahme. Was hätte er mit zwei Schwertern machen sollen! Wie konnte das „genug“ sein? Wie hätte Jesus Führer in diesem Kampf sein können? Was für ein bewaffneter Messias wäre er gewesen? Die Fragen häufen sich. Harnack weiß keine andere Erklärung dieser rätselhaften Ermahnung als eine allegorische: „Jesus meinte die kriegerische Bereitschaft, das Evangelium mit allen Mitteln zu verteidigen; seine Jünger aber verstanden ihn sinnlich und wiesen auf die zwei Schwerter hin, die im Gemache waren.“ Ironisch bricht er das Gespräch ab mit den Worten: „Es ist genug8.“ Windisch verwirft die Allegorie, betrachtet diesen Text als einen „Fremdkörper“ im Evangelium und findet folgende Lösung: daß hier eine menschliche Schwäche Jesu mitgeteilt wird, die jedoch sofort überwunden wird: in der Stunde der Gefahr „hat er selbst, für einen Augenblick wenigstens, an Notwehr gedacht“. Aber er überwand die Versuchung. Unmittelbar darauf (Luk. 22,51) verbietet er in Gethsemane bei der Gefangennahme – einem seiner Jünger, der das Schwert ergriffen und einem der Angreifer ein Ohr abgehauen hatte, fortzufahren: „Hört auf, nicht weiter!“ (Leidener Übersetzung) und heilt die Wunde. Im kritischen Augenblicke erhebt er sich über seine Angreifer und Verteidiger. „Rein steht er da, mitten in einer Welt voll Rachsucht, Blutdurst und Grausamkeit, als der Mann der Liebe, des Friedens und der Geduld“9. Matthäus bringt Jesu Worte noch deutlicher, noch eindrucksvoller: „Stecke das Schwert an seinen Ort, denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.“ (Matth. 26,52.) – Nein, nur „Kriegsexegese“, die leider in voller Blüte gestanden hat, kann aus diesem Kapitel des Evangeliums Kriegsmünze schlagen10. Und zwar auf beiden Seiten der Kriegführenden. Wir wiesen vorhin auf Spitta hin. Aber auch der wallonische Prediger Giran erklärte, daß Jesus einen Schlag geduldet hat, um ein lebendiges Beispiel zu geben, daß es unter Umständen gerechtfertigt, ja geboten ist, bewaffneten Widerstand zu leisten. Und mit dem Wort, daß, wer das Schwert nimmt, durch das Schwert umkommen wird, habe das Evangelium die Sache der Entente glänzend gerechtfertigt; darum mußte Deutschland schließlich besiegt werden (!)11.

Wer den Geist Christi mit der Gewalt verquickt, hat ihn sicherlich nicht verstanden. Die einzige gewalttätige Handlung, die von Jesus in den Evangelien berichtet wird, ist die Tempelreinigung (Matth. 21,12. Joh. 2,14), bei der Jesus in heiligem Zorn die Kaufleute und Wechsler aus dem Hause des Gebets austrieb, ohne daß jedoch von Blutvergießen die Rede ist; und sogar diese Handlung, wie menschlich erklärlich sie sein, ja wie sehr sie vielleicht auch aus dem „mysterium tremendum“, das in Jesus verborgen war, zu verstehen sein möge, steht mehr oder weniger auf gespanntem Fuß mit dem übrigen Neuen Testament, wo überall der Geist göttlicher Liebe und leidender Geduld an die Stelle der Gewalt tritt. „Denn dazu seid ihr berufen“, heißt es im ersten Petrusbrief 2, 21-23: „sintemal auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Mund erfunden; welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt, er stellte es aber dem anheim, der da recht richtet.“ Dies ist der Eindruck, den des Menschen Sohn hinterließ. Nicht die menschliche, sondern die von Gott inspirierte Liebe besitzt die hohe Geisteskraft, alles zu ertragen und alles zu überwinden. Wer Christi Liebe weich nennt, hat sie nie gekannt; sie ist die stärkste Macht, die die Erde je gesehen hat.

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Es wäre eine der schwierigsten Aufgaben, in objektiver Weise das Wesen des christlichen Glaubens zu bestimmen. Davon ist jeder überzeugt, der die Diskussion verfolgte, die sich an Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“ (1900) und den Aufsatz von Troeltsch „Was heißt Wesen des Christentums“ (1903) geknüpft hat. Eine große Anzahl kultur- und dogmengeschichtlicher und sogar linguistischer Probleme sprechen hier mit und schließlich entscheidet zum großen Teil die eigene Überzeugung. Wenn man jedoch das Christentum vor allem in jener großen Urkunde, dem Neuen Testament, suchen und wenn man zugleich nicht den gesamten Umkreis des christlichen Glaubens, sondern bloß das Gebiet der christlichen Ethik ins Auge fassen will, steht die Sache anders. „Es liegt in der Art der Ethik“, schreibt Prof. de Zwaan in seinem Werk „Jesus, Paulus en Rome“ (Amsterdam 1927, blz. 16. 17), „daß hier die Vorbedingungen am günstigsten liegen, und daß sie zu dem gehören, was unmittelbar zu uns spricht.“ Wir wollen dazu die Ethik des Neuen Testaments reden lassen. Wir werden uns hüten, eine willkürliche Wahl zu treffen, vielmehr unsere Aufmerksamkeit auf jene Aussprüche richten, die allgemein als von zentraler Bedeutung anerkannt werden.

Selbstverständlich kann man christliche Ethik von christlichem Glauben nicht trennen; beide sind eins in Gottes Kraft, in seinem Heiligen Geist, den sie beide voraussetzen. Nur wer an die erlösende Liebe Gottes, die Christus uns offenbart hat, glaubt, und sie erfahren hat, kann die christliche Ethik wirklich verstehen und ausüben; zusammen bilden sie das christliche Leben als ein unteilbares Ganzes. Daher kommt es, daß die gewaltig hohen Forderungen des Evangeliums uns wie selbstverständliche Wahrheiten anmuten. Sie sind auch selbstverständlich für den, der von Gott in Christo ergriffen ist, wenn er auch – da seine Erlösung auf Erden nie vollendet ist, und er immer nur in der Hoffnung lebt – die Forderungen nur zu einem kleinen Teil erfüllen, und Christus nur von weitem nachfolgen kann. Was de Zwaan mit Recht das fundamentalste und für Jesu Ethik charakteristische Wort nennt, nämlich das Gebot: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt; dies ist das vornehmste und größte Gebot; das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst (Matth. 22,37-39)“, klingt uns selbstverständlich.

Das moderne Bedenken, ob man Liebe befehlen kann, war für Jesus und für den Evangelisten ebensowenig ein Problem wie für den Mosaischen Gesetzgeber, auf den Jesus sich beruft (5. Mos. 6,5 und 3. Mos. 19,18). Gewiß, Jesus denkt intensiver als der alte Gesetzgeber an die Gesinnung, aber Gesinnung und Tat sind für Ihn eins12. Ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte und an den Früchten erkennt man ihn (Matth. 7,17-20). Nachdrücklich betont Er, daß es auf das Vollbringen des Willens Seines Vaters, auf das Tun seiner Worte ankommt (Matth. 7,21; 24-26). Wir denken auch an die goldene Regel von Matth. 7,12: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“, und an Jesu Ermahnung am Schluß des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter: „Gehe hin und tue desgleichen“ (Luk. 10,37).

Bei weitem die meisten ethischen Aussprüche des Evangeliums findet man in der Bergpredigt (Matth. 5-7); diese schließen sich aber wieder vollkommen der Ethik an, die aus dem „Großen Gebot“ (Matth. 22,36-40), aus Luk. 10 (Barmherziger Samariter) und einer Anzahl anderer Stellen hervorgeht. Darum hat es, beiläufig gesagt, keinen Sinn, eine Beweisführung, wie die hier gegebene, mit einem hochmütigen: „Bergpredigt-Christentum“ abzutun, weil man sich nicht anders zu helfen weiß. Damit beschimpft man einfach den Willen Gottes, wie Jesus ihn im Evangelium, von dem die Bergpredigt ein bedeutender Teil ist, offenbart.

In konkreten und strengen Vorschriften zeichnet die Bergpredigt die Gesinnung und das Verhalten derer, die Jesus wahrhaft nachfolgen, die wahrhaft Kinder Gottes heißen dürfen, die vor Gottes Gericht bestehen, und in sein Gottesreich eingehen werden, der wahrhaften Christen, folglich solcher, die reinen Herzens sind, der Sanftmütigen, der Friedensstifter, derer, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit und dafür leiden wollen. Sie sind das „Salz der Erde“ und das „Licht der Welt“. Und dann folgen die Gebote: Du sollst dich nicht nur von Totschlag fernhalten, sondern auch von Rachsucht. An die Stelle des Wortes: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ tritt das Wort: … „daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar“. „Diese Überschwenglichkeit des Ausdrucks“, sagt der Kommentar von Joh. Weiß, ist ebenso zu beurteilen wie Matth. 18,19: „so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf es von dir.“ Jesu Empfindung, daß alle weltlichen Interessen nicht so wichtig sind, als das Interesse einer Menschenseele, die vor Gott rein und für sein Reich reif ist (was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Matth. 16,26), „ist so übermächtig, daß der stärkste, sogar übertriebene Ausdruck ihm gerade recht ist. Es ist ein Zeichen einer feurigen und heldenhaften Seelenverfassung, daß er von den Seinen Unerhörtes verlangt … er erwartet von ihnen eine bis zum Äußersten entschlossene Opferbereitschaft um des Reiches Gottes willen“. Und was sie hierzu treiben muß, ist immer wieder die Liebe gegen Gott und Menschen, die Gottes Gnade in ihnen auslöst. „Jesus gibt keine einzelnen Gebote … dein ganzes Leben und all deine Handlungen zwingt er unter die Forderungen eines einzigen Prinzips“ (DE ZWAAN, S. 29). „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben, und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“

Jesus bezieht sich hier auf 3. Mose 19,18, wo die Liebe „zum Nächsten“ geboten wird und wo mit „dem Nächsten“ der Volksgenosse angedeutet wird. Unter dem „Feind“, den Jesus daneben stellt, würde man also zunächst den Volksfeind verstehen müssen. Doch „nicht nur der öffentliche Feind“ ist nach Weiß hier gemeint, sondern vor allem „dein“ Feind, der „persönliche Feind“. Auch den Feind lieben! „Dies ist“, sagt Weiß mit Recht, „die höchste Forderung, die überhaupt gestellt werden kann.“ Diese Feindesliebe ist nicht bloß eine Tugend neben anderen, sondern die höchste Blüte menschlichen Tuns. Es ist die Liebe, von der Paulus sagt, daß sie alles verträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet; die Liebe, die nimmer aufhört, und die von „Glaube, Hoffnung und Liebe die größte ist.“ In der Tat die größte, denn Gott glaubt nicht, hofft nicht, sondern er liebt mit einer ewigen Liebe. „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4,8). Darum können nur die Kinder Gottes dem Sohne gleich werden und so lieben. „Darum sollt ihr vollkommen sein“, so beschließt die Bergpredigt dieses Kapitel, „gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Dies ist eine Sprache, die über die Sprachen der Menschen hoch hinausragt, hoch auch hinaus über unser Leben, so hoch wie das Kreuz Christi über unsere kleinen, sündigen Gestalten hinausragt. Ist es doch die Sprache und der Geist des Evangeliums. Wer nach christlicher Gesinnung und christlicher Ethik fragt, findet hier – darüber besteht kein Zweifel – die erste und vornehmste Antwort.

Diese Gesinnung wurde nach den Evangelien sogar von den Jüngern nicht immer verstanden. Der jüdische Messias-Gedanke („Ho-sianna dem Sohne Davids“) saß ihnen im Blut: der Messias mußte seine Ehre rächen. Als man ihm in einem Samariterdorf das Nachtlager verweigerte, weil er auf dem Weg nach Jerusalem war, wollten die Jünger die dem Meister angetane Schmach vergelten, indem sie aus dem Himmel Feuer herabfallen lassen wollten. Jesus aber wandte sich und bedrohte sie und sprach: „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.“ (Luk. 9,51-56) „Und dennoch“, sagt Windisch (Der Messianische Krieg, S. 54. 90), „ein Kämpfer war er doch, trotz seiner Ablehnung des Kampfes und trotz seines Verbots des Widerstandes, doch gegen dämonische Mächte. Er kämpfte nur, um Menschenseelen zu erhalten. Das Töten von Menschen war und blieb verpönt.“ In diesem Sinne hat auch Paulus seinen Meister verstanden: ein Christ steht in dieser Welt und kämpft nur mit den Waffen des Geistes, und mitten in der Zeit der Verfolgung ruft er seinen Mitkämpfern zu: „Ziehet an den Harnisch Gottes … denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. … So stehet nun umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angezogen mit dem Panzer der Gerechtigkeit und an den Beinen gestiefelt, als fertig zu treiben das Evangelium des Friedens“ (Eph. 6,10-17). Es ist, als ob Paulus absichtlich diesen Vergleich dem Kriegsdienst entnimmt, um zu zeigen, daß der Kampf der Christen ein ganz anderer ist.

Und dennoch finden wir bei Paulus in seiner Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) einzelne Züge des Kriegs-Messias, die der jüdischen Eschatologie entlehnt sind, d. h. nicht in den Andeutungen des irdischen Lebens Jesu – daran konnte er nichts ändern. Sondern: „Aus dem Tode läßt er den Kriegsfürsten hervorbrechen, vor dessen Wunderkraft hin und her die feindlichen Mächte hinsinken, der den Weltkrieg aufnimmt und mit einer gewaltigen Triumphfeier sein Weltregiment beschließt“ (WINDISCH, S. 69. 70). Ein mythologischer Endkampf also, besser gesagt, ein Endkampf in mythologischer Form (s. z. B. 2.Thess. 2,8. 1. Kor. 15,24. 28). Auch im Evangelium finden wir einen ähnlichen Zug (Matth. 21,40ff.; 22,6ff.), wo immer wieder vom vernichtenden Endurteil „des Herrn“, des Königs gesprochen wird. Doch diese eschatologischen Schilderungen sind für das irdische Leben des Heilandes, wie das Evangelium es zeichnet, und für die Lebensführung, zu der er aufrief, unerheblich.

So steht es auch mit der christlichen Apokalyptik, die sich nach jüdischem Muster und zum großen Teil aus der jüdischen Gedankenwelt im ersten Jahrhundert aufgebaut hat, und deren biblischer Typ die Offenbarung Johannis ist. „Die apokalyptische Eschatologie“, schreibt Harnack (Militia Christi, S. 9), „bewahrte die Züge des kriegerischen Messias, indem sie sie auf Jesus übertrug“, aber, „man bemerkt, daß das kriegerische Element ganz und gar auf die apokalyptische Eschatologie beschränkt bleibt und sich auf das Christusbild außerhalb derselben nicht ausdehnt“. Und da der Messias der Offenbarung mit Engeln und nicht mit Menschen kämpft, berührt dieses Auftreten nicht das Vorbild, das der Christus des Evangeliums uns hinterlassen hat. „Himmlische Personen und übermenschliche himmlische Heerscharen allein“, schreibt Windisch (Der Mess. Krieg, S. 76), „führen den Kampf für die Sache Gottes.“ Der Verfasser der Offenbarung ist überzeugt: „Menschen, die da kämpfen, sind dem Untergang geweiht; nur der Teufel läßt Menschen für sich kämpfen. Gott gesegnete Kämpfer können nicht Menschen sein“ (WINDISCH, Der Mess. Krieg, S. 76). Johannes sagt es auch deutlich: „So jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen“ (Offenb. 13,10). Inmitten der kriegerischen Szenen der Offenbarung erscheint auch immer wieder das Bild des Lammes, das zur Schlachtbank geführt wird. „Der Jude“, sagt Harnack (S. 9. 10), „zog in der letzten Not wirklich das Schwert und griff dem Messias vor; er hatte ja auch ein Land, eine heilige Stadt und einen Tempel zu verteidigen. Der Christ aber war angewiesen, auf seinen Christus-Viktor zu warten.“ … „Die Geschichte bezeugt, daß der kriegerische Jesus Christus redivivus der Apokalyptik die Christen niemals in den ersten drei Jahrhunderten (den Jahrhunderten der Verfolgung) zu kriegerischen Revolutionären gemacht hat.“ „Der Jude hatte ja auch ein Land, eine heilige Stadt und einen Tempel zu verteidigen“, schreibt Harnack. Er weiß jedoch wohl, daß dies nicht der Hauptgrund für den Unterschied des jüdischen und christlichen Verhaltens war. Der Hauptgrund war die Tatsache, „daß die christliche Ethik dem Christen den Krieg überhaupt verboten hatte“ (Harnack, S. 11) und die jüdische Ethik dem Juden nicht. Die christliche Gemeinde Jerusalems hatte doch auch noch etwas mehr, als allein ihr Vaterland in jener Stadt zu verteidigen. Aber beim Ausbruch des Aufstandes im Jahre 70 verließ sie Jerusalem und zog sich über den Jordan zurück. Beim folgenden und letzten Aufstand gegen die römische Unterjochung (132-135) „wurden sie aus Zuschauern zu Duldern. Der Mes-sias Bar-Kochba hat die Bekenner seines Konkurrenten Jesus grausam verfolgt und von ihrem Bekenntnis abzubringen gesucht. Aber der Kämpfer ward zu Schanden und die Dulder siegten“ (WINDISCH, S. 91).

Wahrlich, das ursprüngliche Christentum hat es in voller Klarheit gezeigt und Harnack behauptet darum auch mit vollstem Recht: „Es bedarf nicht weiterer Worte, um festzustellen, daß das Evangelium alle Gewalt ausschließt und nichts Kriegerisches an sich hat oder auch nur dulden will“ (HARNACK, S. 2).

Als die klassische Zeit des Urchristentums, das noch aus der Quelle schöpfte, vorüber war, haben die Christen aus Gründen, die wir später nennen und beurteilen wollen, diesen Weg des Evangeliums, auf dem Christus ihnen vorangegangen war, verlassen, haben am Krieg teilgenommen, ja selbst – wie die Juden und Mohammedaner – im Namen Christi „hei lige Kriege“ geführt. (Die Kriege Karls des Großen zur Bekehrung der Heiden, die Kreuzzüge, viele päpstliche Kriege.) Wir werden darüber noch sprechen. Hier interessiert uns die Frage: „Wie hat man sich dem Geist und den Worten des Evangeliums gegenüber verantworten können?“ Es lohnt sich der Mühe, nachzuspüren, wie man wenigstens vor sich selbst gleichzeitig den Krieg bejahen und dennoch dem Evangelium gut Freund sein kann. Wir wollen den hauptsächlichsten Versuchen nachgehen.

II. Versuche zur Aussöhnung. Die „Beweisstellen“.

Das „Argumentum e silentio“.

1. Die Bergpredigt, sagt man, muß nicht äußerlich, sondern innerlich aufgefaßt werden. „Dem Übel nicht widerstehen“, sagt bereits Augustin in seiner Schrift gegen den Manichäer Faustus, „bedeutet, daß wir uns nicht mit dem Körper, sondern mit dem Herzen darauf vorbereiten müssen“ (AUGUSTINUS, Contra Faustum, XXII, 76). Die linke Backe hinhalten, wenn man dich auf die rechte schlägt, kann doch auch nicht buchstäblich aufgefaßt werden, sagt er in einem seiner Briefe13. Auf diesem gefährlichen Weg, der von Augustin anderswo verlassen wird, wo er persönliche Anwendung der Gewalt – auch aus Notwehr – mißbilligt14, sind viele christliche Theologen in verschiedener Weise weitergeschritten, indem sie teils auf die übertragene Bedeutung der krassen Ausdrücke der Bergpredigt hinwiesen, die man cum grano salis verstehen müsse, teils, wie Prof. Baumgarten noch 1915, behaupten, diese Predigt enthalte nur ein Gesetz für den inwendigen Menschen, sie sei ein Ideal für eine höhere Welt, in deren Liebes- und Friedensreich wir uns flüchten mögen, um uns zu erquicken und um uns vor Haß, Rachsucht und unnötiger Grausamkeit zu bewahren15. Auch Ihmels sagt, daß die Bergpredigt als das Gesetz des Reiches Gottes gemeint ist, als regnum internum, als die Welt Gottes in uns, wohl zu unterscheiden von der Außenwelt, die andere Forderungen stellt16. So weit diese Theologen. Wie man es fertig bringt, innerlich in einer höheren, und mit seinem Verhalten in einer niederen Welt zu leben, ohne Schaden für seine innere Reinheit zu nehmen und ohne Verletzung jenes inneren Reiches Gottes, das erfahren wir nicht. Diese Trennung zwischen innerem und äußerem Leben, die das Evangelium nicht kennt, hat dem Christentum sehr geschadet.

2. Eng mit dem obigen verwandt ist die Auffassung (die namentlich von W. Herrmann und seinen Schülern vertreten wird), daß, da Christus uns vom „Gesetz“ befreit, die Gebote der Bergpredigt, die in ihrem Radikalismus nun einmal unerfüllbar seien, nicht als konkrete Vorschriften gegeben sein können, sondern nur als Andeutungen der Gesinnung. So gewinnen wir für unser Verhalten gegenüber der Forderung des Evangeliums einen gewissen Spielraum und die Freiheit, in einem Konflikt desselben mit unseren irdischen Pflichten einen anderen Weg zu gehen. Diese Auffassung wird aber jetzt mehr und mehr als unhaltbar empfunden. Man erkennt an, daß diese Gebote, obgleich sie den Nachdruck auf die Gesinnung legen und frei vom Zwang des Gesetzes sind, dennoch (für Jesu Jünger) als konkrete Vorschriften gemeint sind, denen gehorcht werden muß; ihre Ausführung wird erwartet. Hinter diesen Vorschriften, für die Gesinnung und Verhalten eins sind, steht der Gottgesandte mit seinem: „Ich aber sage Euch“, d. h. „Ich aber gebiete Euch“17.

3. Ein anderer Weg, um die Forderungen der Bergpredigt zu umgehen, war die Auslegung, daß sie von der Erwartung, die Welt werde bald untergehen, eingegeben seien und folglich nur eine Ethik für die kurze Zwischenzeit, eine Interimsethik, enthielten, die demnach für uns nicht gelte. Gegen diese „eschatologische“ Auslegung jedoch wird angeführt, daß die Erwartung des Unterganges der Welt gerade entstanden ist aus diesen „überspannten“ Forderungen, die die ersten Christen als den unerbittlichen Willen Gottes betrachteten; eine Welt, die sich weigerte, diese Forderungen zu erfüllen, mußte zugrunde gehen.

Aber auch aus andern als diesen psychologischen Gründen hat man diese Auffassung fallen gelassen. „Der Einfluß der Eschatologie auf die Ethik des Evangeliums, insbesondere auf die der Bergpredigt“, schreibt Windisch 1929, „ist nicht so umfassend, wie oft, auch von mir, behauptet worden ist18,“ Und der englische Professor Cadoux sagt: „Die Behauptung, daß diese allgemeinen Grundsätze … von dem begrenzten historischen Horizont so abhängig sind, daß sie bei Aufhebung der Begrenzung bedeutungslos werden und vor der vorausgesetzten Notwendigkeit des modernen gesellschaftlichen und politischen Lebens nicht mehr gelten dürfen, bedeutet im Prinzip die Verneinung einer modernen christlichen Ethik, die auf die Predigt Jesu gegründet ist19.“

4. Eine vierte Lösung lautet: die Forderungen der Bergpredigt gelten nicht für diese Welt, sondern für das zukünftige Reich Gottes. Dort, nicht hier, sagte man, wird der Christ imstande sein, sie anzuwenden. Wie man sich das Reich Gottes aber vorstellt, mit „Feinden“, die man lieben muß, mit dem „Übel“, dem man nicht widerstehen soll, mit Menschen, „die sich schlagen“, bleibt ein Rätsel. Es gibt wohl kein stärkeres Mittel, aber auch keine betrübendere Art, das Evangelium zu entkräften, als die Erfüllung der Gebote Christi erst in das jenseitige Reich Gottes zu verweisen und danach sein Wort: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 18,36) zu lesen, als ob da stünde: „Mein Reich ist nicht für diese Welt!“

Nein, weder die Forderungen der Bergpredigt, noch ihre Gültigkeit für unser Leben in dieser Welt lassen sich wegdeuten. Die Erwartung des nahen Unterganges dieser Welt mag für die ersten Christen eine Erleichterung in dem schweren Kampf um die Erfüllung dieser Forderungen gewesen sein; der Kampf war für sie schwer, so wie er es auch für uns ist, wenn wir mit den Forderungen Ernst machen wollen. Und auch wir wissen ja, daß diese Welt – wenigstens an uns – nach kurzer Zeit „vorübergeht“. Auch wir „haben hier keine bleibende Stadt“. In gewissem Sinn ist jede christliche Sittenlehre: „Interimsethik“.

5. Eine oft gehörte Auffassung, die noch 1915 von dem bekannten Philologen Th. Birt vorgetragen wurde („Ein Wort der Beruhigung in Kriegszeiten“20), lautet: „Liebet eure Feinde ist auf politische Völkergegensätze nicht zu beziehen. Das Evangelium ist vollständig unpolitisch, absolut individuell. Das Gebot der Bergpredigt spricht nicht von dem ‚polemios‘, dem Landesfeind, sondern von dem ‚echthros‘, dem persönlich verhaßten Menschen, der auch uns persönlich haßt. Diesen muß man zu lieben versuchen, gegen jenen muß man kämpfen.“ Nun verrät auch diese Auffassung (wie die Trennung zwischen innerem und äußerem Leben) Mangel an Wirklichkeitssinn. Glaubt man allen Ernstes, gegen die Landesfeinde, die man persönlich nicht zu hassen behauptet, mit liebreichen Empfindungen kämpfen zu können? Als ob nicht der Haß unvermeidlich auflodert, ja sogar Bedingung für einen fanatischen, d. h. gut geführten Krieg ist, und gerade deshalb systematisch gezüchtet werden muß! Diese Auffassung kommt für die moralische Seite des Problems wenig oder gar nicht in Betracht, weil man doch gegen den Landesfeind mit Einsetzung seiner ganzen Person kämpft und also auch Personen des anderen Volkes trifft. Aber auch sonst hält dieser Unterschied zwischen Landes- und Privatfeind vor dem Evangelium nicht Stand. Erstens sprachlich nicht: wie Windisch bemerkt, wird im Neuen Testament (vgl. Luk. 1,71. 74; 19,43) und in der Sep-tuaginta „echthros“ sowohl für den privaten wie für den nationalen Feind gebraucht; „polemios“ dagegen fehlt im Neuen Testament vollständig21. Wir hörten schon, wie Joh. Weiß in seinem Kommentar bemerkt, daß mit Matth. 5,44 „nicht nur der nationale Feind“ gemeint ist, obgleich die Gegenüberstellung mit 3. Moses 19,18 daran zunächst erinnert. Aber noch schärfer widerspricht Windisch dieser einseitigen Auffassung der Bergpredigt: Die Juden waren in ihrer messianischen Erwartung voll Haß gegen ihre Unterdrücker. „Als Jesus seinen Jüngern gebot, die Feinde zu lieben, ihnen wohl zu tun, für sie zu beten, ihre Kränkungen und Verfolgungen mit Sanftmut hinzunehmen … hat er damit jeden Gedanken an Revolten und Nationalkrieg erstickt22.“

Kein Wunder, daß dieser Neutestamentler – wie vorsichtig und entgegenkommend er auch seinen mitten in der Kriegszeit mit dem Kriegsproblem ringenden Landsleuten Antwort gab – dennoch nicht umhin konnte zu erklären: „daß bei Anwendung der Grundsätze des Evangeliums auf den ‚polemios‘ der Pazifismus eher dem Geiste Jesu gemäß erscheint, sollte nicht verkannt werden“23.

Windisch ist mit Baumgarten vollständig einverstanden, daß nicht nur der Angriffs- sondern auch der Verteidigungskrieg vom Evangelium vollständig ausgeschlossen wird. „Das Evangelium richtet den Kriegszustand. Wir haben zunächst, so schwer uns das gegenwärtig auch wird (1915!), anzuerkennen, daß das Kriegführen in der ethisch-religiösen Belehrung Jesu keinen Platz hat.“ „Was man gemeinhin den ‚Geist‘ der Bergpredigt nennt, ist mehr ihre Aufhebung, Kriegsexegese24.“ Baumgarten hat sich aus der Schwierigkeit, die er stark und schmerzlich empfunden hat, herausgezogen, indem er erklärte, daß – da nationale Ethik höher steht als individuelle25 – der Krieg „ein Moratorium der Bergpredigt“ fordert. Wir sind mit dieser Lösung nicht einverstanden, aber achten die ehrliche Gesinnung, die anerkennt, daß es eine hoffnungslose Arbeit ist und keine Ehre einbringt, die Bergpredigt mit dem Krieg in Einklang bringen zu wollen. Die Ethik des Evangeliums sei, was sie ist, in voller Reinheit. Rühre sie nicht mit Kriegshänden an, meint Baumgarten, tritt ehrfurchtsvoll beiseite und … wende ihr dann den Rücken und führe Krieg! Diese Haltung ist ehrlich, aber keine Lösung. „Die Verurteilung von allem Kriegswesen ist die Haltung, die dem Geist der Bergpredigt einzig kongenial ist26.“

6. Über Luk. 22,36-38 (die zwei Schwerter) und über Matth. 10,34 (nicht den Frieden, sondern das Schwert) und die Auslegung dieser Texte sprachen wir schon. Hier kann man für die Verteidigung des Krieges keine Stütze finden.

7. Man weist auf Stellen hin wie Luk. 11,21. 22, wo Jesus die Übermacht Gottes über den Teufel mit einem starken Bewaffneten vergleicht, der einen weniger Starken besiegt und ausplündert. Auch Bavinck weist auf die militärischen Gleichnisse hin27. Aber Jesus entlehnt seine Bildersprache allen Dingen dieser Welt und sogar dem Einbruch eines Diebes (so unerwartet wird der Menschensohn kommen Matth. 24,42-44). Damit wird jedoch der Einbruch nicht gebilligt.

8. Man weist auf die Prophezeiung in Matth. 24,6ff. und Mark. 13,7ff. hin: „Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Kriegsgeschrei“ usw. Es ist die bekannte apokalyptische Prophezeiung der Katastrophen, die dem Kommen des Reiches Gottes vorangehen werden. Viele Sachverständige zweifeln, ob dies zur ursprünglichen Lehre Jesu gehört, u. a. weil gleich darauf Matth. 24,36 gesagt wird: „Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, sondern allein mein Vater“, und Luk. 17,20 heißt es: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: siehe hier! oder: da ist es!“ Unser entscheidender Einwand ist jedoch dieser: Selbst wenn diese Prophezeiungen von Jesus stammen, welches Recht hat man dann, daraus die Folgerung zu ziehen, daß es seinen Jüngern erlaubt ist, sich an den Kriegen zu beteiligen? Das Gegenteil ist richtig.

9. Ein beliebter Text für diese Art der Beweisführung ist auch Jesu Antwort an die Pharisäer, die ihn fragten, ob es recht sei, dem Kaiser Zins zu geben oder nicht: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matth. 22,15-21). Schon Augustin, der mit Ambrosius und Athanasius zu den ersten christlichen Theologen gehörte, die versuchten, den Kriegsdienst dem Evangelium anzupassen, glaubt (in seiner Schrift gegen den Manichäer Faustus) in diesem Text einen Beweis zu finden: „Zu diesem Zweck werden doch Steuern eingezogen, um den während des Krieges unentbehrlichen Soldaten ihren Sold zu geben28.“ Es gibt jetzt jedoch nur noch wenige sachkundige Exegeten, die diese Auslegung zu vertreten wagen. In die schlau gestellte Falle der Pharisäer, die ihn zwingen wollten, entweder eine revolutionäre Haltung anzunehmen, oder sich beim Volk unbeliebt zu machen, geht Jesus nicht. Er bittet um eine Zinsmünze und er zeigt das Bild des Kaisers. „Nach antiker Anschauung“, sagt der Kommentar von Weiß, „ist die Münze durch Bild und Schrift als das Eigentum des Kaisers bezeichnet; er kann sie also zu jeder Zeit zurückfordern. Darum, sagt Jesus, ist es nicht mehr als recht und billig, wenn er das will, sie ihm zurückzuerstatten.“ „Zugleich“, sagt Weiß (und das fühlt jeder, der es liest), „liegt in Jesu Wort eine gewisse Geringschätzung für die Angelegenheit.“ Der Nachdruck fällt auf den zweiten Teil: „Gebt Gott, was Gottes ist.“ Dafür trat Jesus ein, und das sollte man von ihm lernen. Es ist doch wohl sehr weit hergeholt, wenn man diese Worte als Beweis dafür anführt, daß Jesus die Kriegsmacht, die aus den Steuern bezahlt wurde, billigt, und ebenfalls, wenn man in dieser Stelle des Evangeliums eine Sanktionierung des Krieges finden will.

Wenn auch diese Auslegung des genannten Textes sich nicht mehr halten kann, so gilt doch immer noch eine andere: nämlich, daß Jesus mit dieser Antwort Staat und Religion wie zwei selbständige Gebiete anerkennt; man gesteht dann stillschweigend bei eventuellen Konflikten (die nicht ausbleiben) dem Staat die höhere Autorität zu. Die Frage stellen, ob dieses Verhalten christlich ist und ob es einer christlich gerichteten Politik den Weg weist, heißt sie verneinen. Wir kommen auf diese Frage noch zurück.

10. Ihren Kronzeugen findet die militärfreundliche Theologie nicht im Evangelium, sondern Röm. 13,1-7, wo Paulus – offenbar in der Zeit, als Kaiser Nero noch nach Recht und Gesetz regierte und die Christen diese Rechtsordnung noch schätzen konnten29 – ermahnt: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“ Die Obrigkeit ist „Gottes Dienerin dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst“. „Diese Worte Pauli“, schreibt Professor Cadoux, „bilden mit Matth. 22,15-21 im Evangelium die Grundlage für den ganzen Komplex der traditionellen und konservativen christlichen Gedanken in bezug auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, und werden von späteren Schriftstellern, wenn sie diesen Gegenstand behandeln, ständig zitiert30.“ Paulus ahnt hier die Notwendigkeit, die später – als der Staat das Christentum öffentlich in Schutz nahm – brennend wurde, Christentum und Rechtsordnung zu versöhnen. Diese Versöhnung konnte ohne Zugeständnisse von seiten des Christentums nicht zustandekommen. (Wir sprechen noch weiter darüber.)

Paulus macht hier schon ein Zugeständnis, indem er vor einer anderen Lebensordnung als der des Evangeliums, nämlich vor der staatlichen Rechtsordnung, Ehrfurcht fordert. Die Christen werden zwar nicht ermahnt, schwerttragende Diener der Obrigkeit zu werden – kein Gedanke daran bei Paulus oder bei einem Christen jener Zeit; es wäre ihnen damals wahrscheinlich auch nicht erlaubt worden – aber das Recht der Obrigkeit, die Ordnung mit Zwang und wenn nötig mit Gewalt aufrechtzuerhalten, wird hier ausdrücklich zugegeben, sogar religiös sanktioniert. Aus Röm. 13 kann man schließen, daß die Obrigkeit als Justiz- und Polizeimacht auftreten darf und muß; mehr nicht! Vom Recht zum Kriegführen ist nicht die Rede. Dennoch beruft man sich auf diesen Text und zwar nach berühmten Mustern; u. a. stellt Calvin die Gegner des Krieges Banditen gleich und findet so den Zusammenhang mit Röm. 13: „Sie müssen alle zusammen in gleicher Weise für Räuber gehalten und als solche bestraft werden31.“ Übrigens auch schon Ambrosius und Augustin nennen in einem Atem Verbrecher, Räuber, Barbaren, gegen die der römische Staat sich zu wehren hatte; in jener Zeit der Einfälle der Goten, Vandalen und Hunnen konnte man diese Gleichstellung verstehen. In unserer Zeit ist es uns nicht mehr erlaubt, „den Feind“ Verbrechern usw. gleichzustellen und ihm auf diese Weise das Recht zu geben, uns ebenso zu betrachten und zu behandeln. Außerdem besteht in folgenden zwei Punkten ein Unterschied zwischen dem Kriegführen und dem Auftreten der Justiz und der Polizei:

a) darf man bei dieser das Recht voraussetzen, während bei jenem der objektive Richter, der über das Recht entscheiden muß, fehlt;

b) hat das Kriegshandwerk einen ganz anderen Charakter als die Justiz und die Polizei und kann folglich aus ethischen Gesichtspunkten nicht auf dieselbe Weise beurteilt werden. Über diese beiden Punkte sprechen wir noch Kapitel IV.

11. Es wird auch auf das günstige Licht hingewiesen32, in dem im Neuen Testament einige Militärpersonen erscheinen, z. B. der Hauptmann von Kapernaum (Matth. 8,5-10), der Hauptmann unterm Kreuz (Matth. 27,54) und der Hauptmann in Cäsarea (Apostelgesch. 10). Wenn man diese Zeugnisse auf ihren wahren Wert hin prüfen will, dann mag man zunächst sich überlegen, daß das römische Militär in Judäa nur Polizeidienst leistete; besonders aber muß man sich klarmachen, worauf wir oben (Punkt 6) schon hinwiesen, daß – wo, wie in Matth. 8, zwischen militärischem und geistlichem Machtgebot und Gehorsam eine Parallele gezogen wird, das Evangelium keineswegs eine gleiche Wertschätzung beabsichtigt; ferner muß man sich an die selbstverständliche Tatsache erinnern, daß man unter Militärs – wie man auch sonst über ihren „Beruf“ denkt – genau so viele Menschen mit guten Eigenschaften findet, wie in anderen Berufen. Mit Recht schreibt Windisch: „Die Worte des Hauptmanns von Kapernaum haben nur Vergleichsbedeutung. Auch hier ist das Verhalten Jesu keine Sanktion des Militarismus“33, und Harnack urteilt über alle drei Hauptleute und ihre Bedeutung für die Wertschätzung ihres Standes im Evangelium: „Diese Geschichten im Neuen Testament sind nicht erzählt, um den Soldatenstand zu loben oder auch nur seine Duldung nahezulegen. Daß es Soldaten gewesen sind, ist in allen diesen Fällen von untergeordneter Bedeutung für den Erzähler. Nachmals sind freilich diese Geschichten von diesem und jenem zugunsten des Soldatenstandes ausgebeutet worden34.“

12. Die verhältnismäßig stärkste Beweisstelle für das militärische Christentum scheint uns zweifellos Luk. 13,14 zu sein, wo Johannes der Täufer auf die Frage der Kriegsleute: „Was sollen denn wir tun?“ antwortet: „Tut niemand Gewalt noch Unrecht und lasset euch genügen an eurem Solde.“ Außer Jesu Wort über die kaiserlichen Steuern ist dieses Wort von Johannes die hauptsächlichste Beweisführung Augustins. „Sonst hätte Johannes, als die Soldaten zu ihm kamen, um getauft zu werden und fragten: Was sollen wir denn tun, ihnen antworten müssen: Werft die Waffen von euch, verlaßt den Kriegsdienst, verwundet und tötet niemand35.“ Nun könnte man sofort hiergegen einwenden: Hier spricht nicht Jesus, sondern sein echt israelitischer Vorläufer Johannes, von dem Jesus bezeugte: „der aber der kleinste ist im Himmelreich, ist größer denn er“ (Matth. 11,11). Aber wir wollen uns mit diesem Einwand nicht begnügen; Jesus greift nirgends den Stand oder das Soldatenhandwerk an, und auch Petrus befiehlt dem Hauptmann von Cäsarea nach seiner Taufe nichts über das Niederlegen seines Amtes. Diese Tatsache, die der andern ebenso bestimmt gegenübersteht, daß dem Evangelium die Anwendung der Gewalt fremd ist, fordert eine nähere Auslegung, die wir unter Punkt 13 geben wollen. Hier sei nur erwähnt, welch eine gewaltige Forderung es schon an die rauhen Kriegsleute der damaligen Zeit war, nicht zu stehlen, niemand unnötig zu belästigen und mit dem Sold zufrieden zu sein. Würden diese Menschen damals schon größeren und tieferen Forderungen zugänglich gewesen sein?