Der Teufel, natürlich - Andrea Camilleri - E-Book

Der Teufel, natürlich E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Der italienische Großmeister Andrea Camilleri brilliert in der kleinen Form: Dreiunddreißig kurze Geschichten, die es in sich haben und sich wie dreiunddreißig Romane lesen. Wenn ausgerechnet eine Maus den Partisanen verrät, der sich bereits in Sicherheit wähnt; wenn der versteckte Verriss eines Romans dazu führt, dass sein Autor den Nobelpreis erhält; wenn ein abgebrochener Schuhabsatz die Ursache dafür ist, dass eine untreue Ehefrau ihren Liebhaber verliert – dann hat ganz klar der Teufel seine Hand im Spiel. Camilleri erzählt von den menschlichen Freuden und Lastern, von Liebe und Betrug, Eifersucht und Rache, ungeheuren Zufällen, dem Bösen im Menschen und dem Bösen an sich. Eine menschliche Komödie – durchtrieben und unwiderstehlich unterhaltsam.

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Seitenzahl: 193

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Nagel & Kimche E-Book

Andrea Camilleri

Der Teufel, natürlich

Perfide Prosa

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzk

1

Die beiden größten Philosophen unserer Zeit, weltweit als solche anerkannt, geschätzt und geehrt, jeder mit einer großen Anhängerschar aus hochmütigen Verächtern der Gegenseite, sind Altersgenossen, doch unterschiedlicher Nationalität, und haben sich in ihrem Leben nie persönlich kennengelernt. Der eine, Jean-Paul Dassin, Franzose, geboren in einer reichen, großbürgerlichen Industriellenfamilie, besuchte die Eliteschulen seines Landes und gönnte sich den Luxus, bei den Professoren in Europa und Amerika zu studieren, die ihn am meisten interessierten. Als ausgezeichneter Redner, brillanter Unterhalter und Mann von Welt ist Dassin der Liebling der intellektuellen Salons, Tageszeitungen und Illustrierten reißen sich um seine Artikel, das Fernsehen um seine Auftritte, und seine Vorlesungen an der Sorbonne ähneln oft festlichen Theaterpremieren. Seine bekanntesten philosophischen Werke, Das unglückliche Bewusstsein und Die Zeit im Raum des Seins, wurden wahre Bestseller. Sie nicht in der heimischen Bibliothek stehen zu haben, und sei es ungelesen oder bloß durchgeblättert, wäre ein Zeichen mangelnder Bildung. In seinem Schloss in der Normandie veranstaltet Dassin häufig auf eigene Kosten internationale philosophische Kongresse auf allerhöchstem Niveau.

Der andere, Dieter Maltz, ist das Kind armer Bauern in Niederbayern, die nicht einmal genug Geld hatten, um ihn auf die Grundschule zu schicken. Ein Onkel, Schuster von Beruf, unterstützte sie, doch kaum hatte Dieter die Oberschule erreicht, wurde er unabhängig, weil er einerseits anfing, sämtliche verfügbaren Stipendien abzuräumen, sich aber andererseits auch nicht zu schade war, seine Finanzen mit kleinen Jobs als Kellner, Parkwächter und Fensterputzer aufzubessern. An der Universität traf Dieter die Begegnung mit der Philosophie wie ein Blitzschlag. Seine Doktorarbeit, eine überaus kritische Untersuchung des Heidegger’schen Zeitbegriffs, wurde sofort veröffentlicht. Obwohl Dieter Maltz ein menschenscheuer, griesgrämiger Einzelgänger ist, der Fernsehauftritte verweigert, niemals Artikel für Zeitungen schreibt und nur auf wenigen, ohne sein Wissen aufgenommenen Fotos zu sehen ist, holte der Ruhm ihn dennoch ein – vor allem dank seines Hauptwerks Krise und Verteidigung der Vernunft. Trotz seiner Prominenz lebt er weiterhin im ärmlichen, mit bescheidensten Mitteln bewohnbar gemachten, elterlichen Bauernhaus. An den Kongressen in Dassins Schloss hat er nie teilgenommen, nicht zuletzt, weil er nie eingeladen wurde.

Wie ihre Biographien, so sind auch die philosophischen Ansichten der beiden Männer diametral entgegengesetzt, allerdings haben sie einander nie offen angegriffen.

Zugegeben, ein paar Fußnoten in Dassins letztem Buch, Die Ruhe und die Raserei, enthalten polemische Sticheleien gegen Maltz, und in dem Band Die Tür und der Widder tat Maltz es seinem Kollegen nach. Das war alles. Die beiden scheinen einander ignorieren zu wollen.

Der Stil ihrer Werke könnte nicht unterschiedlicher sein. So gradlinig, klar, scharfsinnig und oftmals ironisch Dassin schreibt, so gewunden, dunkel, schwerfällig und ohne einen Hauch von Ironie drückt sich Maltz aus. Dassins Denken steuert geradewegs und pfeilschnell aufs Ziel zu, Maltz macht umständliche, schwer zu entschlüsselnde Umwege.

Dassin hat sich außerdem den Spaß gegönnt, drei Romane zu schreiben, die Welterfolge wurden, vor allem der erste mit dem Titel Das Erbrechen.

Eines Tages beginnt das Gerücht umzugehen, die Schwedische Akademie trage sich mit dem Gedanken, Dassin für sein literarisches Werk den Literaturnobelpreis zu verleihen. Da es keinen Nobelpreis für Philosophie gibt, ist dies eindeutig ein Hintertürchen, um Dassin den Nobelpreis trotzdem zu geben und damit auch die politischen Beziehungen zu Frankreich wiederzubeleben, die sich in letzter Zeit schwierig gestalteten.

Die französischen Schriftsteller reagieren nicht gerade begeistert, machen aber gute Miene zum bösen Spiel. Die bekannteste Zeitschrift für Kultur erscheint mit einer Überschrift, die das Sprichwort »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul« paraphrasiert. Doch der hochverehrte Doyen der Literaturkritik schreibt einen ätzenden Artikel, in dem er die drei Romane Dassins vernichtend kritisiert und mit diesem Satz endet: »Was mag der große Dieter Maltz über den möglichen Literaturpreis für Jean-Paul Dassin denken? Ich glaube, er pfeift drauf, dort oben in seiner Einsiedelei.«

Der Artikel des Doyens erregt großes Aufsehen, nicht nur in Frankreich. So groß ist der Eklat, dass die Schwedische Akademie sich genötigt sieht, in einem kühlen Kommuniqué mitzuteilen, noch sei nichts entschieden, die im Umlauf befindlichen Namen der Kandidaten seien reine Vermutungen, wenngleich nicht ganz ohne Fundament.

Das Kommuniqué ist zweideutig, und Dassin interpretiert es zu Recht als eine Pause, als einen Moment der Unschlüssigkeit bei den Akademiemitgliedern.

Der französische Außenminister, der sich rühmen darf, ein Freund Dassins zu sein, nimmt Kontakt mit seinem deutschen Amtskollegen auf und bittet ihn, dafür zu sorgen, dass Maltz sich weiterhin aus der Debatte heraushält. Maltz’ Neutralität, die sich darin ausdrücke, dass er auf die Frage des französischen Doyens der Literaturkritik nicht geantwortet habe, sei objektiv ein Punkt zugunsten Dassins. Der deutsche Minister begibt sich persönlich zu Maltz in sein schmuckloses Heim, wo es nach Kohlsuppe riecht. Die Begegnung dauert knapp zehn Minuten, und der Minister, der lächelnd eingetreten war, verlässt das Haus mit finsterer Miene. Offenbar hat Maltz ihm gesagt, ursprünglich habe er nicht die geringste Absicht gehabt, in die Debatte einzugreifen, doch nach diesem ungehörigen Versuch, ihn zu beeinflussen, habe er seine Meinung geändert.

Innerhalb einer Woche verschlingt Maltz die drei Romane, die zu erwerben und zu lesen er sich zuvor wohl gehütet hatte, dann denkt er eine Weile darüber nach und schreibt schließlich einen langen Artikel für die größte Tageszeitung Deutschlands, die den Anfang sogar auf der ersten Seite als großen Aufmacher bringt. Zum ersten Mal in seinem Leben hat Maltz sich dazu durchgerungen, die Waffe der Ironie zu benutzen.

Er hatte die drei Romane absolut widerwärtig gefunden und beschlossen, sie mit dem Mittel maßloser Übertreibung zu verreißen, indem er Dassin auf eine Stufe mit Goethe und Thomas Mann stellt. Der Titel stammt von ihm selbst: Warum man Dassin den Nobelpreis nicht verweigern kann.

Doch Ironie ist so scharf wie ein Schwert. Wenn man diese Waffe nicht zu gebrauchen weiß oder wenig Erfahrung damit hat, riskiert man, sich selbst zu verletzen, statt den Gegner zu treffen. Tatsächlich erkennt niemand die Ironie des Artikels, die maßlosen Lobeshymnen, exzessiven Komplimente und Vergleiche mit den klingendsten Namen werden von allen für bare Münze genommen.

Oder wenigstens als etwas verstanden, was sich wie ein positives Urteil anhört, denn der Artikel ist aufgrund der journalistischen Unerfahrenheit des Verfassers und der Kürzungen, die die Redaktion wegen seiner exzessiven Länge vornehmen musste, keine leichte Lektüre.

Der Titel scheint den Inhalt jedenfalls klar zusammenzufassen. Und so beenden die schwedischen Akademiemitglieder ihr Zögern, da sie die Meinungsäußerung von Maltz als entscheidend betrachten, und erklären Dassin zum Gewinner des Literaturnobelpreises.

2

An diesem Abend kehrte Giulio Dalmazzo, Kabinettsleiter

des Präfekten, zeitig aus dem Büro nach Hause zurück. Seine Frau Clelia und seine beiden Kinder Andrea und Elisa erwarteten ihn, um seinen fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Auch Michela, eine Freundin seit der Grundschulzeit, und ihr Mann Franco waren eingeladen.

Giulio, ein Mann von kristallklarer Rechtschaffenheit, zurückhaltend, aber nicht verschlossen und mit sich selbst so streng wie mit anderen, galt als ein durch und durch langweiliger, vollkommen phantasieloser Mensch. Einmal hatte er zugegeben, noch nie einen Roman gelesen zu haben, und das stimmte. Nach seiner Heirat mit etwas über dreißig hatte sein Leben sich so eintönig und reibungslos vorwärtsbewegt wie ein Zug auf seinem gewohnten Gleis. Im Übrigen war Clelia sein Spiegelbild, es gab ihr Sicherheit, wenn die Tage immer gleich, als ständige Wiederholung von Handlungen und Worten verliefen, dann fühlte sie sich vor jeder missliebigen Unordnung geschützt.

Als Giulio und Michela an diesem Abend einen Augenblick lang allein waren, flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Weißt du was? Heute habe ich Anna wiedergesehen.«

Zunächst wusste Giulio nicht, wen sie meinte. Anna? Wer war das? Er wollte sie gerade fragen, da erschien Clelia mit der Torte. Die Erinnerung kam genau in dem Moment, als er sich anschickte, die Kerzen auszublasen, nicht fünfzig, sondern nur zwei, eine in Form einer 5, die andere in Form einer 0. Trotzdem hatte er nicht genug Atemluft, um sie auszupusten. Zum Glück merkte niemand, dass ihn ein leichter Schwindel erfasst hatte.

In dieser Nacht konnte er nicht schlafen. Er lag reglos im Bett, um Clelia nicht zu stören, dabei hätte er sich gerne hin und her gewälzt, um die Erinnerungen zu verscheuchen, die ihn von allen Seiten quälten wie Pfeile in seinem wehrlosen Fleisch.

Ja, denn genau das war seine Beziehung zu Anna gewesen, eine zwei Jahre lang währende, stürmische körperliche Leidenschaft, mehr nicht. Sie hatten sich an der Universität kennengelernt, Anna studierte Jura im ersten Jahr, er war schon examiniert und seit einiger Zeit Assistent des Professors für Strafrecht. Sie hatte die Initiative ergriffen und den Panzer aus Reserviertheit durchbrochen, mit dem er sich in Gegenwart anderer Menschen gewöhnlich wappnete. Andererseits konnte man ihrer Schönheit, ihrer überschäumenden Vitalität und ihrem strahlenden Lächeln nur schwer widerstehen. Er wohnte allein in einer Mietwohnung, seine Eltern lebten in einer anderen Provinz Italiens. Anna war eine Waise und reich, sie hatte einen Vormund, aber der kümmerte sich nicht um sie. Einen Monat nach ihrer ersten Begegnung hatte sie ihre Eigentumswohnung verlassen und war zu Giulio gezogen. In dieser Wohnung hatten ihre Körper sich zwei Jahre lang zu jeder Tages- und Nachtzeit unwiderstehlich angezogen wie zwei Magnete. Es wurde ihnen zur Gewohnheit, das Abendessen nackt einzunehmen, Anna auf Giulios Schoß. In dieser Haltung saßen sie auch, wenn sie fürs Studium lernte und er ihr erklärte, was sie nicht ganz verstanden hatte. Mit Freunden gingen sie selten aus, das betrachteten sie als verschwendete, ihrer Liebe gestohlene Zeit. Ihre Beziehung hatte schlagartig von einem Tag auf den anderen und ohne Grund geendet, vielleicht weil sie sich dermaßen aneinander gesättigt hatten, dass sie nun eine Art physischer Abstoßung empfanden. Eines Morgens packte sie ihre Koffer, während er stumm zusah, dann kehrte sie in ihre alte Wohnung zurück. Sie hatten sich nie mehr wiedergesehen, zumal Giulio sich erfolgreich um einen Posten in der staatlichen Verwaltung beworben und seine Assistenzstelle aufgegeben hatte.

Er hatte die Erinnerung an die mit Anna verbrachte Zeit vor allem deswegen ausgelöscht, weil jene Phase seines Lebens sich für ihn zunehmend als eine Trübung der Vernunft und als geradezu animalische Besessenheit von der Sinnenlust darstellte. Ein Augenblick der Schwäche, der sich nicht wiederholen durfte. Und so war es gewesen.

Am nächsten Morgen wunderte es ihn nicht, dass er in einer Schublade nach seinem alten Notizbuch suchte. Der Strom der Erinnerungen war zu mitreißend gewesen. In dem Büchlein stand Annas Telefonnummer, aber es war höchst unwahrscheinlich, dass die Nummer nach zwanzig Jahren noch stimmte. Außerdem konnte viel passiert sein, vielleicht gehörte die Wohnung jetzt anderen Leuten, oder Anna hatte geheiratet und lebte bei ihrem Mann ... Er steckte das Notizbuch in seine Jackentasche und ging ins Büro. Das Bedürfnis, sie anzurufen, nur um ihre Stimme wieder zu hören, war übermächtig. Er würde sie fragen, wie es ihr ging, und das Gespräch dann sofort beenden. Doch als er die Hand nach dem Telefon ausstreckte, erschien ihm sein Vorhaben lächerlich kindisch. Außerdem war es erst neun, zu früh. Er widerstand. Gegen Mittag aber erkannte er, dass dieser Anruf getätigt werden musste, wenn er wollte, dass seine Erinnerungen für immer zur Ruhe kamen.

Die Nummer im Notizbuch hatte keine Vorwahl für die Stadt, damals gab es das noch nicht.

Er wählte langsam, und das Telefon begann zu läuten. Es läutete lange, niemand nahm ab. Als er gerade auflegen wollte, sagte eine männliche Stimme:

»Hallo? Wer ist da?«

»Mein Name ist Giulio Dalmazzo. Ich möchte mit Signora Anna Vincenzi sprechen.«

Wer weiß, wie ihr Nachname jetzt lautete, wo sie verheiratet war.

»Einen Moment. Ich sehe mal nach ... ich frage sie, ob sie das ist«, sagte der Mann.

Er schien verwirrt. Giulio war es jetzt auch. Was bedeutete diese Bemerkung? Wie war es möglich, dass der Mann, der am Telefon geantwortet hatte, nicht wusste, ob Anna wirklich Anna war?

»Hallo, Giulio? Bist du das?«

Ihre unverwechselbare, geliebte Stimme.

»Ja.«

»Wie ... wie zum Teufel konntest du wissen, dass ich hier bin?«

Sie war fassungslos. Giulio wunderte sich ebenfalls.

»Warum? Wo bist du denn?«

»Ich besichtige gerade eine Wohnung, die ich kaufen möchte. Ich komme zum ersten Mal hierher. Welche Nummer hast du gewählt?«

»Deine alte Nummer von vor zwanzig Jahren.«

»Aber die Nummer von dieser Wohnung ist völlig anders! Ich habe sie direkt vor mir, weil sie auf dem Telefon geschrieben steht. Keine Zahl, keine einzige, stimmt mit meiner alten Nummer überein!«

Ein Zufall. Etwas Unglaubliches, Unwirkliches. Eine Wahrscheinlichkeit von Milliarden zu eins. Aber es war passiert. Und wenn es passiert war, musste es wohl etwas bedeuten.

»Das erschreckt mich«, sagte Anna keuchend, als stünde sie am Rand eines Abgrunds.

»Mich auch.«

Dann schloss Giulio die Augen, atmete tief ein und stürzte sich in das, was er in aller Klarheit als seine ungewisse, aber unabwendbare Zukunft erkannte: den Abschied von Clelia und den Kindern, vom häuslichen Frieden, von der Karriere.

»Wollen wir uns sehen?«, fragte er.

»Jetzt müssen wir«, antwortete Anna.

3

Mario weiß, dass er gegen die Regeln des Untergrundkämpfers verstößt, aber er kann nicht mehr zurück. Vor drei Monaten hat sein Cousin, den er zufällig getroffen hatte, ihm gesagt, dass seine Frau Stefania ein Mädchen geboren hat, und dass ihre beste Freundin Giuliana sie bei sich zu Hause wohnen lässt.

Neunzig Tage lang hat er sich dem übermächtigen Wunsch widersetzt, diese Tochter zu sehen, sein erstes Kind, doch dann ist seine Gegenwehr eines Morgens plötzlich zusammengebrochen. Er geht aus dem Haus. Es ist kalt, er schlägt den Mantelkragen hoch, auch um sein Gesicht zu verstecken. Der Feind hat keine Fotos von ihm, denn das Phantombild auf den Plakaten, die überall angeschlagen wurden, ähnelt ihm kaum. Auf ihn ist ein hohes Kopfgeld ausgesetzt. Es ist auf jeden Fall immer besser, vorsichtig zu sein. In der Widerstandsbewegung hat er die Aufgabe, die Verkehrsverbindungen zu sabotieren, darum tritt er meistens nachts in Aktion und trotzt den Patrouillen während der Ausgangssperre. Er ist es fast nicht mehr gewohnt, bei Tageslicht auf der Straße zu sein, der Verkehrslärm ist ihm unangenehm. Endlich kommt er in den Innenhof des Mietshauses, wo Giuliana wohnt. Er fühlt sich ziemlich sicher, hier war er erst zweimal, außerdem gibt es in dieser ärmlichen Gegend kaum einen Menschen, der anders denkt als er. Er geht durchs Treppenhaus B nach oben, Giulianas kleine Wohnung liegt im dritten Stock. Er klopft, und seine Frau Stefania öffnet. Als sie ihn erblickt, wird sie bleich, droht ohnmächtig zu werden. Mario stützt sie, schiebt sie in die Wohnung, schließt die Tür. Sie bleiben lange eng umschlungen stehen, lösen sich manchmal nur so weit voneinander, um sich küssen zu können.

»Wo ist sie?«, fragt er.

»Da hinten«, sagt Stefania. »Sie schläft.«

»Welchen Namen hast du ihr gegeben?«

»Maria. Wegen dir.«

Das Mädchen liegt im Schlafzimmer in einer Wiege. Mario beugt sich über sie, betrachtet sie gerührt. Sie ist wach und blickt mit weit geöffneten Augen geradeaus. Sie ist wunderschön, denkt Mario.

»Maria!«, ruft er.

Das Mädchen dreht den Kopf zu ihm, runzelt die Stirn. Diese Stimme hört sie zum ersten Mal.

Mario streckt den Zeigefinger aus und bewegt ihn vor den Augen seiner Tochter hin und her. Der gelingt es nach ein paar vergeblichen Versuchen, seinen Finger mit dem ganzen Händchen zu ergreifen und festzuhalten. Bei diesem Kontakt fühlt Mario sich von einer heiteren Gelassenheit überströmt, verschwunden sind die Sorgen, verschwunden ist die Angst, seine unzertrennliche Gefährtin, obwohl er sie immer beherrschen konnte. Aber er darf nicht länger bleiben, das wäre zu gefährlich für Stefania und das Kind.

Unendlich behutsam befreit er seinen Finger aus dem Griff der winzigen Hand, küsst seine weinende Frau und verlässt die Wohnung.

Er geht zur Straßenbahnhaltestelle, um in seinen Unterschlupf zurückzukehren. An der Haltestelle warten wenige Leute. Plötzlich taucht ein Lastwagen des Feindes auf, hält an, bewaffnete Soldaten steigen aus und fangen an, die Papiere der Wartenden zu kontrollieren. Eine junge Frau wird gezwungen, auf den Wagen zu steigen, sie wehrt sich unter Tränen. Mario reicht seinen gefälschten Personalausweis einem Unterführer, aber er bleibt ruhig, denn dieser Ausweis hat schon viele Kontrollen erlebt und nie Verdacht erregt. Doch der Unterführer steckt den Personalausweis ein und brüllt einen Befehl. Zwei Soldaten stürzen sich auf Mario, durchsuchen ihn und zwingen ihn mit vorgehaltener Maschinenpistole, auf den Lastwagen zu steigen. Man bringt ihn zum Hauptquartier der Militärpolizei. Er muss drei Stunden warten, dann stoßen sie ihn in ein Büro, wo ein Hauptmann den beschlagnahmten Ausweis und das Fahndungsplakat mit Marios Phantombild gut sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen hat.

»Du heißt nicht Vito Chiesa, sondern Mario Consoli«, sagt der Hauptmann.

Mario macht eine erstaunte Miene, verneint, insistiert, bittet inständig, wird wütend, fleht und weint, er heiße Vito Chiesa und sei Klempner. Irgendwann befiehlt der Hauptmann einem Soldaten, ihn in die Zelle zu bringen. Noch in derselben Nacht holen sie ihn, setzen ihn in ein Auto und fahren los.

Mario erkennt das Tor, vor dem sie anhalten, dort liegt eine ehemalige Pension, vom Feind besetzt und zu trauriger Berühmtheit gelangt. In diesen Zimmern werden die Gefangenen grausam gefoltert, um sie zum Reden zu bringen. Mario hat immer damit gerechnet, dass er eines Tages hier landen könnte, und ist in gewisser Weise darauf vorbereitet.

Sie werfen ihn in einen winzigen Raum im Keller, es gibt kein Licht, kein Strohlager, nur einen Topf für die Notdurft. Drei Tage vergehen, und Mario fürchtet schon, dass sie ihn vergessen haben, er hat nichts zu essen und zu trinken bekommen. Am Abend des dritten Tages geben sie ihm einen Kanten Brot und eine ekelhafte Brühe. Um Mitternacht wird er geholt, sie bringen ihn in einen schalldichten Raum und foltern ihn systematisch, ununterbrochen, drei Stunden lang. Schließlich verlangt ein Oberleutnant die Namen von mindestens drei Kameraden. Wenn er die nennt, kommt er wieder frei.

Mario antwortet, er habe keine Kameraden. Sie bringen ihn wieder nach unten, schleifen ihn an den Armen hinter sich her, denn er kann nicht mehr stehen. Trotz allem ist Mario mit sich zufrieden. Während der Folter hat er plötzlich erkannt, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, durchzuhalten – er muss sich selbst als Mensch mit Gedanken, Gefühlen, Interessen und Erinnerungen auslöschen. In den Händen des Feindes zu einem Stück Fleisch werden. Es hat so gut geklappt, dass er, selbst wenn er bereit gewesen wäre zu sprechen, die Namen seiner Kameraden nicht hätte nennen können, weil sie in seinem Gedächtnis nicht mehr existierten. Auf diese Weise hält er in den nächsten Tagen immer schrecklichere Folterqualen aus, er hat keine Zähne, keine Fingernägel mehr, sie wurden ihm mit Zangen herausgerissen, drei Rippen sind gebrochen, auf einem Auge sieht er nichts mehr. Vor Schmerzen kann er nicht schlafen, manchmal fällt er in eine fiebrige Benommenheit. Die Brühe schluckt er, das Brot kann er nicht mehr kauen. Das essen die Ratten, es werden immer mehr, sie laufen ohne Scheu über seinen Körper. Als er wieder einmal ohnmächtig in seine Zelle zurückgebracht wird, meint er, während er verwirrt zu Bewusstsein kommt, die Hand seiner Tochter zu spüren, die seinen Zeigefinger umklammert hält. Tatsächlich ist dieser Finger der einzige Teil seines Körpers, den er warm und lebendig spürt, alles andere ist in einer tödlichen Kälte erstarrt. Im Dunkeln berührt er mit der linken Hand seine Rechte und stößt auf etwas Haariges, das wegläuft. Eine Ratte hatte sich auf seinen Finger gesetzt und ihn gewärmt. Zum ersten Mal weint Mario. Denn er weiß, dass es ihm von nun an nicht mehr gelingen wird, dieses Glücksgefühl zu vergessen, dass es der Durchlass sein wird, durch den beim nächsten Verhör Erinnerungen und Gefühle eindringen. Er wird es nicht mehr schaffen, sich auszulöschen, durchzuhalten. Er weiß, dass er verloren ist, dass er unvermeidlich die Namen nennen wird, die sie von ihm wollen. Und so kommt es. Am nächsten Tag fängt er nach einer Stunde Folter an zu schreien, sie sollen aufhören, er wird sprechen. Man schleppt ihn in das Büro des Oberleutnants. Er verrät die Namen von drei Kameraden, nennt die Adresse, wo sie gewöhnlich zusammenkommen. Er wird in die Zelle zurückgebracht. Eine Stunde später öffnet sich die Tür, ein Unterführer erscheint.

»Komm mit. Wir lassen dich frei. Doch erst gehen wir in die Krankenstube, hinterher wirst du ansehnlicher sein. Steh auf, geh raus und vor mir her.«

Mario hätte nicht gedacht, dass er noch genug Kraft hat, vielleicht ist es die Vorstellung, dass er Maria bald wiedersehen wird, die ihm Kraft gibt. Während er durch den Korridor geht und sich mit einer Hand an der Wand abstützt, zieht der Unterführer eine Pistole und schießt ihm in den Nacken.

4

Gianni ist ein sehr geschickter Einbrecher. Er arbeitet meist im Sommer, wenn die Wohnungen wegen der Ferien leer stehen. Natürlich gibt es perfekt gepanzerte Türen, Alarmsirenen, Nachtwächter und elektronische Sensor-Fallen, doch Gianni hat in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit genug Erfahrung gesammelt, um alle Gefahren zu umgehen. Er selbst bezeichnet sich mit einer gewissen Befriedigung als sauberen Dieb, denn er trägt nie eine Waffe bei sich.

Die Wohnung, in die er heute Nacht eingedrungen ist, nachdem er die raffinierten, teuren Sicherungssysteme ausgeschaltet hat, wird ganz offensichtlich von einem sehr reichen Mann bewohnt.

Keine Spur von der Anwesenheit einer Frau, der Besitzer ist entweder Junggeselle oder lebt von seiner Frau getrennt. Die Gemälde an den Wänden, garantiert Originale, interessieren Gianni nicht. Er stiehlt kleine Wertgegenstände, die ihre Eigentümer nicht bei sich tragen und meistens in einem versteckten Safe einschließen. Darum muss Gianni als Erstes herausfinden, wo der Safe ist. Normalerweise braucht er dafür nur wenige Minuten. Der Safe befindet sich meistens hinter einem Gemälde, einer Bücherwand, einem Spiegel. Dieser hier nicht, er lässt sich nicht finden. Aber es muss einen geben, das hat Gianni im Gefühl. Endlich entdeckt er ihn in der Küche, hinter dem Mülleimer, neben den Wasserrohren des Spülbeckens. Keine schlechte Idee, das muss man anerkennen. Gianni frohlockt. Wenn der Safe so gut versteckt ist, heißt das, er enthält etwas sehr Wertvolles.

Nach einer Stunde Arbeit kann er den Safe öffnen, die Zahlenkombination war außerordentlich kompliziert. Im Safe steckt eine Schuhschachtel. Gianni hebt den Deckel ab und erblickt drei dicke Bündel mit Hundertausend-Lire-Banknoten. Fette Beute, das kann für heute genügen. Er steckt die Schachtel in den kleinen Rollkoffer, der auch seine Arbeitswerkzeuge enthält, und verlässt unbehelligt die Wohnung.

Gianni kleidet sich immer gut, darum ist er um diese Zeit irgendein Herr mit einem Koffer, der zum nächsten Taxistand geht und dem Fahrer eine Adresse nennt. Nicht die seiner Wohnung, sondern eines Hauses in der Parallelstraße. Den Rest des Weges wird er zu Fuß gehen, lieber vorsichtig sein.

In seiner Wohnung öffnet er die Schachtel, holt die Bündel heraus. Jedes Bündel hat einen Wert von fünfhundert Millionen Lire. Zusammen anderthalb Milliarden. Einer der besten Coups seiner Karriere. Außerdem ist das Geld spesenfrei, denn er braucht keinen Hehler.

Dann entdeckt er, dass noch etwas in der Schachtel ist. Ein großer weißer Umschlag, der den Boden der Schachtel bedeckt. Er zieht ihn heraus, öffnet ihn. Darin sind zwei Negative und zwei normale Briefumschläge. Gianni betrachtet die Negative im Gegenlicht. Sie zeigen zwei Momente desselben Geschlechtsakts. Ein Mann und eine Frau auf einem Bett, nackt, die sich lieben. Der Mann dreht dem Fotografen den Rücken zu, das Gesicht der Frau aber ist klar zu erkennen. Der erste Briefumschlag ist an den Eigentümer der Wohnung adressiert, die Gianni soeben besucht hat, er hat das Schild an der Klingel und neben der Wohnungstür gelesen, Ing. Dario Regoli, und auf der Rückseite steht der Absender: Claudia Risi, Via Arenula 23. Er liest den kurzen Brief.